Kapitel Achtzehn
Ein erfahrener, umtriebiger, ehrgeiziger
und oft sehr phantasievoller Lügner.
Mark Twain,
Private History of a Campaign that Failed
Der Vorsitzende der Oxforder Literarischen Gesellschaft stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er den hellblauen Rolls-Royce endlich auf den Parkplatz des Clarendon Institute einbiegen sah. Es war sechs Minuten vor acht. Richards hätte wirklich zeitiger kommen können, dachte er. Der Abend hatte ihm nachgerade schon genug Aufregung und Unannehmlichkeiten beschert. Statt der erwarteten hundert oder mehr Leute waren nur lächerliche fünfzehn erschienen, und zwei ehrenamtliche Helfer waren immer noch dabei, aus dem großen Saal im ersten Stock, den man sich in der Hoffnung auf starken Zuhörerandrang extra hatte reservieren lassen, die überzähligen Stühle hinauszutragen. Freitagabend war eben immer ein ungünstiger Termin, und die kurzfristige Vorverlegung trug sicher ebenfalls Schuld an der mageren Besucherzahl. Trotzdem war es peinlich – für die Oxforder Literarische Gesellschaft ebenso wie für den geladenen Redner.
Morse kam auf immerhin fünfundzwanzig Anwesende, als er um fünf nach acht so leise wie möglich in der letzten Reihe Platz nahm und die klägliche Schar vor sich schnell einmal durchzählte. Eigentlich hatte er gar nicht kommen wollen. Doch nachdem er sich wie jeden Abend, sofern ihm nichts dazwischenkam, im Radio die neue Folge der Archers, einer Endlos-Familienserie, angehört hatte, war ihm nicht recht klar gewesen, was er mit sich und dem Abend anfangen sollte. Der Gedanke, daß sich nach dem Vortrag möglicherweise die Gelegenheit ergeben würde, mit dem Vorsitzenden ein paar Worte über Anne Scott zu wechseln, hatte schließlich den Ausschlag gegeben. Und so saß er nun hier. Nach ein paar Minuten war er froh, daß er sich aufgerafft hatte. Der untersetzte, mittelgroße Mann da vorne auf dem Podium beeindruckte ihn. Nicht weil er eine besondere Ausstrahlung besessen hätte – obwohl man ehrlicherweise sagen mußte, daß er in seinem gutgeschnittenen dunklen Anzug durchaus eine distinguierte Erscheinung war –, sondern durch die Art seines Vortrags. Er schilderte seine Entwicklung zum Verleger so unprätentiös, dabei so geistreich und selbstironisch, daß es eine Lust war, ihm zuzuhören. Er hatte als Lehrer angefangen, sein großes Interesse an Büchern hatte ihn aber bald dazu geführt, einen kleinen Verlag zu gründen. Die ersten Jahre waren schwierig gewesen; der Verlag hatte ein paarmal dicht vor dem Bankrott gestanden, doch allmählich waren die Geschäfte in Gang gekommen, er hatte die ersten großen Aufträge hereinholen können, und die Finanzen hatten sich allmählich konsolidiert; man hatte sogar vergrößern können. Der bisherige Höhepunkt dieses positiven Trends war der vor drei Monaten erfolgte Umzug der Firma in ein eigens modernisiertes Gebäude in Abingdon. Ein paarmal während seines Vortrags zitierte er Kipling – sehr zu Morses Freude, zu dessen Lieblingsschriftstellern er gehörte.
Richards war ein begabter Redner, daran konnte kein Zweifel bestehen. Es gelang ihm scheinbar mühelos, seinen Zuhörern den Eindruck zu vermitteln, als spreche er zu jedem von ihnen persönlich. Und wie die lebhafte Reaktion hinterher bewies, kam er damit beim Publikum an. Die Fragen wollten gar nicht wieder aufhören, so daß Morse nach einer Weile unwillig auf die Uhr blickte. Da war es schon halb zehn; er hatte an diesem Tag noch kein einziges Bier gehabt.
»Wir müssen zum Schluß kommen – ich kann leider nur noch eine Frage zulassen«, sagte der Vorsitzende.
»Mr. Richards, Sie sagten, Sie hätten zu Anfang als Lehrer gearbeitet«, begann eine Frau in der ersten Reihe, »was mich interessieren würde: waren Sie ein guter Lehrer?«
Richards hob in gespieltem Entsetzen die Hände und lächelte entwaffnend. »Ich hatte gehofft, daß mir diese Frage erspart bleiben würde. Denn meine Antwort muß ehrlicherweise lauten: Nein. Ich war leider ein eher schlechter Lehrer. Ich hatte vor allem Probleme mit der Disziplin. Meine Stunden verliefen gewöhnlich tumultuarisch wie Sitzungen im Unterhaus, wenn Mrs Thatcher versucht, dort eine Rede zu halten. Ich glaube, Sie alle wissen, was ich meine.« Es war ein guter Abschluß. Die Leute klatschten und lachten – mit einer Ausnahme. Morse, die Hände im Schoß, runzelte irritiert die Stirn; ihm war während der letzten Minute der Verdacht gekommen, daß Richards sein Publikum an der Nase herumführte.
Unten an der Bar wurde Morse vom Vorsitzenden begrüßt:
»Ich freue mich, daß Sie gekommen sind. Darf ich Sie mit unserem Redner bekanntmachen? Mr Richards. Chief Inspector Morse.« Die beiden Männer schüttelten sich die Hände.
»Ihr Vortrag und die Art, wie Sie hinterher mit den Fragen umgegangen sind, haben mir gefallen …«
Richards neigte leicht den Kopf. »Danke.«
»… mit Ausnahme der letzten Antwort.«
»Ach – und wieso?«
»Sie haben behauptet, ein schlechter Lehrer gewesen zu sein – und das nehme ich Ihnen nicht ab.«
Richards zuckte die Achseln. »Nun, ich hätte es auch anders und vielleicht weniger drastisch sagen können: mir wurde ziemlich schnell klar, daß ich nicht die für einen Lehrer notwendigen Qualitäten besaß.«
Morse sah ihn zweifelnd an. Er war eben selbst Zeuge gewesen, wie Richards es ohne große Mühe geschafft hatte, sein zu Anfang eher abwartendes Publikum innerhalb weniger Minuten in seinen Bann zu ziehen, so daß es ihm mit ständig wachsendem Interesse zugehört hatte – anderthalb Stunden lang. Und da wollte er mit so viel empfänglicheren und begeisterungsfähigeren Zuhörern, wie es Schuljungen waren, Schwierigkeiten gehabt haben? So wie er Richards einschätzte, hatte er sie um den Finger wickeln können.
»Ich muß gestehen, ich bin nicht so recht überzeugt. Ich glaube immer noch, daß Sie ein ausgezeichneter Lehrer waren, und wenn ich Direktor einer Schule wäre – Sie würde ich sofort anstellen.«
»Na ja«, gab Richards zu, »Sie haben schon recht – vielleicht habe ich ein bißchen übertrieben. Sie kennen doch die Redensart, ›dem Affen Zucker geben‹. Man will ja auch ankommen.«
Morse nickte. So konnte man es natürlich auch ausdrücken. Er selbst beurteilte es allerdings weniger großzügig. In seinen Augen hatte Richards das Publikum schlicht angelogen. »Sie sind noch nicht sehr lange hier – ich meine, in der Gegend von Oxford?«
»Ungefähr drei Monate. Sie können aber nicht gut zugehört haben, Inspector, sonst …«
In diesem Moment trat der Vorsitzende auf sie zu. Er bitte um Entschuldigung, daß er stören müsse, aber es gebe einige Mitglieder, denen sehr daran gelegen sei, Richards’ Bekanntschaft zu machen. Der Verleger verabschiedete sich von Morse mit einem Kopfnicken und ließ sich vom Vorsitzenden beiseite führen.
»Kennen Sie übrigens …« hörte Morse den Vorsitzenden fragen. Richards verneinte, aber das sei kein Wunder, er komme kaum je nach Oxford. Das letzte Mal …
Morse stand mit seinem Bier plötzlich allein inmitten lauter fremder Leute und spürte, wie ein Gefühl von Langeweile in ihm hochstieg. Dabei hatte er soeben ein paar wichtige Informationen erhalten – doch das konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht einmal ahnen.
Als Richards sich gegen zehn Uhr verabschiedete, war das für Morse das Zeichen, sich der Gruppe um den Vorsitzenden zuzugesellen, um doch noch mit ihm ins Gespräch zu kommen und möglicherweise von ihm etwas über Anne Scott zu erfahren. Er ging geradewegs auf sein Ziel los und fand in seinem Gegenüber einen bereitwilligen Gesprächspartner.
»Ach Gott, ja, die arme Anne! Viel kann ich Ihnen leider nicht erzählen, sie war ja noch nicht sehr lange Mitglied, und im Geschäftsführenden Ausschuß hat sie erst seit Anfang des Jahres mitgearbeitet. Das Beeindruckendste für mich war immer, daß sie ständig neue Ideen zu haben schien. Der heutige Abend geht übrigens auch auf ihre Anregung zurück. Unser größtes Problem besteht im Grunde darin, ein ungefähres Gleichgewicht herzustellen zwischen dem, was auf den, nun sagen wir einmal, literarischen Aspekt von Büchern eingeht, als da wären Autorenlesungen, Vorträge von Literaturwissenschaftlern und ähnlichem und dem mehr technischen Aspekt, Herstellung, Vertrieb etc. Wir im Vorstand haben, wie ich leider gestehen muß, im Grunde ein stärkeres Interesse an ersterem, aber es gibt eben eine Menge Mitglieder, für die die praktische Seite ebenso wichtig oder noch wichtiger ist. Jemand wie Charles Richards ist da für uns natürlich ein ungeheurer Glücksfall, da er von beidem etwas versteht. Und der Vorschlag, ihn einzuladen, kam von Anne. Sie hat früher mal bei ihm gearbeitet, und es bestanden wohl noch immer irgendwelche Kontakte … Der ganze Abend geht jedenfalls auf ihre Initiative zurück, und sie hat auch an der Organisation maßgeblichen Anteil gehabt. Ist übrigens alles gut gelaufen, nicht wahr? Der Mann ist ja aber auch ein glänzender Redner und versteht es, sein Publikum zu packen. Er besitzt eben Dynamik. Das sieht man ja auch daran, wie erfolgreich er seinen Verlag führt. Wenn man sich vorstellt – er hat vor ein paar Jahren mit nichts angefangen, na, und inzwischen fährt er, wie ich vorhin gesehen habe, einen hellblauen Rolls-Royce. Ein wirklich interessanter Mann. Schade, daß wir keine bessere Beteiligung hatten. Wer heute abend nicht da war, hat wirklich etwas verpaßt. Aber die Leute müssen selber wissen, was ihnen wichtig ist. Zum Teil liegt es natürlich sicher auch an der kurzfristigen Terminverlegung …«
Morse nickte zu allem mechanisch, ohne noch zuzuhören. Ihm war eben blitzartig eine Erleuchtung gekommen, deren Implikationen zu verarbeiten ihn voll und ganz in Anspruch nahm. ›… und inzwischen fährt er einen hellblauen Rolls-Royce.‹ Da hatte es auf einmal geklickt. Am Nachmittag des 3. Oktober, als er Anne hatte besuchen wollen, hatte eine Ecke vor Canal Reach an der Victor Street ein hellblauer Rolls gestanden – im Halteverbot. Er erinnerte sich an den Strafzettel, der unter dem Scheibenwischer geklemmt hatte – das Werk der pflichteifrigen jungen Politesse. Er mußte unwillkürlich lächeln, wurde aber schnell wieder ernst. Anne hatte ihm auf der Party von Mrs Murdoch von ihrer Tätigkeit bei einem Verlag erzählt und dabei erwähnt, daß, als die Firma langsam angefangen habe zu florieren, in schneller Folge zwei Rolls-Royce angeschafft worden seien – erst ein schwarzer, dann ein hellblauer. Die Luxuslimousine war ihm an dem Nachmittag – gerade auch in der eher ärmlichen Umgebung – schon aufgefallen, aber er hatte sie nicht mit Anne Scott in Verbindung gebracht. Später – nach ihrem Tod – hatte er tagelang das dunkle Gefühl gehabt, sich an irgend etwas erinnern zu sollen, was sie ihm gesagt hatte, aber er war, trotz allen Grübelns, nicht darauf gekommen. Jetzt endlich wußte er es wieder, und soviel war nun klar: der hellblaue Rolls-Royce, der Ecke Victor Street im Halteverbot gestanden hatte, gehörte Charles Richards, und das hieß, daß er sich am 3. Oktober, dem Tag ihres Todes, in Jericho aufgehalten hatte, und zwar keine drei Minuten von ihrem Haus entfernt. Anne und er hatten sich also offenbar auch nach Annes Weggang nicht ganz aus den Augen verloren. Wie hatte der Vorsitzende vorhin gesagt? ›Es bestanden wohl noch irgendwelche Kontakte …‹ Offensichtlich.
Plötzlich zuckte er zusammen. Draußen auf der Straße fuhr mit heulender Sirene erst eine Ambulanz, dann ein Polizeiauto vorbei. In einer Art déja acouté durchfuhr ihn der Gedanke: Wieder ein Unglück in Jericho!
Er lief die Treppe hinunter ins Foyer, steckte ein Fünfpencestück in den Fernsprechautomaten, wählte die Nummer des Präsidiums und fragte nach Bell. Bell war nicht im Haus, und der diensthabende Sergeant konnte ihm nicht sagen, wo er sich im Moment aufhielt. Er war vermutlich schon unterwegs nach Jericho. Ein Mord.
»Geben Sie mir die Adresse, Sergeant, schnell.«
»Einen Moment. Hier … Canal Reach, das ist eine Seitenstraße der …«
Aber Morse hatte schon aufgelegt.
»Etwa schon wieder ein Vortrag im Clarendon Institute, Sir?« fragte Walters und konnte ein Grinsen nicht ganz unterdrücken.
Morse tat so, als habe er die Frage nicht gehört. »Was ist passiert?«
»Jackson ist tot, Sir.« Walters deutete mit dem Daumen zur Decke. »Er liegt oben. Wollen Sie raufgehen und ihn sich anschauen? Er ist allerdings kein hübscher Anblick – man hat ihn übel zugerichtet.«
»Ist Bell schon da?«
»Nein, aber er müßte eigentlich bald hier sein. Er hatte in Banbury zu tun, aber wir haben ihn, nachdem wir den Anruf erhalten hatten, zu erreichen versucht, und er weiß inzwischen Bescheid.«
»Ein Anruf? Von wem?«
»Anonym, Sir.«
»Um wieviel Uhr?«
»Ungefähr Viertel nach neun.«
»Um Viertel nach neun schon? Das kann doch wohl nicht ganz stimmen.«
»Ich fürchte doch, Sir. Sie können, wenn Sie wollen, nachfragen, der Wachhabende hat sicher die genaue Uhrzeit notiert. Der Punkt ist, daß der Anrufer sich nicht so ganz klar ausgedrückt hat …«
»Und dann ist die Meldung abgelegt worden, und kein Schwein hat sich mehr darum gekümmert. Na großartig!«
»Das ist jetzt aber wirklich ungerecht, Sir. Es ist einfach unmöglich, auf jeden Anruf sofort zu reagieren. Wenn wir gewußt hätten …«
»Manchmal habe ich den Eindruck, Constable, als säßen in den Revieren nur Idioten«, schnaubte Morse. »Aber was soll’s. Ich kann es nicht ändern. Gehen wir lieber hoch.«
Oben auf dem Treppenabsatz blieb Morse einen Moment stehen, dann gab er sich einen Ruck und betrat das vordere Zimmer. Jackson lag quer über dem zerwühlten Bett, das linke Bein hing leblos über die Kante. Sein blutiges, von Verletzungen entstelltes Gesicht war zur Tür gedreht, und aus starren Augen blickte er den Eintretenden wie anklagend entgegen. Der Boden um das Bett war übersät mit Pornoheften und Anglermagazinen.
»Er liegt da, so wie ich ihn gefunden habe, Sir«, sagte Walters ein wenig unsicher. »Ich konnte nichts mehr für ihn tun.«
Morse nickte. Ja, für Jackson kam jede Hilfe zu spät. Zu beiden Seiten seines Kopfes hatte sich ein träger, dunkelroter, klebrig aussehender See von Blut ausgebreitet. Jackson war so tot, wie man nur sein konnte.
»Was die Todeszeit angeht, da kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen, Constable«, sagte Morse, dessen Ärger schon wieder verflogen war. Aber bevor er dazu kam, nähere Einzelheiten mitzuteilen, hörten sie unten die Tür gehen, und Bell kam die Treppe heraufgepoltert. Seine Begrüßung war, wie zu erwarten, nicht besonders enthusiastisch.
»Wie zum Teufel kommst du hierher, Morse?«
Im Laufe der nächsten halben Stunde trafen noch zwei Spezialisten von der Spurensicherung sowie ein Fotograf in Canal Reach ein, und die nunmehr sechs Männer mußten aufpassen, sich in den engen Räumen des kleinen Hauses nicht allzusehr in die Quere zu kommen. Da sie sich redlich Mühe gaben, lief jedoch alles einigermaßen reibungslos – bis zur Ankunft des buckligen Pathologen. Dieser weigerte sich schlichtweg, irgendwelche Rücksichten zu nehmen, und erklärte, er werde auch nicht einen Blick auf den Toten werfen, ehe er nicht das Obergeschoß für sich allein habe. Den anderen blieb nichts übrig, als sich nach unten zu verziehen, wo sie grollend darauf warteten, daß er endlich fertig wurde, damit sie weitermachen konnten. Nach einer halben Ewigkeit öffnete sich oben die Tür, und der Arzt kam die Treppe hinunter. Auf Bells unvermeidliche Frage nach der Todeszeit knurrte er nur unwirsch: »Zwischen halb acht und neun«, ohne sich auf weitere Erläuterungen einzulassen. Das Zugeständnis, das man ihm gemacht hatte, schien seine Laune nicht gebessert zu haben.
Walters sah mit fragend hochgezogenen Augenbrauen zu Morse, der in einem Pornoheft blätterte, das er sich aus Jacksons Schlafzimmer mit nach unten genommen hatte.
»Du kannst von dem Dreckzeug wohl nie genug kriegen«, sagte der Arzt bissig.
»Ach, weißt du, Max, kein Mensch ist vollkommen«, antwortete Morse und blätterte ungerührt weiter in seinem Heft. »Du zum Beispiel untersuchst da oben eine Leiche, und dann kommst du schließlich nach Stunden herunter und stellst dich hin und nennst den Kollegen eine falsche Todeszeit.«
»Ach, was glaubst du denn, wann er gestorben ist?« Seinem Ton nach zu urteilen, hatte Morses Bemerkung ihn nicht getroffen, und er wirkte, wie er so dastand und gespannt auf dessen Antwort wartete, auf einmal richtig menschlich.
»Was ich glaube, ist ja nicht ausschlaggebend – du bist der Experte. Aber wenn du schon fragst – ich würde die Tatzeit eine Spur früher ansetzen, so zwischen Viertel nach sieben und Viertel vor acht.«
Der bucklige Pathologe schüttelte heftig den Kopf, und auf seinem Gesicht erschien ein siegessicheres Grinsen. »Bist du bereit, darauf eine Wette einzugehen?«
»Bei dir muß man da vorsichtig sein. Du formulierst deine Wetten so trickreich … Am Ende wettest du darauf, daß er irgendwann heute abend gestorben ist, und ich stehe wieder als der Dumme da.«
»Ich bin der Meinung, wohlgemerkt – es ist nur eine Meinung –, daß er später gestorben ist, als du annimmst, wobei mir immer noch nicht ganz klar ist, wieso ich mich überhaupt auf eine Diskussion mit dir einlasse. Das muß wohl der Schock sein, daß jemand wie du, der von Pathologie und den benachbarten Gebieten nicht auch nur die geringste Ahnung hat, die Unverfrorenheit besitzt, ein Urteil abgeben zu wollen.«
»Ich weiß immer noch nicht, wie deine Wette lautet, Max«, sagte Morse mit seiner sanftesten Stimme.
Der Pathologe dachte einen Augenblick nach. »Also – aber nur ganz inoffiziell – ich würde sagen … nein, Moment! Du hast eine Marge von einer halben Stunde, nicht? Na gut, dem schließe ich mich an. Ich behaupte: zwischen Viertel nach acht und Viertel vor neun. Damit liegen wir genau um eine Stunde auseinander.«
»Wie hoch?«
»Ein Zehner?«
»Abgemacht!« Sie schüttelten sich die Hände. Der Arzt nahm seine Tasche und ging.
»Ich bin ja mal gespannt, wer die Wette gewinnt«, sagte Bell, aber Morse antwortete nicht darauf. Bell nahm an, er sei schon wieder in sein Pornomagazin vertieft. Tatsächlich fühlte Morse sich aber durch die kruden, drastischen Fotos, die der Phantasie überhaupt keinen Spielraum mehr ließen, schon längst angeödet und blätterte nur noch rein mechanisch in dem Heft, während er sich in Gedanken mit dem Mord an Jackson beschäftigte. Die Untersuchung des Tatorts hatte nicht viel gebracht: Die Tatwaffe hatte sich nicht angefunden, und die Fingerabdrücke, die man entdeckt hatte, stammten alle von Jackson selber. Morse stellte sich vor, wie sich die Sache für Bell ausnehmen würde: Ein eindeutiger Mord, Motiv und Täter unbekannt. Er selbst sah da ja zum Glück ein ganzes Stück klarer. Für ihn war der Mord, kaum daß er zum Fall geworden war, ja schon gelöst gewesen: er kannte die Tatzeit und den Tathergang, konnte das Motiv nennen – und sogar den Namen des Mörders! Bell tat ihm fast leid.
Zehn Minuten später kehrte Walters, der von Bell losgeschickt worden war, sich in der Nachbarschaft umzuhören, von seinem Erkundungsgang zurück und erstattete Bericht.
Jackson war am Abend noch gesehen worden: um halb sechs hatte er in der Bäckerei an der Ecke ein kleines Graubrot gekauft, um Viertel vor sieben war er bei Mrs Purvis gewesen und hatte die Spülung ihres WCs reguliert; um kurz nach acht schließlich …
»Was?!« Morse war erregt aufgesprungen.
»… um kurz nach acht tauchte er im Printer’s Devil auf und trank zwei Bier …«
»Blödsinn! Kompletter Blödsinn!«
»Aber es gibt mindestens ein Dutzend Leute, die ihn gesehen haben, Sir! Er war wirklich da. Er hat ein bißchen am Automaten gespielt und ist gegen zwanzig nach acht wieder gegangen.«
Morse sackte auf den nächsten Stuhl. Er war völlig fertig. Alle seine Annahmen waren also falsch. Alle? Alle! Denn wenn Jackson tatsächlich nach acht Uhr noch im Printer’s Devil gesehen worden war, dann kam Charles Richards als Mörder nicht in Frage.
»Den Zehner bist du los, Morse«, sagte Bell und zeigte nicht die Spur von Mitgefühl.