Bruce der Erste
SCHLAFLOSIGKEIT
Ich habe alles versucht. Baldrian, Johanneskraut, Valium, Schäfchen zählen, The Best of Johnny Carson: The 1970s, Charlie Rose: The Present, Charlie Daniels, MTV2, 976-SLUTS 4U, die gesammelten Werke von Dostojewski, die gesammelten Werke von Nicholas Sparks, mir einen runterholen, Jack Daniel’s, alle Jackie-Chan-Filme. Aber nichts und niemand hilft. Ich kann einfach nicht einschlafen.
Daran ist Naomi schuld.
Sie war sieben. Ich war fünf.
Unsere Mütter hatten uns schnell in den Aufzug geschubst, aber während der zwei Sekunden, die sie noch draußen standen, um ihre falsch eingeworfene Post zu sortieren, ging die Aufzugtür zu. Naomi und ich waren unbeaufsichtigt. Der Aufzug fuhr nach oben, und Naomi sagte: »Willst du mein Höschen sehen?« Ich nickte. Sie zog ihr Kleid bis zum Bauchnabel hoch. Sie hatte die gleiche Sorte rosa Unterhöschen mit Gummibund an wie meine Zwillingsschwester Kelly, aber bei Naomi sah das Höschen ganz anders aus. Irgendwie interessant und hübsch statt einfach nur doof. Ich kann mich noch ganz genau an den Augenblick erinnern, als Naomi ihr Kleid wieder zu den Knien runterfallen ließ und mir die Zunge rausstreckte. Weil sie das mit meinem Herzen gesehen hatte? Es war nämlich zu ihr hinübergeflogen und ist seither nicht mehr zu mir zurückgekehrt. Es gehört Naomi, für immer und ewig.
Zeitsprung nach vorn. Zehn Jahre später, letztes Frühjahr. Naomi und ich wieder gleichzeitig im Aufzug, nur diesmal viel größer, kurviger (sie), behaarter (ich). Klar haben wir uns regelmäßig in der Schule und in unserem Apartmenthaus gesehen, aber aus irgendeinem Grund, den das Universum mir bis heute nicht erklären wollte, war es diesmal anders. Naomi musterte mich von Kopf bis Fuß, während der Aufzug hochfuhr. Sie verkündete: »Du hast dich gut gemacht, Kleiner.« - »Hey, ich bin bald mit der Schule fertig«, protestierte ich und dankte dem Himmel dafür, dass mein Stimmbruch schon lange vorbei war. »Umso besser«, sagte sie. »Komm mal her, du großer Junge.« Ich traute mich näher ran. Sie roch nach Babypuder und Hübsche-Mädchen-Shampoo. Sie beugte sich zu mir, mit schräg geneigtem Kopf, die Lippen leicht geöffnet. Ich dachte, Nein, niemals, das träume ich jetzt, nie wird geschehen, was ich mir zusammenfantasiere. Es ist ja nicht so, dass ich nicht schon Mädchen geküsst hätte. Wie viele Flaschendreh-Partys hatte ich schon veranstaltet, nur um einen Kusskontakt mit Naomi herzustellen? Immer vergeblich. Wenn ich gewusst hätte, dass ich mich bloß in die Ecke eines Aufzugs stellen und auf Naomi warten musste. Und dann - Kusskontakt. Es geschah. Naomi küsste mich - langsam, auf den Mund, meine Seele aus mir heraussaugend, vom vierten bis in den vierzehnten Stock. Sie schmeckte, als hätte sie gerade ein Snickers gegessen. Ich mag Snickers.
Ich weiß ich weiß ich weiß. Ich sollte kein Mädchen lieben, das mit den Gefühlen anderer Menschen spielt, vor allem wenn es um meine Gefühle geht, aber mein Kopf kann nun mal meinem Herz nicht vorschreiben, wie es sich zu verhalten hat - und auch nicht den anderen Teilen meiner Anatomie. Die Leute (und mit Leuten meine ich meine Schwester, unsere gemeinsamen Freunde und fast alle bei MySpace) wollen alle einfach nicht sehen, dass Naomi unter der Oberfläche ganz anders ist - außer vielleicht Ely, der kennt sie, aber ihn hasse ich, deshalb zählt er nicht. Die Leute wissen alle nicht, wie sie Gummibärchen für mich testet, wie sie die Plastiktüten durchprobiert, dagegendrückt, um herauszufinden, welche ganz frisch sind, so wie ich sie mag. Sie wissen nicht, dass sie trotz ihrer schamlosen Küsse, trotz der ganzen Attitüde, trotz ihrer Lügen und ihrer Starbucks-Manie (als müsste sie jeden Starbucks des Universums mindestens einmal betreten und auf ihrer Liste abgehakt haben; obwohl sie nie ein einziges Getränk bestellt, sie lässt sich einfach nur in einen lila Sessel fallen und wartet darauf, dass irgendein Junge oder Mädchen sich in sie verliebt) im Grunde ihres Herzens ein nettes, einfaches Mädchen ist. Ich weiß es. Ich weiß, dass trotz all ihrer Sprüche und Angeberei024für sie bedeutet, angezogen auf dem Bett zu liegen, über Filme, das Leben und unsere Träume zu reden und sich gegenseitig die Zehen zu kitzeln. Ich weiß, dass ich für immer und ewig Bruce der Erste bei ihr sein werde - in jeder Hinsicht. Bruce der Zweite - ich kann über dich nur lachen! Eins, zwei, drei... eine Million Leben sind vergangen, seit Naomi mich für Bruce den Zweiten verlassen hat, aber wer zuletzt lacht, lacht am besten. Darauf vertraue ich! Und das wird Bruce der Erste sein! HA!
Das Problem, sagt meine Schwester Kelly, ist nicht, dass ich über Naomi nicht hinwegkomme - sondern dass ich es gar nicht will! Ganz richtig, Ma’am! Ich liebe Naomi und warte darauf, dass sie zu mir zurückkommt. Was jedoch nicht heißt, dass ich sie auf Schritt und Tritt verfolge, ich bin schließlich kein Stalker. Aber ich habe eine persönliche Mission. Eine Aufgabe. Aufwachen, an Naomi denken. In die Schule gehen, an Naomi denken. Nach Hause kommen, essen, Hausaufgaben machen, an Naomi denken. Ein paar Spiele auf der Xbox spielen, ein bisschen chatten mit irgendwem, der Zeit hat (außer mit Ely - geblockt, geblockt, geblockt!), an Naomi denken. Ein paar Pornobilder runterladen, auf denen die Frauen wie Naomi aussehen. Dann versuchen, einzuschlafen. Naomi-Schäfchen zählen. Nicht einschlafen können. Naomi Naomi Naomi.
Wenn ich mich schlaflos auf meinem Bett wälze und Naomi nicht da ist, um mich zu trösten (so, dass ich sie wirklich anfassen kann, meine ich, denn in jeder anderen Hinsicht, glaubt mir, da ist sie anwesend), dann weiß ich, dass ich jederzeit an einem Treffen der Bruce-Gesellschaft teilnehmen kann. In der weiträumigen Lobby unseres Apartmenthauses mit seinen einhundert Wohnungen versammeln sich regelmäßig die BUFS (Bruces unterhalb der Fourteenth Street), um mir durch die finstersten Stunden der Nacht zu helfen. Schlaflosigkeit? Tolle Sache. Dann haben wir Zeit, um wichtige Themen miteinander zu diskutieren - vor allem die Probleme, die es mit sich bringt, ein Bruce zu sein.
Wir sind:
• Mr McAllister, der darauf beharrt, Bruce genannt zu werden, obwohl niemand es jemals wagen würde, ihn anders als mit Mr McAllister anzureden.
• Gabriel der Nachtportier, dessen zweiter Vorname Bruce ist (auf seinem Führerschein überprüft!)
• Eine von Elys Müttern, Sue, die möglicherweise (oder auch nicht) einmal mit einem Mann verheiratet war, der Bruce hieß. Wegen dieses Bruce brodelt es in der Gerüchteküche rund um den University Place mit seinen vielen Tratschkränzchen heftig!
• Alle möglichen Leute, die spätabends in der Lobby herumhängen, während sie darauf warten, dass ihre Waschmaschinen fertig sind, jede/r ein Bruce im Geiste.
• Bruce der Chihuahua, von ihrer Besitzerin Mrs Loy »Zuckertörtchen« genannt, aber von den Bruces-im-Geiste zu Bruce umgetauft, weil ich es bin, nicht Naomi, der ihr Futter hinstellt und mit ihr spazieren geht, wenn Mrs Loy verreist ist. Ich bin nämlich »der nette Junge« (merk dir das, du Naomis heiliger Ely!), der den Schlüssel unter der Fußmatte vor Mrs Loys Wohnungstür hervorholt und dann leise die Tür öff net, laut genug, dass der Hund es hört, aber nicht so laut, dass Mrs Loy davon aufwacht, wenn Zuckertörtchen-manchmal-auch-Bruce-genannt nach einem Mitternachtsspaziergang jault.
Das Problem mit der Bruce-Gesellschaft ist, dass ich immer darüber reden möchte, was es bedeutet, ein Bruce zu sein, während die anderen Bruces über ihre Schlaflosigkeit reden möchten. Die Schlaflosen wollen einfach nicht begreifen, dass man es immer schlechter schafft, einzuschlafen, je mehr man darüber redet. Es verhält sich damit wie mit einer schwierigen Mathematikaufgabe, deren einzige Lösung schließlich lautet: Gib’s auf, du steckst fest! Sieh das endlich ein! Kurzum, bei den anderen Mitgliedern unserer nächtlichen Runde bezweifle ich immer wieder, dass sie sich wirklich voller Hingabe der Bruce-Gesellschaft widmen. Ich habe den Verdacht, dass sie sich mehr mit ihrer Schlaflosigkeit beschäftigen als mit der Frage, was es bedeutet, ein Bruce zu sein. Dabei würde es sich lohnen, darüber nachzudenken. Es gibt eine ganze Tradition von großen Bruces, die wir ehren und denen wir nacheifern sollten: Lenny, den fabelhaften Komödianten, Mr Springsteen, Master Lee, Robert the Bruce alias »Braveheart«. Und dann sind da noch die Bruces, über die wir ausführlich kritisch diskutieren sollten, die wir nicht in unseren Club aufnehmen oder von der Liste unserer Mitglieder streichen sollten: Willis, Jenner, Hornsby.
Sue/Bruce hat es bisher jedes Mal geschafft, der Bedeutung der Frage nach dem Wesen des Brucetums auszuweichen. Stattdessen fragt sie mich immer: »Hast du mal mit einem Arzt über dein Schlafproblem gesprochen, Schätzchen? Ich mach mir Sorgen um dich, du wirkst fürchterlich erschöpft. In deinem Alter leidet man noch nicht an Schlaf losigkeit. Du bist noch viel zu jung dafür. Hast du nicht bald Prüfungen? Du musst dein Schlafproblem vorher in den Griff kriegen.«
Ich weiß nicht, warum ich Sue eigentlich so gern mag. Vielleicht weil sie nichts von ihrer DNA an Ely weitergegeben hat (glaube ich zumindest). Oder vielleicht weil sie nicht Teil der Verwerfungen zwischen den Naomi & Ely-Elternteilen war, die in der Eigentümerversammlung dann zu solchen Streitigkeiten geführt haben. Ich meine, es ist eine Sache, fünfzig zu werden, in der Midlife-Crisis zu stecken und plötzlich »offen für nicht-homosexuelle Erfahrungen« zu werden. Aber es ist eine völlig andere Sache, mit dem Nachbarn vom selben Stock etwas anzufangen. Die übereinstimmende Meinung aller Teilnehmer unserer mitternächtlichen Schlaflosigkeits-Klatsch-und-Tratsch-Runden, wenn Sue nicht dabei war, lautete: Wenn Mary wirklich so dringend neue Erfahrungen gebraucht hatte, dann wäre es für alle Bewohner des 15. Stocks besser gewesen, sie hätte sich dafür einen Mann, sagen wir, aus einem völlig anderen Gebäude ausgesucht. Und einen Mann, der sich bei solchen Geschichten diskreter verhält als Naomis Vater. Wir würden alle sofort eine Petition zur Unterstützung von Sue unterzeichnen, wenn wir jemals von der Eigentümerversammlung darum gebeten werden sollten.
Da sie keine Ahnung zu haben scheint, sage ich zu Sue/ Bruce: »Ich schlafe nicht gern. Schlaf ist vergeudete Lebenszeit.«
Mr »Bruce« McAllister sagt: »Sechzehn ist ein Alter, in dem man seine Lebenszeit sowieso nur vergeudet. Zu töricht, um mit sich was anzufangen. Ich habe in Marie Claire gelesen, dass Schlafstörungen mit einem Teil des Gehirns...«
Das war der Beweis! Naomi schwört, dass Mr McAllister die Modemagazine ihrer Mutter aus der Altpapiertonne im Müllschluckerraum herauswühlt. Naomi behauptet, dass die Models in diesen Magazinen billige Pornos für alte Knacker sind, die sich keinen Internetzugang leisten können, um sich dort die Bilder und Videos zu beschaffen, so wie wir.
Sue/Bruce ignoriert Mr »Bruce« McAllister einfach, wie immer. Sie klopft mir auf die Schulter. »Und? Auf welche Uni willst du nun gehen? Bist du weitergekommen? Als wir das letzte Mal darüber gesprochen haben, hattest du dir lauter Unis rausgesucht, deren Präsidenten ein Bruce im Vornamen haben. Ich hoffe, ich hab dir das ausreden können?«
Sie ist echt nett, diese Sue/Bruce. »Haben Sie. Ich hab jetzt einen neuen Plan, noch ganz frisch. Heute Morgen hab ich in der U-Bahn eine Anzeige für eine Uni gesehen, die sich Polytechnische Universität nennt. Laut Werbespruch soll es eine Uni für Leute sein, die keine Mono-Denker, sondern Poly-Denker sind. Das ist genau das Richtige für mich.««
»Bist du das - ein Poly-Denker?«
»Ja«, behaupte ich.
Was sonst sollte ich sein? Wäre ich ein Mono-Denker, würde ich wahrscheinlich nicht unter Schlaflosigkeit leiden. Wie kann ein Poly-Denker denn einschlafen und, noch viel wichtiger, ruhig weiterschlafen, wenn ihm ununterbrochen Gedanken durch den Kopf sausen? Kreuz und quer! Kreuz und quer! Kreuz und quer!
Licht aus. Was Naomi jetzt wohl gerade macht? Ob sie nackt im Bett liegt?
Bettdecke bis ans Kinn ziehen. Ob Bruce der Zweite sie nackt gesehen hat?
Kissen leicht lüpfen. Ich habe Naomi nackt gesehen.
Einhändiges Manöver. Mannomann. Wozu brauch ich Pornos?
Taschentuch unter dem Bett verstecken. Na ja, ehrlich gesagt, sie hatte ihr Höschen noch an. Und ich durfte sie nicht berühren. Aber sonst war sie nackt.
Nach links drehen. Nach rechts drehen. Durchdrehen.
Ein Poly-Denker hat keine andere Wahl, er muss raus aus dem Bett, Zuckertörtchen einsammeln und runter in die Halle zu einem Treffen der Bruce-Gesellschaft.
Eigentlich würde ich Sue/Bruce am liebsten fragen: »Gauben Sie, dass Ely Naomi nackt gesehen hat?« Aber ich lasse es bleiben. Ich bin mir sicher, er hat. Schwule Jungs kriegen alles, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen. Das ist dermaßen unfair.
Ich hasse es, dass ich Naomi nur deshalb nackt zu sehen bekommen habe, weil Ely sich letzten Sommer dauernd mit einem Jungen getroffen hat und Naomi sauer war, dass sie nicht ständig über Elys Zeit verfügen konnte - deshalb durfte ich über ein wenig von ihrer Zeit verfügen. Und dann hat Ely den Jungen abserviert und Naomi hat mich abserviert.
Warum wird Ely nicht mal abserviert?
Kam da nicht gerade Naomi vorbei, barfuß, Wäsche unter dem Arm? Oder träume ich? Das muss ich wohl, denn sie sieht aus wie der Traum und Albtraum meiner schlaflosen Nächte, sie trägt ein winzig winzig kleines, super super sexy schwarzes Kleid, so ein Ding, wie sie es anhat, wenn sie mit Ely durch die Clubs zieht. Und die höchste Form der Ungerechtigkeit besteht darin, dass Naomi noch nicht mal merkt, dass sie anziehen kann, was sie will - niemals würde Ely sie so anschauen, wie sie gern hätte, dass er sie anschaut.
Der Höhepunkt bei den Treffen der Bruce-Gesellschaft ist erreicht, wenn Gabriel der Nachtportier feststellt, dass er nach Mitternacht nichts mehr zu tun hat. Dann verlässt er seinen Posten, kommt zu uns rüber und schmeißt ein Päckchen Spielkarten auf den niedrigen Tisch in unserer Mitte. »Five Card Stud?« Er setzt sich zu uns und mischt die Karten.
Die Mitglieder unseres Clubs ziehen aus ihren Jackentaschen die Rollen mit Vierteldollarmünzen, die wir statt Pokerchips verwenden, während Gabriel gibt. Seit er letzten Juni die Nachtschicht übernommen hat, muss Gabriel ein reicher Mann geworden sein, ich finde, das sollte hier mal erwähnt werden. Ich weiß nicht, was für ein Gehalt ein Anfänger im Portiergeschäft bekommt, aber Gabriel könnte uns leicht bis in alle Ewigkeit mit Münzen für die Waschmaschinen aushelfen, bei all den Vierteldollars, die er von uns schon gewonnen hat.
Sue/Bruce sagt zu Gabriel: »Ich warte immer noch darauf, dass du mir mal erzählst, wann du dich für eine Uni entscheiden willst, Gabriel. Ich weiß, ich weiß, du hast gesagt, dass du dir nach der Schule eine kleine Pause gönnen wolltest, aber wie alt bist du denn inzwischen? Neunzehn? Fast zwanzig? Es wird allmählich Zeit, mein Sohn. Ich würde dir mit größtem Vergnügen einen Empfehlungsbrief schreiben. Welche Uni interessiert dich denn? Schon mal was von Vassar gehört?«
Als ob nicht sonnenklar wäre, dass Ely seine Mutter dazu angestiftet hat. Sie soll den schönen Gabriel für ihn und seine schwulen Freunde ködern. Vassar. Die Homo-Uni. Alles klar. Ein Typ wie Gabriel? Der ist so was von überhaupt nicht schwul, Ely. Träum weiter. So wie ich davon träume, dass du mal in ein Fass mit Essig getaucht wirst, und zwar so lange, dass der Geruch für immer an deiner Haut haften bleibt und Naomi es in deiner Nähe nicht mehr aushält. Stinktier.
»Weißnicht«, sagt Gabriel achselzuckend.
Weißnicht? Weißnicht! Dieser Bruce weiß sehr wohl. Fall klar und eindeutig gelöst: Gabriel der Nachtportier, du bist hiermit als Hetero geoutet. Ey, lass noch ’n Bier rüberwachsen, Kumpel. ’n kühles blondes, haha. Am besten eins, das von einem Lederhosen-Girl gebracht wird, deren Brüste aus der Bluse herausquellen, während sie die Maßkrüge stemmt. Yeah.
Naomi würde als Lederhosen-Girl umwerfend aussehen. Ich wette, sie würde darunter kein Höschen tragen.
Das Hündchen bellt auf meinem Schoß, und glaubt mir, mein Schoß freut sich über diese Ablenkung. Mit ihrem Schwanzwedeln und ihrem welpenhaften Jaulen macht Zuckertörtchen uns auf die Eingangstür aufmerksam, wo eine neue Person eingetroffen ist. Wir blicken alle hoch, um den Grund für die Störung zu erfahren.
Bruce der Zweite steht in der Halle. Er sieht so todmüde aus, wie ich mich niemals fühlen werde. Fix und fertig. Oder vielleicht will ich auch nur, dass er so aussieht. In Wirklichkeit ist er einfach nur Bruce der Zweite, derselbe wie immer, der einzige Unterschied zu sonst ist vielleicht, dass er nicht blödsinnig herumgrinst, sondern verwirrt aussieht. Gabriel der Nachtportier fragt ihn: »Zu wem willst du?«
Es muss da irgendwelche psychischen Schwingungen zwischen Zuckertörtchen und mir geben, denn ich bin mir sicher, dass ihr fortgesetztes Bellen ein geheimer Code ist, ein Hinweis an mich: »Pass auf, Papi, da drüben. Hast du noch nicht gemerkt, was da läuft?«
»Ähm, weiß ich nicht so genau«, sagt Bruce der Zweite und fingert nervös an seinem Handy herum.
Entschuldigung? Alle hier wissen, dass Naomis Mom spätestens um elf Uhr abends hinüber ist - und Gnade dir Gott, wenn dir eine in Scheidung lebende, auf Antidepressiva gesetzte Frau die Wohnungstür öffnet, weil sie von der Türglocke oder dem Klingeln des Handys ihrer Tochter aus dem Schlafkoma gerissen wurde. Ein Höllentrip. Aber wenn nicht zu Naomi, zu wem sonst könnte der andere Bruce denn wollen?
Ich werde ganz bestimmt nicht einschlafen, bis ich nicht herausgefunden habe, was hier los ist.