Ely
KNOCKOUT
Das war das letzte Mal, dass ich ihr einen Kaugummi anbiete - das kann ich euch sagen.
Da stand ich nun und hatte gedacht, unsere Freundschaft würde auf vielen Pfeilern ruhen. Stattdessen zeigt sich jetzt, dass es lauter Dominosteine waren. Und ein Päckchen Kaugummi reicht aus, um die ganze Reihe zum Einstürzen zu bringen.
Sie lügt. Ich weiß, dass sie lügt. Aber wenn sie sich nicht selbst eingesteht, dass sie lügt, dann hat das den gleichen Effekt.
Domino. Domino. Domino.
»Du lügst«, sage ich.
Domino.
»Du auch«, sagt sie.
Domino.
»Hey, ihr zwei?«
»Was gibt’s, Bruce?«, fragt Naomi verärgert. Ich tröste mich damit, dass nicht nur ich es abkriege.
Zuckertörtchen fängt wie ein Gewittersturm zu bellen an. Vielleicht weckt diese ganze Lügerei in ihm den Drang, dringend pinkeln zu müssen.
»Nichts«, sagt Bruce der Erste.
Zuckertörtchen führt sich auf, als würde King Kong mit einer Hundepfeife rufen.
»Siehst du«, sagt Naomi. »Sogar Zuckerstückchen weiß, dass du lügst.«
»Zuckertörtchen«, verbessert sie Bruce noch einmal. Und eine Millisekunde lang mag ich ihn dafür. Für sich selbst steht er nie ein, aber wenigstens verteidigt er jetzt den Hund.
Naomi schiebt die Unterlippe vor und schnaubt verächtlich, als wäre sie Madonna, die die Königin von England nachmacht.
Zuckertörtchen zerrt an seiner Leine, will Bruce zur Tür ziehen. Und ich schwöre euch, Naomi guckt den Hund an, als könnte er ihr irgendwas über mich erzählen.
»Du spielst hier echt eine völlig bescheuerte Nummer«, sage ich zu Naomi.
»Und du spielst allen was vor«, schießt sie zurück.
Und das von dem Mädchen, das schon eine Drama-Queen war, bevor wir überhaupt wussten, was Drama ist.
Ich hab keine Lust, diese Nacht komplett den Bach runtergehen zu lassen. Ich will auf die Party, ich will Spaß haben, ich will mich mit Naomi wieder vertragen und ich will möglichst schnell zurück zu Bruce in mein Zimmer. Ich sehe keinen Grund, warum das nicht alles möglich sein sollte.
»Dann frag ich dich jetzt, Naomi«, sage ich. »Hat das alles hier was mit Bruce zu tun?« Ich finde, wir sollten besser darüber reden, als unsere ganze Energie darauf zu verwenden, es nicht zu tun.
»Mit mir?«, fragt Bruce-in-der-Lobby.
»Nicht du«, sagt Naomi. »Der andere Bruce.«
Bruce scheint sich geschmeichelt zu fühlen, dass er hier der erste und wahre Bruce ist.
»Kommt er auch mit?«, fragt er dann.
»Warum fragst du nicht Ely?«, antwortet Naomi bitter und schrill. Brill und schitter.
»Können wir nicht einfach gehen?«, sage ich.
Aber Bruce der Erste versteht es immer noch nicht.
»Hä?«, fragt er begriffsstutzig. »Ist er nicht bei dir, Naomi? Ich hab ihn doch rauffahren sehen.«
Oh Herr im Himmel. Warum muss er ausgerechnet diesen Augenblick wählen, um Detektiv zu spielen?
»Ist das wahr, Bruce?«, fragt Naomi mit einem Blick, als würde sie ihm gleich mit der Hand durchs Haar streicheln wollen.
»Naomi -«, fange ich an.
»Ja, das ist noch nicht lang her«, fährt Bruce fort.
»Naomi, lass uns darüber -«, fange ich noch mal an. Es gibt nur sehr wenige Situationen, die nicht durch eine Erklärung gerettet werden können.
Aber Naomi lässt mich nicht weiterreden.
»Aha«, schnaubt sie eingeschnappt. »Sieht ganz so aus, als würde da gerade der Bock zum Nachtwächter gemacht und in Elys Zimmer nach den richtigen Kaugummis suchen. Mit einer Kerze. Oder vielleicht mit einem Knüppel in der Hand, Ely?«
»Ich bin nicht wirklich sicher, ob ich euch beiden folgen kann«, sagt Bruce.
Wenigstens Zuckertörtchen, ruhiger geworden, scheint eins und eins zusammengezählt zu haben. Er lauscht auf merksam, um ja kein Wort zu verpassen.
»Naomi«, sage ich. »Wir wollten doch zusammen auf die Party gehen und das will ich immer noch. Er kann warten. Du bist im Augenblick die Nummer eins für mich.«
»Na toll. Großartig, Ely. Ganz, ganz großartig. Ich fühl mich ja so geschmeichelt, dass du mich über meinen Freund stellst.«
Okay, wenn es jetzt darum geht, wild um sich zu schlagen und die Dominosteine vom Tisch zu fegen, dann kann ich auch anders:
»Ehrlich gesagt, Naomi, ich glaube, es kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgegangen werden, dass er nicht mehr dein Freund ist.«
Naomi schlägt sich mit der Hand an die Stirn. »Ach, wie dumm von mir. Wie konnte ich nur davon ausgehen, dass mir das vielleicht mal jemand sagen würde?«
Jetzt reicht’s. »Du weißt, dass das keiner gewollt hat. Wie bei der Devon-Knox-Geschichte.«
»Ely! DEVON KNOX IST HETERO. Dass du damals auch in ihn verknallt warst, hat nicht gezählt. Und es ist DREI JAHRE HER.«
»Er war auf der Liste.«
»Ich hatte es vergessen, okay?«
Eine Spur für Inspektor Bruce.
»Was war damals?«, fragt er.
»Hör zu, Bruce, könntest du uns mal für eine Sekunde allein lassen?«
In dieser Stadt wählt man die 311 für Reparaturen und all so was, die Nummer 411, wenn man die Telefonauskunft will, und die 911, um die Polizei zu rufen oder die Feuerwehr oder den Notarzt. Ich finde, es sollte auch noch die 711 geben, damit man einfach nur drei Ziffern eintippen muss, wenn man sich mit einer hysterisch gewordenen besten Freundin, die sich mit ihren Tiraden überhaupt nicht mehr einkriegt, und ihrem unkomischen Komiker von Exfreund (und außerdem noch einem sexy Nachtportier, der alles beobachtet) in der Eingangshalle eines New Yorker Apartmenthauses befindet. Dann würden sie eine ruhige, vernünftige Person schicken, die einem helfen würde zu verstehen, was da überhaupt abläuft. Im Augenblick ist der einzig halbwegs Vernünftige, an den ich mich halten kann, ein Hund, und der scheint sehr dringend pinkeln zu müssen.
»Brucie nimmt dich gleich mit Gassigassi«, sagt Original-Bruce zu Zuckertörtchen in einem zuckrigen Singsang, »dann kannst du Pinkipinki machen.«
Zuckertörtchen sieht aus, als würde er Bruce dafür am liebsten an die Gurgel springen. Ich könnte es ihm nicht verdenken. Solche stimmlichen Entgleisungen haben mir schon Erektionen vermasselt.
Ich bin mit der widerspenstigen Reaktion des Hundes so beschäftigt, dass ich fast überhöre, wie Naomi sagt: »Ich halt das nicht mehr aus, Ely.«
Es ist so weit. Der Augenblick der Wahrheit ist gekommen.
Ich schaue ihr direkt in die Augen. Sie wendet sich ab, deshalb mache ich eine blitzschnelle Bewegung, um ihr auch von der Seite ins Gesicht zu sehen.
Ich weiß, dass sie das nicht hören will. Aber ich muss es einfach sagen, so oder so.
»Naomi, ich mag ihn. Ich mag ihn wirklich.«
So. Jetzt ist es raus.
Sie glaubt mir kein Wort.
»Versteckst du ihn deshalb?«, fragt sie. »Weil du ihn so gern magst?«
»Willst du wirklich wissen, warum ich ihn verstecke?«
»Warum?«, fragt sie.
Mir wäre lieber, sie hätte es nicht getan.
Warum?
»Weil ich Angst vor dir habe.«
Das stimmt. Habe ich. Hatte ich immer.
»Ja, genau. Ich hab auch Angst vor dir.«
Wir starren uns eine Sekunde lang an.
Bruce mischt sich ein. »Hey, ihr beiden... kommt mal wieder runter.«
»HALT DIE KLAPPE, BRUCE!«, brüllen wir.
Wenigstens in einer Sache sind wir uns einig.
Bruce zerrt beleidigt Zuckertörtchen fort.
»Komm schon, Süße«, sagt er. »Lass uns gehen. Wir sind hier nicht erwünscht.«
Na großartig - jetzt ist der kleine Junge in seinen Gefühlen gekränkt.
»Ich komm mit«, sagt Naomi. »I wanna dance with somebody who loves me.«
Mädchen, das kam grade nicht gut - ich lasse dich an der Wahrheit meines Herzens teilhaben und du benutzt jetzt Whitney gegen mich?
»VIEL SPASS!«, brülle ich ihnen nach.
Alle Dominosteine sind umgekippt. Keine Antwort. Nur das Echo von Gabriel, dem sexy Nachtportier, der ihnen eine sexy Gute Nacht wünscht, als sie rausgehen. Dann schließt sich die Tür. Der Aufzug hinter mir fährt in irgendein Stockwerk hoch. Sonst ist es still.
Es dauert ein paar Sekunden, bis ich mich daran erinnere, dass Bruce bei mir im Wandschrank wartet.
Und dass ich ihn mag. Wirklich mag.