Naomi
GÄNSEHAUT
Ich lüge andauernd.
Ich habe Mrs Loy aus dem 14. Stock angelogen, als
ich ihr versichert habe, ja klar wär ich mit ihrem Hund dreimal
täglich draußen gewesen und hätte die Pflanzen gegossen, während
sie in Atlantic City war.
Ich habe die Eigentümerversammlung unseres
Apartmenthauses angelogen, als Mom... tja, als Mom in einem Anfall
von Wahnsinn unsere Wohnzimmerwand demoliert hat, kurz nachdem Dad
uns verlassen hatte. Und als Mom der Eigentümerversammlung dann
vorgelogen hat, wir würden den Schaden selbstverständlich beheben,
habe ich ihre Lüge auch noch gedeckt. Aber eher kriecht mir ein
Affe aus dem Hintern, als dass wir das Geld aufbringen könnten, um
diesen Niederschlag ihrer eigenen Verwüstung zu beseitigen. Wenn es
Mom und mir nichts ausmacht, zwischen Trümmern zu leben, was geht
das dann eigentlich die Eigentümer der anderen Wohnungen an?
Ich habe das Auswahlkomitee der NYU angelogen, als
ich behauptet habe, dass mir meine Zukunft und meine Ausbildung am
Herzen lägen. Ich bin erst seit knapp einem Jahr an der Uni, aber
ich weiß jetzt schon, dass dieser ganze NYU-Deal, ausbuchstabiert:
New York University, für mich verlorene Zeit ist. Ich spiele nur
deswegen diese verlogene Studentinnen-Nummer, um das Einzige
festzuhalten, was in meinem Leben noch nicht in die Brüche gegangen
ist - Ely.
Ich habe Robin
aus dem Psycho-Kurs
angelogen, als ich ihr geschworen habe, dass Robin (
), den wir mal
zusammen im Starbucks an der Ecke Eighth/University getroffen
hatten, sie
und anrufen würde.
Meine Mom hat nicht genug $$$, deshalb kann ich nicht in ein
Studentenwohnheim ziehen; Robin dagegen, ein Jahr über mir, hat
sogar eins der seltenen Einzelzimmer und fährt an den Wochenenden
immer nach Hause. Wenn ich aus The Building wieder mal unbedingt
rausmuss, überlässt sie mir das Zimmer. The Building, das
Apartmenthaus, in dem ich mein ganzes Leben lang gelebt habe, hat
zwar eine Top-Lage in Greenwich Village, aber ich muss unbedingt
weg von dort. Weg von dem Scheidungsdrama meiner Eltern, weg von
meinen Lügen, weg von Mr McAllister, dem schmierigen
Fahrstuhl-Mann, immer rauf und runter, der im selben Stockwerk wie
Mrs Loy wohnt und mich im Spiegel des Lifts beäugt, seit ich
dreizehn bin und sich meine Brüste unter dem T-Shirt
abzeichnen.



Ich habe Mom jedes Mal angelogen, wenn ich ihr
erzählt habe, ich hätte bei Robin übernachtet, während ich in
Wirklichkeit bei meinem Freund war, der auch ein Zimmer im
Studentenwohnheim hat. Ich lüge mir selbst was vor, wenn ich mir
einrede, dass es da irgendwas rumzulügen gäbe. Als ob Bruce der
Zweite und ich es täten. Wir
abends im Bett,
knipsen das Licht aus und
- wir schlafen
einfach -, bis er am nächsten Morgen zu seiner Vorlesung in
Rechnungswesen, Beginn pünktlich
, aufsteht. Ich lüge
ihm was vor, wenn ich behaupte, na klar sei Rechnungswesen ein
wichtiges Fach.



Ich habe Robin (
) angelogen, als
er beim Schachspiel im Washington Square Park gewonnen hat, das war
nach diesem Abend mit Robin (
), und wir hatten
ausgemacht, wenn ich verliere, muss ich ihm auf seine
Mitternachtsfrage ohne jede Lüge antworten. Robin hatte behauptet,
er hätte nacheinander fünf Männer stolpern sehen, weil sie mich von
oben bis unten angestarrt hatten, und ich hätte bloß gelangweilt
geschaut. Robin wollte wissen, ob ich meine Schönheit wie ein gutes
oder wie ein böses Mädchen einsetze. Wie ein böses Mädchen, hab ich
geantwortet. Lüge. Die Wahrheit ist: Ich bin so unberührt wie
frisch gefallener Schnee an einem Wintermorgen im Park, bevor die
Hunde und Menschen und Räumfahrzeuge dieser schnellen, harten Stadt
die vollkommene, friedliche Harmonie zerstören.


Ich habe Bruce den Zweiten angelogen, als ich ihm
versprochen habe, wir würden bald Sex miteinander haben. Richtigen
Sex. Sehr bald. Wir hatten es gerade mal bis zu einer
geschafft, als der
Wohnheimtutor reinkam und uns unterbrochen hat. Es hat sich
angefühlt, als würde ich Ely betrügen.

Ich habe Bruce den Ersten angelogen, als ich ihn
glauben ließ, er würde bei mir der Erste sein. Ely wird bei mir der
Erste sein. Ich kann warten. Danach wird Bruce der Zweite
vielleicht tatsächlich der Zweite sein.
Vor allem aber lüge ich Ely an.
lie to [i:lai].

Ely ruft mich auf dem Handy an, während ich lügend
auf ihn warte. »Bin spät dran. Komm in ’ner Viertelstunde. Halt
einen Platz für mich frei. Ich lieb dich, bis gleich.« Bevor ich
antworten kann, hat er schon aufgelegt.
Wir haben schon so viel miteinander
durchgestanden, was sind da fünfzehn Minuten, die ich noch länger
auf ihn warten muss? Solange er noch nicht da ist, kann ich in
aller Ruhe meine Lügenmärchen aufrollen.
Ich habe Ely angelogen, als ich ihm erzählt habe,
dass ich seiner Mom verzeihe, was zwischen unseren Eltern passiert
ist.
Ich lüge, wenn ich ihr und den anderen vorgaukle,
Dad würde mich jede Woche auf meinem Handy anrufen und wissen
wollen, wie es mir geht. Einmal im Monat (die ungeraden Monate)
kommt da schon eher hin.
Dad macht sich um mich keine Sorgen. Er weiß, dass
ich Ely habe.
Ely geht nie weg und legt nie auf, ohne vorher
»Ich lieb dich« zu flüstern. Das ist seine Art, mir Tschüss zu
sagen - ein Versprechen auf zukünftige Zeiten, in denen wir immer
noch zusammen sein werden. Ich lüge, wenn ich ihm daraufhin seine
Wörter zurückgebe: »Ich lieb dich auch.«
Es ist so aberwitzig vielschichtig, was man alles
meinen kann, wenn man diese drei Wörter sagt: »Ich liebe dich.« Die
Komplexität der verschiedenen Ebenen würde ein haarsträubend
trickreiches Computerspiel ergeben, falls jemals irgendjemand sich
in der Lage fühlen sollte, dafür das Konzept zu entwickeln.
Spieler eins: Naomi.
Ebene 1: »Ich liebe dich« zu meiner Mutter - ich
liebe dich, weil du mich zur Welt gebracht hast, weil du mich
ernährst und großziehst, weil du mich noch in den Wahnsinn treibst,
ich dich aber trotzdem unbedingt brauche, selbst mit deinem
gebrochenen Herzen. Die Grundlage für alles.
Ebene 2: »Ich liebe dich« zu meinem Vater - mit
einem Ernst gesagt, der gleichzeitig eine Spur zu kalt klingt,
abwartend und misstrauisch, ob er dieses Gefühl auch tatsächlich
zurückgibt, wenn er mir antwortet. Härter.
Ebene 3: Das spielerische »Ich liebe dich«, das
ich meinem Freund hinwerfe, wenn er vor dem Hörsaal mit einem
hei-βen Kaffee und einem Donut auf mich wartet. Da hat der Satz
nichts, aber auch überhaupt nichts mit L-I-E-B-E (Liiiiiebe!) zu
tun. Unsere Beziehung ist dafür noch viel zu frisch und das
versteht er. Wenn Bruce der Zweite zu mir »Ich liebe dich« sagt,
nachdem ich... bestimmte Dinge für ihn getan habe, bemüht er sich
sofort, davon wieder abzulenken, und sagt Sachen wie: »Ich liebe
dich, wenn du diese verklemmten Kerle im Flur anbrüllst, sie sollen
nicht so einen Lärm machen, wenn wir zusammen in meinem Zimmer
sind. Das war eine echt großartige Zickenpredigt - jetzt beneiden
sie mich noch mehr um dich. Dafür liebe ich dich.« Wie auch
immer.
Ebene 4-9: Ausdruck für die großen Leidenschaften
in meinem Leben - Discomusik, Snickers, die Cloisters, NBA, Spiele
im Treppenhaus, das Glück, mein Leben bisher mit Ely geteilt zu
haben.
Ab hier wird das Spiel dann richtig
schwierig.
Ebene 10 (aber in einer völlig anderen Dimension,
in der es möglicherweise nicht mal Zahlen gibt): »Ich liebe dich«,
wenn ich es zu Ely sage - und ihn dabei nicht anlüge. Aber mir etwas vorlüge. Er nimmt
dieses Ich-liebe-dich als etwas ganz Natürliches, wie das eine
Beste-Freundin/Fast-Schwester eben so sagt. Und Spieler eins: Naomi
meint es auch so. Ganz aufrichtig. Aber sie meint es vielleicht
auch noch anders. Verwirrend anders. Unmöglich anders.
Das Spiel stürzt ab.
Die Wahrheit drängt sich herein.
Mit Lügen lässt sich einfacher spielen.
Ich habe Ely angelogen, als ich ihm gesagt habe,
schwul sei für mich kein Problem. Was auch stimmt. Nur nicht bei
Ely. Er war mir doch vorbestimmt, wir sollten glücklich und
zufrieden bis ans Ende unserer Tage leben, er sollte allein mir
gehören. Weil das Schicksal es so wollte.
Ich habe Ely angelogen, als ich ihm gesagt habe,
klar würde ich respektieren, dass sein
Schicksal das der schwulen Königin der Nacht wäre - und sei das
nicht schon die ganze Zeit klar gewesen? Richtig! Super! Nur dass es nicht stimmt! Wir sind
einander praktisch schon als Kinder versprochen worden, wir sind
miteinander aufgewachsen, er mit seinen Eltern in 15J, ich mit
meinen Eltern in 15K. Naomi & Ely. Ely & Naomi. Einer
niemals ohne den anderen. Frag irgendjemand innerhalb eines
10-Block-Radius rund um den Fourteenth-Street-Biomarkt, wo später
die gesamte Asia-Imbiss-Belegschaft mitbekommen hat, wie zwischen
unseren Eltern die Bombe explodierte. Und dann ein Niederschlag der
Verwüstung auf uns herabgeregnet ist. Naomi & Ely: haben
miteinander Doktor (
) / Krankenschwester
(
) gespielt; haben
miteinander Küssen geübt, während sie zu Hause für die Hauptrollen
in »Guys and Dolls« einstudierten; haben einen Spind und alle ihre
Schulerfahrungen miteinander geteilt; und haben beschlossen,
gemeinsam auf die NYU zu gehen; haben beschlossen, beide in The
Building weiterzuleben, statt in das nahe Studentenwohnheim zu
ziehen, aus Kostengründen und aus Gründen der wechselseitigen Naomi
& Ely-Abhängigkeit.


Als Ely schließlich im Starbucks auftaucht, ist er
total au-βer Atem und rot im Gesicht, weil er durch die Winterkälte
gerannt ist. Er lässt sich auf den Stuhl fallen, den ich für ihn
freigehalten habe.
Ich reiche Ely die heiße Schokolade, die der
Starbucks-Geschäftsführer mir aufgedrängt hat. »Steh auf«, sag ich
zu ihm. »Wir müssen gehen.«
»Warum denn, Naomi?«, bettelt er. »Ich bin doch
gerade erst gekommen.«
Ich schnappe mir seine freie Hand, und schon sind
wir weg, draußen auf dem harten, kalten Gehweg, wo wir sofort in
den typischen Naomi & Ely-Gang verfallen,
Händchen-und-Becher-haltend, hastig-gehend-und-miteinander-redend,
geschickt-allen-Leuten-die-im-Weg-sind-ausweichend.
»Vertrau mir«, sage ich.
Er fragt nicht, wohin ich mit ihm unterwegs bin.
Was ich ihm zeigen will. »Musste das echt sein, dass ich jetzt mein
Kaffeetrinken mit dem süßen Assistenten aus meinem
Makroökonomie-Kurs verpasse? Nur weil du mit mir deine allerneueste
Fehldiagnose diskutieren willst? Du hast keinen Brustkrebs, Naomi.
Und falls du es noch nicht gemerkt haben solltest, hier draußen
sind mindestens minus drei-βig Grad, und ehrlich, ich kann mir was
Besseres vorstellen, als mir hier auf dem Gehweg den Arsch
abzufrieren. Zum Beispiel den süßen Assistenten anzuflirten - und
zwar in einem kuschlig warmen Café.« Ely zieht seine Hand aus
meiner Hand, gibt mir den Becher mit der mittlerweile kalten
Schokolade und hält dann beide Hände vor den Mund, um sie zu
wärmen. Ich möchte gern sein Atem sein.
Es wäre keine Lüge zu behaupten, dass ich die
Kälte mag. Danach sehne ich mich am meisten. Nach Gänsehaut.
»Wie kann dir das so egal sein, ob ich vielleicht
Krebs habe?«, frage ich. »Ich hab einen Knoten in meiner Brust
gefunden.« Berühr ihn, Ely. Berühr
ihn.
»Du lügst. Du nagst an deiner Unterlippe rum wie
immer, wenn du lügst. Vor allem aber habe ich heute früh deine
Mutter im Fahrstuhl getroffen, sie hat mir von deinem angeblichen
Knoten erzählt. Der Arzt hat gesagt, es wär ein vereiterter
Pickel.«
Eher kriecht mir ein Affe aus dem Hintern, als
dass ich zugebe gelogen zu haben!
Ich muss Ely von meiner Lüge ablenken. Ich bleibe
an einem Zaun stehen. Das Schulgebäude dahinter ist mächtig,
nassschwarz und dreckig, mit Graffitis vollgesprühte Mauern,
Gitterstäbe vor den Fenstern. Der Sportplatz ist schwarzer Asphalt,
drum herum ein kaputter Maschendrahtzaun.
»Hier sollten wir heiraten«, sage ich zu
Ely.
»Oh, Naomi, mein Schatz, mir schwinden gleich die
Sinne vor lauter Romantik. Diese steinernen Ruinen! Aber was wird
dann mit dem Tempel von Dendur aus dem Met? Ich will dich in dem
elfenbeinfarbenen Nofretete-Gewand sehen, mit schwarzen
Kleopatra-Augen. Du würdest in diesem Pharao-Göttinnen-Look
umwerfend aussehen!«
»Und was trägt der Bräutigam?«
»Dasselbe.«

Falsch falsch falsch.
Ich muss ihn korrigieren.
»Nicht du und ich werden
hier heiraten, Ely. Sondern er und ich.«
Ich deute auf den Basketballspieler, der gerade einen
bewunderungswürdigen Wurf in den netzlosen Korb auf dem
Asphaltplatz platziert hat. Der Spieler reißt seine Hände zum
Victory-Zeichen hoch, die über den Kopf gezogene Kapuze seines
Shirts rutscht ihm herunter - und wir kommen in den vollen Genuss
seines schönen Profils.
Elys Augen suchen meine Augen. »Das war es wert,
den Assistenten sitzen zu lassen«, sagt er grinsend.
Er müsste eigentlich wissen, dass er mir vertrauen
kann. Selbst wenn ich lüge.
Wir bewundern ihn beide. Gabriel ist nicht nur der
schärfste Junge auf dem Platz, er ist auch der Star unter den
Spielern. Lauf. Pass. Sprung. Ball versenkt. WOW
Friedhofschicht-Portier bei Nacht, Streetball-Superstar am
Tag.
Als das Spiel zu Ende ist, verlassen die Spieler
den Platz und laufen auseinander, jeder in sein warm beheiztes
Zuhause - hoffe ich jedenfalls. Ely und ich ducken schnell die
Köpfe, als sie an unserem Beobachtungsposten vorbeiströmen,
tra-lala-lala, hier gibt es nichts zu
sehen.
Als alle fort sind, macht Ely vor mir einen
Diener, wie es mir gebührt. Herauszufinden, wo sich der neue
Nachtportier von The Building, über den jedermann im Haus gern mehr
erfahren würde, am frühen Abend herumtreibt, war erstklassige
Detektivarbeit meinerseits. Niemand in The Building weiß nämlich
etwas über ihn, außer dass er absolut umwerfend ist; was auch immer
es da sonst noch zu erfahren gäbe, Gabriel rückt nicht damit
raus.
Als Ely sich wieder aufgerichtet hat, dreht er
sich um und lässt sich mit dem Rücken gegen den Zaun fallen. Er
gibt einen tiefen Seufzer von sich. »Wirklich schade, dass wir das
nicht schon früher rausgefunden haben. Aber eins ist klar: Gabriel
gehört auf unsere No Kiss List. Lass ihn uns auf den letzten Platz
setzen, weil er noch ganz neu ist. Er wird sich dann schon von
selbst nach oben arbeiten.«
Ely und ich haben unsere No Kiss List™ vor ewigen
Zeiten aufgestellt, nach einer Flaschendreh-Party, bei der es zu
dem
Du-hast-mit-mir-rumgeknutscht-um-Donnie-Weisberg-eifersüchtig-zu-machen-Vorfall!
!
gekommen war. Unsere No Kiss ListTM
ändert sich ständig, fast wie ein lebendiges Wesen, das sich
chemisch aus Elys persönlichem Spannungsfaktor von TFSD vs. PJVS
(Theoretisch-fleißiges-Studenten-Dasein versus
Praktisch-in-Jungs-verknallt-Sein) und meinem Spannungsfaktor von
PMS vs. Langeweile zusammensetzt.

Wir haben uns von vornherein darauf verständigt,
dass manche Leute die absolute Tabuzone sind, selbst solche, die
wir wirklich wahnsinnig gerne küssen würden - und ich sage euch, es
schmerzt zu wissen, dass die Lippen einer bestimmten Person nie
deine Lippen berühren werden, nur weil du ein Gelübde abgelegt
hast, dass das nicht sein soll. So schaffen es Ely und ich, unsere
Freundschaft von Eifersucht freizuhalten. Die No Kiss
ListTM ist unsere Versicherung gegen
eine Naomi & Ely-Trennung.
Wenn unsere Eltern eine No Kiss ListTM angelegt hätten, dann hätten sie uns allen eine
Menge Kummer ersparen können. Die nächste Generation wird diesen
Fehler nicht wiederholen.
Ich sage zu Ely: »Dass Gabriel auf die Liste
kommt, geht in Ordnung. Aber nicht die Platzierung. Gabriel ist
schärfer als alle anderen, die wir sonst auf der Liste haben. Ich
bin dafür, dass er sofort auf Platz zwei gesetzt wird.«
»Abgemacht«, sagt Ely.
Interessant. Dieses Zugeständnis kam überraschend
schnell.
Achtung, Wettbüro! Hier kommt das neue Ranking der
vordersten Plätze auf unserer No Kiss ListTM:
Platz 1: Donnie Weisberg - immer noch; das große
Symbol unseres Gelübdes, bei bestimmten Personen keusch zu bleiben,
um die Heiligkeit der Institution Naomi & Ely nicht zu
gefährden. Die Tatsache, dass wir beide keine Ahnung haben, wo
Donnie sich zurzeit aufhält - Gerüchten zufolge soll er für eine
humanitäre Hilfsorganisation in Guatemala arbeiten, um nach seiner
ausschweifenden Party am Ende des letzten Schuljahrs nicht wegen
Drogenbesitz verurteilt zu werden -, hat keinerlei Auswirkungen auf
seinen Status als ewige Nummer eins auf unserer No Kiss
ListTM.
Platz 2: Herzlich willkommen, Gabriel,
superscharfer Nachtportier, begehrt von allen BewohnerInnen des
Hauses, in denen ein lebendiges Herz schlägt, außer vielleicht dem
schleimigen Mr McAllister, der mindestens Körbchengröße C braucht,
um warm zu werden.
Platz 3: Mein Cousin Alexander (Footballspieler
beim Kansas All-State-Team - das dürfte genügen)
Platz 4: Elys Cousine Alexandra (East Village,
tosender Beifall für ihre Darstellung in der experimentellen
Bühnenfassung von »The Crying Game« - das dürfte genügen)
Platz 5: Robin (
), weil nämlich
Ely und ich Robin (
) mögen, die Robin
(
) wirklich gerne hat,
und Robin (
) außerdem für mich
der Beweis ist, dass ich an der Uni auch außerhalb der Naomi &
Ely-Wahlzwillingsschaft mit jemand befreundet sein kann.




Und dann noch:
Platz 6: Der Tweedanzug tragende, an seiner
Doktorarbeit schreibende Theologe, der in Apartment 15B illegal zur
Untermiete wohnt.
»Woher weißt du, dass Gabriel hier Basketball
spielt?«, fragt Ely.
»Bin hier eines Tages zufällig vorbeigekommen und
hab ihn gesehen«, sage ich.
Eine klitzekleine
krabbelt die
Lügenmauer hoch. Ich habe nie, wirklich niemals Gabriel geküsst.
Ich habe mich nie, wirklich niemals länger als fünf Minuten mit
Gabriel unterhalten, ohne dass Ely dabei war.

Aber.
Es könnte sein, dass
Gabriel mich nach meiner Handynummer gefragt hat. Könnte sein, dass er mir manchmal eine SMS schickt.
Könnte sein, dass er mal erwähnt hat, wo er
ab und zu mit seinen Kumpels Basketball spielt, bevor seine Schicht
anfängt.
»So ein Glück für uns zwei!«, sagt Ely.
Gabriel direkt auf Platz zwei zu setzen wird Naomi
& Ely
sichern. Sonst
könnte es sein, dass ein
niedergeht und Naomi
mit sich fortschwemmt.


»Denk immer dran!«, sage ich. »Wie sehr ich dich
doch lieben muss, dass ich darauf verzichte, bei Gabriel jemals
eine Chance zu haben!«
»Denk immer dran! Du hast schon einen
Freund.«
Die Erinnerung war nötig. »Du hast recht. Bruce
der Zweite wartet auf mich. Ich muss.«
Mein Freund und ich, wir haben unsere eigenen
Lernrituale entwickelt: Er lernt, während ich mich vor dem Lernen
drücke. Ich bügle gern die T-Shirts von Bruce, während er am
Schreibtisch sitzt, ab und zu von seinem Notebook oder seinen
Büchern hochguckt und mich in seiner langweiligen, aber netten Art
anlächelt. Super Gebiss. Bruce sagt dann: »Naomi, das sind
stinknormale schwarze Gap-Shirts. Die müssen nicht gebügelt
werden.« Und ich sage dann: »Ach so?« Weil T-Shirts für ihn bügeln
irgendwie mehr Spaß macht, als mit ihm rumzuknutschen. Es ist ein
angenehmer Zeitvertreib. Das Bügeln und das Küssen. Alles im
richtigen Maß. Wenn sein Wecker klingelt, weil die nächste
Fünf-Minuten-Lernpause eingeplant ist, steht Bruce auf, umarmt mich
von hinten und legt kurz seinen Kopf in die Kurve zwischen meinem
Hals und meiner Schulter. Während er seinen Körper gegen mich
presst, bekommt er keinen Steifen, weil das wahrscheinlich seinen
Lernplan durcheinanderbringen würde. Dafür flüstert er mir ins Ohr:
»Du bist so schön.« Als ob er darauf stolz wäre. Als ob ich
irgendwas für diesen Haufen von verdammten Genen könnte, die mir
glänzende Haare, ein halbwegs hübsches Gesicht und einen
begehrenswerten Körper beschert haben. Einen Körper, mit dem ich
noch nicht richtig was anzufangen weiß.
Um das klarzustellen. Auch ohne die Personen auf
der No Kiss List™, die niemals bei mir Zutritt haben werden, könnte
mein Körper alles bekommen, was er braucht. Wenn ich wollte. Aber
ich warte auf Ely. Er soll der Erste sein. Das schulde ich ihm. Wir
haben unsere Hochzeit schon geplant, als wir zwölf waren. Es war
Elys Vorschlag gewesen, als er mir den ersten richtigen Kuss
entlocken wollte. Unseren ersten richtigen gemeinsamen Kuss.
Schwul ändert daran nichts - nichts an
unserer gemeinsamen Vergangenheit und auch nichts an unserer
gemeinsamen Zukunft. Schwul heißt nicht,
dass ich nicht so lange warten sollte, bis Ely es vielleicht einen
Augenblick mal nicht ist.
Ich greife nach Elys Hand. Schluss mit dem Spiel.
Zeit, dass wir gehen.
Doch Ely bleibt wie festgewurzelt auf dem Gehweg
stehen, gegen den Zaun gelehnt.
Moment mal! Sim
salabim!, wie Ely und ich im Aufzug immer gerufen
haben. Bevor wir dann auf alle Knöpfe gedrückt haben, um Mr
McAllister zu ärgern. Ely hat zu schnell nachgegeben - zu schnell
zugestimmt, Gabriel auf Platz 2 unserer No Kiss ListTM zu setzen, sich zu schnell meiner Angewohnheit
angepasst, einfach mal einen Kurs ausfallen zu lassen. Er ist
aufgekreuzt, obwohl er ein wichtiges Treffen gehabt hätte. Ely tut
sonst alles, um sich sein Stipendium durch Top-Noten zu sichern.
Das muss er auch. Er braucht das Stipendium. Seine Eltern verdienen
viel Geld, aber nicht genug, um für die gesamten Studiengebühren
aufzukommen und gleichzeitig den Kredit für die Wohnung
abzubezahlen. Ely sitzt mit seinem Stipendium genauso in der Falle
wie Mom und ich mit unserer Wohnung - im selben Stockwerk, nur
durch den Flur voneinander getrennt. Der Job meiner Mutter in der
Universitätsverwaltung reicht aus, um das mit den Gebühren für mein
Studium gerade so hinzukriegen, aber sie könnte nie einen Umzug in
eine andere Wohnung finanzieren, egal wie schlimm es mit den
Nachbarn vielleicht noch wird. Mom könnte sich niemals selber eine
so schöne Wohnung leisten, wie wir sie jetzt haben. Ihre Eltern
haben sie ihr gekauft.

»Stimmt was nicht?«, frage ich Ely. Ihm scheint
wärmer zu werden, sein Gesicht ist nicht mehr ganz so rot.
Plötzlich bemerkte ich die Sorgenfalten rund um seine schönen
blauen Ely-Augen.
»Ich muss dir was sagen.«
»Was denn?«, frage ich beunruhigt. Was wenn Ely
Krebs hat oder wenn er beschlossen hat, mithilfe von einem
Studentenkredit ins Wohnheim zu ziehen und The Building zu
verlassen? Oder vielleicht hat er von meinen Lügen endgültig genug,
und es kümmert ihn nicht mehr, ob ich weiter Vorlesungen schwänze
und irgendwann ganz mit der Uni aufhöre.
Dann sagt Ely: »Ich habe Bruce den Zweiten
geküsst.«