Ely
VERSTECK
Ich warte auf sie in der Ecke im Treppenhaus. Sechster Stock. Unsere heilige Freundschaftsstätte. Vorortkinder haben ihre Luxusbaumhäuser, wir wohnen in Manhattan, deshalb mussten wir uns unsere eigenen Orte schaffen. Die Ecke im Treppenhaus, sechster Stock, gehörte uns. Wir mochten das unruhige Flackern und Summen der Leuchtstoffröhre über uns. Hier haben wir endlos lange Mensch ärgere dich nicht!, Rummikub, Äpfel zu Äpfeln und unsere spezielle Variante von Trivial Pursuit gespielt, mit neuen Kategorien und eigenen Fragen, die sich ausschließlich um das Apartmenthaus und seine Bewohner gedreht haben. Wir haben sogar unsere Bilder aus dem Kunstunterricht im Treppenhaus aufgehängt. Als wir älter waren, haben wir den Treppenabsatz als Bühne benutzt und dort unser Disco-Musical aufgeführt. Ich hab das Bühnenbild gemacht und Naomi hat sich um die Rollen gekümmert - ich weiß noch, sie hieß Lavendel und ich Butterkeks. (Diese Erinnerung sollte schleunigst verdrängt und entsorgt werden. Unser Musical war natürlich großartig, aber Butterkeks? Habe ich dieser angeberischen Domina wirklich erlaubt, mich Butterkeks zu nennen?) Später haben wir uns hierher in unser Allerheiligstes geflüchtet, wenn unsere Eltern sich gestritten haben. Und wir haben hier unsere erste No Kiss List geschrieben und auswendig gelernt, bevor wir sie in tausend Stücke zerfetzt haben.
Auf dem Fleck, auf dem ich jetzt stehe, habe ich ihr offiziell erklärt, dass ich schwul bin. Wir waren fünfzehn, und ich hab es ihr gesagt, obwohl wir es beide schon wussten. Ich hab dafür extra die Stelle gewählt, an der wir einmal unsere Namen in die Wand gekratzt hatten.
Ich stehe jetzt davor und starre sie an. Unsere Kritzelei von damals, als wir zwölf waren, ist immer noch da:
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Ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob sie mich hier finden wird. Ich hab sie nicht angerufen. Ich hab ihr keine SMS geschickt. Ich vertraue auf unsere alte Verbundenheit, den sechsten Sinn unserer Freundschaft.
Oder wie Naomi immer gesagt hat: Das Leben lehrt dich, den Aufzug zu nehmen, aber die Liebe lehrt dich, die Treppen hochzusteigen.
Darauf zähle ich. Darauf zähle ich jetzt schon beinahe eine Stunde lang.
Ich bin kurz davor, aufzugeben, aber ich tu es noch nicht. Ich versuche, immer mindestens noch drei Minuten länger auszuhalten, bevor ich aufgebe.
Ich bin hier, Naomi. Ich bin hier.
Eine Tür weiter oben öffnet sich und ich höre das dumpfe Geräusch ihrer Docs. Noch schwieriger, als dem Impuls »Gib auf!« zu widerstehen, ist es, dem Impuls »Lauf weg!« zu widerstehen.
Die Tatsache, dass du dich selbst einen Hasenfuß nennst, verleitet dich dazu, immer wieder davonzurennen. Hör damit auf.
Jetzt. Der Augenblick der Wahrheit. Es hört sich so an, als hätte sie den achten Stock erreicht und würde herunterkommen... weiter... und immer weiter...
Die Docs halten an. Sie bemerkt mich.
Und ich sie. Ich nehme wahr, dass etwas geschehen ist. Ich nehme wahr, dass sie so schön wie immer ist, aber dass es sie nicht kümmert. Ich nehme wahr, dass sie Schlaf nötig hat und ein Gespräch unter Freunden und einen Kuss von jemand, der nicht ich bin. Ich nehme wahr, dass sie immer noch wütend auf mich ist, aber dass ihrer Wut auch noch andere Gefühle beigemischt sind. Ich nehme das alles so wahr, wie man Veränderungen bei jemand bemerkt, der für lange Zeit fort gewesen ist. Aber es war keine lange Zeit. Sie war nur für uns lang.
Es ist nicht einfach, sage ich mir. Es ist für keinen von uns einfach.
»Hallo«, sage ich.
»Hallo«, sagt sie.
Schon das ist nicht einfach.
Ich schaue auf die Naomi + Ely-Gleichung an der Wand. Ich möchte nur zu gern daran glauben, dass wir immer noch eine Summe fürs Leben ergeben.
Ich will mich durch die Unterschiede zwischen jetzt und damals nicht abschrecken lassen. Ich kenne den blauen Kuschelpulli, den sie anhat, und ich weiß, mit wem sie an dem Tag Schluss gemacht hat, an dem sie sich die Jeans gekauft hat, und ich war es gewesen, der sie dazu überredet hat, sich die Docs zu kaufen, die so zerkratzt und abgestoßen, wie sie jetzt sind, noch besser aussehen. Ich muss nur alle unsere gemeinsamen Geschichten aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinüberretten.
Das ist unsere Ecke. Wir befinden uns in unserem gemeinsamen Kräftefeld. Nichts kann uns verletzen.
»Ich finde, wir sollten hier heiraten«, sage ich. Der Gedanke drängt sich einfach auf.
Naomi sitzt auf der obersten Stufe des Treppenabsatzes, in unserer Ecke, und hat den Kopf an die Wand gelehnt. »Ely«, sagt sie, »wir werden nie heiraten. Niemals.«
Sie sagt das, als wäre es eine Art Offenbarung. Als hätte sie eine Entscheidung gefällt. Aber für mich war das klar, seit ich wusste, dass ich mit Jungs zusammen sein will. Die einzige Überraschung ist, dass es für sie möglicherweise eine Überraschung war.
»Ach Naomi...«, sage ich und setze mich neben sie. Ich lehne mich an sie.
Sie lehnt sich nicht an mich, aber sie verkrampft sich auch nicht.
»Ich bin so müde, Ely«, sagte sie. »Ich hab nicht mehr die Kraft, gegen dich zu kämpfen.«
»Ich hab den Kampf nie gewollt«, sage ich. »Ich hab das alles nicht gewollt.«
Ich weiß, dass sie jetzt denkt: Wenn du das alles nicht gewollt hast, warum hast du dann Bruce den Zweiten geküsst? Ich werde mich schuldig bekennen, wenn ich es muss, aber ich werde mich nicht schuldig fühlen. Obwohl ich weiß, dass es der falsche Anfang war, weiß ich, dass es der richtige Weg ist. Für uns alle.
Ich bin vermutlich nicht der Einzige, der hier Gedanken lesen kann, denn Naomi sagt: »Musste das wirklich sein, ein einziges Mal bist du so richtig verliebt - und ausgerechnet in meinen Freund?«
»Wenn es dich tröstet, ich hab’s wahrscheinlich vermurkst.« Es schmerzt mich, dass sie nicht dabei war und alles mitbekommen hat. Dass ich meinen Kummer nicht mit ihr teilen kann.
»Heilige Scheiße!«
»Was?«
»Ich hab gesagt, dass du so richtig verliebt bist, und du hast keinen Streit deswegen angefangen. Du hast mich nicht zum Teufel gejagt.«
»Und?«
»Das heißt, dass es stimmt. Wow.«
»Ist das also in Ordnung?«, frage ich vorsichtig. »Darf ich verliebt sein?«
Jetzt wäre Naomi normalerweise mit ihrer Naomi-Rolle dran. Sie müsste sich an mich lehnen. Mein Knie tätscheln. Flirten.
Sie tut es nicht. Sie denkt nach. Dann sagt sie: »Ich komm damit klar.«
Ein Blinder mit Krückstock würde sehen, dass das nicht stimmt.
»Du lügst«, sage ich.
»Ich komm damit klar«, wiederholt sie.
»Jaja, ganz klar.«
»Doch klar.«
Ich schüttle den Kopf.
»Warum lügst du?«, frage ich.
»Um die Wahrheit ertragen zu können.«
Ein verdammt guter Grund.
Dann sagt sie: »Wer hat uns das eigentlich in die Köpfe gepflanzt, dass wir immer die Wahrheit wissen müssen? Manchmal sind Lügen doch auch ganz hilfreich, oder? Man muss die Wahrheit nicht immer wissen. Es macht so müde.«
»Das sind alles Wahrheiten, was du da sagst, Naomi.«
Sie lächelt. »Ich weiß.«
»Unsere No Kiss List«, sage ich.
»Unsere No Kiss List ist gestorben.« Naomi scheint darüber nicht besonders traurig zu sein.
»Ja. Aber vielleicht hätten wir unsere eigenen Namen auf die Liste setzen sollen.«
»Mir hat diese Lüge gefallen.«
»Mir auch.«
»Aber jetzt nicht mehr.«
»Nein, jetzt nicht mehr.«
Wir befinden uns auf einem völlig neuen, noch nicht erforschten Terrain. Wir hatten alles so genau vermessen und dann in den letzten Wochen alles ausradiert. Unsere zwei unterschiedlichen Landschaften, von denen wir nicht gewusst hatten, wie unterschiedlich sie tatsächlich waren. Die Zukunftspläne ausradiert. Die Fantasien ausradiert. Ein Stückchen Vertrauen ausradiert. Aber selbst wenn alle Linien und Pfade von der Karte verschwunden sind... wenn wir alle Spuren und Zeichen gelöscht haben... und die Schrift auf der Landkarte verblasst ist... die Karte ist noch da, das Papier ist noch da. Wir sind noch da. Man kann Hoffnung und Liebe und Vergangenheit nicht einfach auslöschen. Es sei denn, man würde alles verbrennen. Aber weil wir immer noch da sind, heißt das: Die Erde ist nicht ganz verbrannt. Es gibt uns noch.
»Scheiße, Naomi«, sage ich.
»Du bist so ein Idiot«, sagt Naomi.
Und dann lehnt sie sich an mich. Und ihre Haare streifen meine Wange. Und ihr Kopf sinkt auf meine Schulter. Und ihre Hand sucht nach meiner Hand. Wir halten uns fest.
»Bruce, ja?«, sagt sie nach kurzem Schweigen.
»Ja«, sage ich. »Bruce.«
»Du hast es in den Sand gesetzt?«
»Könnte sein.«
»Dann versuch, es wieder hinzukriegen. Wäre wirklich jammerschade, wenn wir das alles umsonst durchgemacht hätten.«
Ich nicke.
Naomi redet weiter. »Ich glaub, ich hab es mit Gabriel auch vermasselt. Er mag mich. Zumindest glaub ich, dass er mich mag. Und ich würde gern versuchen, ihn auch zu mögen, aber es ist alles so kompliziert und das Timing ist so mies, und ich weiß echt nicht, was ich jetzt machen soll. Gabriel hat mir eine Mix-CD gebrannt. Ich glaube, ich hätte aus den Songs irgendwelche versteckten Botschaften heraushören sollen, aber ich hab überhaupt keine Ahnung, was das alles bedeuten soll. Ich hab ihm auch eine CD gemacht. Der totale Reinfall.«
»Du meinst Gabriel, unseren ganz privaten Türhüter?«, frage ich.
»Das ist nicht wahr!«, sagt Naomi und schlägt mich mit der Hand, die ich nicht in meiner halte. »Wo hast du die ganze Zeit gelebt?«
Vermutlich ist es nicht der richtige Zeitpunkt, um ihr zu sagen, dass Gabriel große Ohren hat. Nicht wirklich störend groß, aber man bemerkt sie. Dafür nette Bauchmuskeln.
»Und wie kann ich dir dabei helfen?«, frage ich.
»Muss ich dir das extra sagen?«
»Sieht so aus.«
»Meine Güte, wir müssen unsere Wellenlängen neu aufeinander abstimmen. Du musst für mich einen Mix machen. Ich meine, einen Mix für ihn. Nimm seinen mit. Hör ihn dir an. Entschlüssel ihn. Dann antworte darauf. Ich bin viel zu durcheinander, um es selber noch mal zu versuchen.«
»Du willst, dass ich bei Gabriel für dich den Cyrano spiele?«, frage ich.
»Ja. Das soll deine Buße sein. Ich werd mich in der Zwischenzeit weiter in den akademischen Totalausfall stürzen.«
»Was heißt das denn?«
»Das heißt, dass ich meine Psychologie-Einführungsvorlesung und den Kurs in Vergleichender Literaturwissenschaft vergessen kann. Wegen Nichtvorhandensein von Interesse und Eifer. Und wenn ich die beiden Kurse nicht schaffe, war’s das für mich an der NYU.«
Puuuh. Naomi hat da ein riesengroßes Problem - viel größer, als ich bisher geglaubt hatte.
»Ich helf dir. Ich schreib dir deine Seminararbeiten.«
Sie löst ihre Hand aus meiner Hand und legt sie auf mein Bein. Dann dreht sie den Kopf und schaut mich an - schaut mich einfach nur an.
»Nein, Ely. Das hat vielleicht in der Schule funktioniert, aber jetzt nicht mehr. Ich muss es schon allein schaffen. Um ehrlich zu sein, wird das Mom den letzten Schubser geben, den sie braucht. Sie muss dann nicht in einem Job weitermachen, den sie hasst, nur damit ich an die Uni gehen kann. Der Traum ist dann auch ausgeträumt. Ich an der Uni und Dad - das waren die beiden letzten Lügen, die wir uns noch abschminken mussten. Vielleicht können wir jetzt irgendwie neu anfangen. Das alles hinter uns zurücklassen. Von hier wegziehen.«
»Das könnt ihr nicht machen«, sage ich. Das kann sie mir nicht antun.
»Wir werden sehen«, antwortet sie. Aber ich höre es an ihrer Stimme: Es wird geschehen.
»Zieht nicht zu weit weg«, bringe ich mühsam heraus.
Bei dem Gedanken, dass sie von hier ausziehen könnte, verkrampft sich in mir alles. Selbst wenn wir uns gestritten haben, selbst in unseren schlechtesten Zeiten hat mich die Tatsache, dass sie ganz in der Nähe ist, immer irgendwie getröstet. Ich hatte einen Boden unter den Füßen. Wenn sie mich jetzt endgültig verlässt, gibt es diesen Boden unter meinen Füßen nicht mehr.
Ich glaube, sie hat die Verzweiflung in meiner Stimme gehört. Wie sehr ich sie brauche.
»Ach Ely«, sagt sie und lehnt sich noch stärker an mich.
»Ach Naomi«, sage ich.
Ist uns das genug? Kann die Art, wie wir gegenseitig unsere Namen sagen, alles umfassen, unsere ganze Geschichte, unsere ganze Liebe, unsere ganzen Ängste, unsere ganzen Streits, unsere ganzen Versöhnungen, alles, was wir voneinander wissen, und alles, was wir nicht voneinander wissen? Kann das alles in der Weise stecken, wie sie »Ely« sagt und wie ich »Naomi« sage?
Ich bin mir nicht wirklich sicher. Aber das ist, was wir haben. Naomi und Ely.
Wir fangen an, uns alles zu erzählen. Wir reden miteinander. Über ihre Mutter. Über Bruce. Über Gabriel. Über die beiden Robins und Bruce den Ersten. Über die Vorteile, die es für Naomi haben könnte, ans Hunter College zu wechseln.
»Und mit uns beiden? Ist da alles in Ordnung?«, frage ich schließlich.
Sie schaut mich an, und eine Sekunde lang fürchte ich, sie könnte Nein sagen. Aber sie sagt: »Ja, mit uns beiden ist alles in Ordnung. Es hat sich alles geändert und damit müssen wir beide zurechtkommen. Aber es ist in Ordnung, so wie es ist.«
Damit kann ich leben. So wie ich auch damit leben konnte, dass wir nie heiraten würden. Wie ich damit zurechtkommen werde, dass sie auch nicht mehr daran glaubt. Wir sind dort angekommen, wo wir hinmussten. Es wird vielleicht nicht mehr so unbeschwert zwischen uns sein wie früher. Aber es muss sein.
Sie küsst mich auf die Wange.
»Geh zu Bruce. Bring ihn lebend zurück.«
Ich verspreche ihr, dass ich das tun werde... und danach werde ich ihr einen Himmelsstürmer-Mix für Gabriel zusammenstellen.
»Nein«, sagt sie. »Ich hab’s mir anders überlegt. Ich glaube, es gibt da noch einen Weg.«
Ich hüte mich, sie nach Details zu fragen. Es muss mir reichen, zu wissen, dass ich alles früh genug erfahren werde.
Sie steht auf und ich stehe auch auf. Als sie sich umdreht, um wieder nach oben zu gehen, frage ich sie: »Hey, warte... wolltest du nicht vorhin nach unten? Hattest du nicht was vor?«
Sie schaut mich an, als wäre ich geistesgestört.
»Nein«, sagt sie. »Ich hab gewusst, dass du hier auf mich wartest.«
Und damit verschwindet sie um die Ecke.