Naomi
GÄNSEHAUT
Ich lüge andauernd.
Ich habe Mrs Loy aus dem 14. Stock angelogen, als ich ihr versichert habe, ja klar wär ich mit ihrem Hund dreimal täglich draußen gewesen und hätte die Pflanzen gegossen, während sie in Atlantic City war.
Ich habe die Eigentümerversammlung unseres Apartmenthauses angelogen, als Mom... tja, als Mom in einem Anfall von Wahnsinn unsere Wohnzimmerwand demoliert hat, kurz nachdem Dad uns verlassen hatte. Und als Mom der Eigentümerversammlung dann vorgelogen hat, wir würden den Schaden selbstverständlich beheben, habe ich ihre Lüge auch noch gedeckt. Aber eher kriecht mir ein Affe aus dem Hintern, als dass wir das Geld aufbringen könnten, um diesen Niederschlag ihrer eigenen Verwüstung zu beseitigen. Wenn es Mom und mir nichts ausmacht, zwischen Trümmern zu leben, was geht das dann eigentlich die Eigentümer der anderen Wohnungen an?
Ich habe das Auswahlkomitee der NYU angelogen, als ich behauptet habe, dass mir meine Zukunft und meine Ausbildung am Herzen lägen. Ich bin erst seit knapp einem Jahr an der Uni, aber ich weiß jetzt schon, dass dieser ganze NYU-Deal, ausbuchstabiert: New York University, für mich verlorene Zeit ist. Ich spiele nur deswegen diese verlogene Studentinnen-Nummer, um das Einzige festzuhalten, was in meinem Leben noch nicht in die Brüche gegangen ist - Ely.
Ich habe Robin002aus dem Psycho-Kurs angelogen, als ich ihr geschworen habe, dass Robin (003), den wir mal zusammen im Starbucks an der Ecke Eighth/University getroffen hatten, sie004und anrufen würde. Meine Mom hat nicht genug $$$, deshalb kann ich nicht in ein Studentenwohnheim ziehen; Robin dagegen, ein Jahr über mir, hat sogar eins der seltenen Einzelzimmer und fährt an den Wochenenden immer nach Hause. Wenn ich aus The Building wieder mal unbedingt rausmuss, überlässt sie mir das Zimmer. The Building, das Apartmenthaus, in dem ich mein ganzes Leben lang gelebt habe, hat zwar eine Top-Lage in Greenwich Village, aber ich muss unbedingt weg von dort. Weg von dem Scheidungsdrama meiner Eltern, weg von meinen Lügen, weg von Mr McAllister, dem schmierigen Fahrstuhl-Mann, immer rauf und runter, der im selben Stockwerk wie Mrs Loy wohnt und mich im Spiegel des Lifts beäugt, seit ich dreizehn bin und sich meine Brüste unter dem T-Shirt abzeichnen.
Ich habe Mom jedes Mal angelogen, wenn ich ihr erzählt habe, ich hätte bei Robin übernachtet, während ich in Wirklichkeit bei meinem Freund war, der auch ein Zimmer im Studentenwohnheim hat. Ich lüge mir selbst was vor, wenn ich mir einrede, dass es da irgendwas rumzulügen gäbe. Als ob Bruce der Zweite und ich es täten. Wir005abends im Bett, knipsen das Licht aus und006- wir schlafen einfach -, bis er am nächsten Morgen zu seiner Vorlesung in Rechnungswesen, Beginn pünktlich007, aufsteht. Ich lüge ihm was vor, wenn ich behaupte, na klar sei Rechnungswesen ein wichtiges Fach.
Ich habe Robin (008) angelogen, als er beim Schachspiel im Washington Square Park gewonnen hat, das war nach diesem Abend mit Robin (009), und wir hatten ausgemacht, wenn ich verliere, muss ich ihm auf seine Mitternachtsfrage ohne jede Lüge antworten. Robin hatte behauptet, er hätte nacheinander fünf Männer stolpern sehen, weil sie mich von oben bis unten angestarrt hatten, und ich hätte bloß gelangweilt geschaut. Robin wollte wissen, ob ich meine Schönheit wie ein gutes oder wie ein böses Mädchen einsetze. Wie ein böses Mädchen, hab ich geantwortet. Lüge. Die Wahrheit ist: Ich bin so unberührt wie frisch gefallener Schnee an einem Wintermorgen im Park, bevor die Hunde und Menschen und Räumfahrzeuge dieser schnellen, harten Stadt die vollkommene, friedliche Harmonie zerstören.
Ich habe Bruce den Zweiten angelogen, als ich ihm versprochen habe, wir würden bald Sex miteinander haben. Richtigen Sex. Sehr bald. Wir hatten es gerade mal bis zu einer010geschafft, als der Wohnheimtutor reinkam und uns unterbrochen hat. Es hat sich angefühlt, als würde ich Ely betrügen.
Ich habe Bruce den Ersten angelogen, als ich ihn glauben ließ, er würde bei mir der Erste sein. Ely wird bei mir der Erste sein. Ich kann warten. Danach wird Bruce der Zweite vielleicht tatsächlich der Zweite sein.
Vor allem aber lüge ich Ely an.011lie to [i:lai].
Ely ruft mich auf dem Handy an, während ich lügend auf ihn warte. »Bin spät dran. Komm in ’ner Viertelstunde. Halt einen Platz für mich frei. Ich lieb dich, bis gleich.« Bevor ich antworten kann, hat er schon aufgelegt.
Wir haben schon so viel miteinander durchgestanden, was sind da fünfzehn Minuten, die ich noch länger auf ihn warten muss? Solange er noch nicht da ist, kann ich in aller Ruhe meine Lügenmärchen aufrollen.
Ich habe Ely angelogen, als ich ihm erzählt habe, dass ich seiner Mom verzeihe, was zwischen unseren Eltern passiert ist.
Ich lüge, wenn ich ihr und den anderen vorgaukle, Dad würde mich jede Woche auf meinem Handy anrufen und wissen wollen, wie es mir geht. Einmal im Monat (die ungeraden Monate) kommt da schon eher hin.
Dad macht sich um mich keine Sorgen. Er weiß, dass ich Ely habe.
Ely geht nie weg und legt nie auf, ohne vorher »Ich lieb dich« zu flüstern. Das ist seine Art, mir Tschüss zu sagen - ein Versprechen auf zukünftige Zeiten, in denen wir immer noch zusammen sein werden. Ich lüge, wenn ich ihm daraufhin seine Wörter zurückgebe: »Ich lieb dich auch.«
Es ist so aberwitzig vielschichtig, was man alles meinen kann, wenn man diese drei Wörter sagt: »Ich liebe dich.« Die Komplexität der verschiedenen Ebenen würde ein haarsträubend trickreiches Computerspiel ergeben, falls jemals irgendjemand sich in der Lage fühlen sollte, dafür das Konzept zu entwickeln.
Spieler eins: Naomi.
Ebene 1: »Ich liebe dich« zu meiner Mutter - ich liebe dich, weil du mich zur Welt gebracht hast, weil du mich ernährst und großziehst, weil du mich noch in den Wahnsinn treibst, ich dich aber trotzdem unbedingt brauche, selbst mit deinem gebrochenen Herzen. Die Grundlage für alles.
Ebene 2: »Ich liebe dich« zu meinem Vater - mit einem Ernst gesagt, der gleichzeitig eine Spur zu kalt klingt, abwartend und misstrauisch, ob er dieses Gefühl auch tatsächlich zurückgibt, wenn er mir antwortet. Härter.
Ebene 3: Das spielerische »Ich liebe dich«, das ich meinem Freund hinwerfe, wenn er vor dem Hörsaal mit einem hei-βen Kaffee und einem Donut auf mich wartet. Da hat der Satz nichts, aber auch überhaupt nichts mit L-I-E-B-E (Liiiiiebe!) zu tun. Unsere Beziehung ist dafür noch viel zu frisch und das versteht er. Wenn Bruce der Zweite zu mir »Ich liebe dich« sagt, nachdem ich... bestimmte Dinge für ihn getan habe, bemüht er sich sofort, davon wieder abzulenken, und sagt Sachen wie: »Ich liebe dich, wenn du diese verklemmten Kerle im Flur anbrüllst, sie sollen nicht so einen Lärm machen, wenn wir zusammen in meinem Zimmer sind. Das war eine echt großartige Zickenpredigt - jetzt beneiden sie mich noch mehr um dich. Dafür liebe ich dich.« Wie auch immer.
Ebene 4-9: Ausdruck für die großen Leidenschaften in meinem Leben - Discomusik, Snickers, die Cloisters, NBA, Spiele im Treppenhaus, das Glück, mein Leben bisher mit Ely geteilt zu haben.
Ab hier wird das Spiel dann richtig schwierig.
Ebene 10 (aber in einer völlig anderen Dimension, in der es möglicherweise nicht mal Zahlen gibt): »Ich liebe dich«, wenn ich es zu Ely sage - und ihn dabei nicht anlüge. Aber mir etwas vorlüge. Er nimmt dieses Ich-liebe-dich als etwas ganz Natürliches, wie das eine Beste-Freundin/Fast-Schwester eben so sagt. Und Spieler eins: Naomi meint es auch so. Ganz aufrichtig. Aber sie meint es vielleicht auch noch anders. Verwirrend anders. Unmöglich anders.
Das Spiel stürzt ab.
Die Wahrheit drängt sich herein.
Mit Lügen lässt sich einfacher spielen.
Ich habe Ely angelogen, als ich ihm gesagt habe, schwul sei für mich kein Problem. Was auch stimmt. Nur nicht bei Ely. Er war mir doch vorbestimmt, wir sollten glücklich und zufrieden bis ans Ende unserer Tage leben, er sollte allein mir gehören. Weil das Schicksal es so wollte.
Ich habe Ely angelogen, als ich ihm gesagt habe, klar würde ich respektieren, dass sein Schicksal das der schwulen Königin der Nacht wäre - und sei das nicht schon die ganze Zeit klar gewesen? Richtig! Super! Nur dass es nicht stimmt! Wir sind einander praktisch schon als Kinder versprochen worden, wir sind miteinander aufgewachsen, er mit seinen Eltern in 15J, ich mit meinen Eltern in 15K. Naomi & Ely. Ely & Naomi. Einer niemals ohne den anderen. Frag irgendjemand innerhalb eines 10-Block-Radius rund um den Fourteenth-Street-Biomarkt, wo später die gesamte Asia-Imbiss-Belegschaft mitbekommen hat, wie zwischen unseren Eltern die Bombe explodierte. Und dann ein Niederschlag der Verwüstung auf uns herabgeregnet ist. Naomi & Ely: haben miteinander Doktor (012) / Krankenschwester (013) gespielt; haben miteinander Küssen geübt, während sie zu Hause für die Hauptrollen in »Guys and Dolls« einstudierten; haben einen Spind und alle ihre Schulerfahrungen miteinander geteilt; und haben beschlossen, gemeinsam auf die NYU zu gehen; haben beschlossen, beide in The Building weiterzuleben, statt in das nahe Studentenwohnheim zu ziehen, aus Kostengründen und aus Gründen der wechselseitigen Naomi & Ely-Abhängigkeit.
Als Ely schließlich im Starbucks auftaucht, ist er total au-βer Atem und rot im Gesicht, weil er durch die Winterkälte gerannt ist. Er lässt sich auf den Stuhl fallen, den ich für ihn freigehalten habe.
Ich reiche Ely die heiße Schokolade, die der Starbucks-Geschäftsführer mir aufgedrängt hat. »Steh auf«, sag ich zu ihm. »Wir müssen gehen.«
»Warum denn, Naomi?«, bettelt er. »Ich bin doch gerade erst gekommen.«
Ich schnappe mir seine freie Hand, und schon sind wir weg, draußen auf dem harten, kalten Gehweg, wo wir sofort in den typischen Naomi & Ely-Gang verfallen, Händchen-und-Becher-haltend, hastig-gehend-und-miteinander-redend, geschickt-allen-Leuten-die-im-Weg-sind-ausweichend.
»Vertrau mir«, sage ich.
Er fragt nicht, wohin ich mit ihm unterwegs bin. Was ich ihm zeigen will. »Musste das echt sein, dass ich jetzt mein Kaffeetrinken mit dem süßen Assistenten aus meinem Makroökonomie-Kurs verpasse? Nur weil du mit mir deine allerneueste Fehldiagnose diskutieren willst? Du hast keinen Brustkrebs, Naomi. Und falls du es noch nicht gemerkt haben solltest, hier draußen sind mindestens minus drei-βig Grad, und ehrlich, ich kann mir was Besseres vorstellen, als mir hier auf dem Gehweg den Arsch abzufrieren. Zum Beispiel den süßen Assistenten anzuflirten - und zwar in einem kuschlig warmen Café.« Ely zieht seine Hand aus meiner Hand, gibt mir den Becher mit der mittlerweile kalten Schokolade und hält dann beide Hände vor den Mund, um sie zu wärmen. Ich möchte gern sein Atem sein.
Es wäre keine Lüge zu behaupten, dass ich die Kälte mag. Danach sehne ich mich am meisten. Nach Gänsehaut.
»Wie kann dir das so egal sein, ob ich vielleicht Krebs habe?«, frage ich. »Ich hab einen Knoten in meiner Brust gefunden.« Berühr ihn, Ely. Berühr ihn.
»Du lügst. Du nagst an deiner Unterlippe rum wie immer, wenn du lügst. Vor allem aber habe ich heute früh deine Mutter im Fahrstuhl getroffen, sie hat mir von deinem angeblichen Knoten erzählt. Der Arzt hat gesagt, es wär ein vereiterter Pickel.«
Eher kriecht mir ein Affe aus dem Hintern, als dass ich zugebe gelogen zu haben!
Ich muss Ely von meiner Lüge ablenken. Ich bleibe an einem Zaun stehen. Das Schulgebäude dahinter ist mächtig, nassschwarz und dreckig, mit Graffitis vollgesprühte Mauern, Gitterstäbe vor den Fenstern. Der Sportplatz ist schwarzer Asphalt, drum herum ein kaputter Maschendrahtzaun.
»Hier sollten wir heiraten«, sage ich zu Ely.
»Oh, Naomi, mein Schatz, mir schwinden gleich die Sinne vor lauter Romantik. Diese steinernen Ruinen! Aber was wird dann mit dem Tempel von Dendur aus dem Met? Ich will dich in dem elfenbeinfarbenen Nofretete-Gewand sehen, mit schwarzen Kleopatra-Augen. Du würdest in diesem Pharao-Göttinnen-Look umwerfend aussehen!«
»Und was trägt der Bräutigam?«
»Dasselbe.«
014
Falsch falsch falsch.
Ich muss ihn korrigieren.
»Nicht du und ich werden hier heiraten, Ely. Sondern er und ich.« Ich deute auf den Basketballspieler, der gerade einen bewunderungswürdigen Wurf in den netzlosen Korb auf dem Asphaltplatz platziert hat. Der Spieler reißt seine Hände zum Victory-Zeichen hoch, die über den Kopf gezogene Kapuze seines Shirts rutscht ihm herunter - und wir kommen in den vollen Genuss seines schönen Profils.
Elys Augen suchen meine Augen. »Das war es wert, den Assistenten sitzen zu lassen«, sagt er grinsend.
Er müsste eigentlich wissen, dass er mir vertrauen kann. Selbst wenn ich lüge.
Wir bewundern ihn beide. Gabriel ist nicht nur der schärfste Junge auf dem Platz, er ist auch der Star unter den Spielern. Lauf. Pass. Sprung. Ball versenkt. WOW Friedhofschicht-Portier bei Nacht, Streetball-Superstar am Tag.
Als das Spiel zu Ende ist, verlassen die Spieler den Platz und laufen auseinander, jeder in sein warm beheiztes Zuhause - hoffe ich jedenfalls. Ely und ich ducken schnell die Köpfe, als sie an unserem Beobachtungsposten vorbeiströmen, tra-lala-lala, hier gibt es nichts zu sehen.
Als alle fort sind, macht Ely vor mir einen Diener, wie es mir gebührt. Herauszufinden, wo sich der neue Nachtportier von The Building, über den jedermann im Haus gern mehr erfahren würde, am frühen Abend herumtreibt, war erstklassige Detektivarbeit meinerseits. Niemand in The Building weiß nämlich etwas über ihn, außer dass er absolut umwerfend ist; was auch immer es da sonst noch zu erfahren gäbe, Gabriel rückt nicht damit raus.
Als Ely sich wieder aufgerichtet hat, dreht er sich um und lässt sich mit dem Rücken gegen den Zaun fallen. Er gibt einen tiefen Seufzer von sich. »Wirklich schade, dass wir das nicht schon früher rausgefunden haben. Aber eins ist klar: Gabriel gehört auf unsere No Kiss List. Lass ihn uns auf den letzten Platz setzen, weil er noch ganz neu ist. Er wird sich dann schon von selbst nach oben arbeiten.«
Ely und ich haben unsere No Kiss List™ vor ewigen Zeiten aufgestellt, nach einer Flaschendreh-Party, bei der es zu dem Du-hast-mit-mir-rumgeknutscht-um-Donnie-Weisberg-eifersüchtig-zu-machen-Vorfall!015! gekommen war. Unsere No Kiss ListTM ändert sich ständig, fast wie ein lebendiges Wesen, das sich chemisch aus Elys persönlichem Spannungsfaktor von TFSD vs. PJVS (Theoretisch-fleißiges-Studenten-Dasein versus Praktisch-in-Jungs-verknallt-Sein) und meinem Spannungsfaktor von PMS vs. Langeweile zusammensetzt.
Wir haben uns von vornherein darauf verständigt, dass manche Leute die absolute Tabuzone sind, selbst solche, die wir wirklich wahnsinnig gerne küssen würden - und ich sage euch, es schmerzt zu wissen, dass die Lippen einer bestimmten Person nie deine Lippen berühren werden, nur weil du ein Gelübde abgelegt hast, dass das nicht sein soll. So schaffen es Ely und ich, unsere Freundschaft von Eifersucht freizuhalten. Die No Kiss ListTM ist unsere Versicherung gegen eine Naomi & Ely-Trennung.
Wenn unsere Eltern eine No Kiss ListTM angelegt hätten, dann hätten sie uns allen eine Menge Kummer ersparen können. Die nächste Generation wird diesen Fehler nicht wiederholen.
Ich sage zu Ely: »Dass Gabriel auf die Liste kommt, geht in Ordnung. Aber nicht die Platzierung. Gabriel ist schärfer als alle anderen, die wir sonst auf der Liste haben. Ich bin dafür, dass er sofort auf Platz zwei gesetzt wird.«
»Abgemacht«, sagt Ely.
Interessant. Dieses Zugeständnis kam überraschend schnell.
Achtung, Wettbüro! Hier kommt das neue Ranking der vordersten Plätze auf unserer No Kiss ListTM:
Platz 1: Donnie Weisberg - immer noch; das große Symbol unseres Gelübdes, bei bestimmten Personen keusch zu bleiben, um die Heiligkeit der Institution Naomi & Ely nicht zu gefährden. Die Tatsache, dass wir beide keine Ahnung haben, wo Donnie sich zurzeit aufhält - Gerüchten zufolge soll er für eine humanitäre Hilfsorganisation in Guatemala arbeiten, um nach seiner ausschweifenden Party am Ende des letzten Schuljahrs nicht wegen Drogenbesitz verurteilt zu werden -, hat keinerlei Auswirkungen auf seinen Status als ewige Nummer eins auf unserer No Kiss ListTM.
Platz 2: Herzlich willkommen, Gabriel, superscharfer Nachtportier, begehrt von allen BewohnerInnen des Hauses, in denen ein lebendiges Herz schlägt, außer vielleicht dem schleimigen Mr McAllister, der mindestens Körbchengröße C braucht, um warm zu werden.
Platz 3: Mein Cousin Alexander (Footballspieler beim Kansas All-State-Team - das dürfte genügen)
Platz 4: Elys Cousine Alexandra (East Village, tosender Beifall für ihre Darstellung in der experimentellen Bühnenfassung von »The Crying Game« - das dürfte genügen)
Platz 5: Robin (016), weil nämlich Ely und ich Robin (017) mögen, die Robin (018) wirklich gerne hat, und Robin (019) außerdem für mich der Beweis ist, dass ich an der Uni auch außerhalb der Naomi & Ely-Wahlzwillingsschaft mit jemand befreundet sein kann.
Und dann noch:
Platz 6: Der Tweedanzug tragende, an seiner Doktorarbeit schreibende Theologe, der in Apartment 15B illegal zur Untermiete wohnt.
»Woher weißt du, dass Gabriel hier Basketball spielt?«, fragt Ely.
»Bin hier eines Tages zufällig vorbeigekommen und hab ihn gesehen«, sage ich.
Eine klitzekleine020krabbelt die Lügenmauer hoch. Ich habe nie, wirklich niemals Gabriel geküsst. Ich habe mich nie, wirklich niemals länger als fünf Minuten mit Gabriel unterhalten, ohne dass Ely dabei war.
Aber.
Es könnte sein, dass Gabriel mich nach meiner Handynummer gefragt hat. Könnte sein, dass er mir manchmal eine SMS schickt. Könnte sein, dass er mal erwähnt hat, wo er ab und zu mit seinen Kumpels Basketball spielt, bevor seine Schicht anfängt.
»So ein Glück für uns zwei!«, sagt Ely.
Gabriel direkt auf Platz zwei zu setzen wird Naomi & Ely021sichern. Sonst könnte es sein, dass ein022niedergeht und Naomi mit sich fortschwemmt.
»Denk immer dran!«, sage ich. »Wie sehr ich dich doch lieben muss, dass ich darauf verzichte, bei Gabriel jemals eine Chance zu haben!«
»Denk immer dran! Du hast schon einen Freund.«
Die Erinnerung war nötig. »Du hast recht. Bruce der Zweite wartet auf mich. Ich muss.«
Mein Freund und ich, wir haben unsere eigenen Lernrituale entwickelt: Er lernt, während ich mich vor dem Lernen drücke. Ich bügle gern die T-Shirts von Bruce, während er am Schreibtisch sitzt, ab und zu von seinem Notebook oder seinen Büchern hochguckt und mich in seiner langweiligen, aber netten Art anlächelt. Super Gebiss. Bruce sagt dann: »Naomi, das sind stinknormale schwarze Gap-Shirts. Die müssen nicht gebügelt werden.« Und ich sage dann: »Ach so?« Weil T-Shirts für ihn bügeln irgendwie mehr Spaß macht, als mit ihm rumzuknutschen. Es ist ein angenehmer Zeitvertreib. Das Bügeln und das Küssen. Alles im richtigen Maß. Wenn sein Wecker klingelt, weil die nächste Fünf-Minuten-Lernpause eingeplant ist, steht Bruce auf, umarmt mich von hinten und legt kurz seinen Kopf in die Kurve zwischen meinem Hals und meiner Schulter. Während er seinen Körper gegen mich presst, bekommt er keinen Steifen, weil das wahrscheinlich seinen Lernplan durcheinanderbringen würde. Dafür flüstert er mir ins Ohr: »Du bist so schön.« Als ob er darauf stolz wäre. Als ob ich irgendwas für diesen Haufen von verdammten Genen könnte, die mir glänzende Haare, ein halbwegs hübsches Gesicht und einen begehrenswerten Körper beschert haben. Einen Körper, mit dem ich noch nicht richtig was anzufangen weiß.
Um das klarzustellen. Auch ohne die Personen auf der No Kiss List™, die niemals bei mir Zutritt haben werden, könnte mein Körper alles bekommen, was er braucht. Wenn ich wollte. Aber ich warte auf Ely. Er soll der Erste sein. Das schulde ich ihm. Wir haben unsere Hochzeit schon geplant, als wir zwölf waren. Es war Elys Vorschlag gewesen, als er mir den ersten richtigen Kuss entlocken wollte. Unseren ersten richtigen gemeinsamen Kuss. Schwul ändert daran nichts - nichts an unserer gemeinsamen Vergangenheit und auch nichts an unserer gemeinsamen Zukunft. Schwul heißt nicht, dass ich nicht so lange warten sollte, bis Ely es vielleicht einen Augenblick mal nicht ist.
Ich greife nach Elys Hand. Schluss mit dem Spiel. Zeit, dass wir gehen.
Doch Ely bleibt wie festgewurzelt auf dem Gehweg stehen, gegen den Zaun gelehnt.
Moment mal! Sim 023salabim!, wie Ely und ich im Aufzug immer gerufen haben. Bevor wir dann auf alle Knöpfe gedrückt haben, um Mr McAllister zu ärgern. Ely hat zu schnell nachgegeben - zu schnell zugestimmt, Gabriel auf Platz 2 unserer No Kiss ListTM zu setzen, sich zu schnell meiner Angewohnheit angepasst, einfach mal einen Kurs ausfallen zu lassen. Er ist aufgekreuzt, obwohl er ein wichtiges Treffen gehabt hätte. Ely tut sonst alles, um sich sein Stipendium durch Top-Noten zu sichern. Das muss er auch. Er braucht das Stipendium. Seine Eltern verdienen viel Geld, aber nicht genug, um für die gesamten Studiengebühren aufzukommen und gleichzeitig den Kredit für die Wohnung abzubezahlen. Ely sitzt mit seinem Stipendium genauso in der Falle wie Mom und ich mit unserer Wohnung - im selben Stockwerk, nur durch den Flur voneinander getrennt. Der Job meiner Mutter in der Universitätsverwaltung reicht aus, um das mit den Gebühren für mein Studium gerade so hinzukriegen, aber sie könnte nie einen Umzug in eine andere Wohnung finanzieren, egal wie schlimm es mit den Nachbarn vielleicht noch wird. Mom könnte sich niemals selber eine so schöne Wohnung leisten, wie wir sie jetzt haben. Ihre Eltern haben sie ihr gekauft.
»Stimmt was nicht?«, frage ich Ely. Ihm scheint wärmer zu werden, sein Gesicht ist nicht mehr ganz so rot. Plötzlich bemerkte ich die Sorgenfalten rund um seine schönen blauen Ely-Augen.
»Ich muss dir was sagen.«
»Was denn?«, frage ich beunruhigt. Was wenn Ely Krebs hat oder wenn er beschlossen hat, mithilfe von einem Studentenkredit ins Wohnheim zu ziehen und The Building zu verlassen? Oder vielleicht hat er von meinen Lügen endgültig genug, und es kümmert ihn nicht mehr, ob ich weiter Vorlesungen schwänze und irgendwann ganz mit der Uni aufhöre.
Dann sagt Ely: »Ich habe Bruce den Zweiten geküsst.«