Kapitel Dreiunddreißig
Welches ist der Maid Geschick,
Wer führt sie als Braut zurück?
Sir Walter Scott,
Das Lied des letzten Minstrels
»Es gibt drei verschiedene Anschauungen darüber«, begann Morse, »wie das menschliche Geschick sich gestaltet. Die eine besagt, daß alles, was geschieht – zum Beispiel, ob Sie an einem bestimmten Tag einer bestimmten Person begegnen –, aus purem Zufall geschieht; wir Menschen seien Atomen vergleichbar, die durch den Raum fallen, aufeinanderprallen, sich wechselseitig abstoßen, um wenig später erneut mit wieder anderen Atomen zu kollidieren. Ein großer Tanz mit Zufallspartnern! Daß Sie und ich heute abend hier zusammensitzen, ist dieser Anschauung zufolge allein dem höchst labilen Zusammenspiel glücklicher Umstände zu verdanken. Dann gibt es eine zweite Anschauung, die davon ausgeht, daß wir selbst es sind, die durch unsere Entscheidungen und Handlungen unser Leben bestimmen – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Früher oder später würden unsere Verfehlungen uns einholen, und wir hätten die Konsequenzen zu tragen. (Und die sogenannten guten Taten hatten keine Auswirkungen? – dachte er flüchtig.) Vielleicht wird diese Anschauung für Sie plastischer, wenn Sie sich ein Spiel Bowls vorstellen. Die Kugel, die da auf dem Rasen rollt, ist einseitig beschwert und hat deshalb notwendigerweise einen gewissen Drall in eine bestimmte Richtung. Und dann gibt es noch eine dritte Anschauung, die annimmt, daß es völlig gleichgültig sei, was wir täten, da ohnehin von Anfang an schon alles feststehe, von oben bestimmt sei – der genaue Ausdruck ist vorherbestimmt. Auf eine kurze Formel gebracht, lautet diese Anschauung: Was kommen soll, das kommt. Oder: Wenn du dran bist, bist du dran. Und was da wirkt, das ist das Schicksal. Angeblich.«
»Und was denken Sie, Sir?«
»Also, dieses Raunen von Schicksal halte ich für kompletten Blödsinn. Meine eigene Meinung zu diesen Dingen liegt etwa in der Mitte zwischen der ersten und der zweiten Anschauung. Aber was ich meine und denke, ist im Moment völlig uninteressant. Ich habe Ihnen das alles erzählt, Lewis, weil es wichtig ist, um den Selbstmord von Anne Scott zu verstehen. Das ist nicht etwa nur eine Annahme von mir – sie selbst hat damals an dem Abend mir gegenüber von Schicksal gesprochen, und es war klar, daß es ihr damit sehr ernst war. Erinnern Sie sich nur mal an die vielen Bücher in ihrem Arbeitszimmer, ich denke vor allem an die Reihen von Penguin-Klassikern. Mir ist aufgefallen, daß sie die griechischen Tragiker anscheinend besonders oft in die Hand genommen hat; der Euripides und der Äschylos sahen ganz zerlesen aus. Aber wenn man von griechischen Tragödien spricht, dann darf man Sophokles nicht unerwähnt lassen, und er hat ein Stück geschrieben, das für Anne Scott offenbar besondere, ganz persönliche Bedeutung bekam. Sein Werk war vermutlich das letzte, was Anne Scott vor ihrem Tod gelesen hat – das Buch stand nicht im Regal, sondern lag aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch.«
»Ich glaube, ich weiß nicht so ganz, worauf Sie hinauswollen, Sir.«
»Also schön, dann hören Sie mal zu, ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen. Es war einmal ein schöner junger Prinz, der kam in eine Stadt. Und als die Königin von seiner Ankunft erfuhr, da lud sie ihn zu sich in den Palast. Bald war er dort ein gerngesehener Gast. Die Königin war schön und sehr einsam – ihr Mann war erst vor kurzer Zeit während der Fahrt zu einer benachbarten Stadt auf der Straße umgekommen. Die beiden verliebten sich ineinander und beschlossen zu heiraten. Sie bekamen Kinder und führten ein glückliches Leben – doch dann holte sie das Schicksal ein. Sie wissen natürlich, wie es weiterging?«
Lewis schüttelte etwas traurig den Kopf und dachte daran, was ihm doch alles entgangen sei. »Nein, Sir, keine Ahnung. Von griechischen Tragödien haben sie mir in der Schule nichts erzählt.«
Morse schalt sich im stillen wegen seiner Gedankenlosigkeit; er hätte doch wissen müssen, daß Lewis bei seiner Schulbildung nicht mit antiker Dichtung in Berührung gekommen war. Er lächelte seinem Sergeant zu. Mochte er auch keine klassische Bildung besitzen, ein anständiger, ein liebenswerter Mann war er allemal.
»Dann hören Sie mal weiter zu, Lewis«, sagte er. »Ich werde es Ihnen erzählen. Der Prinz hatte viel Zeit, und eines Tages beschloß er herauszufinden, auf welche Weise der erste Mann der Königin den Tod gefunden hatte. In jahrelanger Suche machte er Augenzeugen ausfindig und erfuhr so, daß der nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen, sondern ermordet worden war. Und nun wollte er erst recht wissen, was genau damals geschehen war. Schließlich hatte er auch Erfolg und entdeckte, daß er selbst (Morse deutete in einer dramatischen Geste mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf seine eigene Brust), daß er selbst der Mörder war. Aber das war noch nicht alles. Er entdeckte außerdem, daß der Mann, den er ermordet hatte, sein eigener Vater gewesen war. Und auf einmal ging ihm die ungeheuerliche Wahrheit auf: nicht nur, daß er seinen Vater getötet hatte; die Frau, die er geheiratet hatte, war seine eigene Mutter. Und er hatte mit ihr das Bett geteilt und Kinder gezeugt! Als das alles ans Tageslicht kam, da ging die Königin hin und erhängte sich, und der Prinz, als er dies hörte, blendete sich. Und der Name des Prinzen war Ödipus, und die Geschichte ist der Ödipus-Mythos.«
Lewis fühlte sich merkwürdig bewegt. Von der Geschichte selbst, aber auch von der Art, wie Morse sie erzählt hatte. Wie schade, daß man ihm solche Dinge während seiner Schulzeit vorenthalten hatte. Wenn man ihn damals an die griechischen Tragödiendichter herangeführt hätte, könnte er genauso selbstverständlich über sie reden wie eben Morse. Und dann wäre ihm vielleicht auch aufgefallen, welche Ähnlichkeit da bestand zwischen dem Ende der Königin und dem Tod, den Anne Scott sich gegeben hatte … Obwohl ihm nicht so ganz klar war, wieso das nun wichtig sein sollte. Aber Morse ließ ihm keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Sie können sich vielleicht vorstellen, Lewis, wie im Laufe der Jahre dieser Mythos, den sie sehr genau kannte, eine immer größere Rolle in ihrem Leben zu spielen begann. Bei ihrer Eheschließung war sie jung und sehr hübsch gewesen – genau wie Iokaste, als sie die Frau des Königs Laios wurde. Kurz nach ihrer Heirat bekam Anne Scott einen Sohn. Und genau wie Iokaste sich von ihrem Sohn trennte, weil das Delphische Orakel ihr geweissagt hatte, daß er, wenn er herangewachsen wäre, seinen Vater töten würde, so mußte auch Anne Scott auf ihren Sohn verzichten, weil sie und ihr Mann nicht genügend Geld hatten, um ihn so aufwachsen zu lassen, daß er gute Chancen im Leben haben würde. Iokaste und Laios setzten ihren Sohn auf einem Berg aus; Anne Scott und ihr Mann gaben das Kind sofort nach der Geburt einer privaten Gesellschaft, die Adoptionen vermittelt. Ich kenne die Vorschriften und Regeln nicht, nach denen solche Gesellschaften arbeiten, aber ich bin sicher, daß sowohl die leiblichen Eltern als auch die späteren Adoptiveltern eine Klausel unterschreiben müssen, die es ihnen untersagt nachzuforschen, wohin das Kind kommt beziehungsweise woher es stammt. Und nun überlegen Sie mal einen Moment lang, Lewis, und dann beantworten Sie mir die folgende Frage: An was, glauben Sie, wird sich eine Mutter, wenn sie an ihr Kind denkt, immer erinnern, selbst in dem Fall, daß sie sich gleich nach der Geburt von ihm getrennt hat – an sein Gesicht, sein Aussehen überhaupt? Wohl kaum. Nach ein paar Wochen verschwimmen auch die deutlichsten Bilder, und das Kind wächst ja auch heran, verändert sich … Was also ist es, Lewis, das eine Mutter niemals vergißt? Sie haben noch Zeit, um nachzudenken, ich komme darauf zurück. Mein Freund Bell, Superintendent Bell, hatte ganz recht mit seiner Vermutung, daß an dem Abend des 2. beziehungsweise in den frühen Nachtstunden des 3. irgend etwas geschehen sein mußte, was Anne Scott zu ihrem Selbstmord, über den sie sicher schon lange vorher nachgedacht hatte, den letzten Anstoß gab.
Wir wissen, daß sie diesen Abend im Bridgeclub verbrachte, es liegt also nahe anzunehmen, daß es irgendeine Äußerung eines der Gäste war, vielleicht auch ein bestimmtes Thema, über das geredet wurde, welches die Krise, in der sie sich schon seit einiger Zeit befand, bis zur Unerträglichkeit zuspitzte. Nun haben wir ja durch unsere Ermittlungen eine ganze Menge darüber erfahren, wie der Abend verlief. Der 2. Oktober war der erste Jahrestag der Clubgründung, und so wurde gegen elf Uhr eine Pause eingelegt und Sherry gereicht, um auf das Jubiläum anzustoßen. So ein Glas Sherry, noch dazu, wenn der Abend schon etwas fortgeschritten ist, löst die Zunge, die Leute werden gesprächig, fangen vielleicht sogar an, ein bißchen zu tratschen. Von Miss Edgeley weiß ich, daß sich die Gespräche an diesem Abend unter anderem um Kinder drehten, Flüchtlingskinder aus Kambodscha und Vietnam. Wie ich die braven, biederen Hausfrauen aus Nord-Oxford kenne, werden sie wohl kaum über politische oder wirtschaftliche Aspekte des Flüchtlingselends geredet haben. Was sie berührt hat, war sicherlich das Schicksal dieser kleinen Würmer und die Frage, was man für sie tun könne – ob zum Beispiel die Möglichkeit bestehe, sie zu adoptieren. Mit anderen Worten, Lewis: Ich glaube, daß eines der Themen an diesem Abend Adoption war. Bei Bell hat sich, bevor er den Fall abgab, wie wir wissen, ein älterer Herr gemeldet, dieser Mr Parkes, dem plötzlich eingefallen war, daß sie sich an dem Abend auch über Geburtstage unterhalten hätten. Das lag ja auch irgendwie nahe: der erste Jahrestag der Gründung ist doch auch ein Geburtstag, wenn man so will. Nun habe ich Sie vorhin gefragt, Lewis, an was sich eine Mutter wohl ihr Leben lang erinnern wird. Die Antwort muß natürlich lauten: an das Datum, an dem ihr Kind geboren wurde. Und jetzt lasse ich mal ein bißchen meiner Phantasie freien Lauf. Ich könnte mir vorstellen, daß – nicht zuletzt dank des Sherrys – einer der Gäste, der Mrs Murdoch vielleicht näher kannte, etwas indiskret wird und den Umstehenden, darunter Anne Scott (unter dem Siegel der Verschwiegenheit, versteht sich), erzählte, daß ja auch der ältere der beiden Murdoch-Jungen, Michael, ein Adoptivkind sei. Und wenig später – man geht herum, stellt sich mal zu dieser, mal zu jener Gruppe – hört Anne Scott, wie Mrs Murdoch beiläufig erwähnt, daß Michael heute seinen neunzehnten Geburtstag feiere. (Sie erinnern sich, das zweite Thema dieses Abends waren Geburtstage.) Was für eine schicksalhafte Verkettung von Zufällen!«
»Ich dachte, Sie glauben nicht an Schicksal.«
Morse überhörte den Einwand und fuhr fort, an seinem modernen Ödipus-Mythos zu weben: »Laios, Iokastes Mann, wurde auf der Straße von Theben nach Korinth getötet, und auch John Westerby starb auf der Straße – durch einen Verkehrsunfall. Ich bin sicher, daß Anne Scott, obwohl sie seit vielen Jahren von ihm getrennt lebte und keine Verbindung mehr zu ihm hatte, von seinem Tod und dessen näheren Umständen erfahren hat. Schließlich war sie mit Mrs Murdoch und natürlich auch mit Michael schon mehrere Monate bekannt, als der Unfall passierte – er liegt ja erst etwas über ein Jahr zurück –, und die Murdochs haben bestimmt mit ihr darüber gesprochen. Für sich genommen, war er ja auch nichts, was die Beziehungen zwischen ihr und den Murdochs, insbesondere Michael, hätte belasten müssen; es war einer jener Unfälle, bei denen es schwierig ist festzustellen, welcher der Beteiligten die größere Schuld hat. Es war eben John Westerbys Pech, daß Michael Murdoch Anfänger war. Jemand mit mehr Erfahrung hätte vielleicht schneller oder geschickter reagiert. Aber Unerfahrenheit ist niemandem als Schuld anzulasten. Erst im nachhinein, im Zusammenhang mit neuen Informationen, wird Anne Scott den Unfall mit anderen Augen gesehen haben. Doch damit greife ich vor. Zunächst einmal lernten Anne Scott und Michael Murdoch sich besser kennen. Michael stand kurz vor dem Abitur und hatte auf Wunsch seiner Mutter angefangen, bei Anne Nachhilfe zu nehmen. So saßen sie nun regelmäßig einmal in der Woche nachmittags nebeneinander in ihrem kleinen Arbeitszimmer. Sie muß für ihn der Inbegriff der reifen, erotischen Frau gewesen sein. Er für sie, die in ihrem Leben nur einen einzigen Mann wirklich geliebt hat – einen verheirateten Mann, dem seine Ehe letzten Endes doch wichtiger war als die Liebe zu ihr –, eine Bestätigung, daß sie noch attraktiv war, vielleicht gefiel ihr auch sein jugendlich-athletischer Körper. Die beiden fühlten sich also zueinander hingezogen. Ich nehme an, daß sie ihn ein bißchen ermunterte; von sich aus dürfte er zu schüchtern gewesen sein für irgendwelche Annäherungsversuche. Na, und von ihrem Arbeitszimmer zum Schlafzimmer sind es ja nur ein paar Schritte … Eine Zeitlang genossen sie so ihre heimliche Beziehung. Doch dann kam das böse Erwachen. Ihre Periode setzt aus, sie ist unruhig, wartet aber zunächst einmal ab. Sechs Wochen, sieben Wochen, schließlich acht Wochen. Sie entschließt sich, einen Test machen zu lassen, und geht in die Schwangerensprechstunde der Poliklinik, wo man ihr eine Urinprobe abnimmt, um sie an die Jericho Testing Laboratories zu schicken. Aber sie weiß im Grunde schon vorher – genau wie auch Ihre Frau es gewußt hat, Lewis –, daß sie tatsächlich schwanger ist. Allein, finanziell nicht abgesichert, macht die Tatsache, ein Kind zu bekommen, ihr Angst. So schreibt sie an Charles Richards, bittet ihn, sich mit ihr zu treffen, denn sie brauche Beistand, bittet ihn vielleicht auch um Geld, damit sie eine Abtreibung vornehmen lassen kann. Aber wie wir wissen, erreicht der Brief seinen Empfänger nicht. Durch einen unglücklichen Zufall (Anne Scott hätte das bestimmt anders gesehen) gelangt der Brief in die Hände von Celia Richards – und das ist, denke ich, der Punkt, an dem alles spätere Verhängnis seinen Ursprung hat. Die Tage vergehen, und Charles läßt nichts von sich hören; Anne Scott muß sich völlig verlassen gefühlt haben. Michael Murdoch war niemand, dem sie sich mit ihren Sorgen hätte anvertrauen wollen, dazu war er viel zu jung und zu unreif. Außerdem war er inzwischen mit der Schule fertig; die wöchentlichen Nachhilfestunden, die zum Schluß nur noch Vorwand gewesen waren, um ein paar schöne Stunden miteinander im Bett zu haben, fielen fort, und sie werden sich wahrscheinlich nur noch sehr unregelmäßig und selten gesehen haben aus Angst, sonst aufzufallen. Ich nehme an, daß Anne, als die Zeit verstrich, ohne daß sie von Charles hörte, immer deprimierter wurde und in dieser Stimmung vielleicht eine Bilanz ihres Lebens zog, die gänzlich negativ ausfiel: Zuerst die überstürzte Heirat mit John Westerby, dann ihre langjährige, intensive Liebesbeziehung zu Charles Richards, bei der jedoch ziemlich bald klar war, daß sie sich nie aus der Heimlichkeit emanzipieren, nie legalisiert werden würde, nach dem Scheitern ihrer Beziehung zu Richards dann vermutlich ein paar andere Männer; vielleicht, daß man schön miteinander schlief, aber keiner dabei, den sie hätte lieben können. Und schließlich der junge Murdoch …«
Morse verstummte und betrachtete mit nachdenklichem Blick die Leute um sich her, wie sie da vor ihrem Bier saßen, über alltägliche Belanglosigkeiten schwatzten – oberflächlicher vielleicht als Anne Scott, mit weniger Ansprüchen an das Leben, aber möglicherweise auch weniger gefährdet, als sie es gewesen war. Lewis merkte, daß der Chef eine Anwandlung von Melancholie hatte, stand auf, nahm, ohne ein Wort zu sagen, die beiden Gläser und ging, um zwei frische Biere zu holen.
»Man kann also wohl sagen«, fuhr Morse fort, als Lewis wieder zurück war, »daß Anne Scott zu denen gehört hat, die mit dem Leben nicht zurechtkommen. Allmählich wächst in ihr ein Gefühl von Aussichtslosigkeit, sie beginnt sich zu sagen, daß sie ihre Chance verpaßt hat, daß es mit ihr langsam bergab geht. Ihre Aussichten, noch einen Mann zu finden, mit dem sie eine Familie gründen kann, sind gering. Die Männer, die vom Alter her für sie in Frage kämen, sind entweder längst verheiratet – wie Sie, Lewis – oder aber unverbesserliche Hagestolze wie ich, eigenbrötlerisch und zur Ehe nicht geeignet. Daß einige ihrer Schüler sie angehimmelt, sich vielleicht in sie verliebt haben, nun ja, das mag ganz schmeichelhaft gewesen sein, aber das ist doch nichts, wodurch sie sich wirklich hätte bestätigt fühlen können. Um sich mit so etwas zu trösten, war sie viel zu klug. Hinzu kommt, daß auch ihre materielle Situation alles andere als rosig ist. Sie hat kein festes Einkommen, lebt von dem Geld, das sie für ihre Nachhilfestunden erhält. Ich kann mir vorstellen, daß sie von Natur aus eine gewisse pessimistische Grundeinstellung gehabt hat. So nimmt sie, als sie von Charles Richards nichts hört, an, daß sie ihm gleichgültig und nicht einmal eine kurze Nachricht wert sei. Aber wie ich sie damals kennengelernt habe, glaube ich eigentlich, daß sie eine zähe Person war, die sich nicht so leicht unterkriegen ließ, die vermutlich trotz aller Probleme doch noch wieder die Kurve gekriegt hätte – wenn ihr da nicht auf dem Bridgeabend eine furchtbare Wahrheit aufgegangen wäre, mit der zu leben ihre Kraft überstieg.
Was ihr an dem Abend klar wird, ist nichts weniger als die schockierende Tatsache, daß Michael Murdoch ihr Sohn ist. Und damit natürlich auch der Sohn John Westerbys, der wie Laios auf der Straße umgekommen ist. Und wie Laios in Ödipus, der ihn umbrachte, nicht seinen Sohn erkannte, so wußte auch John Westerby nicht, daß der Fahrer des entgegenkommenden Wagens sein Sohn war. Anne Scott aber muß es in diesem Moment vorkommen, als sei ihr vom Schicksal, ohne daß sie es auch nur geahnt hätte, die Rolle der Iokaste zugeteilt worden. Sie beschließt die einzige Wahl zu treffen, die ihr noch bleibt: sich ihrem Schicksal nicht zu widersetzen, sondern es anzunehmen. Sie wählt den Tod, den auch Königin Iokaste gewählt hat – sie erhängt sich. Doch selbst nach ihrem Tod noch waltet das Verhängnis: Michael Murdoch, der mit einer Drogenvergiftung im Krankenhaus liegt, versucht, sich die Augen auszustechen – wie Ödipus. All das Schreckliche, Lewis, was John Westerby, Anne Scott und Michael Murdoch widerfuhr, ist nichts anderes als eine grausige getreue Neuinszenierung des Mythos, wie wir ihn bei Sophokles beschrieben finden. Ich denke, wenn Anne Scott diesen Mythos nicht gekannt hätte, wäre ihr ihre Lage vielleicht nicht ganz so unausweichlich erschienen. Deshalb nannte ich Ihnen vorhin den Namen Sophokles als den des Schuldigen an ihrem Tod.«
Die beiden Männer saßen eine Weile stumm, noch ganz unter dem Eindruck der schrecklichen Geschichte, die Morse erzählt hatte. Doch nicht lange, so bemerkte dieser, daß ihre Gläser leer waren, zog seine Brieftasche heraus und gab Lewis eine Fünfpfundnote.
»Jetzt bin ich wohl mal dran mit Bezahlen.«
Das war aus Morses Mund ein unerhörter Satz, und nicht genug damit, winkte er, als Lewis mit den Bieren zurückkam und ihm das restliche Geld wiedergeben wollte, lächelnd ab und bestand darauf, daß er es behielte.
»Sie sind in letzter Zeit viel zu großzügig gewesen mit Ihren Runden, Lewis. Ein Übermaß an Großzügigkeit ist genauso ein Fehler wie Kleinlichkeit. Das behauptet jedenfalls Aristoteles.«
Lewis wurde allmählich ganz schwindelig von den vielen illustren Namen. Sophokles, Aristoteles … Doch er ließ sich nicht aus dem Konzept bringen und stellte trotzdem die Frage, die ihn die ganze Zeit über beschäftigt hatte.
»Und Sie wollen wirklich behaupten, Sir, Sie glaubten nicht an Schicksal?«
»Natürlich nicht! Wofür halten Sie mich?!« antwortete Morse gereizt.
»Aber was Sie da eben erzählt haben, das waren doch nicht alles nur Zufälle …«
»Wieso sprechen Sie denn gleich in der Mehrzahl? Bei der ganzen Sache gab es doch nur einen einzigen Zufall: daß der Sohn, den sie als Baby weggegeben hatte, fast zwanzig Jahre später zu ihr kommt, um Nachhilfeunterricht bei ihr zu nehmen. Und das ist im Grunde auch nicht einmal so besonders unwahrscheinlich; sie hat eine ganze Reihe von Nachhilfeschülern gehabt, und dermaßen groß ist Oxford ja nun auch wieder nicht.«
»Und der Unfall?«
»Der Unfall? Du meine Güte, jedes Jahr gibt es zigtausend Unfälle, Hunderte jeden Monat allein in Oxfordshire …«
»Jetzt übertreiben Sie aber.«
»Nein, keineswegs. Und im übrigen – Anne Scotts Tod ist jedenfalls kein merkwürdiger Zufall. Daß sie sich erhängt hat, war die Folge eines vorher von ihr gefaßten Entschlusses, einer bewußten Entscheidung, und geht nicht etwa zurück auf das Wirken irgendwelcher Nornen, die ihre Schicksalsfäden spinnen … oder kappen. Und daß Michael Murdoch sich mit Rauschgift vollgepumpt und sich dann während einer Entziehungskrise versucht hat, die Augen auszustechen, ist auch kein merkwürdiger, sondern ein ganz banaler Zufall: genausogut hätte er sich auch irgendeine andere Verletzung beibringen können.«
»Also erst reden Sie von schicksalhafter Verkettung, und jetzt sind es auf einmal nur noch banale Zufälle, gar nichts Besonderes …« beklagte sich Lewis.
Morse lächelte etwas gequält. Es stimmte, was er Lewis vorhin gesagt hatte, daß er nicht an das Walten eines Schicksals glaubte; andererseits ähnelten Leben und Tod von Anne Scott, wie er selbst zugeben mußte, auf wirklich höchst seltsame Weise denen der Königin Iokaste aus dem antiken Mythos …
Er seufzte und gab sich einen Ruck. »Wissen Sie, Lewis, jetzt hätte ich Appetit auf Brateier mit Chips.«
Lewis sah ihn erstaunt an. Bei Morse war man heute offenbar vor Überraschungen nicht sicher. »Ich schließe mich Ihnen an.«
»Aber Sie werden mich wohl einladen müssen, Lewis. Ich habe kein Geld mehr.«