Naomi
ORBIT
»Und, hast du deinen Willi
auch dabei?« Ely grinst mich an, als wir im Aufzug
runterfahren.
»Wenn ich einen hätte, wie wären dann meine
Chancen bei dir?« Er glaubt, dass er in dem roten Gürtel echt
scharf aussieht. Aber er lässt ihn nach Babyspeck aussehen.
Babyspeck und tussiges Rot. Tragische
Kombination bei einem schwulen Jungen.
»Negativ«, antwortet Ely. Er beugt sich vor, seine
Brust gegen meine Brüste gepresst, sein Gesicht nähert sich, als
würde er mich gleich küssen wollen. Seine Lippen berühren schon
fast meine Lippen, da schiebt sich eine Hand dazwischen.
»Kaugummi?«, fragt er, ein Päckchen zwischen den Fingern drehend.
Als ob ein Kaugummi in der Lage wäre, Elys Mundgeruch nach
Vorglüh-
zu übertönen. Ely
wird sagen, dass es nur einer war, aber ich weiß, es waren
mindestens drei.

Ein Stückchen Olive klemmt zwischen seinen beiden
Vorderzähnen. Das lässt sein Gesicht hässlich aussehen. Willkommen
hässlich. Wenn Ely sich noch weiter zu mir vorbeugt, wird die
Reibung zwischen seinem Lächeln und meiner Erwartung gleich zu
einer Explosion führen, wie eine
.

Ich weiß, dass da draußen eine große böse
mit schlimmen
Problemen wartet - Krieg und Ungerechtigkeit und Klimakatastrophe,
aber auch so viel Hoffnung und Menschlichkeit -, doch tut mir ja so
leid, mich kümmert am allermeisten die Naomi & Ely-
bubble
Ihr verdanke ich es,
dass ich bisher heil durchs Leben gekommen bin. Sie zerplatzt
nicht. So wie alles andere zerplatzt.



Ich fahre mit dem Zeigefinger in meinen Mund,
damit er das mit der Olive merkt. Er leckt sie sofort mit der
Zungenspitze weg.
Zehn... neun...
acht...
Er ist schon so nahe - warum also nicht?
»Auszeit?«, frage ich lächelnd. So nennen wir
unsere gelegentlichen, unverbindlichen, rein platonischen
Knutschereien zwischen besten Freunden, die im wirklichen Leben
nicht zählen. (Die Auszeiten passieren nur, wenn wir betrunken oder
gelangweilt sind - was interessanterweise Hand in Hand,
gelegentlich auch von Mund zu Mund zu geht.)
»Du willst mich nur wegen meinem Kaugummi«,
spöttelt er zurück. »Wie kann ich mir sicher sein, dass du mich am
Morgen danach immer noch achten wirst?«
Er zieht sich zurück, tänzelt um mich herum,
spielt mit mir.
Falscher Alarm. Ich habe gelogen. Es gibt
keine
und Ely sieht auch
nicht babyspeckig oder tussig aus. Er sieht wie Ely aus. Er ist
nicht heiß wie Gabriel. Er ist Ely. Einfach nett. Der erste Mensch,
an den ich denke, wenn ich am Morgen aufwache, der letzte Mensch,
nach dem ich mich sehne, bevor ich einschlafe. Der Mensch, der ein
Teil von mir ist. Genauso wie ich selbst.

Vielleicht bin ich eine Egoistin. Ich bin mir
nicht ganz sicher, was Egoismus wirklich ist, aber im Augenblick
bin ich für jede Bezeichnung dankbar, die irgendwie beschreibt, was
Ely und ich sind. Füreinander.
Ich meine, ich weiß, dass wir beide es wissen.
Aber wissen wir es wirklich?
Die egoistische Version von uns beiden sieht Naomi
& Ely als zwei Teile eines gemeinsamen Ganzen. Meine Mutter und
seine Mütter haben mir wieder und immer wieder
dass
sexuelle Orientierung keine Sache der freien Wahl ist, aber wenn
Ely sich zu mir beugt und mit mir seine Späße macht, so nahe vor
mir, ohne mich zu berühren, spüre ich ihn
trotzdem, von oben bis unten, auf jedem Zentimeter meiner Haut, als
wäre ich auf dem
taub, denn egal was
alle sagen, ich kann nicht anders, ich glaube, dass es ihm genauso
ergeht wie mir und dass ich die Wahl
seines Lebens bin:



Als wir beide dreizehn waren und miteinander küssen
geübt haben, war schwul sein noch überhaupt
kein Thema. Es fühlte sich alles so natürlich und leicht und
selbstverständlich an. Es gab zwischen uns keine Wand, denn es war
sonnenklar, dass wir unsere ersten Liebesexperimente miteinander
machen würden. Seine Lippen fühlten sich damals nicht schwul an. Warum sollten sie das jetzt? Nur weil Ely
sich jetzt von Jungen angezogen fühlt, heißt das noch lange nicht,
dass er nicht eines Tages beschließen kann, unsere seelische
Einheit zu einer körperlichen Einheit auszudehnen. Ich weigere mich
zu glauben, dass er das nicht vielleicht auch möchte, auf
irgendeiner Ebene, ob ihm das bewusst ist oder nicht.
Oder vielleicht, wie Robin
mir als
gute Freundin immer wieder erklärt, kenne ich Ely einfach schon
viel zu lange und viel zu gut, und meine Augen sehen nur, was mein
Herz sehen will. Ein Fall von Projektion.

Ich muss mehr Zeit mit anderen Mädchen
verbringen.
Die Aufzugstür geht auf.
Ely legt mir einen Kaugummistreifen auf die
geöffnete Hand, als wir in die Eingangshalle hinaustreten. Ich
erstarre.

Bruce der Zweite hat echt großartige Zähne -
strahlend weiß, regelmäßig, ein perfektes Gebiss, fast ein
Kunstwerk. Das ist kein Zufall. Seine Eltern sind nämlich beide
Zahnärzte. Auf ihr Konto gehen wahrscheinlich die Zähne der
gesamten Großraum-New-York-Elite. Und ihr braver Sohn, das
Wundergebiss, kaut natürlich nur zuckerfreien Kaugummi. Bruce der
Zweite ist ein Orbit-Mann. Ely dagegen ist Dentyne-Kauer.
»Seit wann kaufst du denn Orbit?«, frage ich Ely.
Ich wickle den Kaugummi nicht aus. Ich lasse stattdessen ein TicTac
in meinen Mund ploppen, aus meinem eigenen Vorrat.
»Seit Madonna angefangen hat, Kinderbücher zu
schreiben. Warum fragst du?«
Ich mache einen Schritt von ihm weg und kann nur
schwer dem dringenden Bedürfnis widerstehen, ihn gegen die Wand zu
drücken.
Naomi, komm heraus,
komm heraus, wo immer du bist.

Ich frage, weil -ähm, nun, ja! - BRUCE DER ZWEITE
MEIN FREUND IST! Oder war. Oder was auch immer. Egal. Ich will
damit sagen, dass es mir nicht viel ausmacht, ob Bruce noch mein
Freund ist oder nicht, wo das doch schon geklärt scheint und wir
uns gegenseitig so gleichgültig sind, dass wir noch nicht mal eine
offizielle Trennungsszene brauchen. Aber es macht mir sehr wohl was
aus, wenn mein bester Freund der Grund dafür ist, dass wir uns
trennen. Kann schon sein, dass ich auf Elys Geständnis: »Ich hab
Bruce den Zweiten geküsst«, nur geantwortet habe: »Mmmh, auch
egal.« Aber das war eine Lüge. Die Gleichgültigkeit war gelogen. Es
ist, wie wenn Ely sagt: »Ist auch besser so, Schätzchen, wenn du’s
dir selber machst, denn ich werd’s dir nicht machen.« Und ich lache
dann. Die Gleichgültigkeit ist eine Lüge, um mein Herz zu
schützen.
Um in Elys Umlaufbahn bleiben zu können, muss man
bestimmte Entscheidungen treffen. Ja, Ely, du
hättest echte Chancen bei Heath Ledger gehabt. Nein, Ely, niemand
hält dich für den totalen Versager wenn du betrunken auf die
Straße stolperstund deine Freunde dich nach
Hause schleppen müssen. Du bist wahnsinnig witzig Witzig WITZIG!
Natürlich mach ich nur Spaß, Ely, wenn ich sage, dass ich mit dir
schlafen möchte. Warum sollte ich unsere Freundschaft dadurch aufs
Spiel setzen wollen? Man muss sich entscheiden, Ely an seine
eigene Fantasie-Version der Wirklichkeit glauben zu lassen, damit
Ely & Naomi weiterbestehen kann.
Verdammt noch mal, Ely, warum muss ich mich in
dieses Ely-
verstricken, um
unsere Freundschaft zu retten?

Aber wenn ich herauskrabble, wohin kann ich dann
gehen? Was bleibt mir dann? Ely kann spinnen und weben und seine
Pfeile abschießen und ins Schwarze treffen und mit anderen Jungs
treiben, was er will, solange ich nur das Zen
trum
seines Lebens bleibe. Seine Königin.

Rüttle ich jetzt tatsächlich daran?
»Warum bist du wirklich noch mal in die Wohnung
zurück?«, frage ich Ely. »An dir war vorher schon alles dran, hab
ich doch gesehen, und dein Willi hatte mir auch schon erzählt: Hey
Mädchen, du und ich, wir werden heute Abend ’ne
gute Zeit haben.«
»Kaugummi«, sagt Ely.
Bingo.
Ich lüge andauernd, aber ich hasse es, angelogen
zu werden.

Wenn Bruce der Zweite wenigstens ein
Wrigley’s-Kaugummikauer wäre und kein Orbit-Mann. Denn vier von
fünf Zahnärzten können bezeugen, dass ihre Söhne, die
Wrigley’s-Kaugummi gekaut haben, heterosexuell waren. Und mit
größter Wahrscheinlichkeit würden auch drei von fünf Zahnärzten
gegenüber einer heterosexuellen Patientin versichern, dass ihre
Söhne so lange in dem Wandschrank versteckt bleiben werden, in den
sie gehören, bis sie herausgefunden haben, dass sie heterosexuell
sind. Deshalb brauchen diese Söhne auch auf keine No Kiss
ListTM gesetzt zu werden.
Bruce-mein-ehemaliger-Freund hat keine Ahnung,
worauf er sich da einlässt. Welche Gefahren auf ihn lauern. Er tut
mir fast schon leid. Er weiß wahrscheinlich nicht, dass es Ely auf
seinen Raubzügen nur um die Jagd geht und dass ihm die Beute völlig
egal ist. Und ich werde nicht diejenige
sein, die ihn warnt. Ich hab Bruce den Zweiten ein Mal vor etwas
warnen wollen - vor mir -, und das Ganze endete damit, dass wir
miteinander rumgeknutscht haben. Ich gebe der Chemie zwischen uns
ein klares
Soll Bruce doch
allein herausfinden, wie es mit Ely ist. Viel Glück.

Geh einfach weiter, Naomi. Sag jetzt nichts. Gib
noch nicht auf.
Als Ely und ich uns dem Sitzbereich der
Eingangshalle nähern, wo der Mitternachtsclub ein Treffen abhält,
werfe ich einen Blick in den großen Spiegel. Hey, ich bin schön. Was für ein Jammer, dass Ely es nicht
bemerkt - zumindest nicht auf die
Wow-Naomi-ist-echt-supersexy-Weise, sondern nur auf die
Wow-die-Schuhe-die-ich-für-Naomi-ausgesucht-habe-sind-echt-sexy-Weise.
Die Wahrheit ist: Wenn mein kleines Schwarzes an meinem Körper so
umwerfend aussieht, dann weil ich seinen
Gürtel um die Taille trage. Wenn mein Gesicht so strahlt, dann weil
Ely neben mir ist.
Wahrscheinlich hat Ely recht. Am besten wird es
sein, ich mach es mir selbst. Ehrlich gesagt hab ich das auch schon
probiert, aber Masturbation ist eine ganz schön zeitaufwendige
Angelegenheit mit nicht sehr befriedigenden Ergebnissen. Oder
vielleicht hab ich es nur falsch angepackt. Meine Arbeitsmoral war
schon immer schwach ausgeprägt.
Ich habe nie verstanden, warum scharfes Aussehen
immer mit Sex und Eroberung gleichgesetzt wird. Was ist aus
Erwartung, Sehnsucht, Umwerben und wahrer Liebe geworden? Kann man
nicht mal scharf aussehen, ohne gleich was zu wollen? Nennt mich
das altmodische Fräulein Naomi, aber ich warte auf die große Liebe.
Selbst wenn das eine unerreichbare Fantasie ist.
Ich werde nicht den Fehler begehen und Schönheit
(meine oder seine) zur Basis meiner Beziehung zu irgendeinem Mann
machen. Dieser ganze Liebe-auf-den-ersten-Blick-Scheiß funktioniert
nicht. Mein Vater hat das Foto meiner Mutter in einer Zeitschrift
gesehen und sich in sie verliebt, bevor er sie überhaupt
kennengelernt hat. Als ich klein war, hat er mehr Zeit damit
verbracht, sie zu fotografieren, als die Fotos zu machen, mit denen
er unsere Familie ernähren sollte. Doch diese Faszination währte
nicht ewig. Dad hat schließlich den Mythos der Schönheit verworfen,
um sich der wirklichen und lebendigen Lesbe auf der anderen Seite
des Flurs zuzuwenden. Er wollte Mom sogar für sie verlassen, aber
dann hat sich die Lesbe daran erinnert, dass sie eigentlich eine
Lesbe ist, deshalb hat Dad nur Mom verlassen, und Mom hat
beschlossen, ihre Schönheit unter der Bettdecke zu vergraben.
Ich glaube, es war nicht die Tatsache, dass Dad
ihr eine Lesbe vorgezogen hat, die Mom am meisten gekränkt hat. Ich
glaube, sie fühlte sich noch viel stärker dadurch verletzt, dass
sie ihren Ehemann an eine »Freundin« verloren hat.
Die Pokerspieler haben gerade ein Spiel beendet,
als Ely und ich uns ihnen nähern. Wir bleiben stehen, um schweigend
Gabriel zu bewundern, der eine neue Runde Karten an die Mitglieder
des Mitternachtsclubs austeilt. Ja, ich hätte ihn gern für mich
allein - wer nicht? -, aber er steht auf Platz zwei unserer No Kiss
ListTM, und ICH WEISS, WO MEINE GRENZEN
SIND.
Sue riecht Ärger, wenn sie ihn kommen sieht.
»Naomi, weiß deine Mutter, dass du so spät noch ausgehst?« Ich
vermute, dass sie mein Outfit meint, nicht die Uhrzeit.
»Ja«, lüge ich. Seit Dad fort ist, verbringt meine
Mutter die meiste Zeit in einem pharmazeutischen Dämmerzustand. Der
Arzt hat ihr irgendwann den Nachschub an Schlaftabletten
verweigert, aber Bruce der Erste wusste das nicht, als er ihr
seinen Vorrat ausgehändigt hat. Im Austausch dafür, dass Mom ihm
seine Sachen gewaschen hat; das war, als seine Schwester in Streik
getreten war und ihm erklärt hatte, er solle sich nicht länger wie
ein großes Baby aufführen und sich selbst um seine Wäsche
kümmern.
Jetzt kümmere ich mich auch noch um Moms Wäsche.
Das macht mir nichts aus. Sie schafft es sehr gut, ihre Weißwäsche
und ihre Buntwäsche vorzusortieren. Doch egal wie viele
Wäscheladungen ich für sie wasche, wie viele Mittagessen ich für
sie koche oder wie viele Nächte ich neben ihr im Doppelbett
schlafe, ich kann sie nicht aus ihrer Depression reißen. Ich
wünschte, ich wäre eine solche Premium-Tochter.
Mr McAllister steht von der Ledercouch auf, in der
linken Hand die Vogue vom letzten Monat. Perversling. »Nacht
allerseits«, sagt er, verbeugt sich knapp und geht dann zum
Aufzug.
»Warten Sie!«, rufe ich.
Die Aufzugtür geht wieder auf. Ich drehe mich zu
Ely. »Bist du dir sicher, dass du nicht noch was anderes in der
Wohnung vergessen hast?«
Er blickt so schuldbewusst drein. Ich würde ihn
jetzt gerne hassen.
»Was zum Beispiel?«, murmelt Ely.
»Zum Beispiel deine Eier, ohne die dein Schwanz
nichts wert ist.«
»Nicht diese Sprache, junge Lady!«, schimpft Sue
und deutet auf den netten kleinen Bruce den Ersten mit Mrs Loys
Chihuahua auf dem Schoß. Highschool-Boys. So jung und süß und
unschuldig. So jämmerlich und doch so unwiderstehlich. Es bricht
mir das Herz zu sehen, dass ich ihm das Herz breche. Ich hasse mich
dafür.
Trotzdem. Oh, du Ablenkung von meinen Sorgen, wie
danke ich dir vielmals, dass du hier mitten in der Nacht
herumsitzt. Nein, nicht diese Ablenkung.
Gabriel spielt in der ersten Liga, und ich seh vielleicht nicht so
aus, aber ich bin immer noch Kreisklasse. Achtung: Ersatzspieler
Bruce der Erste, wärm dich schon mal auf!
Ely kann seine verdammten Drinks heute selbst
bezahlen. Ein Mädchen, das so aussieht wie ich, sollte nicht so
□-schädelig verbohrt sein. Zeit für eine Wachablösung. Warum sollte
aus dem □ nicht ein ♦ ◆werden oder irgendetwas, das mir aus der Ich-bin-das-Zent
rum-von-Elys-Leben-Lüge
heraushilft?

»Was meinst du damit, Naomi?«, fragt Ely.
»Kommen Sie jetzt mit oder nicht?«, brüllt Mr
McAllister aus der Aufzugkabine.
»Nein!«, brüllt Ely zurück. Die Aufzugtür schließt
sich.
Mein Mund öffnet sich zu einem Redeschwall -
ehrlich und aufrichtig und lange überfällig. »Ich meine damit, dass
ich hoffe, du hast heute Abend noch deinen Spaß, mit wem auch
immer, von dem du mir nicht erzählen willst. Ich meine damit, dass
ich meine Meinung geändert habe. Mädchen dürfen das. Komm mit,
Bruce. Lass uns mit Zuckerstückchen rausgehen. Du und ich. Ich will
nicht mit dir zu dieser blöden NYU-Party, Ely.«
Diese blöden NYU-Partys, die sind überhaupt an
allem schuld. Letzten Herbst, in unserem ersten Semester an der
Uni, sind wir zusammen zu einer Party in Robins
Wohnheim gegangen.
Ely und ich waren immer die Stars unserer Schulmusical-Clique, wenn
wir auf Partys zusammen »Breakin’ Free« gesungen haben - ich als
Troy und Ely als Gabriella. Wir beherrschten das im Schlaf,
schließlich hatten wir die Szene im Frühjahr für unser Musical oft
genug zusammen geprobt. Nicht an diesem Abend. Als ich in der Rolle
von Troy »We’re breaking free!« gesungen habe und als Ely in der
Rolle von Gabriella sich um die eigene Achse gedreht und dabei
»We’re soaring!« gesungen hat, hätten wir danach wie immer
gemeinsam »Flying!« schmettern müssen, aber Ely flatterte plötzlich
auf und davon, statt weiterzusingen, einfach so. Ein echter
Troy-Wiedergänger hatte seinen Blick auf sich gezogen und verlangte
seine sofortige Aufmerksamkeit.

Die Leute denken immer, dass Schönheit ein
Geschenk ist, aber sie kann auch ein Fluch sein - auf Uni-Partys
zum Beispiel, wenn dein schwuler bester Freund dich wegen eines
süßen Boys sitzen lässt und alle anderen Jungs zu schüchtern sind,
um dich anzusprechen. Das war der Augenblick, in dem Bruce der
Zweite in mein Leben trat. Er hat mir später erzählt, dass er nie
gedacht hätte, bei einem Mädchen wie mir eine Chance zu haben -
warum mich dann nicht ansprechen, einfach so? Nur um miteinander zu
reden, vielleicht Freunde zu werden. Er setzte sich neben mich, als
ich mich gerade völlig verlassen fühlte. Er sagte: »Alle denken
immer, Ginger Rogers wäre die Lieblingstanzpartnerin von Fred
Astaire gewesen. Dabei stimmt das nicht. Er hat immer gesagt, es
sei Rita Hayworth gewesen.«
Ich hatte wohl wirklich zu viel getrunken. Dass
ich es damals nicht gleich begriffen habe!
»Ich hab immer gedacht, seine Lieblingspartnerin
war Cyd Charisse«, murmelte ich. Ich hatte nie auch nur einen
einzigen Tanzfilm mit Fred Astaire gesehen; ich wiederholte nur,
was meine Großmutter mal gesagt hatte. Das hinderte mich jedoch
nicht daran, ungefähr fünfzehn Minuten lang über das
FredlGinger/Rita/Cyd- -und wer war überhaupt Gene Kelly, verdammt
noch mal? - Thema mit Bruce zu quatschen. Dann hab ich es nicht
mehr ausgehalten. Das langweilige Gesprächsthema war schuld. Ich
hab mich an diesem Bruce festgeklammert. Ich brauchte dringend eine
Ablenkung. Ich fing an, mit ihm rumzuknutschen.
Was soll ich dazu noch sagen? Ich mochte Bruce den
Zweiten irgendwie. Er war als Freund echt pflegeleicht. Kein Druck.
Keine großen Erwartungen. Er war immer verfügbar, wenn Ely keine
Zeit hatte.
Ich weiß, dass ich jetzt auf Ely richtig wütend
sein sollte und dass ich darüber nachdenken sollte, ob ich für
Bruce den Zweiten nicht nur ein Umweg war, über den er schließlich
herausgefunden hat, dass er eigentlich schwul ist. Aber sogar
jetzt, als ich mit Bruce dem Ersten abmarschiere, denke ich in
meinem Innersten: Bitte, Bruce der Zweite,
bitte. Nimm mir nicht Ely weg.
»Du machst wohl Witze«, sagt Ely. »Sogar für dich,
Naomi, ist das eine ziemlich übertriebene Reaktion. Du stehst hier,
hast meinen Gürtel an und willst mir erzählen, dass du plötzlich
lieber mit Bruce dem Ersten und diesem affigen Scheißschoßhündchen
ausgehst als mit mir?«
Ein Teil von mir denkt: Geh nach oben, Ely.
Verpiss dich und mach
die Fliege. Finde heraus, wonach du suchst, ich bin es jedenfalls
nicht, das ist klar. Ich wollte, dass du der Erste für mich bist,
Ely, und du hast mich ausgelacht. Ich habe Bruce den Zweiten
abgewimmelt, als er der Erste sein wollte. Nicht nur weil ich mir
nicht ganz sicher war ob er es nicht vielleicht nur deshalb wollte,
um sich selbst zu beweisen, dass er es kann. Sondern auch weil ich
wollte, dass das erste Mal für mich etwas ganz Besonderes ist. Ich
wollte das erste Mal mit jemandem teilen, den ich liebe und nicht
nur ganz gern mag. Es hätte nicht bedeutet, dass du plötzlich nicht
mehr schwul wärst oder dass ich wirklich in dich verliebt gewesen
wäre. Es hätte auch nicht bedeutet, dass ich damit Mary eins hätte
auswischen wollen, weil es nur eines gibt, was ihr noch
unerträglicher ist als die Vorstellung, du könntest was mit einem
Mädchen anfangen: dass es das Mädchen sein könnte, das in
verwandtschaftlicher Beziehung zu meinem Vater steht, nämlich
ich.
»Doch«, sage ich. Ich hoffe, es klingt wie eine
Ohrfeige. »Und bitte keine Fäkalsprache vor Kindern.« Ich kann
nicht glauben, dass wir hier tatsächlich ein so bescheuertes
Gespräch führen. Ich kann nicht glauben, dass ich immer noch eins
draufsetze. »Und woher weißt du, dass Zuckerstückchen ein affiges
Scheißschoßhündchen ist? Gibt es vielleicht einen Intelligenztest
für Chihua...«
»Zuckertörtchen, nicht Zuckerstückchen«, mischt
sich Bruce der Erste ein. Er springt von seinem Sessel hoch. Der
Hund bellt, wedelt mit dem Schwanz, freut sich auf seinen
Spaziergang.
Bruce der Erste. Der Erste. Ich werd dem Jungen
heute Nacht zeigen, was es heißt, Spaß zu haben. Und damit meine
ich nicht irgend so was Oberflächliches wie rosa Cocktails und
hübsche Jungs und schnellen Sex. Es wird heute Nacht keine Party
geben, keine Drinks, keine Tanzrituale zu Songs von Madonna und
Kylie Minogue, als ob die mir jemals wirklich gefallen hätten, kein
Naomi & Ely-Abenteuer. Ich nehme Bruce und den Hund irgendwo
anders hin mit, ich weiß noch nicht, wohin, aber es wird dort nett
und gemütlich und anständig sein. Vielleicht eine Bibelgruppe für
Schlaflose. Vielleicht ein U 18-Roller-Skating-Club. Vielleicht das
Wohnheim von Robin (
), um dort Pictionary
zu spielen. Wir werden uns altersgemäß verhalten - wie es unserem
richtigen Alter entspricht, nicht unserem aufgeputschten,
hochgetrimmten, hyperkultivierten Manhattan-Alter.

Diese Stadt ist so schnell. Ely ist so schnell.
Mein Herzschlag ist so schnell. Ich will davon runterkommen.
Langsamer werden.
»Damit wir beide uns klar verstehen, Naomi. Ich
frage dich das jetzt und ich frage dich nur ein Mal: Willst du
heute Abend wirklich nicht mit mir
ausgehen? Oder lügst du?«, fragt Ely.
»Nein.« Ich lüge. Aber ich weiß nicht, wo ich mir
was vorlüge.
Doch eines weiß ich ganz sicher: Mach Platz,
Donnie Weisberg, wo immer du dich gerade rumtreibst. Du bist nicht
mehr die Nummer eins. Denn es gibt jetzt einen neuen Namen auf der
No Kiss ListTM: Ely.
Der Gewinner, wie immer.