Naomi
AUGENBLICKE
Ich halt das keine Minute länger aus. Ich muss einfach raus aus dem Raum,056ganz schnell durch die Tür. Aber es ist, als hätte ich eine Überdosis an plötzlicher Offenbarung. Ich kenne das zwar, dass ich manchmal siebenundzwanzig Gedanken auf einmal habe, doch es war mir bisher unbekannt, dass ich jeden einzelnen klar und deutlich in meinem Kopf hören kann, so wie jetzt während der paar Sekunden, in denen ich aus dem Mehrzweckraum fliehe.


057Geh. Einfach. Weiter. Geh. Schau niemand an. Blick nicht auf den Boden. Schau. Geradeaus. Geh. Einfach. Weiter.

058Okay, du pussituntiges Turteltäubchen, weißt du, was ich jetzt gleich mache? Ich werde mir den Jungen zurückholen, an dessen Lippen du gerade rumsaugst, und werde dir dann Bilder von ihm059auf denen er mit mir Dinge treibt, die er niemals, niemals als mit dir treiben kann. Ich werde dafür sorgen, dass du jedes Mal, wenn du aus dem Aufzug trittst, uns beide an der gegenüberliegenden Wand stehen siehst, ineinander verschlungen und verknotet, so wild aufstöhnend, dass du davonrennen möchtest, um dir auf der Stelle ein Pornoheft zu besorgen. Ich werde ihn dann am060nehmen und von dir fortführen, und ich werde dafür sorgen, dass du Jeden. Einzelnen. Augenblick. Mitbekommst.

061Das ist zu viel. Das geht zu weit. Das passiert hier nicht wirklich.

062Ich hab dir meins gezeigt und du hast mir deins gezeigt. Kindergarten. Oder vielleicht waren wir auch schon in der ersten Klasse. Mom war im Nebenzimmer, hat ihre Daily Soaps geguckt (bevor unser eigenes Leben zu einer Soap wurde). Du musstest dringend pinkeln gehen, und ich bin mitgegangen, um dir zuzugucken. Reine Neugierde. Diese eine Sache, in der wir uns unterschieden haben. Nur diese eine Sache. Denn sonst, das haben wir beide uns immer wieder versichert, waren wir absolut gleich.

063Bist du jetzt zufrieden, Kelly? Hast du gekriegt, was du wolltest?064, ich kann dich nicht ausstehen. Ich hoffe, du schaffst es in deine verdammte Eliteuni und verschwindest dann auf Nimmerwiedersehen in einem Physiklabor.

065Es sind die Schuhe! Wenn ich heute Morgen nicht diese Schuhe angezogen hätte, wäre das alles nicht passiert. Die Stilettos sind daran schuld.

066Ich hab Bruce zuerst geküsst. Das vergessen die Leute. Ich hab ihn zuerst geküsst. Das gibt mir ein Anrecht auf ihn, auch wenn sich schließlich herausgestellt hat, dass er schwul ist.
067Ich habe jede E-Mail ausgedruckt, die du mir jemals geschickt hast. Und in diesem grässlichen Jahr, als Mom ein Schatten ihrer selbst wurde und Dad getobt und geheult und geschrien hat, gab es für mich nur eine Rettung, wenn du nicht zu Hause warst. Ich bin in mein Zimmer gegangen und hab die Schachtel mit den E-Mails rausgeholt und noch mal gelesen, was du über den Samthosenanzug geschrieben hast, den Mrs Keller mal in der Schule angehabt hat - du hast gefunden, sie sähe darin wie ein Dinosaurierbaby von Barney aus, weißt du noch? -, und dann musste ich grinsen, obwohl die068um mich herum in Trümmer ging und unsere Eltern unser Leben in ein069verwandelt hatten, und ich war fest davon überzeugt, dass du die einzige Familie warst, die ich hatte. Und die ich brauchte. Meine zukünftige Familie.

070Ein Kreuzchen. Ich war nur noch ein Kreuzchen von Bingo entfernt.

071B-I-N-G-O. B-I-N-G-O. B-I-N-G-O. Volltreffer! Was ich wirklich zu gerne wissen möchte: Was verdammt noch mal hat eigentlich der072mit dem Spiel zu tun? Da muss es doch eine Verbindung geben, oder?

073Hab ich wirklich gerade Bruce den Ersten verstoßen, den einzigen Menschen in der ganzen Stadt, der am liebsten den Boden unter meinen Füßen küssen würde? Reicht es nicht, jemand zu haben, der einen bewundert, selbst wenn man gar nicht bewundernswert ist? Reicht es nicht, jemand zu mögen, weil man weiß, er ist immer nett zu einem? Muss wirklich immer sexuelle Anziehung dabei sein? Reicht es nicht aus, es im074zu fühlen, auch wenn man im075nichts fühlt?

076Wem mach ich hier eigentlich was vor?

077Mir jedenfalls nicht, so viel ist klar.

078Robin079hat die richtige Einstellung. Als Robin080ihr erklärt hat, lass uns einfach gute Freunde bleiben, hat sie ihm ihren081ins Gesicht gekippt. Sie hat einfach ihr Glas genommen und den Inhalt über sein Wir-wollen-gute-Freunde-sein-Gelaber geschüttet. Dann ist sie rausgestürmt und hat ihn den Drink bezahlen lassen, den sie ihm gerade ins Gesicht gekippt hatte. Ich glaube, diesen letzten Teil bewundere ich an ihrem Auftritt am meisten. (Natürlich hat sie danach sechs Tage geheult, was fünfeinhalb Tage länger war, als ich es verkraften konnte. Ich habe ihr erklärt, dass die einzige Person, die ein082namens Robin zu einem Date treffen sollte, ein Kerl namens Batman sei, dann könnten sie zusammen in ihrer Brokeback Batcave leben und miteinander083Ich hab ihr erklärt, sie hätte was Besseres verdient, obwohl man nie weiß, ob wirklich irgendwann was Besseres nachkommt. Aber dafür sind Freundinnen ja da.)

084Ich vermisse Dad. Selbst wenn all diese anderen Sachen passieren, selbst wenn in meinem Kopf wirklich kein Platz für ihn ist und es besser wäre, ich würde ihn zweitausend Meilen weit aus meinen Gedanken verbannen, wünsche ich mir, er wäre da. Nicht damit die Streitereien wieder anfangen, diese Zeit wünsche ich mir nicht zurück. Nein, früher. Ich wünsche mir unsere gute Zeit zurück. Ich weiß, dass Mom und er jetzt immer erzählen, die gute Zeit sei schon damals nicht wirklich gut gewesen, aber das wusste ich nicht, als ich klein war. Das macht für mich den großen Unterschied. Die gute Zeit hat sich für mich gut angefühlt, und auch wenn das selbstsüchtig ist, würde mir das reichen.

085Weißt du noch, Ely, wie wir uns immer Plätze ausgesucht haben, an denen wir heiraten wollten? Wie viele Jahre lang haben wir das gemacht? Vor den Eisbären im Central-Park-Zoo. Inmitten einer festlichen Abendgesellschaft im Tempel von Dendur. Auf der Staten-Island-Fähre, wo bei jeder Anlegestelle die Gäste wechseln würden. Auf dem Empire State Building (bevor wir gemerkt haben, dass das überhaupt nicht originell ist). Und noch diesen August, als du mich ins XXL mitgeschleppt hast, damit du dort einen der Go-go-Boys anbaggern konntest, während ich all die anderen abbekommen habe, die nicht mit Jungs gehen, sondern auf Mädchen stehen... da hast du dich irgendwann zu mir rübergebeugt und gesagt: »Vielleicht sollten wir hier heiraten.« Und ich hab gelacht, weil es lustig war. Und ich war glücklich, weil es plötzlich wieder uns gegeben hat, an einem Ort, an dem für uns überhaupt kein Platz vorgesehen war. Und ich war gekränkt - richtig gekränkt -, dass du das nicht ernst genommen hast, dass du das niemals ernst genommen hast. Selbst wenn es lächerlich war, ich wollte, dass ich dir mehr als alles andere auf der Welt bedeutete.

086Ich hab so genug von Jungs. Sogar von schwulen Jungs. Vor allem von schwulen Jungs. Egal wie viel Sympathie da im Spiel ist, Jungs. Am Ende läuft es doch immer darauf hinaus, dass euch euer Schwanz sagt, wo’s langgeht.
087Oh, da steht Gabriel. Er sieht heute Abend sehr, sehr anbetungswürdig aus.

088Hallo, Mrs Loy, starren Sie mich nicht an, als wäre ich ein Flittchen. Ich weiß, dass Sie gerne die Maude wären, die in Bruce dem Ersten ihren Harold gefunden hat. Deshalb sollten Sie sich jetzt königlich freuen, dass ich ihn von den Fesseln seiner unglücklichen Liebe zu mir befreit habe. Vielleicht wünscht er sich ja zur Abwechslung eine richtige Dame.

089Dieser Raum sollte nicht Mehrzweckraum genannt werden. Es ist ein Keinzweckraum.

090Fast geschafft. Fast geschafft.

091Ich bin so froh, dass ich nicht mit Bruce dem Zweiten geschlafen habe. Und mit schlafen meine ich Geschlechtsverkehr haben. Sonst haben wir nämlich ganz viel miteinander geschlafen und das war sehr nett. Ehrlich gesagt war das092das Beste daran. Ich bin froh, dass ich klug genug war zu begreifen, dass es kein ausreichender Grund ist, mit der zweiten Wahl ins Bett zu gehen und Geschlechtsverkehr zu haben, nur weil man seine erste Wahl für das erste Mal nicht kriegen kann.

093Ich bin es so leid. Ich bin das ganze Drama leid. Ich bin es leid, Ely zu vermissen. Ich bin es leid, mich die ganze Zeit verdammt anzustrengen, um ihn nicht zu vermissen. Ich bin es leid, so wahnsinnig wütend zu sein. Auf ihn. Auf Mom. Auf Dad. Auf die ganze Welt. Ich bin es leid, mit Menschen zu tun zu haben. Ich bin es leid, bisher nicht auch nur annähernd erreicht zu haben, was ich will. Ich bin es leid, immer von den falschen Jungs gewollt zu werden. Ich bin es leid, selber immer die falschen Jungs zu wollen. Ich bin das094und das095und das096leid. Ich bin das Nachdenken leid. Ich bin die Spielchen leid. Aber wenn ich das alles aus meinem Leben verbannen würde - was würde dann noch übrig bleiben?

097Warum lächelt Gabriel mich so an? Als wüsste er, dass die098List™ in Stücke099ist.

100Gefahr! Gefahr!

101Hast du irgendwas zu verlieren?

102Stürz dich rein.