Bruce der Zweite
MUTANT
Was tu ich hier in diesem Wandschrank?
Als Ely zu mir gesagt hat, dass ich hierbleiben soll, hat er bestimmt nicht gemeint: im Wandschrank.
Oder?
Nach gut zwei Minuten (ich zähle bis 120) gehe ich raus. Aber ich mache die Tür hinter mir nicht zu. Ich starre hinein und guck mir die hübschen T-Shirts von Ely an. Sie sehen aus, als wären sie alle aus Seidenpapier.
Ich kaufe alle meine Sachen bei Gap. Ich hab noch nicht mal den Körper für die normal geschnittenen Sachen von Abercrombie. Ich besitze drei Paar Jeans und wechsle sie durch. (Für die hab ich meinen Geldbeutel geplündert und bin zu Banana Republic gegangen.) Was tu ich hier?
Ich weiß, dass Ely mit mir kein Spielchen treibt. Ich vertraue ihm. Aber ich habe das Gefühl, dass das Leben mit mir spielt. Denn das kann doch gar nicht sein. Der kosmische Drehbuchautor hat sich da einen kleinen Witz erlaubt.
Ely würde sich nie in einen Jungen verlieben, der ein Hemd von Gap und Jeans von Banana Republic trägt. Vor allem nicht in Größe 34/32.
Und ich könnte mich nie in einen Jungen verlieben, der... nun ja, der... ein Junge ist. Aber so steht’s im Drehbuch, oder? Ich meine, ich weiß, dass man sich in eine Person verliebt und nicht in das Geschlecht... Trotzdem, dass mir so was passieren würde, hätte ich nie gedacht. Ich will mir nichts vorlügen: Ich habe über diese Jungs-Kiste früher schon mal nachgedacht. Und dann hab ich sie abgehakt. Bis jetzt. Das hier kann ich nicht so einfach abhaken.
Ich weiß, dass ich besser gehen sollte. Einfach weggehen. Denn es gibt immer den Punkt, an dem ein Fehler zu einem großen Fehler wird, und ich sollte besser zu mir kommen, bevor es zu spät ist.
Aber das ergibt keinen Sinn. Ich muss nicht zu mir kommen. Ich bin schon bei mir. Und ich bin hier glücklich. Oder werde es sein, wenn er wieder zurückkommt.
Ich überlege, ob ich mich vielleicht woanders verstecken soll, und gehe in die Hocke, um unter das Bett zu gucken, vielleicht passe ich da drunter.
Und so finde ich ihn.
Den geheimen Schatz.
Zuerst begreife ich gar nicht, was ich da vor mir habe. Ich sehe die ganzen Plastikschutzhüllen unter dem Bett und meine erste Reaktion ist: Er packt seine Pornos in Klarsichthüllen?
Dann fasse ich hinein und ziehe ein Heft heraus.
Das kann nicht sein.
Und doch ist es so. Scheint so, als besäße er jeden X-Men-Comic aus den letzten zehn - nein, zwanzig Jahren. Keine von den grauenhaften Ablegern und Fortsetzungen. Nur die Kernserie. Wolverine. Jean Grey. Emma Frost. Hmmmm... Emma Frost.
Die X-Men sind für mich die Helden gewesen. Ein Wendepunkt in meinem Leben. Vor ihnen fand ich immer die angepassten Superhelden toll, wie Superman oder Batman, die ihre »normalen« Alter Egos hatten - ihr Alltagsleben als Clark Kent oder Bruce Wayne, hinter dem sie sich verstecken konnten. Aber die X-Men waren anders. Sie waren immer die, die sie waren. Wolverine konnte sich nicht rasieren und eine Krawatte anlegen und in einer Zeitungsredaktion zur Arbeit gehen. Rogue konnte niemals jemand einfach nur so anfassen, egal ob in der Schule oder im Krieg. Cyclops konnte nicht seinen Umhang ablegen und dann auf einer schicken Party harmlos plaudern. Nein, die Mutanten waren Vollzeit-Mutanten. Für immer. Ihre Kräfte und ihre Stärken und ihre Schwächen lagen für alle offen da.
Das gefiel mir.
Ich durfte meine Comics nie aufheben. Meine Mutter mochte keine Unordnung. Meine alten Comics sollte ich lieber den armen Kindern schenken, die sich selber keine kaufen können, hat sie immer erklärt. Was hätte ich dagegen sagen sollen?
Ely, so viel ist klar, hat da eine andere Einstellung.
Ich lasse die Comics in den Plastikhüllen. Ich darf sie nicht durch meine Fingerabdrücke verunstalten. Nicht ohne ihn gefragt zu haben. Aber ich schaue mir ein paar Cover an, alles Szenen mit Jim Lee. So vielschichtig können Mutanten sein. Ein paar Hefte gibt es doppelt und auf die Schutzumschläge ist ein goldener Stern geklebt. Zweifellos Elys Favoriten.
Das hätte ich nie gedacht. Unter dem Seidenpapier das Herz eines X-Men. Unheimlich.
Ich bin so gebannt, dass ich die Schritte und die Tür, die sich öffnet, nicht höre. Doch ich spüre, dass plötzlich jemand im Raum ist, und als ich hochblicke, sehe ich eine von Elys Müttern auf der anderen Seite.
»Hallo«, sagt sie. Sie scheint nicht besonders überrascht zu sein, mich hier zu sehen.
»Hey«, sage ich und will aufstehen.
»Nein, nein - bleib ruhig, wo du bist. Du wartest wahrscheinlich auf Ely. Mach es dir in der Zwischenzeit bequem.«
Und das war’s. Sie dreht sich um und geht aus dem Zimmer.
Was mich darüber nachgrübeln lässt, ob so was wohl häufiger vorkommt.
Was mich darüber nachgrübeln lässt, warum ich immer noch hier bin.
Ich meine, ich weiß, dass Ely mit vielen Jungs geschlafen hat. Naomi hat mir erzählt, was für ein Aufreißer er ist. Immer wenn wir zusammen waren, hat sie damit angegeben. Nicht nur, was den Sex angeht. Alles. Die Jungs waren für ihn alle ersetzbar, das hab ich gespürt. Leichtgewichte. Naomi dagegen war Granit. Ely und Naomi waren beide füreinander Granit. Da konnte ich nicht mithalten. Deshalb hab ich sie reden lassen. Ich habe sie immer reden lassen. Meistens über Ely.
Haben sich alle die Jungs so gefühlt wie ich jetzt? Ich meine, fühlt sich das normalerweise so an?
Ich komme mir vor, als würde ich Mitglied in einem Club werden. Der Jungs-die-sich-schon-mal-in-Ely-verliebt-haben-Club. Hunderte von ihnen in New York City und den Vororten. Jedes Jahr halten sie ein großes Treffen ab und vergleichen ihre gebrochenen Herzen.
Wie lange warten sie normalerweise in solchen Situationen auf ihn? Eine Stunde? Zwei? Die ganze Nacht?
Ich weiß noch nicht mal, ob ich überhaupt Jungs mag.
Tja. Aber hier bin ich.
Ich lege mich auf den Boden. Schließe die Augen. Ich kann aus einem Zimmer einen Fernseher hören - vielleicht bei seinen Müttern, vielleicht aus der Wohnung drunter. Wenn ich sie hören kann, hören sie mich dann auch? Im Augenblick bin ich nichts als Herzklopfen und Gedanken. Weder unterwegs noch angekommen. Dazwischen.

»Du hättest dich auch aufs Bett legen können.«
Ich öffne die Augen und Ely beugt sich lächelnd über mich. So verdammt sexy, dass ich nicht anders kann - ich will ihn und fürchte mich und wehre mich dagegen und will ihn trotzdem.
»Wie spät ist es?«, frage ich. Bin ich eingeschlafen? Bin ich wirklich wach?
»Ich war nur zehn Minuten weg«, antwortet er. »Hast du mich vermisst?«
Ich sag es einfach. »Ja.« Ohne Umschweife.
Bitte lass das kein Spiel sein. Bitte lass das kein Spiel sein. Wenn das nämlich ein Spiel ist, weiß ich, dass ich verlieren werde.
Ich setze mich auf und er setzt sich neben mich. Sein Atem riecht nach Orbit. Er wirkt ein bisschen traurig, aber er versucht, es vor mir zu verstecken.
»Wo ist Naomi?«, frage ich.
»Sie ist ohne mich gegangen. Mit Bruce dem Ersten im Schlepptau.«
Das ist eine Sensation. Eine Riesennachricht. Wenn man zwei Leute voneinander trennt, die normalerweise wie ein Atomkern miteinander verschmolzen sind, gibt es eine Explosion.
Doch Ely will nicht darüber reden.
»Ich seh schon, du hattest was zum Lesen«, sagt er, neben das Bett deutend.
»Der Wahnsinn«, sage ich.
Ich betrete das Land der Bonus-Punkte.
»Du hast was für X-Men übrig?«, fragt er. Und schiebt damit was auch immer zwischen ihm und Naomi geschehen sein mag beiseite, um mit mir zusammen zu sein.
»Machst du Witze?«, sage ich. »Als ich neun war, hab ich eine Anmeldung losgeschickt, weil ich unbedingt auf Xaviers Schule gehen wollte. Brief geschrieben, Briefmarke draufgeklebt, in den Briefkasten gesteckt, alles was dazugehört. Ich hab keine Antwort gekriegt, aber im nächsten Jahr hab ich es wieder versucht. Und wieder und wieder.«
»Sie hatten ihre Schwulenquote wahrscheinlich schon erfüllt.«
Ich fühle mich etwas unwohl, als er das sagt - er scheint nicht zu merken, wie neu dieses Terrain für mich ist.
»Ich glaub nicht, dass ich das damals in den Brief geschrieben habe«, antworte ich dann. »Aber, na ja, die hatten bestimmt ihre Wege, das rauszufinden.«
Ely schaut mich an. Und es fühlt sich so an, als würde er mich berühren.
»Und welche Eigenschaften hast du noch, die dich zum Mutanten machen?«, fragt er.
Manchmal ist Anziehungskraft das einzige Wahrheitsserum, das man braucht. »Ich weiß nicht«, beginne ich. Aber ich weiß es und ich erzähle es ihm auch. »Ich fürchte mich vor der Zahl sechs. Ich habe eine mikroskopisch kleine dritte Brustwarze, die mich im Mittelalter zu einer Hexe gemacht hätte. Ich kann meine Zunge rollen. Ich kann keine Frisbee-Scheibe werfen, egal wie sehr ich mich bemühe. Ich vermeide rote Lebensmittel.«
»Auch Essen, in dem nur ein bisschen Rot vorkommt?«
»Nein. Nur wenn es ganz rot ist. Pizza ist okay, Tomaten allein nicht.«
Er nickt ein weises Nicken. »Verstehe.«
Ich bin glücklich, dass er mich versteht. Aber noch viel lieber wäre mir, er würde spüren, wie gerne ich ihn jetzt sofort küssen würde.
Stattdessen sagt er: »Naomi hat mir nie erzählt, dass du ein Mutant bist.«
Naomi.
Das laute Geräusch, das man da gerade hört, ist meine Stimmung, die in den Keller fällt.
»Wo ist sie hingegangen?«, frage ich. »Keine Ahnung.« Er hört sich genervt an, als er das sagt - vielleicht sogar gekränkt. Doch dann verdeckt er das schnell hinter einem: »Hat mir gut in den Kram gepasst. Ich bin viel lieber hier mit dir.«
Ich weiß nicht, warum, aber ich frage ihn: »Ist das wirklich wahr?«
Ely schüttelt den Kopf. »Mann, was musst du bloß von mir halten. Ich will mir das gar nicht ausmalen.«
»Naomi hat mir alle möglichen Geschichten erzählt«, sage ich.
»Da bin ich mir sicher«, sagt er. »Haben sie wenigstens was getaugt?«
»Nicht wirklich«, erkläre ich. »Okay, die eine Story, wo der Kerl in der B-Bar vor dir auf die Knie gefallen ist und >Don’t You Want Me< gesungen hat, war ziemlich lustig. Die andere, wo der Typ wollte, dass du ihm mit einem Textmarker deine Telefonnummer auf den Schwanz schreibst - weniger. Und ich weiß immer noch nicht genau, warum dieser eine Junge dir den Ahornsirup in die Hand gedrückt hat. Um ehrlich zu sein, mag ich dich in echt lieber als in den ganzen Geschichten.«
»Das ist komisch. Ich hab die Naomi-Version von mir nämlich immer sehr gemocht. Ich finde mich immer viel interessanter, wenn sie Geschichten über mich erzählt.«
»Hmm, vielleicht irrst du dich da«, sage ich.
Und er schaut mir in die Augen und sagt: »Hmm, vielleicht.«
Wir sitzen nebeneinander auf dem Boden. Es fühlt sich nicht so an, als ob die Luft zwischen uns vor Elektrizität knistern würde. Aber es ist auch nicht so, als gäbe es überhaupt keine sexuelle Spannung. Es ist wie... ein normaler, lebendiger Augenblick. Wie im richtigen Leben.
»Und was macht dich zum Mutanten?«, frage ich.
»Also«, sagt er, »mein Schädel ist aus Titan. Ich verfüge über die Fähigkeit, Gedanken zu lesen und Wasser zu teilen. Ich kann meinen linken Arm unsichtbar machen, wenn ich blaue Kleidung trage. Ich brauche jede Nacht nur eine Stunde Schlaf. Und ich habe ebenfalls eine dritte Brustwarze.«
»Dein Schädel ist aus Titan?«
Er beugt sich vor. »Ja. Willst du mal fühlen?«
Und die Elektrizität ist plötzlich da. Starkstrom. Wie ein Schock. Dann das Erstaunen, dass so etwas passieren kann. Ich berühre seine Haare, streiche ihm über den Kopf. All die zerbrechlichen unzerbrechlichen Teile.
Meine Hände in seinen Haaren, meine Finger, die seinen Schädel betasten. Ich weiß, dass das nicht Liebe ist.
Aber ich habe Angst davor - und staune -, dass daraus Liebe werden könnte.
Ich wünschte mir, mein Herz wäre auch aus Titan.
Ein Titanen-Herz.