Kapitel Fünfzehn

 

Zeit heilt die Herzen von Zärtlichkeit,

und jetzt kann ich sie gehen lassen.

Thomas Hardy, Wessex Heights

 

Am nächsten Morgen fand Morse in seiner Post das monatliche Rundschreiben der Oxforder Literarischen Gesellschaft. Er öffnete es, während er beim Frühstück saß, überflog ohne sonderliches Interesse den begeisterten Bericht über Dame Helens Vortrag, nahm zur Kenntnis, daß möglicherweise im Dezember ein Buchbasar in Aussicht stand, und wollte die zusammengehefteten Blätter gerade zur Seite legen, als er plötzlich innehielt.

 

Mit tiefer Erschütterung haben wir erfahren, daß unser Mitglied Anne Scott am 3. Oktober plötzlich verstorben ist. Miss Scott arbeitete seit Anfang des Jahres im Geschäftsführenden Ausschuß mit. Wir schätzten sie wegen ihrer steten Freundlichkeit und Bereitschaft, sich auch für weniger angenehme Pflichten mit großer Selbstverständlichkeit zur Verfügung zu stellen. Mehr als einmal hat uns ihr konstruktiver Rat in schwierigen Situationen geholfen. Wir werden sie vermissen. Der Vorsitzende hat als Vertreter der Oxforder Literarischen Gesellschaft an der Beerdigung teilgenommen.

 

Morse nickte wehmütig. Vielleicht, nein ziemlich sicher sogar hätten er und Anne sich an jenem Abend im Clarendon Institute wiedergetroffen, wenn sie nicht … Und wenn er nicht so träge gewesen wäre und schon früher regelmäßig an den Veranstaltungen der Gesellschaft teilgenommen hätte, dann … Wenn, wenn, wenn … Eine verpaßte Chance mehr. Aber solche nicht gesehenen und nicht genutzten Möglichkeiten machten wohl einen Teil eines jeden Lebens aus. Auf dem letzten Blatt sprang ihm ein fettgedruckter Hinweis in die Augen:

 

Unsere nächste Veranstaltung findet nicht, wie angekündigt, am Mittwoch dem 24. 10., sondern bereits am kommenden Freitag, dem 19. statt. Unser Gastredner Mr CHARLES RICHARDS bedauert die kurzfristige Terminverschiebung, die auf Grund dringender geschäftlicher Verpflichtungen leider unumgänglich war. Das Thema von Mr Richards’ Vortrag lautet (wie bereits früher angekündigt) ›Sorgen und Freuden eines kleinen Verlegers‹. Die Wahl des Themas erfolgte auf vielfachen Wunsch, und wir hoffen auf Ihr zahlreiches Erscheinen.

 

Morse schlug seinen Taschenkalender auf. Er hatte am Abend des 19. nichts vor und machte sich einen kurzen Vermerk. Wer weiß, vielleicht würde er sich ja aufraffen. Aber es war eigentlich eher unwahrscheinlich.

An eben diesem Dienstagmorgen saß Charles Richards in seinem Büro und war gerade dabei, seiner Sekretärin einen Brief zu diktieren, als gegen halb elf das Telefon klingelte. Er nahm selbst ab.

»Richards.«

Er hörte eine heisere Stimme, die mehr flüsterte, als daß sie sprach. »Sie kenn mich nich, aber ich kenn Sie. Es wär Ihn bestimmt nich recht, wenn ich zu Ihrer Missis gehn täte und …«

Erst jetzt begriff er. Die Hand über die Sprechmuschel gelegt, wies er seine Sekretärin an, das Zimmer zu verlassen. Er wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann legte er los.

»Ich weiß nicht, wer Sie sind, und ich habe auch kein Interesse daran, einen Lumpen wie Sie kennenzulernen. Ich bin bereit, auf Ihren Vorschlag einzugehen – das heißt, ich werde zahlen –, aber nur ein Viertel der Summe, die Sie verlangt haben. Mehr ist nicht drin. Kapiert?«

Der Mann (es war doch ein Mann?) am anderen Ende schwieg.

»Und den Übergabeort bestimme ich. Hören Sie also jetzt gut zu: Morgen abend genau um halb acht werde ich langsam die Woodstock Road entlangfahren. Ich komme aus Richtung Norden, vom Kreisverkehr. Ich fahre einen hellblauen Rolls, der dürfte nicht zu übersehen sein. Ich werde in einer Querstraße anhalten. Die Straße heißt Field House Drive. Merken Sie sich den Namen. Field House Drive. Etwa fünfzig Meter die Woodstock Road hoch gibt es eine Telefonzelle. Gleich dahinter ist eine niedrige Mauer. Sie ist dicht mit Efeu bewachsen. Ich werde das Geld in einer braunen Plastiktasche direkt an die Mauer stellen, so daß sie durch den Efeu verdeckt ist. Ich werde dann zu meinem Wagen zurückgehen und wegfahren. Sie können sich das Geld holen – es gehört Ihnen. Aber denken Sie nicht, daß Sie nochmal kommen können. Ich zahle nur dies eine Mal, und das ist mein letztes Wort. Sollten Sie mich weiter behelligen, bringe ich Sie um.« Richards hielt inne. Der Anrufer schwieg noch immer. Nur sein schwerer, stoßweiser Atem war zu hören.

»Haben Sie alles mitbekommen?«

Der Mann räusperte sich. »Is gut von Ihn, Mr Richards. Und is bestimmt das beste – auch wegen der Missis.« Damit hängte er ein.

Charles Richards legte das Blatt, von dem er seine Anweisungen abgelesen hatte, beiseite und rief seine Sekretärin herein.

»So, dann wollen wir mal wieder.« Seine Stimme klang völlig ruhig, doch er spürte, wie sein Herz klopfte, während er weiterdiktierte.

 

Mr Parkes war, wie Mrs Briggs Constable Walters gegenüber ganz richtig festgestellt hatte, schon recht klapprig und hatte wohl nicht mehr lange zu leben. In den letzten Jahren hatte er zu trinken angefangen, doch das machte, fand er, nun auch nichts mehr aus. Denn wenn er in gelegentlichen Momenten überaus großer Klarheit auf seine siebzig und mehr Jahre zurückblickte, so stellte er jedesmal bitter fest, daß er sein Leben vertan hatte. Er war Lehrer gewesen – zuletzt zwanzig Jahre Rektor einer Grundschule in Sussex –, doch sein pädagogisches Talent war nicht sehr ausgeprägt gewesen. Seine wahre Begabung hatte ganz woanders gelegen. Schon als Junge hatte er sich mit Leidenschaft auf alle möglichen kniffligen Fragen gestürzt, stundenlang über Schach- und Bridgeproblemen gebrütet, komplizierte Kreuzworträtsel ersonnen und sich an neuen mathematischen Beweisen versucht. Zu einem gescheiterten Leben gehört immer auch ein Traum. Mr Parkes’ Traum war es gewesen, die Geheimnisse einer der toten Sprachen zu enträtseln. Des Etruskischen etwa oder der ›Linear B‹-Schrift, oder war es ›C‹? Er wußte es nicht mehr. Es lag alles schon so lange zurück. Wenn damals vor dreißig Jahren die Universität sich bereit erklärt hätte, seine Forschungen zu finanzieren … An Anne Scott dachte er schon seit Tagen nicht mehr.

 

Für Mrs Raven und ihren Mann gab es, während sie bei einem späten Frühstück saßen, natürlich nur ein Thema: die Zusage, daß ihren langen Bemühungen um die Adoption eines Babys jetzt endlich Erfolg beschieden sein würde. Sie waren beide zunächst überrascht, dann befremdet, schließlich empört gewesen, wie schwer man es ihnen machte, ihren menschenfreundlichen Entschluß in die Tat umzusetzen. Die Antragsformulare einschließlich aller Zusatzdokumente, Einkommensteuererklärung, Erklärung über die Kirchenzugehörigkeit sowie ein Abriß der Familiengeschichte mußten in dreifacher Ausfertigung vorgelegt werden. Sodann hatten sie ein Papier zu unterschreiben, auf dem sie feierlich gelobten, ›unter keinen Umständen den Namen oder den Wohnort der leiblichen Eltern herauszufinden, noch auch irgendwelche anderen Informationen über sie einzuholen …‹ Besonders Mrs Raven hatte in den letzten Monaten sehr gelitten. Es lag, wie eindeutig festgestellt worden war, an ihr, daß Mr Ravens unermüdlichen Versuchen, Nachwuchs zu zeugen, kein Erfolg beschieden gewesen war. Nur wegen ihrer Unfähigkeit, ein Kind zu bekommen, hatten sie sich also diesem nervenaufreibenden und demütigenden Auswahlprozeß unterwerfen müssen. Aber jetzt war zum Glück das Schlimmste überstanden. Sie freute sich schon. In den ersten Monaten würde sie mehr zu Hause bleiben müssen. Keine Tennisnachmittage mehr, und auch den Bridgeabend würde sie eine Zeitlang absagen.

Auch Mrs Raven dachte nicht mehr an Anne Scott.

 

Catharine Edgeley mußte ein Referat schreiben über die Funktion der Ironie in den Romanen von Jane Austen. Die Aufgabe nahm sie voll und ganz in Anspruch, und so dachte auch sie nicht mehr an Anne Scott, hätte wohl auch, wenn sie weniger beschäftigt gewesen wäre, nicht mehr an sie gedacht – sie hatte sie ja schließlich nur zweimal getroffen. Es war allerdings merkwürdig, daß Morse, dem sie sogar nur einmal begegnet war, ihr noch eine ganze Weile im Kopf herumspukte. Nicht übel der Mann – nur leider zwanzig Jahre zu alt.

 

Mrs Gwendola Briggs widmete sich am Dienstag nachmittag bei einer Tasse Tee der Lektüre des monatlich erscheinenden Bridgejournals. In den USA hatte man sich ein phantastisches, neues Bietsystem ausgedacht. Das würde sie heute abend gleich ausprobieren. An Anne Scott dachte sie nur noch beiläufig, im Zusammenhang mit ihrer Nachfolgerin, die heute zum erstenmal dabeisein würde. Mrs Briggs war einigermaßen stolz darauf, daß es ihr so schnell gelungen war, Ersatz zu besorgen. Die Mitglieder würden es ihr danken. Anders als dieser ungehobelte und lächerlich sentimentale Inspector waren sie ganz ihrer Meinung: das Leben mußte weitergehen.

Bei Mrs Murdoch war der Gedanke an Anne Scotts Tod sehr schnell in den Hintergrund getreten. Die Sache mit Michael hatte alles andere verdrängt. Und was ihn anging, so waren noch längst nicht alle Schrecken überstanden. Um Viertel vor sieben klingelte das Telefon, und ein junger, in diesen Dingen noch unerfahrener Medizinalassistent versuchte, ihr die furchtbare Nachricht möglichst schonend beizubringen. Aber was heißt schonend, wenn die Nachricht lautet: »Ihr Sohn hat versucht, sich die Augen auszustechen.« Er hörte ihren entsetzten Aufschrei, ihr klagendes »Nein, o nein!« und fragte sich hilflos, was er ihr sagen könne, um sie zu trösten. Doch ihm fiel nichts ein.

 

Charles Richards war seit Tagen zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, als daß er um Anne Scott hätte trauern können. Es gab so viel, was er bedenken mußte. Gegen neun rief er den ehrenamtlichen Schriftführer der Oxforder Literarischen Gesellschaft unter seiner Privatnummer zu Hause an, um ihm mitzuteilen, daß er leider an dem vor seinem Vortrag stattfindenden Abendessen – dessen Ehrengast er hatte sein sollen – nicht teilnehmen könne. Es tue ihm sehr leid, aber er habe unaufschiebbare geschäftliche Verpflichtungen. Er werde zusehen, daß er gegen Viertel vor acht dasei. Ob das reiche? Der Schriftführer beeilte sich, ihm zu versichern, das sei völlig in Ordnung. Was hätte er sonst auch sagen sollen? Doch kaum hatte Richards den Hörer aufgelegt, machte er seinem Herzen Luft: »So eine Ungehörigkeit! Würde mich nicht wundern, wenn er am Freitag gar nicht auftaucht.«

 

Morse verbrachte den Abend in seiner Stammkneipe. Er hatte sich an einen der hinteren Tische verzogen, um in Ruhe überlegen zu können. Dabei dachte er durchaus auch an Anne Scott. Aber das hatte nicht viel mit ihrer Person, dafür aber um so mehr mit den Umständen ihres Todes zu tun, die immer noch Fragen offenließen.

 

Nur im Leben von Anne Scotts Mutter bedeutete der 3. Oktober einen unwiderruflichen Einschnitt. Sie wußte, daß sie – mochte auch der erste heftige Schmerz irgendwann abklingen – den Tod ihrer Tochter niemals verwinden würde. Bis an ihr Lebensende würde die Frage nach dem Warum sie begleiten. Und die Selbstvorwürfe. Wenn sie doch bloß etwas geahnt hätte … Nun war es zu spät.