Bruce der Zweite
SHOWTIME
»Heute«, sagt Ely, »gehen wir zur Drag-Queen-Version von Lilith Fair.«
Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. Außer dass er Drag Queen gesagt hat. Was ausreicht, um mich in Alarmbereitschaft zu versetzen.
Wir sind in seinem Zimmer. Er zieht ein rosa Hemd an. Rosa Krawatte. Er tuscht sich die Wimpern. Meine Erfahrungen mit Make-up beschränken sich auf verschmierten Lippenstift auf der Backe, wenn eine meiner Großmütter mich früher geküsst hat.
»Das wird großartig«, sagt er. »Eine der Drag Queens imitiert Aimee Mann und nennt sich - tja, sie nennt sich Aimee Man, halt mit nur einem n. Und dann spielen da Fiona Adamsapfel und Sheryl Crowsam und Natalie Merchant-of-Penis. Reimt sich auf Venice. Natürlich eine Anspielung.«
Natürlich.
Die Wahrheit? Die Wahrheit ist, und ich kann es kaum fassen, dass ich das tatsächlich denke: Wir sollten es jetzt sofort miteinander machen. Seine beiden Mütter sind bei ihrem Lesekränzchen. Wir haben die Wohnung für uns allein. Es ist nicht wie bei mir im Studentenwohnheim, wo man jeden Schritt auf dem Flur hören kann und dauernd darauf gefasst sein muss, dass irgendjemand kommt und an die Tür klopft. Wie gestern Abend, bevor Ely dann gegangen ist, damit ich meinen Lernschlaf bekomme. Ich bin auch heute wieder wahnsinnig müde, aber ich will es. Als er mich vorhin zur Begrüßung geküsst hat, und das fünfzehn Minuten lang, hat es sich für mich so angefühlt, als würden wir gleich... Aber dann, als es an die Kleidung und an den Reißverschluss ging, wurde er nervös. Und obwohl ich weiß, dass es deswegen ist, weil wir gleich ausgehen wollen, und dass es deswegen ist, weil er wahrscheinlich eine Stunde mit seinem Outfit zugebracht hat, und dass ich die Nacht bei ihm verbringen werde und wir später noch genug Zeit dafür haben werden, kann ich nicht anders: Ich fühle mich unsexy. Ich meine, sollte ich nicht der Ängstliche und Zögerliche von uns beiden sein? Ich bin doch hier der schwule Novize, oder nicht? Und dann fängt er auch noch an, von diesen ganzen Drag Queens zu reden, als wären das alles seine besten Freunde, und ich fühle mich nicht nur unsexy, sondern auch total uncool. Und unvorbereitet. Und unfähig. Und unsicher. Oh Mann, wirklich, ein Un-Wort reicht und schon purzeln alle anderen Un-Wörter hinterher. Ein Dammbruch.
»Das wird total lustig«, sagt Ely. Das ist seine Art, mir zu sagen: Hey, komm. Probier’s. Ich hör das oft von ihm. Ob er nun will, dass ich das erste Mal indisches Essen probiere (mein Urteil: total lustig), mit ihm einen Schwarz-Weiß-Film mit Untertiteln angucke, in dem es um das langsame, seeeehr, seeeeehr langsame Zerbrechen einer Ehe geht (mein Urteil: total unlustig), oder ob ich ihm Schlagsahne von der Brust lecken soll (total lecker).
Es ist so vorhersehbar, sein »Das wird total lustig«. Und meine Reaktion ist genauso vorhersehbar, denn wie immer spiel ich mit. Ich geh drauf ein.
»Was ist Lilith Fair?«, frage ich. »Ein Tummelplatz für Hexen? Klingt nach einer Veranstaltung, auf der Lesben in Renaissancekostümen herumlaufen.«
»Ziemlich nah dran«, sagt Ely. »Das war eine Frauen-Konzerttournee in den Neunzigern. Sarah McLachlan hat sie organisiert, weil man ihr immer wieder erklärt hatte, kein Mensch würde mehr als eine Musikerin auf der Bühne sehen wollen. Nur Frauen, das würde nicht laufen. Damit könnte man keine Kohle machen. Tja, damit wurden dann Millionen gemacht.«
»Ist das okay, was ich anhabe?«, fragt mein uncooles, unvorbereitetes, unfähiges, unsicheres Ich.
Die meisten Boyfriends würden an dieser Stelle nur mit den Schultern zucken und sagen: Passt schon! An einem guten Tag würden sie vielleicht sogar sagen: Schaut gut aus. Aber der Vorteil und der Nachteil bei Ely ist, dass er dir immer die Wahrheit sagt. Direkt ins Gesicht. Deshalb krieg ich statt einem »Na klar, bleib so, wie du bist« ein »Willst du dir von mir das Penguin-Hemd ausleihen? Das würde an dir super aussehen« zurück.
Natürlich muss ich gleich an Pinguine denken. Himmel, hilf. Wenn er mir jetzt ein schwarzes Hemd mit einem wei-βen Brusteinsatz bringt, in dem ich... wie ein watschelnder Pinguin aussehe? Aber zum Glück ist Penguin eine Marke. Er gibt mir ein Hemd, das in fünf verschiedenen Grüntönen gemustert ist. Erinnert mich an einen Psychologie-Test. Normalerweise mag ich Grün, aber so viel grünes Muster auf einmal? Ich weiß nicht.
Ely kichert. »Du wirkst leicht geschockt«, sagt er. »Lass es uns mit Schwarz probieren.«
Ich mag es, wie locker er mit seinen Sachen umgeht. Ich habe nie die Kleidung von anderen getragen. Und niemand hat jemals irgendwas von mir anziehen wollen.
»Mit Schwarz liegst du nie falsch.« Das hat Naomi immer gesagt. Und jetzt sagt Ely genau dasselbe zu mir. Ich frag mich, wer da von wem gelernt hat. Oder ob sie es beide gleichzeitig gelernt haben, im NYC-Cool-Kid-Kurs, den ich leider verpasst habe.
Sein Hemd ist mir viel zu eng, aber das scheint er nicht zu bemerken.
»Ich fühl mich nackt«, sag ich. Meine Brustwarzen zeichnen sich durch den Stoff ab.
»Hier«, sagt Ely und kommt mit seiner Wimperntusche näher, »damit fühlst du dich besser.«
Ich mache einen Schritt zurück. »Ich glaub, auf die Wimperntusche verzichte ich«, sage ich.
Ely grinst. »Eyeliner«, erklärt er mir. »Nicht Wimperntusche. Eyeliner.«
»Ich mag meine natürlichen Linien«, sage ich.
»Ich mag deine natürlichen Linien auch.«
Er macht ein großes Theater daraus, den Stift hinzulegen, dann kommt er auf mich zu und umarmt mich.
»Schließ die Augen«, sagt er.
»Was hast du vor?«, frage ich. Vielleicht hat er einen Lippenstift in der Hosentasche stecken.
»Nichts«, sagt er. »Vertrau mir.«
Ich schließe die Augen. Ich spüre, wie er einen Schritt zurückgeht. Dann spüre ich wieder seine Nähe. Etwas streicht über meine Wange.
Wimpern. Seine Wimpern. Die sich zu meinen Wimpern vorarbeiten.
»Vorsichtig«, flüstert er. »Sonst verschmier ich noch alles.«
Und ich flüstere: »Heiliges Gemächt.«
Das Lilith-Fair-Spektakel findet an der Lower East Side statt, in einem Club, von dem ich mir nicht sicher bin, ob ich da reingelassen werde.
»Ich hab keinen Ausweis dabei«, sage ich zu Ely.
»Wenn der Türsteher Ärger macht, zeig ich ihm einfach meinen Schwanz«, antwortet Ely.
Das beruhigt mich nicht gerade.
Und noch schlimmer wird es, als wir hinkommen und eine lange Schlange von hüftschmalen Hipstern, Hof haltenden Drag Queens, hoffnungsvollen Go-go-Jungs und den schwulen Lieblingen der Woche vor dem Club anstehen.
»Heute wollen wirklich alle rein«, murmelt Ely.
Wie Ely da plötzlich inmitten einer Menge steht, die noch nie etwas von ihm gehört hat - irgendwie ist das rührend. Er muss warten wie alle anderen.
»Einmal«, sagt Ely, und ich warte gespannt darauf, was er jetzt sagt. Er spricht den verbrannten Namen aus. »Da hatten Naomi und ich beschlossen, zur >Night of a Thousand Stevies< zu gehen. Wir wollten uns die ganzen Mädchen und Jungs angucken, die sich als Stevie Nicks verkleidet hatten. Und was macht Naomi? Findet es lustig, als Stevie Wonder zu gehen. Da war eine Drag Queen, die hätte sie am liebsten mit ihrem Seidenschal stranguliert. Das waren Zeiten.«
Er hat nicht nur ihren Namen genannt, er hat ihn auch mit einer angenehmen Erinnerung verknüpft. Das lässt mich hoffen, aber ich will da nicht reinpfuschen, deshalb sage ich nichts.
Die Schlange bewegt sich langsam vorwärts, und ein paar Leute, die vor uns waren, gehen in umgekehrter Richtung an uns vorbei - was heißt: Der Türsteher macht eine harte Tür. Es kommen nicht alle an ihm vorbei.
Nie werde ich diese Hürde nehmen können. Nie und nimmer.
Doch nicht mal dazu kann ich wirklich was sagen. Ich bin noch nie in meinem Leben von einem Türsteher abgewiesen worden. Schlichtweg deshalb nicht, weil ich mich noch nie in eine Situation gebracht habe, in der ich von einem Türsteher hätte abgewiesen werden können. Man kann ziemlich einfach durchs Leben kommen, indem man Orte mit Türstehern einfach meidet, oder? Vor Supermärkten oder Bibliotheken stehen sie jedenfalls nicht.
»Wie heißt der Laden hier überhaupt?«, frage ich.
»Keine Ahnung«, antwortet Ely »Das ändert sich jede Nacht.«
Ich möchte wetten, dass der Name ein besonders anspruchsvoll klingendes Substantiv ist, vielleicht auch ein Fremdwort - solche angesagten Clubs mit Türstehern in NYC haben immer anspruchsvoll klingende Namen, die immer im Singular und nie im Genitiv sind. Ähnlich wie Parfüms. Ich habe etwas Obsession aufgelegt, um dann downtown ins Fugue zu gehen. Oder: Ich habe auf mein Handgelenk etwas Héritage gesprüht und dann waren wir im Heathen, dann im Backwash, dann im Striation und ganz am Schluss noch im End.
Wenn ich jemals einen Club eröffnen sollte, dann werde ich ihn Inquisition nennen.
So einen Typen wie den Türsteher bekomme ich in meinem Rechnungswesenkurs bestimmt niemals zu sehen. Ein Kerl wie ein Traktor, und was er anhat, sieht wie eine aufblasbare Ganzkörperhülle aus Fallschirmseide aus. Ely lacht, als er ihn sieht, aber ich kapier den Witz wohl nicht. Und es kommt noch schlimmer, als wir schließlich in der Schlange ganz vorne stehen und der Türsteher mich anguckt und fragt: »Wer bin ich?«
Kennen wir uns etwa?, will ich gerade stammeln, da mischt Ely sich ein und sagt: »Du bist Missy Elliott! Das schwarze Girl bei Lilith Fair! Auf der zweiten Tournee.«
Das scheint ganz klar die richtige Antwort zu sein, aber der Türsteher verweigert mir die Belohnung.
»Dich hab ich nicht gefragt«, sagt er zu Ely. »Du kannst rein, er bleibt draußen.«
Die Szene hat etwas Demütigendes. Ich weiß, dass Ely reinkommt, weil er sexy ist, und dass ich draußen bleiben muss, weil ich es nicht bin - egal ob man Missy Elliott kennt oder nicht.
»Aaaaach, komm schon... bittebittebitte!«, sagt Ely und klimpert mit den Wimpern.
Der Türsteher schüttelt den Kopf und guckt weiter zu dem Jungen hinter mir, der seine Haare in kleine Zöpfchen geflochten hat.
»Ich zeig dir auch meinen Schwanz!«, sagt Ely im Spaß.
Woraufhin der Türsteher grinst und eine Augenbraue hochzieht.
»Hier«, sagt Ely, und bevor ich noch etwas dagegen unternehmen kann, hat er seine Hose aufgeknöpft und den Bund seiner Unterhose so weit vorgezogen, dass der Türsteher einen Blick darauf werfen kann.
»Nicht schlecht«, sagt der Türsteher zu Ely. »Du hast Glück, mein Junge.« Dann guckt er mich an und sagt: »Du auch.«
Als ich an ihm vorbeigehe, gibt er mir einen Klaps auf den Hintern.
Das hat mir gerade noch gefehlt.
Ely strahlt, als hätte er gerade den ersten Preis in einer Fernsehshow gewonnen.
»Das hättest du nicht machen müssen.« Ich kann nicht anders, ich muss es sagen.
»Keine Sorge. Hat mich nichts gekostet.«
Und da wird mir klar, dass ich hätte sagen sollen: Das hättest du nicht machen sollen. Nicht dass irgendwas falsch dran war - es ist sein Schwanz, er kann mit ihm machen, was er will. Er kann ihn allen möglichen Leuten zeigen. Nur so im Vorübergehen. Aber es fühlt sich für mich so an, als hätte er mir eben eine neue Seite von sich gezeigt, damit ich sie kennenlerne, und ich fühl mich unwohl damit. Ich bin nicht der Typ Junge mit einem Freund, der einem Fremden seinen Schwanz zeigt. Das weiß ich. Und er hat sich selbst gerade bewiesen, dass er der Typ Junge ist, der einem Fremden seinen Schwanz zeigt. Und er ist noch nicht mal betrunken.
Deshalb.
Ergo.
Erg.
Arrrgh.
Uuuuuh.
Wir sind jetzt auf total verschiedenen Pisten unterwegs, unser Abend verläuft in zwei getrennte Richtungen. Er nach oben. Ich nach unten. Der Club ist gepackt voll und der DJ peitscht harte House-Remixes der normalerweise sanften Lilith-Stücke durch den Raum. Ely liebt es, liebt es - ich weiß das, weil er laut ruft: »Ich liebe das - liebe das!« Er holt sich einen Fiona Appletini an der Bar und ich mir auch, aber aus einem anderen Grund - er, um sich ins Getümmel zu stürzen, ich, um das Getümmel zu überstehen.
Mein Freund ist der Knaller. Andere Jungs kommen rüber, um ihn anzubaggern. Manche davon, das spüre ich genau, hatten früher schon mal Flirtkontakt mit ihm, aber Ely hat sich nicht mal ihre Namen gemerkt. Während er mit ihnen spricht, hält er meine Hand. Normalerweise würde mir vor lauter aufgeregtem Mein-mein-mein-Gefühl ganz schwindlig werden, aber jetzt fühle ich mich, als sollte ich am besten sagen: Nein, nein, nein, kümmer dich nicht um mich, mach ruhig, was du willst, und hab viel Spaß dabei, aber ich geh nach Hause und hock mich vor die Glotze.
Schon komisch, denn ich muss gerade daran denken, wie gut Naomi diese Situation gekannt haben muss. Obwohl sie beim Flirten ja wenigstens mithalten konnte. Meine eigenen kümmerlichen Versuche reichen da noch nicht mal an Pantomime ran.
Ich möchte Ely beiseitenehmen und fragen: Wer bist du? Und: Warum hatten wir noch keinen Sex miteinander? (Im gleichen Bett geschlafen? Ja. Der erste, zweite, dritte Schritt? Alles da gewesen. Aber der letzte Schritt? Nein.) Und: Warum bist du mit mir zusammen? Aber ich habe eine solche Angst davor, bedürftig zu klingen. Und es stinkt mir, dass es kein aktives Wort für bedürftig gibt - aber vielleicht könnte man »willig« neu definieren? - Und das war der Augenblick, in dem er plötzlich ganz willig nach mir war. »Tut mir leid«, sagte ich, »aber du hast ein paar ernste Willigkeitsprobleme.« - Vielleicht habe ich gerade Willigkeitsprobleme. Ich will gehen. Ich will mit ihm allein sein. Ich will der Typ Junge mit einem Freund sein, der einem Fremden seinen Schwanz zeigt - ein einziges Mal, damit sie beide in einen Club reinkommen. Ich will dafür cool genug sein. Ich will diese Gedanken aus meinem Kopf verbannen - alle Gedanken - und meinen Spaß haben. Aber Ely kann meiner Willigkeit nicht einfach seinen Schwanz unter die Nase halten und sie damit vertreiben.
Ich fühle mich wie ein Mutant unter Mutanten. Wie der Junge, der in Xaviers Schule für besonders begabte Jugendliche aufgenommen wurde - und dann plötzlich feststellt, uuupps, dass er überhaupt keine Supermannkräfte hat.
Ich hab genug davon, immer so uncool zu sein. Verpass mir einen neuen Kleidungsstil, schenk mir einen coolen Freund, lass die anderen sogar ab und zu über einen meiner Witze lachen - aber dann macht meine Angst mal wieder alles kaputt.
Die House-Lilith-Version endet und die Bühnenshow beginnt. Die Moderatorin ist eine Drag Queen, die sich Sarah McLocklips nennt, und sie bittet als Erstes ein paar Freiwillige für einen improvisierten Opening Act auf die Bühne - offensichtlich ist Paula Cole-Minor’s-Slaughter schon schlafen gegangen und das hat keiner rechtzeitig bemerkt. Alles ist fertig aufgebaut, die Musik wartet - es fehlt nur noch eine Paula.
Bevor einer fragen kann: »Where Have All the Cowboys Gone?«, ist Ely schon auf der Bühne.
Er verkündet: »Weil meine Freundin Naomi alle Folgen von >Dawson’s Creek< hat, kann ich das in- und auswendig.« Und fügt dann noch hinzu, langsam in Fahrt kommend: »Ich sing das Lied für Pacey, weil er immer der Jughead war. Und Jen, weil sie nie die Anerkennung bekommen hat, die sie verdient hat. Und für Bruce.«
(»War Bruce nicht der Schwule?«, fragt das Mädchen neben mir ihren multigepiercten Freund.
»Nein, das war Jack«, antwortet der Punk. »Andies Bruder.«
»Oh! Ich fand Andie so süüüß!«, ruft das Mädchen.)
Ely versucht erst gar nicht, wie Paula Cole zu klingen - er schmettert den Song, als wäre er auf der Schulabschlussfeier.
I don’t want to wait
For our lives to be over...
Da weder Pacey noch Jen an diesem Abend im Club sind, schaut er mich an, während er singt. Ich spiele meine Rolle. Ich lache und winke und singe laut mit, als er uns alle dazu auffordert. Aber ich denke: Ich will auch nicht warten. Und ich will auch nicht, dass du warten musst.
Alle bewundern ihn. Alle beten ihn an. Was kann ich ihm geben, das ihm nicht alle anderen auch geben könnten?
Als er zu Ende gesungen hat, ist er noch umschwärmter als vorher. Alle laden ihn auf einen Drink ein. Er umarmt die Leute kurz, um sich zu bedanken. Er meint das nicht als persönliche Geste, er will nur nett sein. Er würde meine Hand nehmen, wenn ich sie ihm reichen würde. Aber mir reicht es damit. Ich fühl mich nicht mehr wie das dritte oder wie das fünfte Rad am Wagen - ich fühl mich wie das sechsundzwanzigste Rad.
Ich werfe ihm das nicht vor. Ich mache mir das alles selbst zum Vorwurf. Weil ich nicht fähig bin, mitzumachen.
Schließlich stammle ich eine Entschuldigung und quetsche mich durch die Menge zum Klo. Vor mir in der Schlange muss Natalie Merchant-of-Penis sein, denn auf ihrem T-Shirt steht »I BLEW 10 000 MANIACS AND ALL I GOT WAS THIS STUPID T-SHIRT«. Sie braucht so lange, dass ich schon befürchte, sie würde es gerade dem 10001. Sex-Maniac besorgen, doch als sie wieder auftaucht, ist sie allein. Als sie an mir vorbeikommt, sagt sie: »Ich danke dir dafür«, und ich weiß nicht, was ich anderes tun soll als nicken.
Sobald ich die Tür verriegelt habe, verrichte ich mein Geschäft. Und danach sitze ich einfach nur da, weil ich merke, dass ich Ely im Moment nicht sehen mag. Genauer gesagt merke ich, dass ich heute gar nicht zu ihm zurückwill. Ich werde gehen. Und ich werde Ely nicht sagen, dass ich gehe, weil ich ihm den Abend nicht verderben will. Ich will, dass er bleibt und Spaß hat. Ich werde ihm eine SMS schicken, sobald ich in sicherer Entfernung bin. Ich will kein Spielverderber sein. Obwohl ich nichts dagegen hätte, wenn er nur mit mir spielen würde, draußen. Ohne all die anderen.
Ich guck mir das Gekritzel auf der Klotür an. Manchmal sind sogar kleine Zeichnungen dabei. Ich versteh nicht mal die Hälfte davon. Erst als ich ungefähr zwei Minuten lang alles Mögliche entziffert habe und schon von draußen an die Tür geklopft wird, begreife ich plötzlich, wonach ich gesucht habe - nicht nach irgendwelchen weisen Sprüchen, sondern nach einer freien Stelle.
Es gibt noch einen, unter einer Inschrift, die lautet:
The Cure. Für denldie Ex? Ach, Nick. Es tut mir leid. Du weißt schon. Küsst du mich noch mal?
Ich ziehe einen Stift heraus und schreibe:
Ely, ich will es. Du, ich, alles. Ich will es, aber ich weiß nicht, ob ich dafür der Richtige bin. Weil ich so uncool und ängstlich bin.
Ich überlege kurz, ob es wohl üblich ist, dass man solche Botschaften unterschreibt. Falls er das liest, wird er schon wissen, dass es von mir ist. Und wenn er nicht merkt, dass es von mir ist... dann hat es sowieso nicht sein sollen.
Als ich aus dem Klo komme, sagt der Kerl vor der Tür so ziemlich das Gegenteil von »Ich danke dir dafür«. Aber das ist mir völlig egal. Ich suche nach Ely, vielleicht sollte ich mich doch lieber von ihm verabschieden. Aber dann sehe ich ihn an der Bar stehen, er trinkt einen grellgrünen Drink und schäkert mit dem Türsteher und zwei Jungs, die Zwillinge sein könnten. Sie lachen miteinander. Sie haben ihren Spaß.
Ich fühle mich ausgeschlossen. Von Ely und dem ganzen Rest. Ich bin ein Fremdkörper. Deshalb gehe ich dorthin, wo die Außenseiter hingehören: nach draußen.
Ich werde da niemals mit ihm hingehören. Niemals.
Ich weiß, dass meine Entscheidung falsch ist. Aber es ist die einzige Entscheidung, die ich treffen kann. Deshalb treffe ich sie.