Naomi
ORBIT
»Und, hast du deinen Willi auch dabei?« Ely grinst mich an, als wir im Aufzug runterfahren.
»Wenn ich einen hätte, wie wären dann meine Chancen bei dir?« Er glaubt, dass er in dem roten Gürtel echt scharf aussieht. Aber er lässt ihn nach Babyspeck aussehen. Babyspeck und tussiges Rot. Tragische Kombination bei einem schwulen Jungen.
»Negativ«, antwortet Ely. Er beugt sich vor, seine Brust gegen meine Brüste gepresst, sein Gesicht nähert sich, als würde er mich gleich küssen wollen. Seine Lippen berühren schon fast meine Lippen, da schiebt sich eine Hand dazwischen. »Kaugummi?«, fragt er, ein Päckchen zwischen den Fingern drehend. Als ob ein Kaugummi in der Lage wäre, Elys Mundgeruch nach Vorglüh-025zu übertönen. Ely wird sagen, dass es nur einer war, aber ich weiß, es waren mindestens drei.
Ein Stückchen Olive klemmt zwischen seinen beiden Vorderzähnen. Das lässt sein Gesicht hässlich aussehen. Willkommen hässlich. Wenn Ely sich noch weiter zu mir vorbeugt, wird die Reibung zwischen seinem Lächeln und meiner Erwartung gleich zu einer Explosion führen, wie eine026.
Ich weiß, dass da draußen eine große böse027mit schlimmen Problemen wartet - Krieg und Ungerechtigkeit und Klimakatastrophe, aber auch so viel Hoffnung und Menschlichkeit -, doch tut mir ja so leid, mich kümmert am allermeisten die Naomi & Ely-028bubble029Ihr verdanke ich es, dass ich bisher heil durchs Leben gekommen bin. Sie zerplatzt nicht. So wie alles andere zerplatzt.
Ich fahre mit dem Zeigefinger in meinen Mund, damit er das mit der Olive merkt. Er leckt sie sofort mit der Zungenspitze weg.
Zehn... neun... acht...
Er ist schon so nahe - warum also nicht?
»Auszeit?«, frage ich lächelnd. So nennen wir unsere gelegentlichen, unverbindlichen, rein platonischen Knutschereien zwischen besten Freunden, die im wirklichen Leben nicht zählen. (Die Auszeiten passieren nur, wenn wir betrunken oder gelangweilt sind - was interessanterweise Hand in Hand, gelegentlich auch von Mund zu Mund zu geht.)
»Du willst mich nur wegen meinem Kaugummi«, spöttelt er zurück. »Wie kann ich mir sicher sein, dass du mich am Morgen danach immer noch achten wirst?«
Er zieht sich zurück, tänzelt um mich herum, spielt mit mir.
Falscher Alarm. Ich habe gelogen. Es gibt keine030und Ely sieht auch nicht babyspeckig oder tussig aus. Er sieht wie Ely aus. Er ist nicht heiß wie Gabriel. Er ist Ely. Einfach nett. Der erste Mensch, an den ich denke, wenn ich am Morgen aufwache, der letzte Mensch, nach dem ich mich sehne, bevor ich einschlafe. Der Mensch, der ein Teil von mir ist. Genauso wie ich selbst.
Vielleicht bin ich eine Egoistin. Ich bin mir nicht ganz sicher, was Egoismus wirklich ist, aber im Augenblick bin ich für jede Bezeichnung dankbar, die irgendwie beschreibt, was Ely und ich sind. Füreinander.
Ich meine, ich weiß, dass wir beide es wissen. Aber wissen wir es wirklich?
Die egoistische Version von uns beiden sieht Naomi & Ely als zwei Teile eines gemeinsamen Ganzen. Meine Mutter und seine Mütter haben mir wieder und immer wieder031dass sexuelle Orientierung keine Sache der freien Wahl ist, aber wenn Ely sich zu mir beugt und mit mir seine Späße macht, so nahe vor mir, ohne mich zu berühren, spüre ich ihn trotzdem, von oben bis unten, auf jedem Zentimeter meiner Haut, als wäre ich auf dem032taub, denn egal was alle sagen, ich kann nicht anders, ich glaube, dass es ihm genauso ergeht wie mir und dass ich die Wahl seines Lebens bin:
033
Als wir beide dreizehn waren und miteinander küssen geübt haben, war schwul sein noch überhaupt kein Thema. Es fühlte sich alles so natürlich und leicht und selbstverständlich an. Es gab zwischen uns keine Wand, denn es war sonnenklar, dass wir unsere ersten Liebesexperimente miteinander machen würden. Seine Lippen fühlten sich damals nicht schwul an. Warum sollten sie das jetzt? Nur weil Ely sich jetzt von Jungen angezogen fühlt, heißt das noch lange nicht, dass er nicht eines Tages beschließen kann, unsere seelische Einheit zu einer körperlichen Einheit auszudehnen. Ich weigere mich zu glauben, dass er das nicht vielleicht auch möchte, auf irgendeiner Ebene, ob ihm das bewusst ist oder nicht.
Oder vielleicht, wie Robin034mir als gute Freundin immer wieder erklärt, kenne ich Ely einfach schon viel zu lange und viel zu gut, und meine Augen sehen nur, was mein Herz sehen will. Ein Fall von Projektion.
Ich muss mehr Zeit mit anderen Mädchen verbringen.
Die Aufzugstür geht auf.
Ely legt mir einen Kaugummistreifen auf die geöffnete Hand, als wir in die Eingangshalle hinaustreten. Ich erstarre.
035
Bruce der Zweite hat echt großartige Zähne - strahlend weiß, regelmäßig, ein perfektes Gebiss, fast ein Kunstwerk. Das ist kein Zufall. Seine Eltern sind nämlich beide Zahnärzte. Auf ihr Konto gehen wahrscheinlich die Zähne der gesamten Großraum-New-York-Elite. Und ihr braver Sohn, das Wundergebiss, kaut natürlich nur zuckerfreien Kaugummi. Bruce der Zweite ist ein Orbit-Mann. Ely dagegen ist Dentyne-Kauer.
»Seit wann kaufst du denn Orbit?«, frage ich Ely. Ich wickle den Kaugummi nicht aus. Ich lasse stattdessen ein TicTac in meinen Mund ploppen, aus meinem eigenen Vorrat.
»Seit Madonna angefangen hat, Kinderbücher zu schreiben. Warum fragst du?«
Ich mache einen Schritt von ihm weg und kann nur schwer dem dringenden Bedürfnis widerstehen, ihn gegen die Wand zu drücken.036Naomi, komm heraus, komm heraus, wo immer du bist.
Ich frage, weil -ähm, nun, ja! - BRUCE DER ZWEITE MEIN FREUND IST! Oder war. Oder was auch immer. Egal. Ich will damit sagen, dass es mir nicht viel ausmacht, ob Bruce noch mein Freund ist oder nicht, wo das doch schon geklärt scheint und wir uns gegenseitig so gleichgültig sind, dass wir noch nicht mal eine offizielle Trennungsszene brauchen. Aber es macht mir sehr wohl was aus, wenn mein bester Freund der Grund dafür ist, dass wir uns trennen. Kann schon sein, dass ich auf Elys Geständnis: »Ich hab Bruce den Zweiten geküsst«, nur geantwortet habe: »Mmmh, auch egal.« Aber das war eine Lüge. Die Gleichgültigkeit war gelogen. Es ist, wie wenn Ely sagt: »Ist auch besser so, Schätzchen, wenn du’s dir selber machst, denn ich werd’s dir nicht machen.« Und ich lache dann. Die Gleichgültigkeit ist eine Lüge, um mein Herz zu schützen.
Um in Elys Umlaufbahn bleiben zu können, muss man bestimmte Entscheidungen treffen. Ja, Ely, du hättest echte Chancen bei Heath Ledger gehabt. Nein, Ely, niemand hält dich für den totalen Versager wenn du betrunken auf die Straße stolperstund deine Freunde dich nach Hause schleppen müssen. Du bist wahnsinnig witzig Witzig WITZIG! Natürlich mach ich nur Spaß, Ely, wenn ich sage, dass ich mit dir schlafen möchte. Warum sollte ich unsere Freundschaft dadurch aufs Spiel setzen wollen? Man muss sich entscheiden, Ely an seine eigene Fantasie-Version der Wirklichkeit glauben zu lassen, damit Ely & Naomi weiterbestehen kann.
Verdammt noch mal, Ely, warum muss ich mich in dieses Ely-037verstricken, um unsere Freundschaft zu retten?
Aber wenn ich herauskrabble, wohin kann ich dann gehen? Was bleibt mir dann? Ely kann spinnen und weben und seine Pfeile abschießen und ins Schwarze treffen und mit anderen Jungs treiben, was er will, solange ich nur das Zen038trum seines Lebens bleibe. Seine Königin.
Rüttle ich jetzt tatsächlich daran?
»Warum bist du wirklich noch mal in die Wohnung zurück?«, frage ich Ely. »An dir war vorher schon alles dran, hab ich doch gesehen, und dein Willi hatte mir auch schon erzählt: Hey Mädchen, du und ich, wir werden heute Abend ’ne gute Zeit haben.«
»Kaugummi«, sagt Ely.
Bingo.
Ich lüge andauernd, aber ich hasse es, angelogen zu werden.
039
Wenn Bruce der Zweite wenigstens ein Wrigley’s-Kaugummikauer wäre und kein Orbit-Mann. Denn vier von fünf Zahnärzten können bezeugen, dass ihre Söhne, die Wrigley’s-Kaugummi gekaut haben, heterosexuell waren. Und mit größter Wahrscheinlichkeit würden auch drei von fünf Zahnärzten gegenüber einer heterosexuellen Patientin versichern, dass ihre Söhne so lange in dem Wandschrank versteckt bleiben werden, in den sie gehören, bis sie herausgefunden haben, dass sie heterosexuell sind. Deshalb brauchen diese Söhne auch auf keine No Kiss ListTM gesetzt zu werden.
Bruce-mein-ehemaliger-Freund hat keine Ahnung, worauf er sich da einlässt. Welche Gefahren auf ihn lauern. Er tut mir fast schon leid. Er weiß wahrscheinlich nicht, dass es Ely auf seinen Raubzügen nur um die Jagd geht und dass ihm die Beute völlig egal ist. Und ich werde nicht diejenige sein, die ihn warnt. Ich hab Bruce den Zweiten ein Mal vor etwas warnen wollen - vor mir -, und das Ganze endete damit, dass wir miteinander rumgeknutscht haben. Ich gebe der Chemie zwischen uns ein klares040Soll Bruce doch allein herausfinden, wie es mit Ely ist. Viel Glück.
Geh einfach weiter, Naomi. Sag jetzt nichts. Gib noch nicht auf.
Als Ely und ich uns dem Sitzbereich der Eingangshalle nähern, wo der Mitternachtsclub ein Treffen abhält, werfe ich einen Blick in den großen Spiegel. Hey, ich bin schön. Was für ein Jammer, dass Ely es nicht bemerkt - zumindest nicht auf die Wow-Naomi-ist-echt-supersexy-Weise, sondern nur auf die Wow-die-Schuhe-die-ich-für-Naomi-ausgesucht-habe-sind-echt-sexy-Weise. Die Wahrheit ist: Wenn mein kleines Schwarzes an meinem Körper so umwerfend aussieht, dann weil ich seinen Gürtel um die Taille trage. Wenn mein Gesicht so strahlt, dann weil Ely neben mir ist.
Wahrscheinlich hat Ely recht. Am besten wird es sein, ich mach es mir selbst. Ehrlich gesagt hab ich das auch schon probiert, aber Masturbation ist eine ganz schön zeitaufwendige Angelegenheit mit nicht sehr befriedigenden Ergebnissen. Oder vielleicht hab ich es nur falsch angepackt. Meine Arbeitsmoral war schon immer schwach ausgeprägt.
Ich habe nie verstanden, warum scharfes Aussehen immer mit Sex und Eroberung gleichgesetzt wird. Was ist aus Erwartung, Sehnsucht, Umwerben und wahrer Liebe geworden? Kann man nicht mal scharf aussehen, ohne gleich was zu wollen? Nennt mich das altmodische Fräulein Naomi, aber ich warte auf die große Liebe. Selbst wenn das eine unerreichbare Fantasie ist.
Ich werde nicht den Fehler begehen und Schönheit (meine oder seine) zur Basis meiner Beziehung zu irgendeinem Mann machen. Dieser ganze Liebe-auf-den-ersten-Blick-Scheiß funktioniert nicht. Mein Vater hat das Foto meiner Mutter in einer Zeitschrift gesehen und sich in sie verliebt, bevor er sie überhaupt kennengelernt hat. Als ich klein war, hat er mehr Zeit damit verbracht, sie zu fotografieren, als die Fotos zu machen, mit denen er unsere Familie ernähren sollte. Doch diese Faszination währte nicht ewig. Dad hat schließlich den Mythos der Schönheit verworfen, um sich der wirklichen und lebendigen Lesbe auf der anderen Seite des Flurs zuzuwenden. Er wollte Mom sogar für sie verlassen, aber dann hat sich die Lesbe daran erinnert, dass sie eigentlich eine Lesbe ist, deshalb hat Dad nur Mom verlassen, und Mom hat beschlossen, ihre Schönheit unter der Bettdecke zu vergraben.
Ich glaube, es war nicht die Tatsache, dass Dad ihr eine Lesbe vorgezogen hat, die Mom am meisten gekränkt hat. Ich glaube, sie fühlte sich noch viel stärker dadurch verletzt, dass sie ihren Ehemann an eine »Freundin« verloren hat.
Die Pokerspieler haben gerade ein Spiel beendet, als Ely und ich uns ihnen nähern. Wir bleiben stehen, um schweigend Gabriel zu bewundern, der eine neue Runde Karten an die Mitglieder des Mitternachtsclubs austeilt. Ja, ich hätte ihn gern für mich allein - wer nicht? -, aber er steht auf Platz zwei unserer No Kiss ListTM, und ICH WEISS, WO MEINE GRENZEN SIND.
Sue riecht Ärger, wenn sie ihn kommen sieht. »Naomi, weiß deine Mutter, dass du so spät noch ausgehst?« Ich vermute, dass sie mein Outfit meint, nicht die Uhrzeit.
»Ja«, lüge ich. Seit Dad fort ist, verbringt meine Mutter die meiste Zeit in einem pharmazeutischen Dämmerzustand. Der Arzt hat ihr irgendwann den Nachschub an Schlaftabletten verweigert, aber Bruce der Erste wusste das nicht, als er ihr seinen Vorrat ausgehändigt hat. Im Austausch dafür, dass Mom ihm seine Sachen gewaschen hat; das war, als seine Schwester in Streik getreten war und ihm erklärt hatte, er solle sich nicht länger wie ein großes Baby aufführen und sich selbst um seine Wäsche kümmern.
Jetzt kümmere ich mich auch noch um Moms Wäsche. Das macht mir nichts aus. Sie schafft es sehr gut, ihre Weißwäsche und ihre Buntwäsche vorzusortieren. Doch egal wie viele Wäscheladungen ich für sie wasche, wie viele Mittagessen ich für sie koche oder wie viele Nächte ich neben ihr im Doppelbett schlafe, ich kann sie nicht aus ihrer Depression reißen. Ich wünschte, ich wäre eine solche Premium-Tochter.
Mr McAllister steht von der Ledercouch auf, in der linken Hand die Vogue vom letzten Monat. Perversling. »Nacht allerseits«, sagt er, verbeugt sich knapp und geht dann zum Aufzug.
»Warten Sie!«, rufe ich.
Die Aufzugtür geht wieder auf. Ich drehe mich zu Ely. »Bist du dir sicher, dass du nicht noch was anderes in der Wohnung vergessen hast?«
Er blickt so schuldbewusst drein. Ich würde ihn jetzt gerne hassen.
»Was zum Beispiel?«, murmelt Ely.
»Zum Beispiel deine Eier, ohne die dein Schwanz nichts wert ist.«
»Nicht diese Sprache, junge Lady!«, schimpft Sue und deutet auf den netten kleinen Bruce den Ersten mit Mrs Loys Chihuahua auf dem Schoß. Highschool-Boys. So jung und süß und unschuldig. So jämmerlich und doch so unwiderstehlich. Es bricht mir das Herz zu sehen, dass ich ihm das Herz breche. Ich hasse mich dafür.
Trotzdem. Oh, du Ablenkung von meinen Sorgen, wie danke ich dir vielmals, dass du hier mitten in der Nacht herumsitzt. Nein, nicht diese Ablenkung. Gabriel spielt in der ersten Liga, und ich seh vielleicht nicht so aus, aber ich bin immer noch Kreisklasse. Achtung: Ersatzspieler Bruce der Erste, wärm dich schon mal auf!
Ely kann seine verdammten Drinks heute selbst bezahlen. Ein Mädchen, das so aussieht wie ich, sollte nicht so □-schädelig verbohrt sein. Zeit für eine Wachablösung. Warum sollte aus dem □ nicht ein ♦ ◆werden oder irgendetwas, das mir aus der Ich-bin-das-Zent041rum-von-Elys-Leben-Lüge heraushilft?
»Was meinst du damit, Naomi?«, fragt Ely.
»Kommen Sie jetzt mit oder nicht?«, brüllt Mr McAllister aus der Aufzugkabine.
»Nein!«, brüllt Ely zurück. Die Aufzugtür schließt sich.
Mein Mund öffnet sich zu einem Redeschwall - ehrlich und aufrichtig und lange überfällig. »Ich meine damit, dass ich hoffe, du hast heute Abend noch deinen Spaß, mit wem auch immer, von dem du mir nicht erzählen willst. Ich meine damit, dass ich meine Meinung geändert habe. Mädchen dürfen das. Komm mit, Bruce. Lass uns mit Zuckerstückchen rausgehen. Du und ich. Ich will nicht mit dir zu dieser blöden NYU-Party, Ely.«
Diese blöden NYU-Partys, die sind überhaupt an allem schuld. Letzten Herbst, in unserem ersten Semester an der Uni, sind wir zusammen zu einer Party in Robins042Wohnheim gegangen. Ely und ich waren immer die Stars unserer Schulmusical-Clique, wenn wir auf Partys zusammen »Breakin’ Free« gesungen haben - ich als Troy und Ely als Gabriella. Wir beherrschten das im Schlaf, schließlich hatten wir die Szene im Frühjahr für unser Musical oft genug zusammen geprobt. Nicht an diesem Abend. Als ich in der Rolle von Troy »We’re breaking free!« gesungen habe und als Ely in der Rolle von Gabriella sich um die eigene Achse gedreht und dabei »We’re soaring!« gesungen hat, hätten wir danach wie immer gemeinsam »Flying!« schmettern müssen, aber Ely flatterte plötzlich auf und davon, statt weiterzusingen, einfach so. Ein echter Troy-Wiedergänger hatte seinen Blick auf sich gezogen und verlangte seine sofortige Aufmerksamkeit.
Die Leute denken immer, dass Schönheit ein Geschenk ist, aber sie kann auch ein Fluch sein - auf Uni-Partys zum Beispiel, wenn dein schwuler bester Freund dich wegen eines süßen Boys sitzen lässt und alle anderen Jungs zu schüchtern sind, um dich anzusprechen. Das war der Augenblick, in dem Bruce der Zweite in mein Leben trat. Er hat mir später erzählt, dass er nie gedacht hätte, bei einem Mädchen wie mir eine Chance zu haben - warum mich dann nicht ansprechen, einfach so? Nur um miteinander zu reden, vielleicht Freunde zu werden. Er setzte sich neben mich, als ich mich gerade völlig verlassen fühlte. Er sagte: »Alle denken immer, Ginger Rogers wäre die Lieblingstanzpartnerin von Fred Astaire gewesen. Dabei stimmt das nicht. Er hat immer gesagt, es sei Rita Hayworth gewesen.«
Ich hatte wohl wirklich zu viel getrunken. Dass ich es damals nicht gleich begriffen habe!
»Ich hab immer gedacht, seine Lieblingspartnerin war Cyd Charisse«, murmelte ich. Ich hatte nie auch nur einen einzigen Tanzfilm mit Fred Astaire gesehen; ich wiederholte nur, was meine Großmutter mal gesagt hatte. Das hinderte mich jedoch nicht daran, ungefähr fünfzehn Minuten lang über das FredlGinger/Rita/Cyd- -und wer war überhaupt Gene Kelly, verdammt noch mal? - Thema mit Bruce zu quatschen. Dann hab ich es nicht mehr ausgehalten. Das langweilige Gesprächsthema war schuld. Ich hab mich an diesem Bruce festgeklammert. Ich brauchte dringend eine Ablenkung. Ich fing an, mit ihm rumzuknutschen.
Was soll ich dazu noch sagen? Ich mochte Bruce den Zweiten irgendwie. Er war als Freund echt pflegeleicht. Kein Druck. Keine großen Erwartungen. Er war immer verfügbar, wenn Ely keine Zeit hatte.
Ich weiß, dass ich jetzt auf Ely richtig wütend sein sollte und dass ich darüber nachdenken sollte, ob ich für Bruce den Zweiten nicht nur ein Umweg war, über den er schließlich herausgefunden hat, dass er eigentlich schwul ist. Aber sogar jetzt, als ich mit Bruce dem Ersten abmarschiere, denke ich in meinem Innersten: Bitte, Bruce der Zweite, bitte. Nimm mir nicht Ely weg.
»Du machst wohl Witze«, sagt Ely. »Sogar für dich, Naomi, ist das eine ziemlich übertriebene Reaktion. Du stehst hier, hast meinen Gürtel an und willst mir erzählen, dass du plötzlich lieber mit Bruce dem Ersten und diesem affigen Scheißschoßhündchen ausgehst als mit mir?«
Ein Teil von mir denkt: Geh nach oben, Ely. Verpiss dich und mach die Fliege. Finde heraus, wonach du suchst, ich bin es jedenfalls nicht, das ist klar. Ich wollte, dass du der Erste für mich bist, Ely, und du hast mich ausgelacht. Ich habe Bruce den Zweiten abgewimmelt, als er der Erste sein wollte. Nicht nur weil ich mir nicht ganz sicher war ob er es nicht vielleicht nur deshalb wollte, um sich selbst zu beweisen, dass er es kann. Sondern auch weil ich wollte, dass das erste Mal für mich etwas ganz Besonderes ist. Ich wollte das erste Mal mit jemandem teilen, den ich liebe und nicht nur ganz gern mag. Es hätte nicht bedeutet, dass du plötzlich nicht mehr schwul wärst oder dass ich wirklich in dich verliebt gewesen wäre. Es hätte auch nicht bedeutet, dass ich damit Mary eins hätte auswischen wollen, weil es nur eines gibt, was ihr noch unerträglicher ist als die Vorstellung, du könntest was mit einem Mädchen anfangen: dass es das Mädchen sein könnte, das in verwandtschaftlicher Beziehung zu meinem Vater steht, nämlich ich.
»Doch«, sage ich. Ich hoffe, es klingt wie eine Ohrfeige. »Und bitte keine Fäkalsprache vor Kindern.« Ich kann nicht glauben, dass wir hier tatsächlich ein so bescheuertes Gespräch führen. Ich kann nicht glauben, dass ich immer noch eins draufsetze. »Und woher weißt du, dass Zuckerstückchen ein affiges Scheißschoßhündchen ist? Gibt es vielleicht einen Intelligenztest für Chihua...«
»Zuckertörtchen, nicht Zuckerstückchen«, mischt sich Bruce der Erste ein. Er springt von seinem Sessel hoch. Der Hund bellt, wedelt mit dem Schwanz, freut sich auf seinen Spaziergang.
Bruce der Erste. Der Erste. Ich werd dem Jungen heute Nacht zeigen, was es heißt, Spaß zu haben. Und damit meine ich nicht irgend so was Oberflächliches wie rosa Cocktails und hübsche Jungs und schnellen Sex. Es wird heute Nacht keine Party geben, keine Drinks, keine Tanzrituale zu Songs von Madonna und Kylie Minogue, als ob die mir jemals wirklich gefallen hätten, kein Naomi & Ely-Abenteuer. Ich nehme Bruce und den Hund irgendwo anders hin mit, ich weiß noch nicht, wohin, aber es wird dort nett und gemütlich und anständig sein. Vielleicht eine Bibelgruppe für Schlaflose. Vielleicht ein U 18-Roller-Skating-Club. Vielleicht das Wohnheim von Robin (043), um dort Pictionary zu spielen. Wir werden uns altersgemäß verhalten - wie es unserem richtigen Alter entspricht, nicht unserem aufgeputschten, hochgetrimmten, hyperkultivierten Manhattan-Alter.
Diese Stadt ist so schnell. Ely ist so schnell. Mein Herzschlag ist so schnell. Ich will davon runterkommen. Langsamer werden.
»Damit wir beide uns klar verstehen, Naomi. Ich frage dich das jetzt und ich frage dich nur ein Mal: Willst du heute Abend wirklich nicht mit mir ausgehen? Oder lügst du?«, fragt Ely.
»Nein.« Ich lüge. Aber ich weiß nicht, wo ich mir was vorlüge.
Doch eines weiß ich ganz sicher: Mach Platz, Donnie Weisberg, wo immer du dich gerade rumtreibst. Du bist nicht mehr die Nummer eins. Denn es gibt jetzt einen neuen Namen auf der No Kiss ListTM: Ely.
Der Gewinner, wie immer.