Naomi
DER MORGEN DANACH
045
Vielleicht sitze ich hier auf einer Bank im Washington Square Park, ganz nah dran am Pulsschlag im Herzen der Stadt, die nie schläft. Vielleicht sitze ich tatsächlich hier, es gibt mich und ein paar Jogger und ein paar Pendler, die zu ihrer046hetzen, und die Junkie-Schnorrer, und wir alle teilen den Blick auf die Sonne, die über dem Empire State Building und Midtown in der Ferne aufgeht.
Aber ich kenne den Unterschied. Alle anderen sind nur Gespenster. Ich existiere hier ganz allein. Vom Schicksal angespült. Weil ich es so will. Einsam und verlassen.
Ich bin wie Kolumbus. Ich habe diese Insel entdeckt. Sie gehört mir. Ich erkläre sie hiermit zu meinem Eigentum.
Vielleicht war diese Bank, auf der ich hier inmitten meiner Insel sitze, die Bank, auf der Ely und ich nach den Partys immer noch abgehangen haben, bevor wir früh am Morgen nach Hause gegangen sind. Es war einmal auf dieser Bank, vor langer, langer Zeit, da legte er meinen Kopf auf seinen Schoß und strich mir über die Haare (oder es war umgekehrt), und wir schufen uns unsere kleine private Insel, wo wir wie in einem Schwebezustand die Zeit verstreichen ließen, bevor wir in den Albtraum zurückkehrten, den unsere Eltern veranstalteten. Wenn die eine Seite unserer Gleichung nicht beschlossen hätte, meinen Freund zu küssen, wäre diese Bank im Naomi & Ely-Paralleluniversum der Ort gewesen, wo Ely mich in diesem Augenblick zu einem Morgenschlummer überredet hätte, fürsorglich eine Decke über mich breitend und jeden Typen anfahrend, der es wagen würde, mich mit gierigen Augen anzustarren. (Natürlich würde ich denselben Fuck-off-Blick auch all den schwulen Jungs zuwerfen, die aus ihren Clubs auf dem Weg nach Hause wären und Ely anlächelten. Ich kann prächtig knurren. Ich bin nicht völlig ohne Talente.)
(Vielleicht hat Ely die Männer, die mich angestarrt haben, gar nicht angefahren. Vielleicht hab ich mir das nur gewünscht.)
Fühlt es sich so an, wenn man sich scheiden lässt - das totale Versagen? Es ist schon über ein Jahr her, dass Dad bei uns ausgezogen ist, aber erst jetzt verstehe ich, warum Mom nur dann aus dem Bett aufsteht, wenn sie es wirklich muss. Sie muss die offiziellen Papiere erst noch einreichen, aber das Wort - Scheidung - kriecht und krabbelt wie ein Nachtmahr über die Laken ihres Ehebetts, in das sie sich geflüchtet hat. Mom weiß, dass die anderen Wörter - Ehebruch, Trennung - schon bei ihr angekommen sind. Das Wort Scheidung wird es auch noch tun, wenn es so weit ist.
Ich wache über ihr Bett. Bis jetzt.
Als zwischen unseren Eltern die Hölle losgebrochen ist, haben Ely und ich uns am Wochenende oft in sein Zimmer geflüchtet und Wir-drehen-die-Zeit-zurück gespielt. Wir träumten uns zurück in die späten Neunziger, bevor in New York und im Rest der Welt die Hölle losgebrochen war. Diese Jahre kamen uns als eine schöne Zeit vor, die wir gern noch mal erlebt hätten, und so verbrachten wir die Sonntage faul auf seinem Bett, hörten die frühen Songs von Britney, die mittleren Songs der Spice Girls und die späten Songs der Lilith-Fair-Mädels oder guckten DVDs von TV Shows und Filmen, die damals auf den Jugendsendern liefen. Ich mochte es sehr, auf seinem Bett rumzulungern, weil es nach ihm roch, nach Junge und Geborgenheit.
Ely und Bruce der Zweite liegen wahrscheinlich in diesem Augenblick ineinander verschlungen in Elys Bett. Die Geschichte zwischen den beiden dauert erst ein paar Tage, aber Ely verliert keine Zeit, wenn er auf der Jagd ist - und erst recht nicht, wenn es darum geht, einen möglichen Konvertiten hinüber in sein Lager zu ziehen. Was für eine Herausforderung! Was für ein Spaß! Keine Zeit für traurige Gedanken an diesem Morgen danach! Keine Zeit, an Naomi zu denken! Genau jetzt lacht Ely wahrscheinlich und dann küsst er Bruce-der-für-mich-gestorben-ist auf den Mund, und keiner von ihnen beiden macht sich die Mühe, darüber nachzudenken, dass ihr gemeinsames Wir wie eine Kugel durch meinen Kopf ist.
Der047unter der Fußmatte vor unserer Wohnungstür, Elys Schlüssel, liegt nicht mehr da. Die Monster unter meinem Bett müssen jemand anders finden, der sie für mich vertreibt. Elys Dienste sind nicht länger erwünscht. Aber ich brauche mein Bett sowieso nicht. Ich hab ja eine Bank, auf der ich sitzen kann. Im Wundstarrkramp£ Das versprech ich euch, ihr Monster. Ich werde nie mehr nachts allein in meinem Bett liegen und mich nach Ely sehnen. Nie mehr.
Ich habe Mitleid mit meiner Mutter, aber ich werde nicht so enden wie sie, auf einer einsamen Insel der Verleugnung gestrandet. Ich nicht.
Ich will mir nichts vorlügen. Meine einsame Insel ist nicht nur von mir und den Gespenstern bewohnt. Ein Erzengel wacht in der Nähe über mich.
Ehrlich gesagt, eine Sache wüsste ich ganz gern: Nachts jobbt er als Portier, davor spielt er mit seinen Kumpels Basketball, danach spielt er manchmal bis in die frühen Morgenstunden mit seiner Band... Wann schläft Gabriel eigentlich?
Wenn ich Gabriel wäre und es wäre sieben Uhr morgens und ich hätte nach meiner Schicht nonstop weitergemacht in Alphabet City, dann würde ich jetzt nicht auf einer Parkbank sitzen, mein Gesicht unter einer Baseballkappe verstecken und so tun, als sei ich in ein Buch vertieft. Ich würde nichts anderes machen als Zzzzzzzzzzzz, ich würde mich neben meiner Mom ins Bett kuscheln und würde bald nur noch zzzzzzzzzzzz. Was ich auch gleich tun werde, sobald ich meinen Hintern hochgekriegt und zum Starbucks am Waverly Place geschleppt habe, damit ich mit einem Guten-Morgen-Kaffee für Mom zu Hause aufkreuzen kann.
Aber zuerst muss ich herausfinden, warum Gabriel dieses Spiel mit mir treibt.
Ich weiß, dass er weiß, dass ich nur ein paar Bänke entfernt sitze. Ich weiß, dass er da sitzt, weil ich hier sitze. Ich weiß, es muss ihn verwirrt haben, dass ich extra zu dem Auftritt seiner Band gekommen bin und danach überhaupt nichts zu ihm gesagt habe. Aber weiß er auch, dass ich aus dem Club gleich rausgestürzt bin und die Nacht bei Robin048verbracht habe, weil ich mich bei ihr noch weiter ausheulen musste? Ich wäre gern geblieben, um mit ihm den Rest der Nacht in dem Club abzuhängen, aber noch lieber hätte ich die Zeit zurückgedreht, vor den Das-ist-das-Endeder-Welt-Streit mit Ely.
Ich weiß mit Sicherheit, dass Gabriel gerade nicht »Message in a Bottle« liest. Und ich weiß, dass jemand Gabriel von den mitternächtlichen Pokerrunden mit Bruce dem Ersten erlösen muss.
Ich sollte aufstehen, zu ihm rübergehen, das Eis zwischen uns endlich brechen. Etwas Neues anfangen.
Ely und ich hatten eine No Kiss List™.
Gabriel ist jetzt frei. Ich könnte ihn nicht nur küssen, ich könnte mit ihm viel, viel weiter gehen. Ich könnte Elys Gabriel-Fantasien Wirklichkeit werden lassen, so wie Ely sich das noch nicht mal erträumen kann.
Soweit ich mich erinnere, haben Ely und ich nie eine No Fuck List erstellt, oder?
(Hätten wir das machen sollen?)
Die Karten sind jetzt neu gemischt.
Mom sagt, dass man Männern nicht trauen kann.
Ich kann es nicht.
Ich sollte.
Gabriel hat große Ohren.
Ich tu es nicht.
Ich bleibe allein auf meiner049Ich habe nichts zu050
Aber dafür viel zu grübeln, hier auf meiner Einsame-Insel-Bank. Jetzt wo Ely sich als mein bester Freund, meine einzige, große Liebe aus meinem Leben verabschiedet hat, muss ich ehrlich gesagt herausfinden, was ich mit meiner Zeit anfangen will. Die Uni ist für mich die reinste Vergeudung. Vielleicht wende ich mich der Religion zu. Vielleicht werde ich051Die haben nämlich das beste Essen.
Gabriel muss bis zu seiner einsamen Insel hinüber gehört haben, wie mir der Magen knurrt. Er unternimmt einen ersten Versuch, winkt mit einer SMS zu meiner Insel herüber.
wie wär’s mit frühstück?
Ein paar riesengroße Eisbrocken, fast so groß wie Städte, lösen sich vom Polargletscher. Eisberge treiben majestätisch im Ozean - furchterregend, wenn man auf der »Titanic« ist.
Ich bin mir sicher, das wird mein Untergang sein, aber das ist mir egal. Ich schreibe zurück:
solltest du das nicht erst am morgen danach fragen?
Der Mann unter der Baseballkappe blickt nicht hoch. Seine Finger tippen.
ein gentleman hat eben respekt vor einer dame.
Find ich langweilig. Ohne Pointe. Mir fällt nichts mehr ein.
Wenn ich keine Dame wäre, dann könnte ich jetzt052sein, der lachend und küssend mit Ely im Bett liegt.
Ich antworte nicht.
Aber der gut aussehende Typ mit der Baseballkappe und den großen Ohren gibt so schnell nicht auf.
komm schon. eier. speck. pommes. ich lad dich ein.
Ich bin wirklich hungrig. Ich tippe:
ich mag lieber cornflakes. Den Zusatz »mit Ely« lasse ich weg. Meine Finger schmerzen in der Kälte zu sehr, um diese Buchstaben auch noch einzugeben.
Der Erzengel möchte wissen:
welche genau?
Ich lüge:
ganz normale
Ehrlich gesagt, ich mag am liebsten Rice Krispies, am Küchentisch gegenüber von Ely (in seiner Wohnung!), der Lucky Charms isst. Wir spielen Krieg in der Frühstücksarena: Plopp! Knister! Knall! Ein erbitterter Kampf gegen rosa Herzen, gelbe Monde, orange Sterne und grüne Kleeblätter. Es herrscht das totale Chaos. Mary kriegt Zustände. Susan lacht und wirft Studentenfutter wie Konfetti in die Luft.
Gabriel schickt zurück:
ich bin auch ein müslix-man.
Ich könnte wetten, dass Gabriel sogar weiß, wer die Lieblingstanzpartnerin von Fred Astaire war.
nicht dein ernst?, frage ich zurück.
Ich sehe sein sehr, sehr hübsches Gesicht dort drüben auf der Insel lachen.
nein. war nur spass. mein ding sind cheerios.
053
Mit Cheerios tröstet sich Ely am Morgen, wenn wir am Nachmittag vorher alle Lucky Charms (trocken) weggeputzt haben.
Mein Körper schmerzt, meine Seele trauert. Das Lächeln, das eben noch meine Lippen umspielen wollte: UNGÜLTIG UNGÜLTIG UNGÜLTIG. Ich werde nicht das Mädchen mit dem Herz aus Stein sein, das darauf wartet, dass ein Märchenprinz mit einem Herz aus Gold kommt, um den Stein zu erweichen. Zum Teufel mit dieser Klischee-Fantasie. prinzessin auf der erbse. Das würde Ely jetzt schreiben, sein Lieblingskommentar, wenn er mich aufziehen und aus einer trübseligen Stimmung reißen will. hör auf damit. sei n engel. du schaffst das.
Ich möchte von einem Engel berührt werden.
Sein Name war Elias, nicht Gabriel.
Mein Herz ist054
Besser, ich frühstücke mit Mom.
Ich schicke noch eine letzte SMS an Gabriel:
mir ist nicht gut. ich geh nach hause.
Ely wacht nie vor acht Uhr auf. Wenn ich früh genug heimkomme, dann brauchen wir uns nicht über den Weg zu laufen. Von einem Wortwechsel ganz zu schweigen - das kommt überhaupt nicht infrage.
Dennoch. Es muss eine Vereinbarung getroffen werden. Ein Kodex von Verhaltensregeln. Wer den Aufzug, die Waschküche, die Eingangshalle benutzen darf - wann. Gleichberechtigt, aber getrennt. Füreinander gestorben.
Diesmal werde ich keine055hissen.