Robin

VELMA
Das liebe ich an den wahren Großstädtern. Sie
tauchen mitten in der Nacht bei dir im Wohnheim auf, in der einen
Hand ein Eis, in der anderen einen schlafenden Chihuahua, und
fragen dich, als wäre es die normalste Sache der Welt, ob du mit
ihnen unten in der Lounge Pictionary spielen willst. In Schenectady
passiert so etwas nicht, so viel ist sicher. In Schenectady hat man
Eltern (männlich/weiblich), die im Allgemeinen auch zusammenbleiben
und die ausflippen würden, wenn die SchulfreundInnen ihrer Kinder
mitten in der Nacht bei ihnen auftauchen würden. Das Großstadtgirl
kommt unter dem Vorwand zu dir, unbedingt ein Gesellschaftsspiel
spielen zu müssen, aber in Wirklichkeit kreuzt sie bei dir auf,
weil sie theatralisch die K.o.-Szene nachspielen will, die das
Mädchen womöglich ihren besten Freund gekostet hat. Ach ja, und
dann, bitte nicht vergessen, bringt das Großstadtgirl auch noch
einen Kerl mit, der wie ein männliches Landei aussieht - ein Körper
wie Hulk und ein Gesicht wie das Kind aus »A Christmas Story«, dem
die Zunge an dem eiskalten Pfosten festklebt.
Ich wusste, dass es aufregend sein würde, nach New
York City zu ziehen. Ich wusste, das würde es wert sein, auch wenn
Mom und Dad eine zweite Hypothek auf unser Haus aufnehmen mussten,
um mein Studium an der NYU zu finanzieren. Aber ich wusste nicht,
dass es ein ganzes Jahr dauern würde, bis endlich etwas
Interessantes passiert. Das erste Jahr an der Uni ging damit rum,
dass ich versucht habe, mich so gut wie möglich vor den
Jetzt-fließt-das-Bierin-Strömen-Partys zu drücken. Und zugeguckt
habe, wie um mich herum die Hälfte der
Long-Island/New-Jersey-Diaspora im ersten Jahr ihrer
Freiheit-von-den-Eltern fast durchgedreht ist. Ich hab diesen
ganzen Wahnsinn nur still beobachtet. Ich bin eine Velma. Ich bin
das Mädchen mit der Helmfrisur und dem praktischen Pulli - die
Forscherin und nicht der Forschungsgegenstand. Ich bin weder das
dünnste noch das hübscheste noch das coolste noch das lauteste
Mädchen. Ich verschwimme unauffällig mit dem Hintergrund, wie es
sich für ein Mädchen aus Schenectady gehört. Ich bin das Mädchen,
das schon im ersten Jahr eine eifrige und verantwortungsbewusste
Studentin war, das Mädchen, das immer in der Bibliothek saß und
gelernt hat, das fleißig seine Artikel für die Uni-Zeitung schrieb
- und das die entscheidenden Unterschiede begriffen hat, zum
Beispiel zwischen einem durchgeknallten-aber-süßen-NYU-Studenten
namens Robin, mit dem sich ein Gespräch im Washington Square Park
durchaus lohnt, und den einfach nur abgewrackten Typen, die dir im
Washington Square Park ein paar Krümel Dope oder Jesus andrehen
wollen. Basiswissen.
Aber dann begann das zweite Jahr. Und da hat unser
Mädchen aus Schenectady die coole Naomi aus Greenwich
kennengelernt. Naomi hatte es nicht nötig, in ihrem ersten Jahr an
der Uni völlig auszuflippen. Sie war mitten im Village
aufgewachsen. Solche Verrücktheiten waren für sie viel zu
abgedroschen. Ganz schlechter Stil. Das hatte sie schon lange
hinter sich. Alles schon gesehen, alles schon erlebt. Da bin ich
mir ziemlich sicher.
Aber genau deswegen habe ich auch Mitleid mit ihr.
Naomi ist so sehr das Großstadtgirl, so cool und so taff, dass sie
sich niemals erlauben wird zu heulen, auch wenn ihr danach ist.
Stattdessen räkelt sie sich hier auf dem abgewetzten Sofa in der
Lounge und leckt an einer Kugel Jamoca-Almond-Fudge-Ice-Cream mit
einem Hündchen namens Zuckertörtchen oder Zuckerstückchen, so genau
hab ich das nicht mitgekriegt, auf dem Bauch, das dort sein allem
Anschein nach wohlverdientes Nickerchen macht. Auf einem Bauch, der
von Naomis mühsam unterdrückten Schluchzern vibriert, oder
vielleicht wirkt das nur so, weil das Hündchen so stark zittert.
Naomi starrt ausdruckslos zur Decke, während ihr neuester Anhang,
der auf »Bruce der Erste« hört, ihr auf einem Stuhl gegenübersitzt
und immer wieder beteuert, dass an dem Streit Ely schuld war. Bruce
hat in der einen Hand eine Eistüte mit einer Kugel Pink Bubblegum
und in der anderen die Fernbedienung, mit der er zwischen der
ewigen Sportberichterstattung auf ESPN und der nächtlichen
Wiederholung einer Folge der »Dr.-Phil-Show« hin und her zappt. Und
jedes Mal wenn der Name Ely fällt, fängt
seine linke Gesichtshälfte unkontrolliert zu zucken an.
Herrlich. Ich liebe New York.
»Bedeutet das also, dass du und der andere Bruce
offiziell miteinander Schluss gemacht habt?«, frage ich Naomi.
Dieser Junge war einfach zu nett und zu langweilig für ein Mädchen
wie Naomi. Sie spielt in einer ganz anderen Liga. Aber interessant,
dass er der Typ zu sein scheint, auf den sie steht. Wahrscheinlich
ist das so, wenn der einzige Junge, den man wirklich haben will,
auch der einzige Junge ist, der einen ganz bestimmt nicht haben
will.
Ich halte mich nicht lange mit Dates auf.
Zugegeben, da gibt es das kleine Problem, dass sich niemand mit mir
zu einem Date verabreden will. Aber ich habe beschlossen, dass
dieses Problem für mich kein Problem
darstellt. Sondern die Lösung. Die Velmas
auf dieser Welt machen kein Praktikum bei CNN, hoffen darauf, an
der Journalistenschule der Columbia University angenommen zu
werden, nachdem sie einen ausgezeichneten Abschluss an der NYU
gemacht haben, und gewinnen danach den Pulitzerpreis, während sie
gleichzeitig in ihren Beziehungsdramen feststecken. Das ist das
Problem der Daphnes auf dieser Welt. Daphne, du Flittchen, du
kannst noch nicht mal einen verdammten Van fahren.
»Ich glaub schon«, murmelt Naomi. Sie presst die
Kiefer aufeinander, um einen großen Schluchzer zu ersticken, und
ich möchte am liebsten ihre Hand nehmen und ihr sagen, dass alles
gut wird, aber ihre Hände sind mit der Eistüte und dem Hund
beschäftigt, und ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass
zwischen ihr und Ely alles gut wird. »Definitiv«, fügt sie hinzu.
»Na klar. Bruce der Zweite ist Geschichte.« Eine unfreiwillige
Träne läuft ihr übers Gesicht, und ich weiß, dass diese Träne auf
den Namen »Ely« hört und nicht auf »Bruce der Zweite«.
»Hey, Bruce der Erste«, sage ich, was aus meinem
Mund ziemlich komisch klingt. Niemand in Schenectady hat jemals
einen anderen mit einem solchen Namen gerufen. Zumindest nicht in
meiner Straße. Ich bin überglücklich, dass ich dieses Wochenende
nicht nach Hause gefahren bin, auch wenn ich Moms Lasagne und Dads
stolzes Jammern über meine Ausbildungskosten vermisse. »Ich bin
Robin, und habe zufällig einen Filmstudenten kennengelernt, der
auch Robin heißt. Ist das nicht sagenhaft?«
»Sagenhaft?«, fragt er
mich. »Sagenhaft? Wo kommst du denn
her?«
»Schenectady!«
»Krass!«, sagt er.
Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich grob
gemeint ist oder ob er nur nicht mag, wenn seine Aufmerksamkeit auf
etwas anderes als Naomi gelenkt wird. Ich bin mir aber sicher, dass sein Tonfall für einen
Jungen, der noch zur Schule geht und mitten in der Nacht in einem
NYU-Studentenwohnheim herumhängt, ganz schön überheblich ist,
selbst wenn es sich um einen Schuljungen handelt, der in Greenwich
Village aufgewachsen ist.
»Lass uns allein«, sagt Naomi zu Bruce dem Ersten.
Im Befehlston.
So viel zu seiner Überheblichkeit. Bruce der Erste
springt auf und schnappt sich den Hund.
»Also dann - ich glaub, jetzt kann ich gut
einschlafen.«
»Bist du immer noch hier, Bruce der Erste?«, sagt
Naomi schnippisch, richtet sich auf und zeigt zur Tür. »HAB ICH
NICHT GESAGT, >LASS UNS ALLEIN<?«
Er ist weg wie nichts und ich muss Naomi noch
weiter ausfragen. »Und Ely hat gesagt, er hat Angst vor dir? Also,
ich meine, im Ernst?«
Jetzt, wo wir beide allein sind, fängt Naomi an zu
heulen. Sie stottert und schluckt. »Ely... so ein Verräter... wie
hat er einen Bruce küssen können?... Er war mein absolutes Ein und
Alles... Nein, Ely, nicht Bruce der Zweite!... Wen kümmert schon
dieser Bruce?... Jetzt bin ich ganz allein... Ich hab gewusst, dass
das irgendwann mal passieren würde... Wir konnten das alles gar
nicht überleben... die Geschichte mit unseren Eltern und meine
Lügen... und dass er so überhaupt gar nichts von mir will und dass
ich einfach alles von ihm will, aber dass ich... Ach Scheiße...
[schluchz schluchz schluchz]... ich liebe ihn, egal... Freund,
Bruder, alles an Ely... Wir haben uns früher auch schon gestritten,
aber diesmal ist es anders... Nein, es ist
so, Robin... das Vertrauen ist für immer zerbrochen... unser
heiliger Naomi & Ely-Pakt ist kaputt... [schluchz schnief
schluchz schnief]... Hast du kein richtiges Kleenex, dieses
No-Name-Teil kratzt total... Nein, ich lüge nicht... [echtes
Kleenex gefunden und Naomi gereicht, prust und schnäuz, schluchz
schluchz, prust und schnäuz]... Danke, Robin... du bist die beste
Freundin, die ich hab... mein einziger richtiger Freund... jetzt
wo... Naomi & Ely gibt es nicht mehr... das ist für immer
vorbei.«
Ich sollte Robin eine SMS schicken, dass Naomi
gerade bei mir ist. Er möchte einen Dokumentarfilm über sie drehen,
mit dem Titel »Hot Child in the City«, aber das Filmmaterial aus
ihrem wahren Leben wäre jetzt gerade viel zu traurig, sie würde
viel zu verletzlich rüberkommen. Das alles wäre gefährlich nahe an
einer Soap-Kitsch-Kiste. Deshalb mach ich es nicht, sondern setze
mich neben Naomi, soll sie sich ruhig an meiner Schulter ausweinen.
Schon gut, schon gut, City-Girl. Wie gut ihre Haare riechen.
Seltsam, ich meine, wir Velmas sollten dieses Problem eigentlich
nicht haben, aber mein Herz klopft etwas schneller, als Naomi sich
so an mich schmiegt. Ich habe überhaupt keine Lust darauf, eine von
diesen experimentierfreudigen College-Lesbenschwestern zu sein,
aber Naomi hat ganz einfach eine magnetische Wirkung auf Menschen.
Ich kann verstehen, warum Robin über sie einen Film drehen will und
nicht über mich. Faszinierend.
Zwillingsnamen können magische Kräfte entfalten -
der Umriss von Robin zeichnet sich in der Eingangstür der Lounge
ab, als hätte er, Robin, gespürt, dass ich, Robin, soeben an ihn
gedacht habe. Dass ich ihn fast herbeirufen wollte. Er trägt sein
blaues Hawaii-Hemd, bei dem ich das Gefühl habe, die aufgedruckten
Blumen riechen zu können. Der starke, schwüle Duft dieser Blüten
könnte eine Velma wie mich fast dazu bringen, in Daphne-mäßig
verzücktes Verhalten zu verfallen. Kindisch. Aloha.
»Ein Drink?«, fragt er.
Wie eigenartig. Mein Mund fühlt sich staubtrocken
an, aber Wasser würde jetzt nichts helfen, denn ich dürste nach
mehr. Es ist wahrscheinlich gut so, dass
ich kein Party-Girl bin und dass das einzige sprudelige Getränk,
das mein Magen verträgt, Ginger Ale ist. Bei mir zu Hause gibt es
eine Kneipe, das Lost Dog Café, wo sie das beste Ginger Ale auf der
Welt brauen, mit echtem frischem Ingwer. Man muss dafür bis nach
Binghampton fahren, aber es ist die Reise wert.
Robin lässt seine Blicke durch den Raum schweifen.
»Wo ist denn deine andere Hälfte?«, fragt er Naomi. »Gibt es da
nicht ein Gesetz, das besagt: Wenn Naomi nachts um die Häuser
zieht, dann ist Ely nicht weit?« Seine blauen Augen, im Widerschein
seines blauen Hemds leuchtend, strahlen noch blauer, als ihm eine
Idee kommt. »Hey, ich kenn ein paar Leute im zwölften Stock. Du
brauchst nur Ja sagen, dann hol ich für euch die Karaokemaschine
runter und ihr beide, Ely und du, könnt noch mal eure Nummer aus
dem Schulmusical geben.« Er zieht sein Handy heraus. »Ich kenn die
Leute gut und bin mit allem gerüstet, wenn du weißt, was ich meine,
um hier richtig abzufeiern.«
Sag Ja, Naomi, denke ich.
Bitte, sag Ja. Mit Robin wird es bestimmt eine
wilde, ausgelassene Party. Ein Fingerschnipp von dir
reicht.
»Auf keinen Fall«, sagt Naomi. »Mit einer
lahmarschigen Party in diesem Studentenwohnheim hat der ganze Ärger
angefangen.«
Mist.
Robin grunzt. »Keiner der Jungs auf dem Stockwerk
von Bruce hat jemals kapiert, warum ein Mädchen wie du auf der
Party damals am Ende mit einem Betriebswirtschaftsfuzzi wie ihm
rumgeknutscht hat.«
»Er studiert im Hauptfach Rechnungswesen«,
verbessert ihn Naomi.
»Prinzessin, du kennst deinen Freund noch nicht
mal. Bruce studiert im Hauptfach Volkswirtschaftslehre und nimmt
vielleicht Finanzen als Nebenfach. Er hat sich noch nicht
entschieden. Anthropologie würde ihn nämlich auch reizen.«
»Was du nicht sagst, Alter«, schießt Naomi zurück.
»Stell dir vor, mir ist das scheißegal, weil Bruce nämlich nicht
mehr mein Freund ist.«
»Wundert mich nicht.« Robin nickt wissend. »Du
spielst in einer ganz anderen Liga. Findet jeder. Aber ehrlich, ich
hoffe nicht, dass das bei ihm ernste Nachwirkungen hat, richtige
Depressionen und so, wenn du ihn jetzt abservierst, ich wollte
Bruce nämlich bitten, dass er mir bei meinen Prüfungsvorbereitungen
-«
»Halt deine verdammte Klappe, Robin«, sagt Naomi.
»Merkst du nicht, dass ich in meiner akuten Trauerphase bin? Wie
wär’s mit ’nem bisschen beschissenem Mitgefühl?«
Mein Gott, dafür liebe ich Naomi. Sie hat bei
Jungs ein so lockeres Mundwerk. Ich weiß nicht, wie sie das macht.
Als würde sie ein Sesam-öffne-dich kennen.
»Ich wusste, ich hätte meine Super-8-Kamera
mitbringen sollen«, murmelt Robin. »Naomi trauert um Bruce. Hätte
das Zeug zum Klassiker gehabt.«
»Trauert um Ely. ELY!« Der Augenblick, in dem
Naomi ausflippt, wird durch die Vibration ihres Handys beendet. Sie
wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, wirkt verlegen, dann klappt
sie das Handy auf. Sie schaut mich an. Stimmungshaushalt wieder
ausgeglichen. »Eine SMS. Von Gabriel, dem scharfen Nachtportier.«
Dieser Portier ist ein prächtiges Exemplar von einem Kerl, selbst
für eine Velma wie mich, die normalerweise kein Auge für solche
Besonderheiten hat. Womit ich die bei einem Mann selten
anzutreffende Gabe meine, jedem dieser Typen von Aerosmith ähnlich
zu sehen (nicht dem Schlagzeuger, den anderen beiden, die schlicht
und einfach Sex-Appeal verströmen, egal wie uralt sie inzwischen
sind). Ich könnte glatt zu einer Daphne werden wollen, wenn das
bedeuten würde, dass ich dann solche Kerle wie die beiden haben
könnte, oder diesen Gabriel, oder Robin. Ich wäre gern für jeden
von ihnen eine Daphne aus Albany. Echt
krass!
»Du schreibst dir mit deinem Nachtportier SMS?«, frage ich Naomi. Ich könnte
genauso gut auch gleich den Boden unter ihren Füßen küssen.
»Ja, aber erzähl es Ely nicht. Gabriel ist aktuell
die Nummer zwei auf der No Kiss ListTM.«
Hallo, Tränen, seid ihr wieder da?
»Meinst du, du schaffst es?«, frage ich Naomi und
umarme sie noch einmal.
Sie nickt in meinen Busen, genauer gesagt in
meinen praktischen Pulli, und kann nur mühsam ihr Schluchzen
unterdrücken. Dann blickt sie zu mir hoch, das Gesicht einer
Göttin, im roten Schein ihrer tränenverschmierten Wangen
aufleuchtend. »Gabriel hat Dienstschluss und geht jetzt in einen
Club an der Avenue B. Er spielt in einer Band, die sich The Abe
Froman Experience nennt. In einer Stunde sind sie mit ihrem Set
dran. Bessere Ablenkung als ’ne Wohnheimparty mit Karaoke.«
Als Velma fühle ich mich verpflichtet, Naomi zu
erinnern: »Wolltest du nicht erst etwas runterkommen?«
»Wruuummmmm«, antwortet Naomi. »Wollen wir dann
mal los, Robins?«
ICH WILL!
Wahnsinn.