Naomi
DER MORGEN DANACH

Vielleicht sitze ich hier auf einer Bank im
Washington Square Park, ganz nah dran am Pulsschlag im Herzen der
Stadt, die nie schläft. Vielleicht sitze
ich tatsächlich hier, es gibt mich und ein paar Jogger und ein paar
Pendler, die zu ihrer
hetzen, und die
Junkie-Schnorrer, und wir alle teilen den Blick auf die Sonne, die
über dem Empire State Building und Midtown in der Ferne
aufgeht.

Aber ich kenne den Unterschied. Alle anderen sind
nur Gespenster. Ich existiere hier ganz allein. Vom Schicksal
angespült. Weil ich es so will. Einsam und verlassen.
Ich bin wie Kolumbus. Ich habe diese Insel
entdeckt. Sie gehört mir. Ich erkläre sie hiermit zu meinem
Eigentum.
Vielleicht war diese Bank, auf der ich hier
inmitten meiner Insel sitze, die Bank, auf der Ely und ich nach den
Partys immer noch abgehangen haben, bevor wir früh am Morgen nach
Hause gegangen sind. Es war einmal auf dieser Bank, vor langer,
langer Zeit, da legte er meinen Kopf auf seinen Schoß und strich
mir über die Haare (oder es war umgekehrt), und wir schufen uns
unsere kleine private Insel, wo wir wie in einem Schwebezustand die
Zeit verstreichen ließen, bevor wir in den Albtraum zurückkehrten,
den unsere Eltern veranstalteten. Wenn die eine Seite unserer
Gleichung nicht beschlossen hätte, meinen Freund zu küssen, wäre
diese Bank im Naomi & Ely-Paralleluniversum der Ort gewesen, wo
Ely mich in diesem Augenblick zu einem Morgenschlummer überredet
hätte, fürsorglich eine Decke über mich breitend und jeden Typen
anfahrend, der es wagen würde, mich mit gierigen Augen anzustarren.
(Natürlich würde ich denselben Fuck-off-Blick auch all den schwulen
Jungs zuwerfen, die aus ihren Clubs auf dem Weg nach Hause wären
und Ely anlächelten. Ich kann prächtig knurren. Ich bin nicht
völlig ohne Talente.)
(Vielleicht hat Ely die Männer, die mich
angestarrt haben, gar nicht angefahren. Vielleicht hab ich mir das
nur gewünscht.)
Fühlt es sich so an, wenn man sich scheiden lässt
- das totale Versagen? Es ist schon über ein Jahr her, dass Dad bei
uns ausgezogen ist, aber erst jetzt verstehe ich, warum Mom nur
dann aus dem Bett aufsteht, wenn sie es wirklich muss. Sie muss die
offiziellen Papiere erst noch einreichen, aber das Wort - Scheidung - kriecht und krabbelt wie ein Nachtmahr
über die Laken ihres Ehebetts, in das sie sich geflüchtet hat. Mom
weiß, dass die anderen Wörter - Ehebruch,
Trennung - schon bei ihr angekommen sind. Das Wort Scheidung wird es auch noch tun, wenn es so weit
ist.
Ich wache über ihr Bett. Bis jetzt.
Als zwischen unseren Eltern die Hölle losgebrochen
ist, haben Ely und ich uns am Wochenende oft in sein Zimmer
geflüchtet und Wir-drehen-die-Zeit-zurück gespielt. Wir träumten
uns zurück in die späten Neunziger, bevor in New York und im Rest
der Welt die Hölle losgebrochen war. Diese Jahre kamen uns als eine
schöne Zeit vor, die wir gern noch mal erlebt hätten, und so
verbrachten wir die Sonntage faul auf seinem Bett, hörten die
frühen Songs von Britney, die mittleren Songs der Spice Girls und
die späten Songs der Lilith-Fair-Mädels oder guckten DVDs von TV
Shows und Filmen, die damals auf den Jugendsendern liefen. Ich
mochte es sehr, auf seinem Bett rumzulungern, weil es nach ihm
roch, nach Junge und Geborgenheit.
Ely und Bruce der Zweite liegen wahrscheinlich in
diesem Augenblick ineinander verschlungen in Elys Bett. Die
Geschichte zwischen den beiden dauert erst ein paar Tage, aber Ely
verliert keine Zeit, wenn er auf der Jagd ist - und erst recht
nicht, wenn es darum geht, einen möglichen Konvertiten hinüber in
sein Lager zu ziehen. Was für eine Herausforderung! Was für ein
Spaß! Keine Zeit für traurige Gedanken an diesem Morgen danach!
Keine Zeit, an Naomi zu denken! Genau jetzt lacht Ely
wahrscheinlich und dann küsst er Bruce-der-für-mich-gestorben-ist
auf den Mund, und keiner von ihnen beiden macht sich die Mühe,
darüber nachzudenken, dass ihr gemeinsames Wir wie eine Kugel durch
meinen Kopf ist.
Der
unter der Fußmatte
vor unserer Wohnungstür, Elys Schlüssel, liegt nicht mehr da. Die
Monster unter meinem Bett müssen jemand anders finden, der sie für
mich vertreibt. Elys Dienste sind nicht länger erwünscht. Aber ich
brauche mein Bett sowieso nicht. Ich hab ja eine Bank, auf der ich
sitzen kann. Im Wundstarrkramp£ Das versprech ich euch, ihr
Monster. Ich werde nie mehr nachts allein in meinem Bett liegen und
mich nach Ely sehnen. Nie mehr.

Ich habe Mitleid mit meiner Mutter, aber ich werde
nicht so enden wie sie, auf einer einsamen Insel der Verleugnung
gestrandet. Ich nicht.
Ich will mir nichts vorlügen. Meine einsame Insel
ist nicht nur von mir und den Gespenstern bewohnt. Ein Erzengel
wacht in der Nähe über mich.
Ehrlich gesagt, eine Sache wüsste ich ganz gern:
Nachts jobbt er als Portier, davor spielt er mit seinen Kumpels
Basketball, danach spielt er manchmal bis in die frühen
Morgenstunden mit seiner Band... Wann schläft Gabriel
eigentlich?
Wenn ich Gabriel wäre und es wäre sieben Uhr
morgens und ich hätte nach meiner Schicht nonstop weitergemacht in
Alphabet City, dann würde ich jetzt nicht auf einer Parkbank
sitzen, mein Gesicht unter einer Baseballkappe verstecken und so
tun, als sei ich in ein Buch vertieft. Ich würde nichts anderes
machen als Zzzzzzzzzzzz, ich würde mich neben meiner Mom ins Bett
kuscheln und würde bald nur noch zzzzzzzzzzzz. Was ich auch gleich
tun werde, sobald ich meinen Hintern hochgekriegt und zum Starbucks
am Waverly Place geschleppt habe, damit ich mit einem
Guten-Morgen-Kaffee für Mom zu Hause aufkreuzen kann.
Aber zuerst muss ich herausfinden, warum Gabriel
dieses Spiel mit mir treibt.
Ich weiß, dass er weiß, dass ich nur ein paar
Bänke entfernt sitze. Ich weiß, dass er da sitzt, weil ich hier
sitze. Ich weiß, es muss ihn verwirrt haben, dass ich extra zu dem
Auftritt seiner Band gekommen bin und danach überhaupt nichts zu
ihm gesagt habe. Aber weiß er auch, dass ich aus dem Club gleich
rausgestürzt bin und die Nacht bei Robin
verbracht habe, weil
ich mich bei ihr noch weiter ausheulen musste? Ich wäre gern
geblieben, um mit ihm den Rest der Nacht in dem Club abzuhängen,
aber noch lieber hätte ich die Zeit zurückgedreht, vor den
Das-ist-das-Endeder-Welt-Streit mit Ely.

Ich weiß mit Sicherheit, dass Gabriel gerade nicht
»Message in a Bottle« liest. Und ich weiß, dass jemand Gabriel von
den mitternächtlichen Pokerrunden mit Bruce dem Ersten erlösen
muss.
Ich sollte aufstehen, zu ihm rübergehen, das Eis
zwischen uns endlich brechen. Etwas Neues anfangen.
Ely und ich hatten eine No
Kiss List™.
Gabriel ist jetzt frei. Ich könnte ihn nicht nur
küssen, ich könnte mit ihm viel, viel weiter gehen. Ich könnte Elys
Gabriel-Fantasien Wirklichkeit werden lassen, so wie Ely sich das
noch nicht mal erträumen kann.
Soweit ich mich erinnere, haben Ely und ich nie
eine No Fuck List erstellt, oder?
(Hätten wir das machen sollen?)
Die Karten sind jetzt neu gemischt.
Mom sagt, dass man Männern nicht trauen
kann.
Ich kann es nicht.
Ich sollte.
Gabriel hat große Ohren.
Ich tu es nicht.
Ich bleibe allein auf meiner
Ich
habe nichts zu


Aber dafür viel zu grübeln, hier auf meiner
Einsame-Insel-Bank. Jetzt wo Ely sich als mein bester Freund, meine
einzige, große Liebe aus meinem Leben verabschiedet hat, muss ich
ehrlich gesagt herausfinden, was ich mit meiner Zeit anfangen will.
Die Uni ist für mich die reinste Vergeudung. Vielleicht wende ich
mich der Religion zu. Vielleicht werde ich
Die
haben nämlich das beste Essen.

Gabriel muss bis zu seiner
einsamen Insel hinüber gehört haben, wie mir der Magen knurrt. Er
unternimmt einen ersten Versuch, winkt mit einer SMS zu meiner
Insel herüber.
wie wär’s mit
frühstück?
Ein paar riesengroße Eisbrocken, fast so groß wie
Städte, lösen sich vom Polargletscher. Eisberge treiben
majestätisch im Ozean - furchterregend, wenn man auf der »Titanic«
ist.
Ich bin mir sicher, das wird mein Untergang sein,
aber das ist mir egal. Ich schreibe zurück:
solltest du das nicht erst am
morgen danach fragen?
Der Mann unter der Baseballkappe blickt nicht
hoch. Seine Finger tippen.
ein gentleman hat eben respekt
vor einer dame.
Find ich langweilig. Ohne Pointe. Mir fällt nichts
mehr ein.
Wenn ich keine Dame wäre, dann könnte ich
jetzt
sein, der lachend und
küssend mit Ely im Bett liegt.

Ich antworte nicht.
Aber der gut aussehende Typ mit der Baseballkappe
und den großen Ohren gibt so schnell nicht auf.
komm schon. eier. speck.
pommes. ich lad dich ein.
Ich bin wirklich hungrig. Ich tippe:
ich mag lieber cornflakes.
Den Zusatz »mit Ely« lasse ich weg. Meine Finger schmerzen in der
Kälte zu sehr, um diese Buchstaben auch noch einzugeben.
Der Erzengel möchte wissen:
welche genau?
Ich lüge:
ganz normale
Ehrlich gesagt, ich mag am liebsten Rice Krispies,
am Küchentisch gegenüber von Ely (in seiner Wohnung!), der Lucky
Charms isst. Wir spielen Krieg in der Frühstücksarena: Plopp!
Knister! Knall! Ein erbitterter Kampf gegen rosa Herzen, gelbe
Monde, orange Sterne und grüne Kleeblätter. Es herrscht das totale
Chaos. Mary kriegt Zustände. Susan lacht und wirft Studentenfutter
wie Konfetti in die Luft.
Gabriel schickt zurück:
ich bin auch ein
müslix-man.
Ich könnte wetten, dass Gabriel sogar weiß, wer
die Lieblingstanzpartnerin von Fred Astaire war.
nicht dein ernst?, frage
ich zurück.
Ich sehe sein sehr, sehr hübsches Gesicht dort
drüben auf der Insel lachen.
nein. war nur spass. mein ding
sind cheerios.

Mit Cheerios tröstet sich Ely am Morgen, wenn wir
am Nachmittag vorher alle Lucky Charms (trocken) weggeputzt
haben.
Mein Körper schmerzt, meine Seele trauert. Das
Lächeln, das eben noch meine Lippen umspielen wollte: UNGÜLTIG
UNGÜLTIG UNGÜLTIG. Ich werde nicht das Mädchen mit dem Herz aus
Stein sein, das darauf wartet, dass ein Märchenprinz mit einem Herz
aus Gold kommt, um den Stein zu erweichen. Zum Teufel mit dieser
Klischee-Fantasie. prinzessin auf der
erbse. Das würde Ely jetzt schreiben, sein Lieblingskommentar,
wenn er mich aufziehen und aus einer trübseligen Stimmung reißen
will. hör auf damit. sei n engel. du schaffst
das.
Ich möchte von einem Engel berührt werden.
Sein Name war Elias, nicht Gabriel.
Mein Herz ist

Besser, ich frühstücke mit Mom.
Ich schicke noch eine letzte SMS an Gabriel:
mir ist nicht gut. ich geh
nach hause.
Ely wacht nie vor acht Uhr auf. Wenn ich früh
genug heimkomme, dann brauchen wir uns nicht über den Weg zu
laufen. Von einem Wortwechsel ganz zu schweigen - das kommt
überhaupt nicht infrage.
Dennoch. Es muss eine Vereinbarung getroffen
werden. Ein Kodex von Verhaltensregeln. Wer den Aufzug, die
Waschküche, die Eingangshalle benutzen darf - wann.
Gleichberechtigt, aber getrennt. Füreinander gestorben.
Diesmal werde ich keine
hissen.
