Robin044
VELMA
Das liebe ich an den wahren Großstädtern. Sie tauchen mitten in der Nacht bei dir im Wohnheim auf, in der einen Hand ein Eis, in der anderen einen schlafenden Chihuahua, und fragen dich, als wäre es die normalste Sache der Welt, ob du mit ihnen unten in der Lounge Pictionary spielen willst. In Schenectady passiert so etwas nicht, so viel ist sicher. In Schenectady hat man Eltern (männlich/weiblich), die im Allgemeinen auch zusammenbleiben und die ausflippen würden, wenn die SchulfreundInnen ihrer Kinder mitten in der Nacht bei ihnen auftauchen würden. Das Großstadtgirl kommt unter dem Vorwand zu dir, unbedingt ein Gesellschaftsspiel spielen zu müssen, aber in Wirklichkeit kreuzt sie bei dir auf, weil sie theatralisch die K.o.-Szene nachspielen will, die das Mädchen womöglich ihren besten Freund gekostet hat. Ach ja, und dann, bitte nicht vergessen, bringt das Großstadtgirl auch noch einen Kerl mit, der wie ein männliches Landei aussieht - ein Körper wie Hulk und ein Gesicht wie das Kind aus »A Christmas Story«, dem die Zunge an dem eiskalten Pfosten festklebt.
Ich wusste, dass es aufregend sein würde, nach New York City zu ziehen. Ich wusste, das würde es wert sein, auch wenn Mom und Dad eine zweite Hypothek auf unser Haus aufnehmen mussten, um mein Studium an der NYU zu finanzieren. Aber ich wusste nicht, dass es ein ganzes Jahr dauern würde, bis endlich etwas Interessantes passiert. Das erste Jahr an der Uni ging damit rum, dass ich versucht habe, mich so gut wie möglich vor den Jetzt-fließt-das-Bierin-Strömen-Partys zu drücken. Und zugeguckt habe, wie um mich herum die Hälfte der Long-Island/New-Jersey-Diaspora im ersten Jahr ihrer Freiheit-von-den-Eltern fast durchgedreht ist. Ich hab diesen ganzen Wahnsinn nur still beobachtet. Ich bin eine Velma. Ich bin das Mädchen mit der Helmfrisur und dem praktischen Pulli - die Forscherin und nicht der Forschungsgegenstand. Ich bin weder das dünnste noch das hübscheste noch das coolste noch das lauteste Mädchen. Ich verschwimme unauffällig mit dem Hintergrund, wie es sich für ein Mädchen aus Schenectady gehört. Ich bin das Mädchen, das schon im ersten Jahr eine eifrige und verantwortungsbewusste Studentin war, das Mädchen, das immer in der Bibliothek saß und gelernt hat, das fleißig seine Artikel für die Uni-Zeitung schrieb - und das die entscheidenden Unterschiede begriffen hat, zum Beispiel zwischen einem durchgeknallten-aber-süßen-NYU-Studenten namens Robin, mit dem sich ein Gespräch im Washington Square Park durchaus lohnt, und den einfach nur abgewrackten Typen, die dir im Washington Square Park ein paar Krümel Dope oder Jesus andrehen wollen. Basiswissen.
Aber dann begann das zweite Jahr. Und da hat unser Mädchen aus Schenectady die coole Naomi aus Greenwich kennengelernt. Naomi hatte es nicht nötig, in ihrem ersten Jahr an der Uni völlig auszuflippen. Sie war mitten im Village aufgewachsen. Solche Verrücktheiten waren für sie viel zu abgedroschen. Ganz schlechter Stil. Das hatte sie schon lange hinter sich. Alles schon gesehen, alles schon erlebt. Da bin ich mir ziemlich sicher.
Aber genau deswegen habe ich auch Mitleid mit ihr. Naomi ist so sehr das Großstadtgirl, so cool und so taff, dass sie sich niemals erlauben wird zu heulen, auch wenn ihr danach ist. Stattdessen räkelt sie sich hier auf dem abgewetzten Sofa in der Lounge und leckt an einer Kugel Jamoca-Almond-Fudge-Ice-Cream mit einem Hündchen namens Zuckertörtchen oder Zuckerstückchen, so genau hab ich das nicht mitgekriegt, auf dem Bauch, das dort sein allem Anschein nach wohlverdientes Nickerchen macht. Auf einem Bauch, der von Naomis mühsam unterdrückten Schluchzern vibriert, oder vielleicht wirkt das nur so, weil das Hündchen so stark zittert. Naomi starrt ausdruckslos zur Decke, während ihr neuester Anhang, der auf »Bruce der Erste« hört, ihr auf einem Stuhl gegenübersitzt und immer wieder beteuert, dass an dem Streit Ely schuld war. Bruce hat in der einen Hand eine Eistüte mit einer Kugel Pink Bubblegum und in der anderen die Fernbedienung, mit der er zwischen der ewigen Sportberichterstattung auf ESPN und der nächtlichen Wiederholung einer Folge der »Dr.-Phil-Show« hin und her zappt. Und jedes Mal wenn der Name Ely fällt, fängt seine linke Gesichtshälfte unkontrolliert zu zucken an.
Herrlich. Ich liebe New York.
»Bedeutet das also, dass du und der andere Bruce offiziell miteinander Schluss gemacht habt?«, frage ich Naomi. Dieser Junge war einfach zu nett und zu langweilig für ein Mädchen wie Naomi. Sie spielt in einer ganz anderen Liga. Aber interessant, dass er der Typ zu sein scheint, auf den sie steht. Wahrscheinlich ist das so, wenn der einzige Junge, den man wirklich haben will, auch der einzige Junge ist, der einen ganz bestimmt nicht haben will.
Ich halte mich nicht lange mit Dates auf. Zugegeben, da gibt es das kleine Problem, dass sich niemand mit mir zu einem Date verabreden will. Aber ich habe beschlossen, dass dieses Problem für mich kein Problem darstellt. Sondern die Lösung. Die Velmas auf dieser Welt machen kein Praktikum bei CNN, hoffen darauf, an der Journalistenschule der Columbia University angenommen zu werden, nachdem sie einen ausgezeichneten Abschluss an der NYU gemacht haben, und gewinnen danach den Pulitzerpreis, während sie gleichzeitig in ihren Beziehungsdramen feststecken. Das ist das Problem der Daphnes auf dieser Welt. Daphne, du Flittchen, du kannst noch nicht mal einen verdammten Van fahren.
»Ich glaub schon«, murmelt Naomi. Sie presst die Kiefer aufeinander, um einen großen Schluchzer zu ersticken, und ich möchte am liebsten ihre Hand nehmen und ihr sagen, dass alles gut wird, aber ihre Hände sind mit der Eistüte und dem Hund beschäftigt, und ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass zwischen ihr und Ely alles gut wird. »Definitiv«, fügt sie hinzu. »Na klar. Bruce der Zweite ist Geschichte.« Eine unfreiwillige Träne läuft ihr übers Gesicht, und ich weiß, dass diese Träne auf den Namen »Ely« hört und nicht auf »Bruce der Zweite«.
»Hey, Bruce der Erste«, sage ich, was aus meinem Mund ziemlich komisch klingt. Niemand in Schenectady hat jemals einen anderen mit einem solchen Namen gerufen. Zumindest nicht in meiner Straße. Ich bin überglücklich, dass ich dieses Wochenende nicht nach Hause gefahren bin, auch wenn ich Moms Lasagne und Dads stolzes Jammern über meine Ausbildungskosten vermisse. »Ich bin Robin, und habe zufällig einen Filmstudenten kennengelernt, der auch Robin heißt. Ist das nicht sagenhaft?«
»Sagenhaft?«, fragt er mich. »Sagenhaft? Wo kommst du denn her?«
»Schenectady!«
»Krass!«, sagt er.
Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich grob gemeint ist oder ob er nur nicht mag, wenn seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes als Naomi gelenkt wird. Ich bin mir aber sicher, dass sein Tonfall für einen Jungen, der noch zur Schule geht und mitten in der Nacht in einem NYU-Studentenwohnheim herumhängt, ganz schön überheblich ist, selbst wenn es sich um einen Schuljungen handelt, der in Greenwich Village aufgewachsen ist.
»Lass uns allein«, sagt Naomi zu Bruce dem Ersten. Im Befehlston.
So viel zu seiner Überheblichkeit. Bruce der Erste springt auf und schnappt sich den Hund.
»Also dann - ich glaub, jetzt kann ich gut einschlafen.«
»Bist du immer noch hier, Bruce der Erste?«, sagt Naomi schnippisch, richtet sich auf und zeigt zur Tür. »HAB ICH NICHT GESAGT, >LASS UNS ALLEIN<?«
Er ist weg wie nichts und ich muss Naomi noch weiter ausfragen. »Und Ely hat gesagt, er hat Angst vor dir? Also, ich meine, im Ernst?«
Jetzt, wo wir beide allein sind, fängt Naomi an zu heulen. Sie stottert und schluckt. »Ely... so ein Verräter... wie hat er einen Bruce küssen können?... Er war mein absolutes Ein und Alles... Nein, Ely, nicht Bruce der Zweite!... Wen kümmert schon dieser Bruce?... Jetzt bin ich ganz allein... Ich hab gewusst, dass das irgendwann mal passieren würde... Wir konnten das alles gar nicht überleben... die Geschichte mit unseren Eltern und meine Lügen... und dass er so überhaupt gar nichts von mir will und dass ich einfach alles von ihm will, aber dass ich... Ach Scheiße... [schluchz schluchz schluchz]... ich liebe ihn, egal... Freund, Bruder, alles an Ely... Wir haben uns früher auch schon gestritten, aber diesmal ist es anders... Nein, es ist so, Robin... das Vertrauen ist für immer zerbrochen... unser heiliger Naomi & Ely-Pakt ist kaputt... [schluchz schnief schluchz schnief]... Hast du kein richtiges Kleenex, dieses No-Name-Teil kratzt total... Nein, ich lüge nicht... [echtes Kleenex gefunden und Naomi gereicht, prust und schnäuz, schluchz schluchz, prust und schnäuz]... Danke, Robin... du bist die beste Freundin, die ich hab... mein einziger richtiger Freund... jetzt wo... Naomi & Ely gibt es nicht mehr... das ist für immer vorbei.«
Ich sollte Robin eine SMS schicken, dass Naomi gerade bei mir ist. Er möchte einen Dokumentarfilm über sie drehen, mit dem Titel »Hot Child in the City«, aber das Filmmaterial aus ihrem wahren Leben wäre jetzt gerade viel zu traurig, sie würde viel zu verletzlich rüberkommen. Das alles wäre gefährlich nahe an einer Soap-Kitsch-Kiste. Deshalb mach ich es nicht, sondern setze mich neben Naomi, soll sie sich ruhig an meiner Schulter ausweinen. Schon gut, schon gut, City-Girl. Wie gut ihre Haare riechen. Seltsam, ich meine, wir Velmas sollten dieses Problem eigentlich nicht haben, aber mein Herz klopft etwas schneller, als Naomi sich so an mich schmiegt. Ich habe überhaupt keine Lust darauf, eine von diesen experimentierfreudigen College-Lesbenschwestern zu sein, aber Naomi hat ganz einfach eine magnetische Wirkung auf Menschen. Ich kann verstehen, warum Robin über sie einen Film drehen will und nicht über mich. Faszinierend.
Zwillingsnamen können magische Kräfte entfalten - der Umriss von Robin zeichnet sich in der Eingangstür der Lounge ab, als hätte er, Robin, gespürt, dass ich, Robin, soeben an ihn gedacht habe. Dass ich ihn fast herbeirufen wollte. Er trägt sein blaues Hawaii-Hemd, bei dem ich das Gefühl habe, die aufgedruckten Blumen riechen zu können. Der starke, schwüle Duft dieser Blüten könnte eine Velma wie mich fast dazu bringen, in Daphne-mäßig verzücktes Verhalten zu verfallen. Kindisch. Aloha.
»Ein Drink?«, fragt er.
Wie eigenartig. Mein Mund fühlt sich staubtrocken an, aber Wasser würde jetzt nichts helfen, denn ich dürste nach mehr. Es ist wahrscheinlich gut so, dass ich kein Party-Girl bin und dass das einzige sprudelige Getränk, das mein Magen verträgt, Ginger Ale ist. Bei mir zu Hause gibt es eine Kneipe, das Lost Dog Café, wo sie das beste Ginger Ale auf der Welt brauen, mit echtem frischem Ingwer. Man muss dafür bis nach Binghampton fahren, aber es ist die Reise wert.
Robin lässt seine Blicke durch den Raum schweifen. »Wo ist denn deine andere Hälfte?«, fragt er Naomi. »Gibt es da nicht ein Gesetz, das besagt: Wenn Naomi nachts um die Häuser zieht, dann ist Ely nicht weit?« Seine blauen Augen, im Widerschein seines blauen Hemds leuchtend, strahlen noch blauer, als ihm eine Idee kommt. »Hey, ich kenn ein paar Leute im zwölften Stock. Du brauchst nur Ja sagen, dann hol ich für euch die Karaokemaschine runter und ihr beide, Ely und du, könnt noch mal eure Nummer aus dem Schulmusical geben.« Er zieht sein Handy heraus. »Ich kenn die Leute gut und bin mit allem gerüstet, wenn du weißt, was ich meine, um hier richtig abzufeiern.«
Sag Ja, Naomi, denke ich. Bitte, sag Ja. Mit Robin wird es bestimmt eine wilde, ausgelassene Party. Ein Fingerschnipp von dir reicht.
»Auf keinen Fall«, sagt Naomi. »Mit einer lahmarschigen Party in diesem Studentenwohnheim hat der ganze Ärger angefangen.«
Mist.
Robin grunzt. »Keiner der Jungs auf dem Stockwerk von Bruce hat jemals kapiert, warum ein Mädchen wie du auf der Party damals am Ende mit einem Betriebswirtschaftsfuzzi wie ihm rumgeknutscht hat.«
»Er studiert im Hauptfach Rechnungswesen«, verbessert ihn Naomi.
»Prinzessin, du kennst deinen Freund noch nicht mal. Bruce studiert im Hauptfach Volkswirtschaftslehre und nimmt vielleicht Finanzen als Nebenfach. Er hat sich noch nicht entschieden. Anthropologie würde ihn nämlich auch reizen.«
»Was du nicht sagst, Alter«, schießt Naomi zurück. »Stell dir vor, mir ist das scheißegal, weil Bruce nämlich nicht mehr mein Freund ist.«
»Wundert mich nicht.« Robin nickt wissend. »Du spielst in einer ganz anderen Liga. Findet jeder. Aber ehrlich, ich hoffe nicht, dass das bei ihm ernste Nachwirkungen hat, richtige Depressionen und so, wenn du ihn jetzt abservierst, ich wollte Bruce nämlich bitten, dass er mir bei meinen Prüfungsvorbereitungen -«
»Halt deine verdammte Klappe, Robin«, sagt Naomi. »Merkst du nicht, dass ich in meiner akuten Trauerphase bin? Wie wär’s mit ’nem bisschen beschissenem Mitgefühl?«
Mein Gott, dafür liebe ich Naomi. Sie hat bei Jungs ein so lockeres Mundwerk. Ich weiß nicht, wie sie das macht. Als würde sie ein Sesam-öffne-dich kennen.
»Ich wusste, ich hätte meine Super-8-Kamera mitbringen sollen«, murmelt Robin. »Naomi trauert um Bruce. Hätte das Zeug zum Klassiker gehabt.«
»Trauert um Ely. ELY!« Der Augenblick, in dem Naomi ausflippt, wird durch die Vibration ihres Handys beendet. Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, wirkt verlegen, dann klappt sie das Handy auf. Sie schaut mich an. Stimmungshaushalt wieder ausgeglichen. »Eine SMS. Von Gabriel, dem scharfen Nachtportier.« Dieser Portier ist ein prächtiges Exemplar von einem Kerl, selbst für eine Velma wie mich, die normalerweise kein Auge für solche Besonderheiten hat. Womit ich die bei einem Mann selten anzutreffende Gabe meine, jedem dieser Typen von Aerosmith ähnlich zu sehen (nicht dem Schlagzeuger, den anderen beiden, die schlicht und einfach Sex-Appeal verströmen, egal wie uralt sie inzwischen sind). Ich könnte glatt zu einer Daphne werden wollen, wenn das bedeuten würde, dass ich dann solche Kerle wie die beiden haben könnte, oder diesen Gabriel, oder Robin. Ich wäre gern für jeden von ihnen eine Daphne aus Albany. Echt krass!
»Du schreibst dir mit deinem Nachtportier SMS?«, frage ich Naomi. Ich könnte genauso gut auch gleich den Boden unter ihren Füßen küssen.
»Ja, aber erzähl es Ely nicht. Gabriel ist aktuell die Nummer zwei auf der No Kiss ListTM
Hallo, Tränen, seid ihr wieder da?
»Meinst du, du schaffst es?«, frage ich Naomi und umarme sie noch einmal.
Sie nickt in meinen Busen, genauer gesagt in meinen praktischen Pulli, und kann nur mühsam ihr Schluchzen unterdrücken. Dann blickt sie zu mir hoch, das Gesicht einer Göttin, im roten Schein ihrer tränenverschmierten Wangen aufleuchtend. »Gabriel hat Dienstschluss und geht jetzt in einen Club an der Avenue B. Er spielt in einer Band, die sich The Abe Froman Experience nennt. In einer Stunde sind sie mit ihrem Set dran. Bessere Ablenkung als ’ne Wohnheimparty mit Karaoke.«
Als Velma fühle ich mich verpflichtet, Naomi zu erinnern: »Wolltest du nicht erst etwas runterkommen?«
»Wruuummmmm«, antwortet Naomi. »Wollen wir dann mal los, Robins?«
ICH WILL!
Wahnsinn.