Kapitel Sieben
Ich sage immer: ›Schafft das Bridgespiel ab!‹
Es müßte doch möglich sein,
auf angenehmere Art und Weise
miteinander unglücklich zu sein.
Don Herold
Der erst kürzlich gegründete Summertown Bridge Club in Nord-Oxford hatte sich in zwei Anzeigen in der Oxford Times sowie gelegentlich auf Aushängen in den Schaufenstern der lokalen Zeitungshändler als Verein für alle diejenigen zu empfehlen gesucht, die Scheu davor hatten, den alten renommierten Clubs beizutreten, in denen sich das Gespräch, wie zu vermuten war, nur um Dinge wie die Herbert-Konvention, As-und-Trumpf-Unterstützung-meldende-Rückgebote und das Atout-Echo drehte, wo man damit rechnen mußte, auf Leute zu treffen, die ihr Spiel bereits in Turnieren auf Grafschaftsebene erprobt hatten, und wo anzunehmen war, daß selbst der schwächste Spieler keine Schwierigkeiten haben würde, alle zweiundfünfzig Karten gleichzeitig im Kopf zu haben. Der Summertown Bridge Club dagegen war ein Club für Leute, die Spaß hatten am Bridge, ohne gleich eine Wissenschaft daraus machen zu wollen. Der Club war in einer großen Villa im Middle Way untergebracht, einer eleganten Wohnstraße westlich der Banbury Road und parallel zu ihr, die Squitchey Lane mit South Parade verband. Die Räume waren dem Club von der Besitzerin der Villa, Mrs Gwendola Briggs, die auch Clubpräsidentin war, zur Verfügung gestellt worden. Mrs Briggs war eine quirlige, für ihr Alter etwas zu schrill gekleidete Witwe Mitte Sechzig, die auch sämtliche anderen Funktionen, die der Club zu vergeben hatte – angefangen von der Sekretärin bis hin zur Schatzmeisterin –, an sich gezogen hatte. Sie begrüßte Walters bei seinem Eintritt mit geradezu überschwenglicher Herzlichkeit, was allerdings an einem Mißverständnis lag: sie hatte im ersten Moment angenommen, daß es sich bei ihm um einen Neuzugang – dazu noch einen durchaus attraktiven Neuzugang – handele, und ihre Freude mag verständlich scheinen, wenn man weiß, daß der Club ansonsten vorwiegend weibliche Mitglieder hatte. Nachdem Walters sie über sein tatsächliches Anliegen informiert hatte, schickte sie sich mit Anstand darein. Immerhin war er an näheren Einzelheiten über den Club interessiert, und Mrs Briggs als selbsternannte Public-Relations-Agentin war nur zu gern bereit, ihn mit Informationen zu versorgen. Ms Scott (»Dazu müßte man allerdings sagen, daß sie immer einen Ring trug«) war seit einem halben Jahr Mitglied gewesen. Sie hatte eine gewisse Begabung für das Spiel gehabt und war – eine wichtige Voraussetzung – mit dem nötigen Ernst bei der Sache gewesen (»Bridge läßt sich nun einmal nicht mit links spielen, Constable«), und ihre Technik der Reizung hatte sich schon sehr verbessert. Das Ganze war wirklich eine Tragödie! In ein paar Jahren hätte aus ihr möglicherweise eine wirklich gute Spielerin werden können. Leider hatte es ihr noch sehr an Konsequenz gemangelt … aber, du meine Güte, wer wollte ihr das jetzt noch vorwerfen! Angesichts dieser … ja, es war wirklich das einzig passende Wort, dieser Tragödie! Und es war für sie alle so unerwartet gekommen! Völlig unerwartet! Nein, sie hatte nicht die geringste Ahnung, was der Grund gewesen sein konnte. Sie spielten immer am Dienstagabend, und Anne (»Mein Gott, die Arme!«) war immer regelmäßig erschienen. Man begann so gegen zwanzig Uhr und hörte oft erst nach Mitternacht auf. Ein paarmal war es sogar bis drei, vier Uhr gegangen. In der Regel waren sechzehn bis zwanzig Spieler anwesend; nur ein einziges Mal, an einem Katastrophenabend im letzten Winter, hatten sie nur zu neunt hier gesessen (»Ganze neun, Constable, stellen Sie sich vor!«). Anne hatte am Dienstag an verschiedenen Tischen gespielt, aber, so Mrs Briggs, sie sei sich ganz sicher, daß sie den letzten Rubber zusammen mit Mrs Raven (»Die Ravens aus der Squitchey Lane, vielleicht kennen Sie sie ja zufällig?«), dem alten Mr Parkes (»Er ist leider schon ziemlich klapprig!«) und Miss Edgeley (»Eine schrecklich schusselige Person!«) gespielt habe.
Walters notierte die Adressen und verabschiedete sich. Er nahm den unangenehmen Eindruck mit, als beschränke sich für Mrs Briggs die Tragödie darauf, daß einer der Stühle an einem der grünbespannten Tische auf einige Zeit verwaist sein würde. Ob Bridge einen schlechten Einfluß auf den Charakter hatte? Wie auch immer – ganz sicher würde die Atmosphäre eines solchen Clubs, wo alles Denken um Schlemms und Strafpunkte kreiste und wo man einander nur nach der Qualität seines Spiels beurteilte, Charaktereigenschaften wie Güte oder Einfühlung nicht gerade fördern. Walters wurde auf einmal klar, warum ihn Bridge oder ähnliche Spiele nie gereizt hatten.
Sein erster Besuch galt Miss Edgeley, doch wie sich schnell herausstellte, war sie nicht da. Ihre Freundin, mit der sie die Wohnung teilte, ein hübsches dunkelhaariges Mädchen, erklärte ihm, Cathy habe am Morgen ein Telegramm erhalten, daß ihre Mutter schwer erkrankt sei und sei deshalb sofort nach Hause gefahren. Die Mutter lebe in Nottingham. Sie bot ihm eine Tasse Tee an, die er jedoch dankend ablehnte.
»Wo arbeitet Miss Edgeley?«
»Sie studiert noch. Sie ist am Brasenose College.«
»Ach, haben sie da jetzt auch Frauen?«
»Soviel ich weiß, hatten sie da schon immer Frauen«, sagte das Mädchen.
Aber Walters war manchmal etwas begriffsstutzig; er runzelte leicht die Stirn, ließ es aber auf sich beruhen, denn er hatte es eilig, in die Squitchey Lane zu kommen. Seine Eile erwies sich als völlig überflüssig. Mrs Raven traktierte ihn mit einem ermüdend ausführlichen Bericht, der ihm jedoch nicht einen Schritt weiterhalf. Mr Parkes in der Woodstock Road, dem sein nächster Besuch galt, faßte sich wenigstens kurz, hatte aber auch nichts Wichtiges zu sagen. Nun, da konnte man nichts machen.
Walters hatte an diesem Tag einfach Pech gehabt. Doch alle Polizeiarbeit braucht, um Erfolg zu haben, auch ein bißchen Glück; selbst Beamte mit mehr Grips und Kombinationsvermögen als Walters sind darauf angewiesen, daß ihnen ab und zu Kommissar Zufall auf die Sprünge hilft. Trotzdem war, was Walters herausgefunden hatte, gar nicht einmal wenig. Während er jetzt zu Hause in Kidlington neben seiner Frau im Bett lag, ging er in Gedanken alles noch einmal durch. In einem Punkt gab er Bell völlig recht: Anne Scott hatte Selbstmord begangen. Auch wenn die Gründe dafür noch im dunkeln lagen – an dieser Tatsache war nicht zu rütteln. Aber das war auch schon fast das einzige, was klar war. Ansonsten gab es jede Menge offener Fragen. Da war zum Beispiel der Bridgeabend (Abend war gut!). Er war gegen 2.45 Uhr zu Ende gewesen, und anschließend hatte Anne Scott den Heimweg angetreten. Aber wie? Hatte sie einer von den anderen Spielern nach Hause gefahren? Hatte sie sich ein Taxi kommen lassen? Oder hatte sie ein Fahrrad dabeigehabt? (Er hätte diese Schreckschraube Briggs danach fragen sollen!) In den Stunden danach war dann die Entscheidung gefallen. Es hatte kein langes Zögern mehr gegeben; der Zeitpunkt ihres Todes war nicht ganz exakt feststellbar gewesen, aber der Autopsiebericht ging davon aus, daß sie, als man sie fand, bereits seit mindestens zehn Stunden tot war, was bedeutete … ja, was eigentlich? Walters war sich da nicht ganz sicher. Etwas unvermittelt fiel ihm plötzlich wieder die offene Haustür ein. Wieso hatte sie nicht abgeschlossen? Hatte sie es einfach vergessen? Unwahrscheinlich. Oder hatte da jemand anderer aufgeschlossen? Später. Das würde voraussetzen, daß Anne Scott den Schlüssel nach dem Abschließen nicht hatte steckenlassen. So abwegig war das gar nicht mal. Er selbst zog abends auch immer den Schlüssel ab und legte ihn in den Flur auf das Tischchen mit dem Telefon. Er hätte nicht sagen können warum. Es war einfach eine Angewohnheit. Drei Schlüssel … drei Schlüssel … vielleicht sogar vier … Mit einem von ihnen war aufgeschlossen worden. Und wenn nicht von Anne Scott und nicht von Mrs Purvis, von wem dann? Jackson? Wäre es nicht vorstellbar, daß er den Schlüssel, den er noch besaß, benutzt hatte, um sich Zutritt zu verschaffen, daß er drinnen nach ihr gerufen, und nachdem er keine Antwort erhalten hatte, nach hinten durchgegangen war? Das würde auch die Sache mit dem Schemel erklären! Jackson hatte gegen die Küchentür gedrückt (er würde ja gewußt haben, daß man etwas Kraft dazu brauchte, sie zu öffnen) und dabei den Schemel umgestoßen. Dann war er hineingegangen, hatte den umgefallenen Schemel aufgehoben, und als er sich umdrehte, hatte er sie entdeckt. Aber wenn es so gewesen war, warum hatte er dann nicht sofort die Polizei informiert? Anne Scott hatte Telefon, er hätte gleich von ihrem Haus aus anrufen können. Oder hatte er Angst gehabt, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen? Vielleicht weil er kein ganz reines Gewissen hatte? Weil er die Gelegenheit genutzt und irgend etwas an sich genommen hatte? Geld möglicherweise oder etwas anderes, das er für wertvoll oder nützlich hielt? Das alles war zugegebenermaßen noch sehr spekulativ, aber so oder so ähnlich konnte es gewesen sein. Wenn sich das Rätselraten doch nur auf Jackson beschränken würde! Aber da war ja auch noch Morse. Es mußte Morse gewesen sein, den Jackson am Nachmittag gesehen hatte. Was um Himmels willen hatte er dort gewollt? Hatte er bei ihr Deutschunterricht genommen? Walters rief sich die Fragen ins Gedächtnis zurück, die der Chief Inspector ihm am Mittwochabend, nach seinem überraschenden Auftauchen gestellt hatte. Diese merkwürdig zögernden und gleichzeitig so eindringlichen Fragen! Er hatte den Ton noch im Ohr. »Ist sie – ist sie tot?« Moment mal, wieso hatte er überhaupt wissen können …? Vielleicht, daß ihm die Polizisten draußen …? Nein, das war nicht möglich. Die waren zu dieser Zeit ja noch gar nicht darüber informiert worden, wen man da gefunden hatte. Walters fuhr plötzlich in die Höhe, sprang aus dem Bett, raste nach unten und blätterte mit ungeschickten Fingern fieberhaft im Telefonbuch, bis er beim Buchstaben ›M‹ angelangt war. Und tatsächlich, da stand es, schwarz auf weiß: Morse, E., The Flats 45, Banbury Road.
›E. M.‹! Sie war also mit Morse verabredet gewesen! Nun mal langsam, ermahnte er sich. Morse war nicht der einzige mit diesen Initialen, es gab bestimmt noch tausend andere. Andererseits – Morse war am Nachmittag da gewesen; daran bestand kein Zweifel. Das erklärte auch die Fragen nach der Tür und dem Licht und ob sie etwas entfernt hätten. Ja, jetzt auf einmal ergaben sie einen Sinn. Und wenn es gar nicht Jackson gewesen war, der sie gefunden hatte, sondern Morse? Aber warum hatte er es dann nicht gemeldet? Hatte er Angst gehabt, sich irgendwie zu kompromittieren, wenn die Kollegen ihn am Ort des Selbstmords angetroffen hätten? Hatte er vorgehabt, irgendwann später noch anzurufen? Walters ging wieder nach oben und legte sich ins Bett. Aber er konnte nicht einschlafen. Er hatte das Gefühl, als seien seine Augäpfel in ständiger Bewegung, aber seine Versuche, sie dadurch, daß er einen festen Punkt fixierte, zur Ruhe zu bringen, scheiterten. Erst in den frühen Morgenstunden fiel er in einen unruhigen Schlaf, aus dem er immer wieder hochschreckte mit dem Gedanken, wie um alles in der Welt er das bloß Bell beibringen sollte.