Ely
ALLES GANZ EINFACH
Nach ein paar unwohlen und unangenehmen Tagen, in
denen Bruce und ich es vermeiden, uns zu begegnen, trommle ich eine
Notfallsitzung unserer Dairy-Queen-Truppe zusammen. Da Naomi und
Bruce unerreichbar sind, muss ich das Ersatz-Unterstützungskomitee
einberufen. Wenn man echte Probleme hat oder vor schwierigen
persönlichen Entscheidungen steht, ist nichts hilfreicher als der
gute Rat von ein paar schwulen Freunden, die draußen in der
tiefsten Provinz aufgewachsen sind. Verglichen mit dem ganzen Mist,
den sie zu bewältigen hatten, sind meine Probleme Peanuts. Und das
alles noch mit Stil zu bewältigen... also, davon könnten wir alle
eine Menge lernen.
Wir treffen uns nach unseren Kursen in der Uni.
Shaun (Footballspieler aus Nebraska) trägt sein übliches
Rugby-T-Shirt und Jeans; ich hab ihn eine Zeit lang verdächtigt,
den »harten Hetero-Kerl« zu spielen, bis ich gemerkt habe, dass er
nichts gespielt hat, sondern einfach nur er selbst war; und dass
vor anderen Homos den »harten Hetero-Kerl« zu geben nur eine blöde
Masche von schwulen Typen ist, die sich selber und die anderen
hassen. Art (aus Idaho) trägt ein XXS-T-Shirt mit der Aufschrift
»I AIN’T YOUR BITCH«. Neal (unser Junge,
der früher ein Mädchen war, aus Süd-Illinois) ist rattenscharf in
seinem total schrägen
Englischer-Schuljunge-mit-gestreifter-Krawatte-Outfit, und Ink (der
in Missouri eine so fürchterliche Zeit hinter sich hat, dass er
sich als erstes Tattoo »GET ME OUT OF HERE«
auf die Innenseite seines Unterarms hat stechen lassen) kommt in
seiner üblichen Mischung aus Karo und Schwarz. Es ist schon eine
Weile her, dass ich sie das letzte Mal ganz dringend gebraucht
habe, aber sie sind so höflich, das nicht zu erwähnen.
Als wir gemeinsam rausgehen, kommen wir an Naomis
Psychologie-Vorlesung vorbei. Ich hab ihren Stundenplan immer schon
vor meinem eigenen auswendig gewusst und das macht mich einen
Augenblick ganz wehmütig. Aber ich kann sie nicht fragen, ob sie
mitkommen will, nicht jetzt - ich kann mich mit den Katastrophen in
meinem Leben nur nacheinander befassen, eine nach der anderen, denn
wenn ich an alle auf einmal denken würde, dann würde ich in eine
bodenlose Tiefe stürzen.
Ich bin nicht der Einzige, der Probleme hat.
Während wir am Washington Square Park (zu viele Leute, die wir
kennen, zu viel menschliches Getöse) vorbeischlendern und Richtung
Hudson gehen, erzählt Ink, wie er versucht hat, seiner Mutter zum
Geburtstag zu gratulieren - und sie sich geweigert hat, ans Telefon
zu kommen, obwohl seine Schwestern versucht haben, sie zu
überreden. Danach berichtet Art von einer S/M-Nacht - »S/M auf die
üble Weise« - mit einem Kerl, den er im Internet kennengelernt
hatte und der sich bei ihrem ersten Real-Date dann als zwanzig Kilo
schwerer, sechs Jahre älter und fünf Äonen dümmer als in seinen
E-Mails herausgestellt hat. Und Neal erzählt, dass sein Ex wieder
angefangen hat, bei ihm anzurufen und ihm schlüpfrige Angebote zu
machen - und damit fast seine jüngste Beziehung ruiniert
hätte.
Shaun bleibt still und erzählt nichts von sich,
was möglicherweise mit meiner Anwesenheit zu tun hat. Denn ich war
zwar ganz am Anfang von der Uni eine Woche lang mit Ink zusammen
und hab auch einmal auf einer Party mit Neal rumgeknutscht, aber
Shaun hab ich erst auf meine No Kiss List gesetzt, als es dafür
beinahe zu spät war. Ich hab ihn hemmungslos angebaggert und das
hat fast alles kaputt gemacht.
Wir gehen weiter, bis wir am Rockefeller Park
sind, direkt am Fluss. Sobald wir uns hingesetzt haben, fragt mich
Neal, was los ist und ob ich inzwischen was von Bruce gehört
hätte.
Es ist eine einfache Frage und meine Antwort
dauert ungefähr zwanzig Minuten. Ich beginne mit der Nacht, in der
Bruce verschwunden ist, denn Neal und Art haben zwar alles
mitgekriegt, weil sie dabei waren, aber Shaun und Ink nicht. Ich
erzähle, wie verwirrt ich an dem Abend war und wie verwirrt ich
immer noch bin, wenn nicht noch mehr. Ich gebe zu: Ich hätte früher
merken müssen, dass Bruce weg war. Zuerst hatte ich nur gedacht,
dass da wohl eine richtig lange Schlange vor dem Klo sein musste,
denn das ist fast immer so. Dann dachte ich, er hat wahrscheinlich
irgendwelche Freunde getroffen, mit denen er sich unterhält oder
sonst was. Und erst als er schon ungefähr eine Stunde weg war, hab
ich begriffen, hey, es ist jetzt schon eine Stunde vergangen. Ich
gestehe, dass ich sogar gedacht habe, Mist,
jetzt krieg ich bestimmt Ärger, weil ich ihn eine Stunde lang
allein gelassen habe. Es wäre mir nie eingefallen, dass er
gegangen sein könnte, ohne mir was zu sagen. Ich hab überall nach
ihm gesucht und sogar Neal und Art losgeschickt, nach ihm zu
gucken. Ich hab die Leute in der Schlange vor dem Klo gefragt, ob
sie vielleicht jemand gesehen hätten, auf den die Beschreibung von
Bruce passte, aber sie haben mir erklärt, dass im Augenblick nur
eine als Jewel verkleidete Drag Queen im Klo wäre - und zwar
allein. Irgendwann bin ich dann gegen den Missy-Elliott-Türsteher
gerumpelt, der mir klargemacht hat, dass mein Vögelchen ausgeflogen
war. Ich hab mein Handy gecheckt, ob ich eine SMS bekommen hatte,
und meine Mailbox abgehört: nichts. Ich hab sogar Neal gesagt, dass
er mir eine SMS schreiben, und Art, dass er mich anrufen soll, um
mich zu vergewissern, dass mein Handy noch richtig funktionierte.
Ich hab versucht, Bruce anzurufen. Kein Erfolg. Ich hab ihm eine
SMS geschickt: Wo bist du? Alles okay bei
dir?
Zehn Minuten später kam von ihm endlich eine
Antwort:
Ich bin gesund und
wohlbehalten. Einen schönen Abend noch.
Das war alles. Keine Entschuldigung. Keine
Erklärung.
Das sah ihm so überhaupt nicht ähnlich. Das sah
eher mir ähnlich. Sich so wenig zu kümmern.
Ich hab ihm noch eine SMS geschrieben und gefragt,
was los ist. Neal, Art und ich sind dann aus dem Club raus und in
ein Diner zu einer unserer Drei-Uhr-morgens-Pancake-Sessions. Es
war ein ganzer Schwarm schwuler Jungs da und wir haben uns Stühle
geholt und uns zu ihnen gesetzt. Ich hätte mich wie ein Fisch im
Wasser fühlen müssen: all das flirtende Geplänkel, die spitzen
Witzeleien, die hungrige Jagd nach Liebe... das war ein Spiel nach
meinem Geschmack. Ich war ein Meister darin. Doch diesmal spielte
ich nicht mit. Ich hab immer wieder auf mein Handy geguckt, ob
vielleicht eine Antwort von ihm da war. Bei anderen Jungs hätte ich
einfach zurückgerufen und ihnen was auf die Mailbox gesprochen.
Eine Fuck-you-Botschaft. Aber Bruce ist nicht wie andere Jungs. Er
ist Bruce.
Das ist jetzt vier Tage her, und wir hatten
seither nur zwei kurze Gespräche miteinander, zwischen Tür und
Angel, beide total unbefriedigend. Ich erzähle der
Dairy-Queen-Truppe, dass er gesagt hat, er müsse erst mal herausfinden, was er wirklich will. Er hat
sich tausendmal entschuldigt, dass er gegangen ist, aber ich habe
keinen Versuch von ihm bemerken können, zurückzukommen.
»Das hört sich nicht gut an«, sagt Neal
kopfschüttelnd. »Klingt nach Alarmstufe orange, kurz bevor man mit
jemand Schluss macht.«
»Und Orange ist eine so schwierige Farbe«, fügt Art hinzu.
Ich spüre die Anwesenheit von Shaun überdeutlich.
Er erinnert mich an alles, was ich bisher immer falsch gemacht
habe. Es war immer dasselbe Muster, wie das Karo auf einer
Wolldecke: Ich hab mich auf jemand gestürzt und ihn dann fallen
lassen. Shaun war anders als fast alle anderen, weil er mir
klargemacht hat, wie ich mich eigentlich dauernd verhalte, er hat
gebrüllt und geschrien und erklärt, ich würde es bestimmt noch zu
einem Superabschluss an der NYU bringen, im Extrafach Fuck & Run. Denn das war ich: ein Fuck-&-Run-Boy. Shaun hatte oft genug
mitgekriegt, wie ich das mit anderen Jungs veranstaltet hatte,
deshalb kam er sich umso bescheuerter vor, als ich es mit ihm
genauso gemacht habe... und ich hab mich dabei noch schlechter
gefühlt. Weil ich es ja hätte wissen müssen. Aber die Härte daran
war, dass ich anfangs immer fest daran geglaubt habe - ich hab nie
F gewollt und schon gewusst, dass ich irgendwann R machen würde.
Ich wollte es nicht. Aber das haben die Jungs am Ende - wenn es
dann zum Ende kam - nie geglaubt. Nur Naomi hat mir das geglaubt.
Nach der Sache mit Shaun bin ich heulend zu ihr gekommen. »Es tut
weh, wenn man jemand wehtun muss, obwohl man das gar nicht will.
Ist doch so, oder?«, hat sie mich gefragt. Und ich hab Ja gesagt.
Es tut wirklich richtig weh. Wenn es sich nur um irgendeine
zufällige Geschichte handelt, wenn das sehr schnell klar ist, dann
macht das nichts. Aber wenn man es wirklich will, wenn man wirklich
glaubt, dass daraus etwas werden könnte - dann ist es das F nicht
wert, wenn darauf wieder nur R folgt.
Mit Bruce sollte alles anders werden. Mit Bruce
wollte ich vorsichtiger sein. Ich habe versucht, das Muster
auszutricksen. Ich dachte, wenn wir nicht in das F-Stadium kämen,
dann würde auch das R-Stadium nicht folgen. Ich wollte den Prozess
verlangsamen - was mir wirklich überhaupt nicht
leichtfällt. Und ich habe herausgefunden, dass das Verlangsamen
der Sex-Sache zu einer Beschleunigung der Herz-Sache führt. Es kam
mir so vor, als wollte ich mit mir selbst einen Test machen, und
zwar aus einem guten Grund: Ich mochte Bruce. Ich mag ihn immer
noch. Sehr sogar. Die sexuelle Anziehung war natürlich da - ich
mach mir da nichts vor, ich würde mich nie in jemand verlieben
können, der richtig hässlich ist -, aber ich habe versucht, mich
auf alles andere zu konzentrieren. Auf seine Unbeholfenheit. Sein
scheues Lächeln. Seine Gutmütigkeit. Seine Ernsthaftigkeit. Und ich hab mir plötzlich
gewünscht, auch wegen solcher Eigenschaften anziehend gefunden zu
werden.
Es gab kein F, ich musste nicht R machen. Alles
lief prima.
Und dann ist er weggerannt.
Ich kann das nicht alles der DQ-Truppe erzählen,
nicht wenn Shaun dabei ist, weil ich weiß, dass wir immer noch in
einem Stadium sind, wo er sich selbst gemeint fühlt, wenn ich
irgendwas über meine Freunde sage. Deshalb rede ich nicht über die
Zeit vor Bruce und darüber, wie ich früher war.
Stattdessen sage ich: »Ich hab’s versucht. Ich
hab’s wirklich versucht. Und es ist so frustrierend, wenn das alles
zu nichts führt.«
»Du hast’s versucht«, sagt Neal, um mich zu
trösten.
»Das hast du«, sagt Art.
Shaun fügt hinzu: »Und verdammt noch mal, hör
jetzt nicht gleich wieder auf, es zu versuchen.«
Aus seiner Stimme klingt Wut heraus, und ich
denke: Ja, das hab ich verdient - ich hab’s
wirklich verdient. Aber ich spüre, dass er zwar immer noch
wütend darüber ist, was ich ihm angetan habe, doch noch viel mehr
nervt es ihn, dass ich mich feige vor den Härten des Lebens drücken
will.
Es ist, als hätte ich Naomi vor mir, als würde sie
mir ins Gewissen reden.
»Weißt du was?«, sagen Naomi und Shaun. »Du gibst
zu schnell auf. Du lässt dich treiben und tust dir selber
schrecklich leid, und wenn du dir selber schrecklich leidtust, dann
dreht sich alles wieder mal nur um dich. Aber es dreht sich nicht
alles um dich. So funktioniert das nicht mit der Liebe.«
Neal wirft mir einen einfühlsamen Blick zu. »Hast
du geglaubt, es würde so einfach sein?«, fragt er. »Hast du
wirklich geglaubt, du könntest so fabelhaft und großartig und
vollkommen sein, dass es ganz leicht wäre? Es ist nie leicht. Für
niemanden. Hast du das nicht gewusst?«
Ich weiß nicht, warum mich das so getroffen hat.
Doch, ich weiß es. Weil, ja, weil ein Teil von mir tatsächlich
geglaubt hat, es könnte alles ganz einfach sein. Etwas so Kostbares
könnte einem einfach geschenkt werden. Weil man ein hübscher Junge
ist. Und sexy. Und weil man sein Bestes gibt. Aber jetzt weiß ich,
das kann es manchmal leichter machen, aber ganz einfach wird es
nie. Ich hab immer geglaubt, wenn ich den Richtigen treffe, dann
ist alles ganz leicht. Er wäre mein und ich wäre sein - für immer
und alle Zeiten. Wie mit Naomi. Ich gehöre zu ihr und sie gehört zu
mir - und so bleibt es für immer und alle Zeiten. Die perfekte
Freundschaft. Das Ideal. Welche Spannungen und Streitigkeiten
sollte es denn zwischen einem Hetero-Girl und einem Homo-Boy geben?
Keine. Alles ganz einfach.
Nein. Nein nein nein nein. Es ist nicht einfach.
Dinge, die einem wichtig sind, sind nie einfach. Glücksgefühle sind
einfach. Das Glück nicht. Flirten ist einfach. Die Liebe nicht.
Lass uns Freunde sein!, zu sagen ist einfach. Ein wirklich guter
Freund zu sein nicht.
»Ely?«, fragt Neal. Ich hab auf seine Frage noch
nicht geantwortet. Ich habe angefangen zu lachen. Über mich selbst.
Weil ich so dumm war. Weil ich’s nicht kapiert habe.
»Entschuldigung«, sage ich, weil ich nicht will,
dass die DQ-Truppe denkt, ich würde über sie lachen. »Es ist nur...
Ich hab wirklich gedacht, es könnte einfach sein. Weil ich es
bin.«
Neal beugt sich vor und umarmt mich mitfühlend.
Ink grinst mich an. Shaun wirft mir einen Blick zu, der sagen will:
Mann, wie kann man nur so dumm sein! Art
klopft mir kurz auf den Oberschenkel, als hätte ich gerade einen
neuen Trick gelernt.
Ich hab’s jetzt kapiert. Ich schwör euch, ich
hab’s begriffen. Und es kommt mir so vor, als hätte ich genau das
begreifen müssen, damit auch alle anderen Dinge in meinem Leben
einen Sinn ergeben.
Schon komisch, wie einfach plötzlich alles ist,
sobald man erkannt hat, dass nichts einfach ist.
»Entschuldigung«, sage ich.
»Entschuldigung.«
Ich sage es zu ihnen allen. Vor allem aber sage
ich es zu Shaun. Zu Bruce. Zu Naomi. Nicht weil ich glaube, dass alles mein Fehler war - ich weiß, dass alles mein Fehler war. Entschuldigung zu sagen ist wahrscheinlich nur eine
andere Art zu versprechen: Ich will es in
Zukunft anders machen. Auch wenn es mir schwerfällt. Auch wenn
es wehtut. Ich muss aufhören, mich hinter mir selbst zu verstecken.
Ich muss aufhören, mich hinter den Erwartungen von anderen und von
mir selbst zu verstecken. Ich muss es versuchen.
Das alles sage ich der Dairy-Queen-Truppe. Ich
sage ihnen, dass ich mir nun überlegen muss, wo ich anfangen
soll.
Und dann frage ich: »Hat jemand einen
Vorschlag?«