Kapitel Zwanzig

 

Certum est quia impossibile est.

Tertullian, De Carne Christi

 

»Du hattest übrigens recht mit deiner Vermutung«, bemerkte Bell, als Morse am Samstag nachmittag bei ihm im Büro vorbeischaute. »Die Gesichtsverletzungen haben schlimmer ausgesehen, als sie in Wirklichkeit waren. Daran wäre er jedenfalls nicht gestorben. Es ist tatsächlich so gewesen, wie du vermutet hast: jemand hat ihn gepackt und mit dem Kopf gegen den Bettpfosten gerammt. Das hat er nicht überlebt.«

»Wenn du statt ›Bettpfosten‹ ›Pfosten‹ gesagt hättest, hätte ich glatt angenommen, du redest von einem Fußballspiel.«

»Na, Boxkampf träfe es wohl eher.«

»Jackson hat doch ziemlich geblutet. Derjenige, der ihn auf dem Gewissen hat, müßte doch eigentlich was abbekommen haben, oder?«

»Ich denke schon. Und nicht zu knapp. Der hat seine Klamotten inzwischen bestimmt weggeschmissen oder verbrannt.«

»Glaubst du, daß er ihn eigentlich nur verprügeln wollte und daß das mit dem Bettpfosten sozusagen nur ein unglücklicher Zufall war?«

Bell wiegte den Kopf hin und her. »Schwer zu sagen – er muß jedenfalls ziemlich in Rage gewesen sein.«

Morse nickte. Jetzt wußten sie also, wie es geschehen war – und nicht zuletzt dank seines Hinweises. Der Bettpfosten war ihm gleich, als er das erste Mal Jacksons Schlafzimmer betreten hatte, wegen seiner scharfen Kanten aufgefallen. Mit bloßem Auge hatte er nichts entdecken können, aber solche Dinge konnte man getrost dem gerichtsmedizinischen Labor überlassen. Dort hatten sie die geeigneten Methoden, um auch noch mikroskopisch kleine Spuren nachzuweisen. Was den Tathergang betraf, hatte er sich nun also doch nicht geirrt. Und eigentlich glaubte er nach wie vor, daß er, auch was das Motiv anging, mit seiner ersten Annahme richtig gelegen hatte. Sollte er Bell einen Tip geben? Wie es den Anschein hatte, tappte der arme Kerl ja noch völlig im dunkeln.

»Jacksons Schlafzimmer machte auf mich ganz den Eindruck, als sei es durchwühlt worden.«

Bell nickte. »Nicht nur das Schlafzimmer.«

»War das dieselbe Person, die ihn umgebracht hat, was meinst du?«

Bell nickte wieder. »Vermutlich.«

»Glaubst du, daß er gefunden hat, was er suchte?«

Bell zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen? Übrigens ist mir im Augenblick völlig unklar, in welcher Richtung ich weitermachen soll. Wir haben das ganze Haus auf den Kopf gestellt, um etwas zu entdecken, was uns vielleicht weiterhelfen könnte. Aber die Mühe hätten wir uns sparen können! Angelruten, Angelkörbe, Eimer, Kescher und Werkzeug, jede Menge Werkzeug – Sägen, Bohrer und was es sonst noch alles gibt, das ganze Do-it-yourself-Sortiment. Nun wissen wir also, daß Jackson gerne angeln ging und es ihm Spaß machte, sich handwerklich zu betätigen.«

»War unter seinen Sachen auch eine Kelle?«

»Eine Kelle? Wie kommst du ausgerechnet auf eine Kelle?«

»Er hat für Anne Scott die Gartenmauer ausgebessert – einen Tag vor ihrem Tod ist er damit fertig gewesen. Wußtest du das?«

Bell sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Zufällig ja. Aber allmählich beginne ich mich zu fragen, woher du …«

»War er eigentlich auch ein Vogelliebhaber?«

»Sag mal, willst du mich verarschen?!«

»Auf seinem Nachttisch lag ein Fernglas.«

»Ich weiß. Na und? Vielleicht hat er ab und zu wirklich Vögel beobachtet.«

»Vom Schlafzimmer aus?«

»Also worauf willst du eigentlich hinaus?«

»Ich glaube, daß er das Fernglas benutzt hat, um Anne Scott zu beobachten.«

»Du meinst, er …?«

»Sie hatte vor ihrem Schlafzimmer keine Vorhänge.«

»So ein dreckiges kleines Schwein!«

»Nun reg dich mal ab. Ich an seiner Stelle hätte vielleicht dasselbe gemacht.«

»Ja, das glaub’ ich dir sofort! Was ich dich übrigens schon längst fragen wollte – wieso bist du übrigens damals, als wir zu Anne Scott gerufen wurden, so prompt dort aufgetaucht? Soviel ich weiß …«

»Das war Zufall. Reiner Zufall.«

»Daß ich nicht lache! Statistisch gesehen, ist die Wahrscheinlichkeit, daß du per Zufall …«

»Bah! Statistisch gesehen – wenn ich das schon höre! Statistisch gesehen, ist das ideale Alter, schwanger zu werden, neunzehn Jahre; andererseits sollte eine Frau, wieder statistisch gesehen, möglichst nicht vor dem sechsundzwanzigsten Lebensjahr Verkehr haben. Da hast du deine Statistik!«

Bell winkte irritiert ab und trommelte mit den Fingern der rechten Hand nervös auf die Schreibtischplatte. »Der Fall Jackson wird mir noch eine Menge Kopfschmerzen bereiten, das weiß ich jetzt schon. Ich habe absolut keine Anhaltspunkte. Niemand hat irgend jemanden in Jacksons Haus gehen sehen. Das liegt an dieser verdammten Bootswerft nebenan. Dadurch sind sie in der Straße an fremde Gesichter gewöhnt und achten nicht mehr darauf.«

»Hast du schon mit den Leuten gesprochen, die gestern abend im Pub waren, als er reinkam?«

»Mit den meisten, ja. Der Wirt hat mir übrigens gesagt, daß er seine Uhr immer um fünf Minuten vorstellt; also ist Jackson etwa um Viertel nach gegangen.«

Morse kaute nachdenklich an seinem Daumen. Demnach hatte Charles Richards also wirklich ein unumstößliches Alibi – schließlich hatte er selbst ihn von fünf nach acht bis nach halb zehn im großen Saal des Clarendon Institute auf dem Podium stehen sehen und reden hören. Es war also ein Ding der Unmöglichkeit, daß Richards Jackson ermordet hatte. Morse wußte aus langer, schmerzlicher Erfahrung, daß es auf die Dauer nichts half, Fakten zu leugnen. Sollte er also nicht lieber anerkennen, daß Richards unschuldig war, und neue Überlegungen anstellen? Aber Morse hatte dem Wort ›unmöglich‹ schon immer skeptisch gegenübergestanden und es eher als Herausforderung denn als Hinderungsgrund aufgefaßt. Statt sich also – wie die Vernunft zweifellos geboten hätte – nach einem neuen Täter umzusehen, begann er erneut, über das Alibi nachzugrübeln. War es wirklich so wasserdicht, wie es schien? Oder ließ es sich nicht doch am Ende knacken – wenn man den Hebel nur richtig ansetzte … Im Hinblick darauf war der anonyme Anruf zum Beispiel interessant. Als ob jemandem sehr daran gelegen gewesen wäre, die Polizei wissen zu lassen, daß Jackson um Viertel nach neun schon tot war – um diese Zeit hielt Richards im Clarendon noch immer seinen Vortrag …

Wenn er wüßte, wer da angerufen hatte, wäre er schon einen Schritt weiter. Jackson war es diesmal jedenfalls nicht gewesen. Oder? War es möglich, daß …

Bell hatte offenbar über genau dieselbe Frage nachgedacht.

»Wer, glaubst du, war der Anrufer? Dieselbe Person, die uns über den Tod von Anne Scott informiert hat?«

»Nein, das glaube ich nicht. Ich bin mir ziemlich sicher …«

Morse hielt inne.

»Du hältst mit irgend etwas hinter dem Berge! Worüber bist du dir ziemlich sicher?«

Morse schwieg einen Moment betreten, dann entschloß er sich, Bell zu erzählen, was er wußte: angefangen bei der Party in Nord-Oxford, auf der er Anne kennengelernt hatte, bis hin zu seinem Telefongespräch mit Jennifer Hills. Einmal dabei, reinen Tisch zu machen, beichtete er sogar, daß er den Schlosser mit fünf Pfund hatte bestechen müssen, um an den Schlüssel für die Hintertür zu kommen. Ohne daß es den beiden klar war, hatten sie eine Menge der Informationen, die ihnen zur Lösung des Falles verhelfen sollten, schon beisammen. Oder anders ausgedrückt: eine Reihe von Bildausschnitten war schon in der richtigen Farbe ausgemalt. Aber Morse und Bell fehlte es an Vorstellung, auch die noch weißen Flächen zu erfüllen, um das Bild als Ganzes erstehen zu lassen.

»Ich danke dir für deine Offenheit, Morse«, sagte Bell. »Und wenn du irgendeine Idee hast – du weißt, ich kann im Moment jede Anregung gut gebrauchen.«

»Ja, ich weiß, alter Freund«, sagte Morse. »Ich will dir sagen, was ich tun werde: Ich werde nachdenken. Ich habe das Gefühl, als ob wir irgend etwas übersehen hätten. Aber ich komme einfach nicht darauf, was es sein könnte.«