Mörderbrut
Paul verfluchte nicht zum ersten Mal die Reichsbahn. Ungeachtet ihrer allgegenwärtigen Werbung, das bequemste, schnellste und modernste Transportmittel im Reich zu sein, war Paul noch nie zu seiner vollsten Zufriedenheit befördert worden. Von Pünktlichkeit redete ohnehin niemand mehr. Nicht einmal auf den Renommierstrecken zwischen den großen Städten und Berlin war das möglich. Der einzige Trost für Paul war, dass nicht einmal die Sonderzüge des Kaisers frei von Verspätungen und anderen Unannehmlichkeiten blieben.
Diesmal war er gezwungen, einen Umweg über Hofheim zu fahren und dort umzusteigen, um nach Niedernhausen zu gelangen. Der Sturm der letzten Tage hatte einige Bäume über die Trasse geworfen, die über Erbenheim direkt nach Norden verlief und dabei die bäuerlich gebliebenen, noch nicht eingemeindeten Dörfer Igstadt und Naurod passierte. Da man sich bei der Bahngesellschaft in erster Linie um den Güterverkehr kümmerte, der am Rhein und Main entlanglief, ließ man sich mit der Reparatur Zeit. Der Personenverkehr zwischen Limburg und dem Groß-Stadtkreis galt als unwichtig, zumal man das Bistum gern von den sich stets weiter entwickelnden säkularen Machtbereichen ausschloss. So brauchte Paul Stunden, und das, obwohl der Ort keine zwanzig Kilometer entfernt war. Jede Droschke wäre schneller und bequemer gewesen, trotz der nicht besonders gut ausgebauten Straßen.
Erschwerend kam hinzu, dass man für die Fahrten in die ländlichen Gebiete die schlechtesten Zugmaschinen und Waggons einsetzte, bei denen sogar die erste Klasse ein Witz auf Rädern war. Er hatte wohlweislich eine Fahrkarte erster Klasse gebucht, um nicht gezwungen zu sein, zwischen Bauern mit ihrer Marktware und lebendigen Tieren fahren zu müssen, die vom Wochenmarkt zurückkehrten. Trotzdem war der Waggon in einem Zustand, den man bei Fernzügen nicht einmal als dritte Klasse bezeichnet hätte. Der einzige Vorteil des verfallenen Abteils war, dass er es für sich allein hatte.
Sein Rücken und Gesäß schmerzten von den harten Bänken, und er fühlte sich, als wäre er den Weg zu Fuß gegangen. Auf dem Bahnhof wandte er sich an den Schaffner, um nach seinem weiteren Weg zu fragen. Der Mann gab bereitwillig Auskunft, kannte sogar beide gesuchten Personen persönlich.
„Also den Buchhalder vonne Firma Henselmann finne Se ganz in de Näh, einfach durch de Bahnhof und no rechts. Da komme Se zu ner Bäggerei, Guckes wohnt im Dachgeschoss drüber. Den Doktor Peitner finne Se innere Fahrtmühle. Hat sich des aale Mühlehaus ausgebaut fürn Ruhestand. Innere Bäggerei könne Se no jemand frache, der Se rausfahren tut. Se könne aber ooch am Bach lang hinlaufe, is ned weit, halbe Stunde bei gutem Schritt, Wedder is ja ned so schlecht.“
Paul drückte dem Mann eine Münze in die Hand und machte sich auf. Peitner erwartete ihn erst in zwei Stunden. Wenn es bei dem Prokuristen nicht lange dauerte, würde er tatsächlich zur Mühle laufen, da er nach der höllischen Bahnfahrt das Bedürfnis nach Bewegung hatte. Vor allem war die Luft in Niedernhausen hervorragend, und er hatte das Gefühl, man könne in dieser ländlichen Gegend den Frühling tatsächlich riechen.
Pfauth wohnte in der Mansarde über der Bäckerei, aus der es verführerisch nach frischem Brot duftete. Er war ein verschrumpeltes Männlein, das Paul gerade mal bis an den untersten Rippenbogen reichte, ein Mann der Kontenbücher mit gebeugtem Rücken. Paul konnte sich gut vorstellen, wie er einst mit Ärmelschonern und Sonnenblende über den Augen Bleistifte gespitzt oder auf eine Rechenmaschine eingehackt hatte.
„Ah, der Herr aus Wiesbaden, habe die Ehre. Was kann ich für Sie tun? Die Firma Henselmann ist ja nun leider nicht mehr ...“, begrüßte Pfauth Paul leutselig und strengte sich an, seinen Buckel zu strecken, um sich nicht den Hals verdrehen zu müssen.
„Ja, leider, und ich gestehe, dass ich zu einer der Firmen gehörte, die mit schuld an ihrem Niedergang war, weil sie wegen der falschen Farben klagte. Aber aus dem Laden bin ich nun auch raus und helfe meinem Bruder, einem Privatdetektiv“, antwortete Paul und ließ sich auf einen unbequemen Stuhl sinken, den ihm Pfauth anbot.
„Ach ja, vom Architekturbüro ‚Stadt und Raum‘ in Frankenfurt? Missliche Angelegenheit, und wir konnten nicht mal was dafür. Die Pigmente waren nicht in Ordnung. Später hieß es vom Hersteller, es sei zu dem vereinbarten Preis nicht mehr möglich, die hohe Qualität zu liefern. Entweder mehr zahlen oder schlechte Ware. Gesagt hat man uns das erst, als das Kind schon in den Brunnen gefallen war und wir verschiedene Klagen anhängig hatten. Das hat uns das Genick gebrochen. Privatdetektiv, soso ... was ermittelt Ihr Bruder so?“ Pfauth setzte sich zu ihm und bot Tee aus einer Emailkanne auf seinem Kanonenofen an.
Paul lehnte dankend ab, denn er hatte schon entdeckt, dass in einer offenen Dose alle möglichen getrockneten Wiesenkräuter eine schlechte Schwarzteemischung streckten. Der Geruch des Gebräus war abschreckend, die Farbe noch viel mehr. Stattdessen fuhr er mit seinem Anliegen fort. „Mein Bruder versucht, den Weg einer Drucksache zu verfolgen, und ich bin der festen Überzeugung, dass sie mit Papier und Druckfarben aus Ihrer Firma erstellt wurde. Das Wasserzeichen des Papiers ist eindeutig, und die Farbe ist wie bei Ihren problematischen Tuschen nicht schwarz. Mich würde interessieren, wohin man die Restbestände des Papiers und der fehlerhaften Druckfarbe verkauft hat, als die Firma geschlossen wurde. Man hat doch sicher noch versucht, das Material bestmöglich zu veräußern?“
„Oh, natürlich, irgendwie mussten wir die Gläubiger ja auch befriedigen und die Anwälte bezahlen, die für einen Vergleich bei den Schadensersatzforderungen sorgen sollten. Es sind trotzdem horrende Schulden übrig geblieben. Da ist nichts mehr zu holen. Die Fabrikgebäude und Maschinen waren nicht mehr genug wert, um die Summe zu begleichen.“ Pfauth stemmte sich noch einmal von seinem klapprigen Stuhl hoch und holte ein dickes Geschäftsbuch aus einem Schrank in der Dachschräge unter einer Gaube. „Mein letztes Werk – nach der Buchprüfung durfte ich es mitnehmen. Auch Buchhalter können sentimental sein.“
Er setzte sich wieder und strich verlegen über den Einband. „Mal sehen. Können Sie mir sagen, welche Art Papier das war?“
Paul zog das Flugblatt aus seiner Mappe und reichte es Pfauth. Der zog seine Brille aus seinen schütteren Haaren auf die Nase und drehte das Blatt hin und her. „Ein Blatt aus unserer Produktion, und mit der Farbe dürften Sie auch recht haben ...“
Er gab Paul das Blatt zurück und schlug das Buch auf. Sein Finger fuhr die eng beschriebenen Seiten entlang, bis er zu einem Blatt gelangte, das nur zur Hälfte gefüllt war. Der wenig erquickliche Abschluss eines langen, von Zahlen geprägten Lebens. „Da haben wir es doch. Alles, was wir noch an Papier und Farbe dieser Art hatten, ging an einen Herrn Kornelius Wallentin in Wiesbaden-Biebrich, Am Schlosspark 75. Er hatte ein Pferdefuhrwerk geschickt, die Ware wurde bar bezahlt. Den Namen habe ich nie gehört, und Biebrich ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Vermutlich ein kleiner Drucker, der froh über die günstige Charge war.“
Paul hatte mitgeschrieben und runzelte die Stirn. „Stimmt, Biebrich verkommt immer mehr. Was hat er denn für die Ware bezahlt? Es wundert mich, dass jemand aus dieser Gegend so viel Bargeld hat.“
„Hundertfünfundsiebzig Goldmark. Das ist kein Pappenstiel, für die Menge allerdings ein echtes Schnäppchen. Sie haben auch Ersatzteile für Druckmaschinen mitgenommen. Hatten wohl den gleichen Typ, den wir auch in der Firma stehen hatten. Wirklich verwunderlich. Ich erinnere mich gut. Es waren vier Männer, kräftige Burschen, die mit dem Fuhrwerk kamen. Vier starke Zugpferde, vielleicht Brauereigäule. Einer der Männer war ein Bär von Gestalt, Haar und Bart schon ergraut. Netter, gemütlicher Kerl, aber riesengroß, noch ein gutes Stück größer als Sie, junger Mann. Der hatte das Geld, aber er war nur der Überbringer. Er stellte sich vor als Johann Bartfelder!“
Paul seufzte. Er hatte das Gefühl, dass diese Informationen in eine Sackgasse führten. Dass die Namen ebenso falsch waren wie die Adresse der Druckerei. Trotzdem notierte er sich alles, in der Hoffnung, Peter könne mehr damit anfangen. Bevor Pfauth ihm noch einmal Tee anbieten konnte, erhob er sich und verabschiedete sich. „Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen. Ich bin sicher, mein Bruder kann mit den Informationen etwas anfangen. Ich habe noch eine Verabredung mit Herrn Doktor Peitner und muss mich beeilen.“
„Grüßen Sie mir den guten alten Peitner. Er soll sich mal wieder in der Wirtschaft sehen lassen“, erwiderte der Alte ohne Groll wegen Pauls Eile.
„Ich werde es ausrichten. Danke!“
Paul beeilte sich, von Pfauth wegzukommen. In der Bäckerei kaufte er ein frisches Brot, das er während seines Spaziergangs zu dem Gutachter zu essen gedachte, und fragte nach dem Weg zur Fahrtmühle.
Die Bäckersfrau erklärte ihm leutselig, wie er am besten und mit sauberen Schuhen dort hingelangen konnte, und drückte ihm ein weiteres Brot für Peitner in die Hand. „Sonst kommt er fast täschlich vorbei, um sich Brot zu holen, er is gut zu Fuß. Hab ihn jetzt aber seit zwei Tachen ned mehr gesehen. Nicht, dass er vielleicht krank is.“
Paul dachte an das Telefongespräch vom Vortag, als er um den Termin gebeten hatte. „Er ist vielleicht erkältet. Als ich gestern mit ihm telefonierte, war er kurz angebunden und klang heiser.“
Als Paul sich aufmachte, brach die Wolkendecke auf und ließ ein paar Sonnenstrahlen durch. Er streckte dem Licht sein Gesicht entgegen und begann, seinen Ausflug zu genießen. Wenn er mit dem Gutachter mehr Erfolg hatte als bei dem Prokuristen, dann konnte er sich glücklich schätzen.
Der Weg führte parallel zu einem Bachlauf, der mit Erlen und Weiden zugewachsen war, durch frisch gepflügte Äcker und Felder, auf denen die hellen Blätter des Wintergetreides oder Ölsaaten grünten. Wehmütig dachte Paul an seine Arbeit zurück, mit der er sich eigentlich nur genug Geld hatte verdienen wollen, um sich eines schönen Tages wie dieser Gutachter auf dem Land zur Ruhe setzen zu können. Er hatte schon ordentlich gespart, aber es reichte noch nicht ganz. Abgesehen davon war er zu jung, um sich schon auf einen geruhsamen Lebensabend zu freuen, und die Arbeit fehlte ihm.
„Hamburg würde mich reizen, vielleicht auch noch weiter weg – in die Kolonien? Nein. Das ist nichts für mich, aber vielleicht nach Amerika? Eigentlich steht mir doch die Welt offen, und meinen Namen können sie bei den bestehenden Gebäuden nicht einfach ausmerzen, so wie sie es bei den Plänen vom Palasthotel getan haben. Eigentlich gönne ich es ihnen, dass es dort jetzt nicht weitergeht“, redete er zwischen den Happen Brot vor sich hin und sah Vögeln nach, die durchs Gestrüpp huschten.
Dabei wunderte er sich über die Vielfalt und Farbenpracht der Tiere. In der Stadt gab es bestenfalls ein paar Sperlinge, verkrüppelte Tauben und Enten auf dem Kurparkweiher. Selbst der Turmfalke von der Marktkirche schien die Stadt inzwischen genauso aufgegeben zu haben wie das Tier, das es bei seinem Bruder unterm Dach ausgehalten hatte. Selbst die bisher zahlreichen Alexandersittiche, die einst aus einer Voliere geflohen waren und sich in den Bäumen des Biebricher Schlossparkes wohlzufühlen begannen, wurden immer weniger. Paul vermutete, dass es mit dem Absterben so vieler alter Bäume zu tun hatte, die den Sittichen und anderen Vögeln Bruthöhlen geboten hatten. Sogar die Bäume schienen aus der Stadt zu fliehen. Ihm war schon aufgefallen, dass die Platanen an den Ringstraßen, die besonders gehegt und gepflegt wurden, nicht nur wegen der Kargheit des Winters einen erbärmlichen Eindruck machten. In Niedernhausen hingegen schien die Natur noch in Ordnung zu sein, und Paul ergötzte sich an der üppigen Pracht, obwohl noch kein Laub die Bäume zierte.
Er erreichte die Mühle, als die Sonne sich anschickte, den Himmel wieder zu verlassen. Obwohl das Licht schon spärlicher wurde, brannte noch keine Lampe im Haus. Überhaupt sah das restaurierte Mühlenhaus aus, als sei niemand zu Hause. Langsam näherte sich Paul und entdeckte einen Hofhund an einer langen Leine. Das Tier lag reglos vor einem Schuppen. Um den Hund nicht zu überraschen, machte er sich mit einem lauten „Hallo“ bemerkbar. Doch der Schäferhund regte sich immer noch nicht, hob nicht einmal den Kopf.
Unter dem Hals des Tieres war ein dunkler Fleck auf dem festgefahrenen Kies des Hofes, und Pauls Magen krampfte. Eine böse Ahnung stieg in ihm hoch, als er auf den Hund zutrat – vorsichtig, als befürchte er, das Tier schauspielere nur. Doch der Hund war tot, jemand hatte ihm den Schädel eingeschlagen.
„Mein Gott“, entfuhr es Paul, und er rannte aufs Haus zu. Erst betätigte er die Türglocke, aber wie erwartet kam niemand, um ihm zu öffnen. Daher probierte er die Türklinke und stellte fest, dass die Haustür offen stand. Spuren brutalen Aushebelns umrahmten das Schloss. Paul unterdrückte das Bedürfnis, sich umzudrehen und davonzurennen.
Langsam betrat er den Flur. „Doktor Peitner?“, rief er in die Düsternis. Keine Antwort. Im Haus war es totenstill. Eine Gaslampe glomm im nächsten Raum, und er beeilte sich, sie hochzudrehen. Der Raum neben der Lampe war die Küche, aber sie war leer. Die andere Tür war geschlossen. Er öffnete sie vorsichtig. Der große Raum dahinter war als Arbeitszimmer eingerichtet und hatte viele Fenster, durch die das Abendlicht fiel. Es reichte, um die Füße zu erkennen, die hinter dem massiven, wuchtigen Schreibtisch hervorlugten.
„Doktor Peitner?“, hauchte Paul und trat um den Tisch herum. Der ältere, gutgekleidete Herr lag hinter dem Tisch auf dem Rücken und starrte mit leeren Augen an die Decke. Mitten auf der hohen Stirn prangte ein schwarzes Loch, der Kopf mit dem schlohweißen Haar lag in einer bereits geronnenen Blutlache.
Paul ließ das Brot für Peitner fallen und schlug die Hände vor den Mund. Dann rannte er auf den Hof und erbrach das Brot, das er auf dem Weg gegessen hatte. Als der Brechreiz nachließ und sein Gehirn wieder zu arbeiten begann, rasten seine Gedanken um das Gesehene. Dann erinnerte er sich an das Telefon im Flur und eilte zurück.
„Vermittlung? Hier ist der Anschluss von Doktor Peitner, bitte verbinden Sie mich sofort mit der Polizei ...“, keuchte er und wurde von einem trockenen „Ist es wichtig?“ unterbrochen.
„Verdammt, der Mann ist tot, erschossen!“, brüllte er unter Tränen. „Die Polizei muss sofort kommen!“
Er wurde tatsächlich sofort verbunden und wiederholte, was er gefunden hatte. Der Mann am anderen Ende der Leitung brüllte Befehle und wies ihn an, an Ort und Stelle zu bleiben und zu warten.
Obwohl ihn alles drängte, nach draußen zu gehen und dort zu warten, zog es Paul zurück ins Arbeitszimmer. Er ließ seinen Blick über die Papiere und Aktenordner schweifen. Der aufgeschlagene Terminkalender erregte seine Aufmerksamkeit. Er enthielt keinen Hinweis auf eine Absprache für diesen Tag. „Das kann nicht sein ... habe ich wirklich mit Peitner gesprochen?“
Über diese Frage grübelte er, während er auf einer kleinen Bank vor dem Haus saß und wartete, dass die Polizei eintraf. Die Beamten erreichten den Hof mit einem zweispännigen Landauer. Es waren vier Uniformierte und ein Mann in Zivil mit Anzug und Melone. Paul sah auf, als der Wagen vor ihm hielt. Bevor die Polizisten irgendetwas sagen konnten, sprang der Mann in Zivil schon vom Wagen und legte Paul die Hand auf die Schulter.
„Ich bin Doktor Hannappel, ist mit Ihnen alles in Ordnung, junger Mann?“
Paul sah ihn mit blutunterlaufenen Augen an, während die Polizei an ihm vorbei ins Haus stürzte. „Abgesehen davon, dass ich das Gefühl habe, nie wieder etwas essen zu können, ja.“
„Meinen Sie, Sie könnten mit hineinkommen? Oder soll man Sie hier vernehmen? Es wird doch ein bisschen kühl.“
Paul folgte dem Arzt ergeben in das Arbeitszimmer, wo ein Polizist mit fragendem Blick gerade das Brot vom Boden aufhob. Er erklärte dem Beamten schnell, was es damit auf sich hatte, und sah dann verstohlen zu dem Arzt, der sich über den Toten beugte und ihn mit spitzen Fingern untersuchte.
„Genaues kann ich nicht sagen, ich bin kein geübter Leichenbeschauer, aber den Leichenflecken an Armen und Beinen nach ist er mindestens schon einen Tag tot“, seufzte Hannappel und stemmte sich vom Boden hoch. „Auf jeden Fall hat er nicht gelitten, der Schuss ging aus nächster Nähe durch, er war sofort tot.“
„Vielleicht kann ich etwas zum Todeszeitpunkt sagen“, trat Paul die Flucht nach vorne an und sah demonstrativ auf den Tischkalender. Er wollte nur zurück nach Wiesbaden. Als alle ihn anstarrten, fuhr er fort: „Ich habe gestern um drei Uhr zehn nachmittags Doktor Peitner angerufen und um einen Termin gebeten. Der Sprecher war kurz angebunden, meldete sich nur mit ‚Hallo‘ und sagte, ich solle heute um fünf kommen. Er wollte nicht mal wissen, was ich wollte, obwohl wir uns nicht kennen. In dem Terminkalender steht aber nichts davon. Die Stimme klang sehr tief und heiser, irgendwie ... verstellt.“
Der älteste Polizist zwirbelte nachdenklich seinen Schnurrbart und nickte. „Dann hatten Sie nicht Peitner am Telefon, sondern wahrscheinlich seinen Mörder. Vermerken Sie die Uhrzeit, Bauer. Peitner hatte eine hohe, quiekende Stimme, er hieß bei vielen unter der Hand nur Schweinchen. Was wollten Sie von ihm, Herr ...?“
„Langendorf, Paul Langendorf. Ich bin Architekt und wollte ihn etwas zu einem Gutachten fragen, das er vor vier Jahren erstellt hat. Da er im Ruhestand ist, wollte ich ihn persönlich aufsuchen. Zumal man diese Dinge schlecht am Telefon klären kann, weil das Studium von Plänen dafür unumgänglich ist.“
„Das hilft wohl nicht weiter bei der Suche nach einer Begründung für den Tod des Mannes. Seltsam“, entgegnete der Polizist seufzend.
Paul unterdrückte das Bedürfnis, ihm zu sagen, wie sicher er war, dass genau dieses Gutachten möglicherweise der Grund für den Mord an Peitner war. Aber es musste aus ihm heraus, und dieser Polizist schien ihm um Welten intelligenter zu sein, als es Polizisten gemeinhin waren, zumal in ländlichen Gebieten. Umso überraschter war Paul, als der Arzt ihn unterbrach, als er den Mund aufmachen wollte, um etwas zu entgegnen.
„Hier gibt es für uns nicht viel zu tun. Sie sollten die Kriminalpolizei aus Wiesbaden herbeordern, Wachtmeister … ähm, wir kennen uns auch noch nicht?“, sagte der Arzt mit strenger Stimme und warf Paul einen warnenden Blick zu.
„Obermann, Doktor Hannappel. Ich war gerade bei den Kollegen aus Niedernhausen. Bin eigentlich aus Limburg und habe meine Hilfe angeboten“, erwiderte der Mann. Er war sichtlich ungehalten über die Unterbrechung durch Hannappel und wagte nicht, noch einmal bei Paul nachzufragen.
„Dann kann der Tote schon mal ins Leichenschauhaus. Immer noch Idstein? Oder funktioniert die Kühlkammer des Niedernhausener Friedhofes wieder? Die Todesursache ist eindeutig, die Kugel können Sie dort aus dem Schrank puhlen, Hemberger. Dann sollte man das Haus verschließen und auf die Wiesbadener warten. Die können vielleicht aus den Unterlagen herausfinden, woher der Wind weht.“ Hannappel warf einen Blick auf die Unterlagen auf dem verwüsteten Schreibtisch. „Wenn da noch etwas von Belang dabei ist. Sieht aus, als hätte hier schon jemand etwas gesucht. Herr Langendorf, können Sie uns sagen, was? Als Architekt haben Sie bei diesen Plänen vielleicht einen besseren Durchblick.“
Paul war Hannappel dankbar für die Möglichkeit, einen Blick in die Papiere zu werfen. Ohne auf den Toten zu achten, trat er an den Tisch und sah sich die Unterlagen an, blätterte sie vorsichtig durch, ohne etwas zu verändern. Seine Stirn warf tiefe Falten, als er sah, woran der Mann trotz Ruhestand offensichtlich intensiv gearbeitet hatte. „Kelsterbach – und erst vom letzten Jahr? Er war also doch noch nicht richtig im Ruhestand?“
Hannappel zuckte die Achseln. „Ach, Sie kennen das doch sicher. Wer kann schon nach einem langen Arbeitsleben einfach aufhören? Ich könnte es nicht. Ich bin Arzt aus Leidenschaft, und er war eben spezialisierter Gutachter. Da findet man vermutlich auch nicht so schnell Ersatz.“
„Stimmt. Das hier ist in der Tat sehr speziell. Geologische Gutachten für geplante Baumaßnahmen, und die dürften den Kelsterbachern nicht gefallen haben. Da soll ein weiterer Chemiestandort bei ihnen an den Main kommen, dazu Rohrleitungen zum Luftschiffhafen. Das ist nicht ungefährlich, da der Boden dort nicht sonderlich tragfähig ist. Peitner war nach diesen Berechnungen auch nicht begeistert von diesen Plänen. Sie besagen, dass es erhebliche Gefahren für die Umgebung bedeutet, besonders für die Kelsterbacher. Ich glaube, die haben bitter bereut, dass sie eingemeindet wurden“, erklärte Paul. Wieder notierte er sich nachzuforschen, wer was angestellt hatte, um die Kelsterbacher in den Groß-Stadtkreis einzugliedern. Wer hinter diesem neuen Chemiestandort stand, war jedenfalls eindeutig: Wallenfels.
„Dann gibt es zumindest einen Verdächtigen, dem der Tod des armen Peitner gelegen kommt! Den, der das Chemiewerk haben will, wer immer es ist“, seufzte der Arzt, „meinen Sie nicht auch?“
Paul lächelte. „Haben Sie eine Ahnung, wer das sein könnte? Ich schon. Der Luftschiffhafen gehört Baron von Wallenfels. Wenn eine Hochdruck-Rohrleitung von diesem Chemiestandort zum Luftschiffhafen hinführen soll, dann kann das eigentlich nur bedeuten, dass eine der vielen Firmen dahintersteht, die ihm ganz oder teilweise gehören.“
An der plötzlichen Blässe des Arztes und der Polizisten konnte er ablesen, dass den Männern die Konsequenzen sehr wohl klar waren. Nur Obermann schien unbeeindruckt. Im Gegenteil. Seine Augen gaben Paul einen Eindruck davon, was hinter der Fassade des Beamten brodelte. „Du bist kein Polizist, mein Freund. Das wette ich“, dachte Paul.
„Nun … ich rufe die Kriminaler an!“ Hemberger zog sich in den Flur zurück und ließ sich mit Wiesbaden verbinden.
Ein anderer Polizist lief zur Kutsche und kehrte mit einem Bündel Laken zurück, in die er den Leichnam einwickelte. Obermann verhielt sich passiv und sah nur mit finsterer Miene zu Paul, der sich nicht von den Plänen losreißen konnte, die Blicke aber deutlich spürte. In der Befürchtung, nie wieder eine Hand an die Pläne legen zu können, versuchte er, sich auf die Schnelle so viele Einzelheiten einzuprägen wie möglich.
Der Tote wurde aus dem Haus getragen, und Wachtmeister Hemberger drängte darauf, dass sie alle herauskamen, damit er es verschließen und versiegeln konnte. Ein paar Neugierige hatten sich eingefunden, und die Polizisten hielten sie zurück. Paul vermutete, dass sie von den umliegenden Höfen stammten und den Landauer gesehen hatten. Die Dorfpolizisten fragten einen nach den anderen, ob sie etwas Ungewöhnliches bemerkt hatten. Sie machten ihre Sache erstaunlich gut und professionell. Wahrscheinlich wollten sie sich bei ihrem ersten richtigen Kriminalfall in ihrem Zuständigkeitsbereich keine Blöße geben und sich blamieren.
Hemberger trat auf ihn zu und fragte nach Namen und Adresse. Paul nannte ihm beides. Dabei nahm er aus dem Augenwinkel wahr, dass Obermann etwas abseits stand und sich mit einem verschlagen aussehenden Burschen in der Nähe der Schaulustigen unterhielt. Auch sah er sich immer wieder misstrauisch zu Paul und Hannappel um. Paul prägte sich beider Gesichter genau ein, denn er hatte den Verdacht, dass von beiden noch Gefahr drohte. Vermutlich war der Name des Wachtmeisters so falsch wie sein ganzes Auftreten.
„Die Kutsche ist jetzt ziemlich voll, aber ich habe eine Lampe. Gehen wir zu Fuß nach Niedernhausen zurück, Herr Langendorf?“, fragte Hannappel.
„Gern.“ Paul wartete aber, bis auch der seiner Ansicht nach falsche Polizist in die Kutsche eingestiegen war, bevor er sich auf den Weg machte. Der Mann hatte ihm Angst gemacht, und er war sich sicher, dass er keinerlei Skrupel haben würde, lästige Mitwisser auszuschalten. Dass Hannappel bei Paul war, hätte ihn sicher nicht abgehalten, aber seine Tarnung durfte nicht fallen. Abgesehen davon waren die beiden Männer nicht alleine unterwegs. Ein paar neugierige Dörfler bewegten sich auf demselben Weg zurück, da es nichts Aufregendes mehr zu sehen gab.
„Sie misstrauen Obermann auch?“, fragte Paul, als sie außer Sicht und Hörweite waren.
Der Arzt lachte auf. „Ich habe den Kerl noch nie gesehen. Vielleicht ist er wirklich Polizist, aber er war nach Ihrem Anruf einfach zu schnell bereit, die Polizisten zu begleiten. Ich war gerade auf der Wache, daher war ich auch gleich dabei. Musste eine Schlägerei melden, bei der ich Verletzte versorgt hatte. Nein, Obermann gefällt mir nicht. Ich werde mal ganz unverdächtig in Limburg anrufen und um ein Gespräch mit Wachtmeister Obermann bitten. Sie wollten gerade was sagen?“
„Ich habe Ihr Ablenkungsmanöver bemerkt, und es war gut so, denn ich wollte tatsächlich gerade sagen, dass der Mord möglicherweise doch mit dem von mir genannten Gutachten zu tun hat. Inzwischen bin ich aber überzeugt, dass es mehr mit dem Kelsterbacher Gutachten zu tun hat. Dass Peitner deshalb sterben musste. Er wusste einfach zu viel.“
„Was war das für ein Gutachten, dessentwegen Sie kamen?“
Paul erklärte unter Auslassung einiger Einzelheiten, die sich auf Peters Fälle bezogen, was er nach dem Einsturz des Gebäudes herausgefunden hatte und dass er Peitner nach dem Grund für die Erstellung des Gutachtens fragen wollte.
Er hatte gerade geendet, als hinter ihnen ein lauter Knall durch das Tal hallte. Erschrocken fuhren die beiden herum und sahen mit Entsetzen die Feuersäule, die sich über den Bäumen um die Mühle herum erhob.
„Mein Gott!“, riefen beide gleichzeitig.
In Niedernhausen ging die Sirene der Feuerwehr los, und die beiden Männer starrten auf das Flammeninferno. „Das haben wir Obermann zu verdanken!“, knurrte Paul. „Ich habe gesehen, wie er mit einem seltsamen Mann sprach. Ich glaube nicht, dass er ihn verhört hat.“
„Das habe ich auch gesehen. Kannte den Mann nicht. Einer der Holzfäller vielleicht aus dem Staatsforst.“ Auch Hannappels Gesicht hatte sich wütend verzogen. „Das war’s wohl. Die einzigen Beweismittel sind vernichtet. Diese Leute haben keinerlei Skrupel.“
Paul nickte, und Tränen der Trauer und des Zorns liefen ihm über die Wangen. Zorn, der seinen Tatendrang anstachelte, diesem Treiben ein Ende zu setzen. „Das muss ein Ende haben …“
Hannappel sah ihn besorgt an. „Lassen Sie die Finger davon. Ihr Engagement in Ehren, aber Sie bringen sich damit in höchste Gefahr. Ist es das wert?“
Paul sah Hannappel entsetzt an. „Ich habe nicht viel zu verlieren, denn die Urheber dieses Verbrechens haben mir schon alles genommen, und ich bin nicht allein. Nur kämpfen die anderen bisher auf verlorenem Posten, weil sie nicht in die Gesellschaft eindringen konnten, die dafür verantwortlich ist. Ich weiß, dass mein Leben seit heute kaum mehr einen Pfifferling wert ist. Obermann wird seinen Auftraggebern Bericht erstatten, und ihm muss klar sein, dass ich aus den Unterlagen herausgelesen habe, woher der Wind weht. Jetzt habe ich zwar nichts mehr in der Hand, weil die Unterlagen vernichtet sind, aber ich habe ein paar weitere lose Fäden verknüpft, wenn auch noch ohne Beweis. Ich hoffe, mir bleibt genügend Zeit, diese zu bekommen.“
Hannappel sah ihn zweifelnd an, aber der Kampfgeist, der in Paul erwacht war, ließ ihm keine Ruhe, so dass es ihm leicht fiel, die Zweifel zu ignorieren, die auch ihm Angst machen wollten. „Ich hoffe, es geht heute noch ein Zug nach Wiesbaden?“