Ely
NAHE
Als ich aus der Wohnung gehe, signalisiert Naomi
mir: »Viel Glück.«
Ich erinnere mich noch genau daran, wie wir
beschlossen haben, die Gebärdensprache zu lernen - es war in der
vierten Klasse, und wir wollten Geheimnisse austauschen können,
auch wenn unsere Eltern oder Freunde dabei waren. Später war das
großartig für Clubs, in denen die Musik zu laut war - wir konnten
uns immer unterhalten, ohne uns die Seele aus dem Leib brüllen zu
müssen. Manchmal sind wir zufällig auf andere gestoßen, die auch
die Gebärdensprache konnten, und dann haben wir uns miteinander
unterhalten. Aber die meiste Zeit gab es nur mich und Naomi, wie
immer in unserer Zwei-Personen-Welt, die nur für uns geschaffen
war.
Über all das denke ich nach, während ich zu Bruce
gehe, und ich komme zu dem Schluss, dass wir uns noch so sehr
anstrengen können, es wird sich immer so anfühlen, als würden wir
alle verschiedene Sprachen sprechen. Selbst wenn wir dieselben
Wörter benutzen, kann die Bedeutung eine andere sein. Und der
Fehler liegt nicht darin, verschiedene Sprachen zu sprechen, der
Irrtum liegt darin, diese Tatsache zu verkennen. Ich dachte immer,
Naomi und ich hätten unsere Wörter und die Bedeutungen perfekt
aufeinander abgestimmt. Aber das ist einfach nicht möglich. Es gibt
immer Bedeutungen, die voneinander abweichen, Wörter, die anders
verstanden werden, als sie gesagt wurden. Es gibt keinen
vollkommenen Gleichklang verwandter Seelen... und wer hätte auf so
was auch Lust? Ich möchte jedenfalls keine halbe oder geteilte
Seele sein. Ich will meine eigene verdammte Seele haben. Und zwar
ganz.
Ich glaube, ich lerne gerade, das Wörtchen
nahe zu würdigen. Denn das sind Naomi und
ich. Wir sind uns nahe. Nicht mehr und nicht weniger. Nicht
identisch. Keine Seelenverwandten. Aber nahe. Denn mehr kann man
bei einem anderen Menschen nicht erreichen, als einander sehr, sehr
nahe zu sein.
Das will ich mit Bruce auch.
Ich will ihm nahe sein.
Es ist unsinnig, Freundschaft und Liebe für zwei
getrennte Dinge zu halten. Das sind sie nicht. Freundschaft und
Liebe sind beides Varianten von Liebe. Immer steckt dahinter der
Wunsch, einander nahe zu sein.
Robin und Robin kommen herunter, um mich ins
Wohnheim reinzulassen - ich möchte mich bei Bruce durch ein Klopfen
an seiner Tür und nicht durch ein Summen in der Gegensprechanlage
ankündigen.
Robin und Robin streiten gerade darüber, was Bill
Murray wohl am Ende von »Lost in Translation« Scarlett Johansson
zuflüstert. Es ist eines dieser Paargefechte, wo man das Gefühl
hat, dass beide es total geil finden, selbst wenn sie sich bis aufs
Messer streiten. Muss Spaß machen, wenn man drinsteckt, aber für
alle anderen ringsum ist es die Hölle.
Ich entwische ihnen und schleiche durch die Gänge,
bis ich vor der Tür von Bruce stehe. Ich bin so aufgeregt, dass ich
sogar darüber nachdenke, wie ich anklopfen soll. Ein freundliches
Pochen? Ein enthusiastisches Trommeln? Der Rhythmus eines
Abzählreims?
Ich entscheide mich für das freundliche Klopfen.
Sein »Wer ist da?« lässt mich noch nervöser werden.
»Ich bin es«, sage ich. »Dein verlorener
Freund.«
Die Tür öffnet sich und Bruce blickt auf meinen
Anzug, mein ängstliches Lächeln. Ich blicke auf... seine
Ichbleibe-heute-Abend-zu-Hause-Klamotten. Ausgewaschenes grünes
T-Shirt, abgetragene Jeans.
Hör auf, seinen Stil zu
beurteilen. Hör auf, seinen Stil zu beurteilen. Hör auf, seinen
Stil zu beurteilen.
»Hallo«, sagt er, und ich höre an seiner Stimme,
dass ich hier nicht der Einzige bin, der nervös ist.
Ich glaube, ich bin nie über die
Was-zieh-ich-denn-anFrage hinausgekommen, denn ich stehe da wie ein
Volltrottel, blöder geht’s nicht mehr.
Und das ist der Augenblick, in dem sich alles in
ein Musical verwandelt. Natürlich nicht wirklich. Nicht als ob ein
Orchester zu spielen angefangen hätte oder Bruce und ich plötzlich
singen. Aber ich erkenne diesen Augenblick wieder: Es ist der
Augenblick, in dem der Handelsreisende der schüchternen
Buchhändlerin seine Liebe erklärt. Sie glaubt ihm nicht. Er muss es
ihr beweisen. Sie sind füreinander bestimmt - das spüren sie beide
-, aber nur einer von beiden glaubt daran. Es ist höchste Zeit,
dass etwas passiert, auch wenn es nicht einfach ist. Es ist Zeit,
die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit als Überzeugungsmittel
einzusetzen. Das spüre ich.
Sobald ich im Zimmer bin, sobald die Tür sich
hinter mir schließt, singe ich ihm die Wahrheit. Die Worte strömen
aus mir heraus, und obwohl die Musikbegleitung fehlt, gibt es doch
eine Melodie. Ich sage ihm, dass ich ihn vermisst habe. Ich sage
ihm, dass ich nicht verstehe, was ich falsch gemacht habe und warum
er auf einmal verschwunden ist, aber was auch immer es war, ich
werde alles tun, damit es nicht noch einmal passiert. Ich sage ihm,
dass ich weiß, ich bin nicht gut genug für ihn. Dass ich ein
unzuverlässiger Junge bin, der immer dann versagt, wenn ihm etwas
wirklich wichtig ist. Das ist meine
Sprache. So kann ich ihm sagen, was ich ihm sagen muss. Weil ich
plötzlich mitten in einem Musical bin.
Ich sage nicht: »Ich hab mich in dich verliebt«,
weil das der Satz ist, der hinter jedem der Sätze steckt, das
Gefühl hinter jedem einzelnen Wort.
»Ich hab mich in dich verliebt« hört sich bei mir
so an: »Ich weiß, dass ich total herumbaggere, und ich weiß, dass
es einfach tödlich sein muss, mein Freund zu sein, und ich bin mir
sicher, wenn du meine Exfreunde befragen würdest, dann würden sie
dir zu 110 Prozent erzählen, dass du schreiend vor mir davonrennen
sollst. Ich weiß, dass ich wahrscheinlich alles zu schnell will,
und ich weiß, dass ich immer alles falsch mache, und ich weiß, dass
du wahrscheinlich das Gefühl hast, gerade noch rechtzeitig
davongekommen zu sein, dass es vernünftig und richtig war, mich
wieder aus deinem Leben zu verbannen. Ich weiß, dass ich es
wahrscheinlich nicht verdient habe, weil du viel zu süß und nett
und klug für mich bist. Ich weiß, dass ich dich total überrumpelt
habe und dass du es wahrscheinlich jetzt bereust. Aber ich hoffe
trotzdem ganz stark, dass du spürst, da war was zwischen uns, denn
ich fühl mich immer so unglaublich wohl, wenn ich mit dir zusammen
bin, und ich hab das Gefühl, ich könnte der Mensch werden, der ich
wirklich sein möchte, wenn ich mit dir zusammen bin, und ich
glaube, ich könnte dich wirklich so respektieren, wie du es
verdienst, wenn wir zusammenbleiben. Und ich merke, dass ich
wahrscheinlich gerade alles kaputt mache, wenn ich nicht sowieso
schon alles kaputt gemacht habe, aber vielleicht spürst du ja in
deinem Herzen, dass wir es miteinander probieren sollten und
einfach sehen sollten, was passiert. Hoffentlich.«
Ich höre auf und die Musik liegt erstarrt in der
Luft. Alles wartet auf die Antwort der Buchhändlerin. Denn dann
werden die Töne zu neuem Leben erweckt werden oder auf den Boden
fallen und klirrend zerbrechen.
Eine Pause. Und dann...
Bruce öffnet den Mund und singt ebenfalls: »Nein -
du verstehst nicht. Ich bin nicht gut genug für dich.«
Und plötzlich ist es ein Duett.
»Ich bin nicht sexy«, singt er.
»Doch, das bist du«, singe ich zurück.
»Ich bin ein Egoist«, singe ich.
»Nein, das bist du nicht«, singt er zurück.
»Ich habe Angst«, singt er.
»Macht nichts«, singe ich zurück.
»Ich habe Angst«, singe ich.
»Das gehört dazu«, singt er zurück.
Wir nehmen an uns immer unsere schlimmsten Seiten
wahr. Unsere verletzlichsten Seiten. Wir brauchen jemand, der uns
nahe ist. Nahe genug, um uns sagen zu können, dass wir uns
täuschen. Jemand, dem wir vertrauen.
Ich weiß, dass Bruce nie der Typ für die Clubs
sein wird. Er wird auf dem Dancefloor nie eine gute Figur machen.
Ich weiß, wo er seine Grenzen hat. Ich weiß, dass er ein Mutant
ist.
Aber das mag ich.
Ich muss ihn nur davon überzeugen. So wie er mich
davon überzeugen muss, dass er mich nicht für niederträchtig und
herzlos hält.
Das ist es, was wir tun müssen.
Wir wissen beide, dass das alles nicht gleich
geschehen kann. Und es kann nie vollkommen geschehen.
Aber wir können nahe drankommen.
Er fragt mich, warum wir noch nicht miteinander
geschlafen haben, und ich erkläre ihm, warum ich noch warten will,
warum das für mich so viel bedeutet, und ich denke, wie dumm von
mir, dass ich es ihm nicht schon früher erklärt habe, dass ich ihn
davon ausgeschlossen habe. Und ich frage ihn, warum er damals aus
dem Club verschwunden ist, einfach so, und er erzählt mir, wie
eingeschüchtert er da war und wie unwichtig er sich gefühlt
hat.
»Ich war mir viel zu sicher«, sage ich.
Und er sagt: »Nein. Ich habe viel zu schnell
aufgegeben. Ich hätte was zu dir sagen sollen. Dann hätte ich
gemerkt, dass es sich in meinem Kopf
abgespielt hat, nicht in deinem.«
Ich habe schon Leute geküsst, nur damit sie
aufgehört haben zu reden, das gebe ich zu. Ich habe Jungs (und
Mädchen) aus Mitleid geküsst oder um das Gefühl von Macht zu haben
oder einfach nur, weil ich es gerade wollte. Aber als ich Bruce
jetzt küsse - als wir uns umarmen und uns küssen und ganz
ineinander versunken sind -, versuche ich nicht, irgendetwas zu
unterdrücken oder zu vermeiden oder hervorzukitzeln oder zu
beherrschen. Ich küsse ihn aus Liebe. So einfach ist das.
Wenn wir in einem Musical wären, dann würde das
Orchester jetzt nach einem mächtigen Akkord aussetzen, das Publikum
würde anfangen zu klatschen, die Scheinwerfer würden ausgehen. Und
dann wäre alles vorbei.
Diesmal aber bleiben der Handelsreisende und die
Buchhändlerin auf der Bühne. Sie warten, bis alle Zuschauer die
Sitzreihen verlassen haben. Sie warten, bis das Orchester seine
Instrumente eingepackt hat und nach Hause gegangen ist. Sie bleiben
auf der Bühne stehen, bis nur noch sie beide übrig sind.
Und sie singen immer noch, auch als niemand mehr
im Theater ist.
Es ist früh am Morgen, als ich nach Hause zu Naomi
gehe.
Auf dem Weg zum Aufzug komme ich an Gabriel
vorbei.
»Wehe, wenn du nicht gut zu ihr bist«, sage ich zu
ihm. Mehr nicht.
»Werd ich«, sagt er. Das ist alles.
Ich schleiche auf Zehenspitzen durch unsere
Wohnung, um meine Mütter nicht aufzuwecken. Naomi liegt in meinem
Bett und schläft - als müsste sie den ganzen Schlaf der vergangenen
schlaflosen Monate nachholen, all die Müdigkeit überwinden. Als ich
sie so sehe, die Decke fest umklammernd (sie hat sich schon immer
an der Decke festhalten müssen), ein Fuß an der Seite
herunterbaumelnd (sie braucht immer ihre Freiheit), spüre ich, wie
vertraut sie mir ist. Wirklich vertraut. Und weil ich sie so gut
kenne, spüre ich auch, wo die Grenze ist, hinter der sie mir fremd
zu werden beginnt. Was ganz in Ordnung ist. Wir sollten alle unsere
eigenen Seelen haben.
Ich ziehe meine Schuhe aus, die Jacke, streife die
Krawatte über den Kopf. Sie bewegt sich etwas, als ich mich zu ihr
aufs Bett lege - vorsichtig. Ich habe vier Kissen, jedes mit dem
gleichen Überzug, aber sie schafft es immer, das beste zu
erwischen. Ich rutsche ein wenig herum, bis ich es auf dem
zweitbesten Kissen bequem habe. Ich drehe mich auf die Seite,
sodass ich sie in der Dunkelheit sehen kann.
»Wie war’s?«, fragt sie schlaftrunken.
»Gut«, sage ich, »gut.«
»Gott sei Dank«, sagt sie und zieht ihr Knie etwas
höher. Unsere Knie berühren sich. Näher werden sich unsere Körper
nicht kommen - das ist die Distanz und die Nähe, die wir beide
brauchen.
Ich hätte auch bei Bruce bleiben können, aber ich
wollte, dass diese Nacht hier zu Ende geht. Bei Naomi. Ich wollte
hierher zurückkommen. Dies hier gehört zu meiner Geschichte so wie
alles andere. Zu Freundschaft gehört die Liebe genauso wie zur
Liebe. Und wie jede Liebe ist auch eine Freundschaft schwierig und
verwirrend und voller Fallstricke. Aber in dem Augenblick, als sich
unsere Knie berühren, bin ich restlos glücklich.
»Gute Nacht, Robin«, sage ich.
»Gute Nacht, Robin«, antwortet Naomi.
»Gute Nacht, Mrs Loy.«
»Gute Nacht, Kelly.«
»Gute Nacht, Zuckerstückchen.«
»Zuckertörtchen.«
»Entschuldigung. Gute Nacht,
Zuckertörtchen.«
»Buenas noches, Donnie
Weisberg.«
»Gute Nacht, Shaun, Art, Neal und Ink.«
»Gute Nacht, Bruce der Erste.«
»Gute Nacht, Mütter.«
»Gute Nacht, Mom. Und Dad.«
»Gute Nacht, Gabriel.«
»Gute Nacht, Bruce.«
»Gute Nacht, Naomi.«
»Gute Nacht, Ely.«
Es ist eine riesengroße Lüge, wenn immer behauptet
wird, dass man nur mit einer Person sein Leben teilen kann.
Wenn man Glück hat - und wenn man sich anstrengt
-, dann wird es immer mehr als eine Person geben.