Naomi
AUFWÄRTS
Warst du das, die da drüben
gerade so laut gestöhnt hat?
Ich wusste nicht, dass man mein Aufseufzen im
Hörsaal so laut hören konnte - bis nach ganz vorne, wo Robin
(
)während der
»Einführung in die Allgemeine Psychologie« mir gerade eine Mail
schreibt. Zum Glück hab ich nicht gefurzt.

Ja, tippe ich zurück.
Bruce der Erste hat einen neuen Tick - er mailt
mir jetzt immer das Zitat des Tages, lauter solche Sinnsprüche.
Ich kopiere die neueste Fortsetzung und schick sie an Robin.
»Und ich lernte, was für ein Kind
offensichtlich ist. Dass das Leben eine Kette von kleinen Leben ist
und dass jedes einzeln für sich gelebt werden muss, Tag für Tag.
Dass man jeden Tag versuchen sollte, sich an der Schönheit von
Blumen und Gedichten zu erfreuen und zu den Tieren zu sprechen.
Dass ein Tag mit Träumen, mit Sonnenuntergängen und erfrischenden
Winden einfach nicht schöner sein kann. Vor allem aber habe ich
gelernt, dass Leben bedeutet, auf einer Bank am Fluss zu sitzen,
mit einer Hand auf ihrem Knie, und manchmal, an guten Tagen,
mich zu verlieben.« - Nicholas
Sparks
Robins heftiges Prusten am anderen Ende des
Hörsaals ist unüberhörbar. Doppelt so laut wie meins. In
Schenectady haben sie wirklich das Herz am rechten Fleck.
Und hier ein paar Zahlen zur Psychologie: Mehr als
hundert Studenten im Kurs. Achtzig Prozent tippen Notizen zur
Vorlesung in ihre Laptops, während die Professoren-Drohne über
irgendein bescheuertes Experiment doziert, bei dem Leute eine
Aufgabe gestellt bekommen haben, die in überhaupt keinem
Zusammenhang zu dem Verhalten stand, das bei ihnen beobachtet
werden sollte. Die übrigen zwanzig Prozent der Studenten scheinen
vor sich hinzudösen. Von den achtzig Prozent aber schreiben
mindestens die Hälfte Mails oder sind bei Online-Dating-Portalen
eingeloggt. Die Professoren-Drohne redet weiter vor sich hin. Die
Wahrscheinlichkeit, dass ich in diesem Kurs durchfalle, liegt bei
sechzig zu vierzig (die Assistentin der Professoren-Drohne hat was
für mich übrig, aber ich hab keine Lust, so zu tun, als würde ich
für sie schwärmen, nicht mal für eine bessere Note). Trotzdem sitze
ich hier. Dabei geht die Wahrscheinlichkeit, dass man mich in
irgendeinem Unikurs antrifft, zurzeit gegen null.
Aber ich musste Mom entfliehen. Sie hat es wieder
mal nicht geschafft, zur Arbeit zu gehen. Weil ich die Wohnung
nicht für mich allein haben konnte, um dort den ganzen Tag
rumzuhängen, statt zur Uni zu gehen, und weil ich es keinen dritten
Tag hintereinander mehr ausgehalten hätte, auf Moms riesigem Bett
zu liegen, Modezeitschriften zu lesen und DVDs zu gucken, während
sie neben mir schläft, bin ich lieber in den Kurs gegangen. Doch
ich war zu spät dran, um noch einen Platz neben Robin zu ergattern,
die pflichtbewusst in der ersten Reihe sitzt.
Sie fragt:

Ich antworte:
Hat er auch, glaub ich. Aber
er wird nie über Nicholas Sparks hinwegkommen. 

Diesmal lachen wir synchron. Nur dass mein Lachen
lauter ist und der Professor seine Vorlesung unterbricht, um auf
mich zu deuten.
»Du da hinten! Willst du uns mitteilen, was dich
gerade beschäftigt? Oder findest du die Reaktionen der Menschen auf
Tierquälerei tatsächlich so lustig?«
Hundert Gesichter drehen sich zu mir um. »Tut mir
leid«, murmle ich.
Ich habe gelogen. Es tut mir überhaupt nicht
leid.
Ich möchte am liebsten aufstehen und gehen.
Einfach so. Raus aus dem Hörsaal, weg von der Uni.
Aber ich weiß nicht, wo ich hingehen soll. Es gibt
niemand, der mir weiterhilft.
Ely.
Als könnte ich ihn riechen.
Ich will grade raus, aber dann sehe ich ihn durch
das Glasfenster in der Tür an der Stirnseite des Raums. Er geht mit
einer Gruppe von schwulen Jungs durch die Eingangshalle. Man sieht
sofort, dass sie alle schwul sind, weil sie sich viel zu viel Gel
in die Haare geschmiert haben und ihr Outfit viel zu sorgfältig auf
cool und lässig gemixt ist. Und deshalb bleibe ich lieber bis zum
Schluss in der Vorlesung sitzen. Kein Bruce der Zweite zu sehen.
Weit und breit keine Spur von ihm. Kann er bei dieser Parade nicht
mithalten?
Robin schreibt: Autsch.
Ich weiß, dass sie den Anblick von Ely meint und
nicht den Anschiss des Professors.
Sie tauchen immer im Rudel
auf, weißt du, antworte ich.
Wer?


Ist doch wahr. Ich habe meine Zeit damit
verplempert, Regeln aufzustellen, damit sich meine und Elys Wege in
The Building nicht kreuzen. Aber ich hätte besser darüber
nachdenken sollen, wie ich ihn im Rest der Welt aus meinem
Blickfeld verbannen kann. Da steht er, in der Schlange vor dem
Coffeeshop am Union Square, und küsst gerade Bruce den Zweiten.
Oder ich sehe ihn um sechs Uhr morgens am Fenster in dem
ukrainischen 24-Stunden-Restaurant sitzen. Gegenüber von dem
Starbucks an der Ecke Second Avenue/ East Ninth, wo ich nur deshalb
mein Lager aufgeschlagen habe, um mir den Anblick von Ely zu
ersparen. Er isst dort was mit einem ganzen Schwarm schwuler Jungs,
sie haben bestimmt die Nacht durchgemacht. Er trägt mein rosa Hemd und schielt alle zwei Minuten auf
sein Handy, obwohl er genau weiß, dass da
keine SMS von mir ankommt. Nicht The Building ist für uns zu klein
geworden - die ganze beschissene Stadt unterhalb der Fourteenth
Street ist für uns zu klein geworden.
Ich würde mir gerne was vorlügen, aber die
Wahrheit ist: Ely wirkt mit ihm, mit ihnen, glücklicher, als er
jemals mit mir gewirkt hat. Entspannter, gelassener - als hätte er
in seinem Leben etwas Wichtiges geopfert, aber dafür das Grundrecht
zurückgewonnen, sich nicht dauernd Sorgen machen zu müssen, ob
neben ihm vielleicht im nächsten Augenblick eine Bombe hochgeht. Er
hat es wahrscheinlich lieber, von Leuten der gleichen Art umgeben
zu sein. Nicht jeder schwule Junge braucht als Accessoire eine
beste Freundin aus dem Heterolager. Das ist
nämlich die Lüge.
Robin fragt: Was ist mit
Gabriel?
Er hat mich zu Starbucks
eingeladen.
Super! Und - wart
ihr?
Noch nicht. Aber ich überleg’s
mir.
Gut. Wenn Bruce der Erste sich
in Bewegung setzen kann, dann du doch auch.
Ich stelle ehrfürchtig fest, dass Robin
unglaublich schnell mailen und gleichzeitig noch die Vorlesung
mitschreiben kann. Ich bewundere Leute, die ein solches
Multitasking-Talent haben. Ich beschließe, ihrem Vorbild zu folgen,
und öffne ein neues Dokument auf meinem Laptop.
DINGE, DIE OHNE ELY BESSER SIND
1. Bingo
Ely hat mein Karma immer total
durcheinandergebracht. Ich habe nie gewonnen, wenn er neben mir
saß. Aber seit wir unseren Plan ausgearbeitet haben - mal darf er
hin, mal darf ich -, hab ich eine echte Bingo-Glückssträhne. Wer
hätte das gedacht? Die alten Leute in The Building fassen mich an,
wenn ich an ihnen vorbeigehe, weil das angeblich Glück bringt. Ich
schwör’s!
2. Frappuccinos
Eine süße Leckerei, die Ely hasst.
Mmmmmmmmmmmmmmmmh.
3. Dawson’s Creek
Ely ist ein totaler Verfechter des Pärchens
Dawson-Joey (und ich glaube nicht, dass es damit zu tun hat, dass
Dawson so offensichtlich schwul ist; ich
glaube wirklich, Ely war überzeugt, dass
Das-nette-Mädel-von-nebenan-Joey Dawsons große Liebe war). Ich
dagegen bin der Meinung, dass es zwischen Pacey und Joey die große
Liebe ist. Und warum mit Ely lange darüber diskutieren, wenn die
letzte Episode beweist, dass ich recht habe?
4. Liebe dich selbst
Okay, ich habe mit Seventeen endgültig aufgehört (manche Dinge sind
einfach heilig), aber selbst Cosmo lesen
macht ohne Ely nicht so richtig Spaß, und die Models unter
Zuhilfenahme unserer Wachsmalkreidensammlung zu entstellen ist ohne
ihn ziemlich reizlos (Ely malt einen Schwanz einfach besser als
ich). Aber Cosmo trinken hat einen Pluspunkt: An jemand zu denken,
zu dem man sich wirklich sehr sehr hingezogen fühlt, während man
sich selbst berührt, kann zu befriedigenden - sehr befriedigenden - Ergebnissen führen. Und wenn
ich an Gabriel denke, wie er mich da-und-dort-und-überall berührt,
während ich es gerade mit mir selbst tue, komme ich in Regionen, in
die ich nie vorgedrungen bin, als meine Fantasien alle noch um Ely
kreisten. Dann wünsche ich mir, es würde wirklich geschehen, mit
einer wirklichen Person - einer Person namens Gabriel und nicht
namens Ely.
Oh. Mein. Gott. Kein Wunder, dass ich keine Lust
habe, in die Vorlesungen zu gehen. Der Professor hat beschlossen,
eine Dia-Show zu zeigen, die offensichtlich vom Tierschutzverein
gesponsert ist. Ich kann gar nicht hinschauen. Ich will auch nicht,
dass Robin da hinschaut. Deshalb lenke ich sie mit einer neuen
Frage ab:
Wie fühlt sich richtiger Sex
eigentlich an?
Sie dreht sich zu mir um, sodass ich ihr Gesicht
sehen kann. Die Kinnlade fällt ihr runter. Dann tippt sie
zurück:
Meinst du das im Ernst? Du
hast es noch nie gemacht?!?!? DU?!?!?
Ich zucke mit den Schultern, dann schicke ich
ein
. Ich hab es mit Bruce dem Zweiten fast getan. Aber ich habe gespürt, dass wir uns
beide etwas vorgemacht haben, dass wir uns Gefühle vorgegaukelt
haben, die wir gar nicht füreinander hatten, und er hat das wohl
auch gespürt, deshalb hat er nicht darauf gedrängt, wie die meisten
Jungs das getan hätten. Und ich glaube nicht, dass es was damit zu
tun hatte, dass Bruce der Zweite ganz klar
wahrscheinlich schwul ist. Ich glaube, es hatte was damit zu
tun, dass er ganz einfach ein guter Kerl ist.

Ich hasse das.
Ich hoffe, dass er findet, wonach er sucht.
Robin antwortet:
Die Leute sagen immer, man
soll warten, bis man jemand findet, den man
wirklich liebt. Aber ich glaube, es ist wichtiger, dass man jemand
wirklich mag. Also, ich meine, diese Person wird dich nackt sehen.
Und in dir drin sein, verstehst du? Tu’s nicht, bloß ums getan zu
haben, aber wart auch nicht auf den Märchenprinz.
Der Tipp von einer guten
Freundin?, schreibe ich zurück.
Sie dreht sich wieder zu mir um, lächelt mich
an.

Und dann packt mich die Lust, laut zu
lachen
.
Denn ich stelle mir vor, wie Ely nackt auf mir liegt und in mich
eindringt - und dieses Bild ist total falsch. Die Nähe zwischen uns
hätte bestimmt was mit Liebe zu tun, unsere Absichten wären nur die
besten... Es klappt sogar und er ist in mir drin, aber es ist alles
so unbeholfen und verkrampft - schlimmer, als wenn wir zusammen
Pornos geguckt haben und sich danach alles ganz falsch und leer
angefühlt hat. Denn die Chemie der Gefühle zwischen uns stimmt
einfach nicht. Naomi + Ely ≠Sex.


Ely mag Jungs. Ich mag Jungs. Ely ist ein Junge.
Ich bin ein Mädchen.


Das ist nicht wirklich lustig, deshalb verstehe
ich nicht, warum ich so lachen muss. Aber mein Traumbild, das mir
noch nicht mal in der Fantasie glücken will, ist einfach so absolut
lächerlich.
Ich werde nie begreifen, warum das Geschlecht für
die Balzrituale so wichtig ist - das ergibt doch keinen Sinn, Liebe
ist Liebe, Anziehung ist einfach Anziehung, warum sollten die
zufällig verteilten Geschlechtsmerkmale darüber entscheiden, ob man
mit einer Person zusammen sein will oder nicht? - Aber so ist es
nun mal, das ist die Wahrheit.
Das hasse ich auch.
Aber es ist die Wahrheit.
Und wenn ich mich der harten, kalten Wahrheit des
Lebens stellen muss, dann sollte jemand anders das auch tun.
Ich gehe, schreibe ich
Robin.
Du gehst mitten in der
Vorlesung? Wohin denn?
Nach Hause.
Die Trauer muss ein Ende haben. Für uns
beide.
Höchste Zeit, Mom aufzurütteln und aus dem Bett zu
schmeißen.