Kapitel Acht
Der Mann, der mehr Leben durchlebt als eins,
Schaut mehrmals dem Tod ins Gesicht.
Oscar Wilde,
Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading
Auch Charles Richards fand in dieser Nacht wenig Schlaf. Doch seine Unruhe war qualvoller als die von Walters und auch nicht nur vorübergehender Natur. Er fürchtete um den Bestand seiner Ehe, fürchtete, daß Celia ihn verlassen könne – und all das nur, weil er im entscheidenden Moment falsch reagiert hatte. Wie hatte ihm das nur passieren können, bei seiner Erfahrung im Täuschen und Verheimlichen! Warum bloß hatte er, als Celia das lange blonde Haar auf seinem Jackett entdeckt hatte, nicht einfach die Achseln gezuckt, nonchalant und unbekümmert, statt sich in diese komplizierten und unglaubwürdigen Erklärungen zu verrennen. Er sah ihr Gesicht vor sich, das ihm, ungeachtet ihres angestrengten Bemühens um Selbstbeherrschung, verriet, daß sie zornig war und eifersüchtig, daß sie sich von ihm im Stich gelassen und gedemütigt fühlte, vor allem aber, daß sie sich in ohnmächtigem Schmerz wieder einmal ihrer eigenen Grenze bewußt geworden war. Und das zu sehen tat ihm weh, mehr weh, als er je für möglich gehalten hätte. Vielleicht hatte sie schon früher manchmal etwas geahnt; in letzter Zeit hatte sie sicher einen Verdacht gehabt – doch seit gestern wußte sie nun endgültig Bescheid; daran konnte kein Zweifel bestehen. Während er sich unruhig von einer Seite auf die andere warf, fragte er sich, wie er jemals mit diesem Gefühl von Schuld umgehen sollte, das er empfand.
Sein Frühstück am nächsten Morgen bestand nur aus einer Tasse Kaffee und einer Zigarette. Allein am Küchentisch sitzend, spürte er eine nie gekannte Hilflosigkeit, die ihn erschreckte. Er hatte rasende Kopfschmerzen, und als er die Zeitung aufschlug in der Hoffnung, seine eigenen Sorgen würden sich angesichts der Meldungen über Hungerkatastrophen, Erdbeben und Seuchen relativieren, verschwammen die Zeilen vor seinen Augen, und er mußte sie weglegen. So war er wieder bei sich und seinen Problemen und zog eine bittere Bilanz: Er verlor seit einigen Jahren allmählich die Haare, und er verlor an Vitalität. Doch etwas viel Wesentlicheres, nämlich seine Integrität als Mensch und Mann hatte er schon lange davor eingebüßt. Und nun war abzusehen, daß er auch noch seine Frau verlieren würde. Er trank zuviel, kam von den Zigaretten nicht los, und seine sexuellen Wünsche trieben ihn immer wieder aufs neue in die Arme irgendwelcher Frauen … O Gott, wie er sich für all das haßte.
Samstags war es meistens sehr ruhig in der Firma; doch gab es immer irgendwelche Briefe zu schreiben, es konnte ein wichtiger Anruf kommen, und manchmal hatte einer der Angestellten eine Frage, so daß Charles es sich schon seit Jahren zur Gewohnheit gemacht hatte, auch an diesem Tag im Büro zu erscheinen. Seine Sekretärin hatte ebenfalls anwesend zu sein, und er erwartete auch von seinem Bruder Conrad, daß er sich wenigstens kurz blicken ließ, so daß sie, bevor sie zusammen ihren gewohnten mittäglichen Drink nahmen, Gelegenheit hatten, die Geschäftsabschlüsse der letzten und die Pläne für die nächste Woche zu besprechen. An diesem Samstag hatte Charles, wie immer, wenn er keine geschäftlichen Verpflichtungen außerhalb hatte, für den kurzen Weg von zu Hause bis ins Zentrum von Abingdon den Mini genommen. Der Regen der letzten Tage hatte aufgehört; der Himmel war von zartem Blau und wolkenlos. Heute würde man endlich einmal keinen Schirm mehr brauchen. Im Büro angekommen, rief er seine Sekretärin zu sich, um ihr mitzuteilen, daß er nicht gestört zu werden wünsche; er habe sich mit wichtigen Unterlagen zu befassen.
Eine halbe Stunde lang saß er da, das Kinn in die linke Hand gestützt, und tat gar nichts, starrte nur vor sich hin und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Langsam keimte in ihm der Entschluß, aufzuhören mit der Qualmerei – vielleicht konnte das der erste Schritt sein. Er schwor sich, daß dies die letzte Schachtel sein würde (zum Glück hatte er sie gerade erst gekauft!), und dann würde er von dieser unseligen Angewohnheit ablassen und auf diese Weise nicht nur Herz, Kreislauf und Lungen vor weiteren Schäden bewahren, sondern obendrein auch noch eine Menge Geld sparen und (so hatte er jedenfalls gelesen) eine unerhörte Steigerung seiner Potenz erleben. Angesichts dieser immensen Vorteile sollte es doch wirklich möglich sein, sich zu beherrschen! Einen flüchtigen Moment lang bedauerte er, während er sich, ohne nachzudenken, gleichsam automatisch schon die nächste Zigarette ansteckte, daß die Packung noch fast voll war. Aber spätestens gegen Mittag würde keine Zigarette mehr übrig sein, und dann begann die Zeit der großen Kasteiung – bei seinem Drink mit Conrad würde er allerdings schon noch eine rauchen. Falls Conrad heute überhaupt kam … Mit fast schon wieder lustvollem Selbstmitleid sinnierte er über den labilen Charakter der Menschen schlechthin (vor allem natürlich der Männer!) und seine eigene Schwäche insbesondere. Wieder und wieder hatte er Anläufe genommen, sich zu ändern, hatte sich, immer dann, wenn hinter den Süchten und Räuschen die Schalheit und Leere sichtbar geworden war und er sich plötzlich mit der ganzen Wahrheit seines Lebens konfrontiert gesehen hatte, gleich einem reuigen Sünder auf einer Erweckungsversammlung an die Brust geschlagen, seine Schuld bekannt und Besserung gelobt. Doch dem jähen Erschrecken und dem Entschluß zur Umkehr war noch jedesmal wieder ein neuer Sündenfall gefolgt. Inzwischen glaubte er eigentlich nicht mehr daran, daß er wirklich in der Lage sei, sich zu wandeln. Da es ihm an Stärke mangelte, Versuchungen zu widerstehen, mußte er ihnen eben – so hatte er vor Jahren geschlossen – möglichst aus dem Weg gehen. Die Zahl seiner Liebschaften hatte sich denn auch deutlich verringert, und er hatte sich weniger stark in sie verstricken lassen. Das war alles, wozu er sich in der Lage sah, und bisweilen war es ihm schon viel erschienen, und er hatte sich eingeredet, Celia auf seine Art ein treuer Ehemann zu sein. Denn das war es, worum er sich bemühte, weil ihm nichts mehr zuwider war, als sie zu verletzen. Und das zu verhindern, war er bereit, eine Menge zu tun. Fast alles.
Um Viertel nach zehn rief er seinen Bruder an. Conrad war achtzehn Monate jünger als er, schlanker, aber mit mehr grauen Haaren an den Schläfen. Charles hatte ihn immer bewundert, weil er soviel ausgeglichener, freundlicher, rücksichtsvoller und anteilnehmender war als er selbst. Sie waren stets gut miteinander ausgekommen, und ihre geschäftliche Partnerschaft hatte sich für beide in all den Jahren als vorteilhaft erwiesen. Conrad war der einzige Mensch, dem sich Charles, was seine Affären anging, rückhaltlos anvertrauen konnte; er hatte bei diesen Gelegenheiten immer eine gewisse Abgeklärtheit und großes Verständnis an den Tag gelegt.
»Hast du eigentlich vor, heute noch mal hier vorbeizukommen, Conrad? Es ist schon nach zehn!«
»Ja, ich weiß. Zwanzig nach. Und in genau vierzig Minuten geht mein Zug. Du scheinst vergessen zu haben, daß ich heute wegfahre; dabei kam der Vorschlag dazu von dir.«
»Ja, du hast recht. Jetzt fällt es mir wieder ein. Entschuldige. Ich werde wohl alt.«
»Ach, tröste dich, da bist du nicht der einzige.«
»Conrad … ich … äh, ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
»Ja?«
»Es ist auch wirklich das letzte Mal; ich verspreche es.«
»Kannst du mir das schriftlich geben?«
»Ich glaube fast, ja.«
»Steckst du in Schwierigkeiten?«
»Bis zum Hals. Aber ich komme da schon wieder raus – wenn du mir hilfst. Ich brauche so etwas wie ein Alibi … für gestern nachmittag.«
»Das ist jetzt schon das zweite Mal in dieser Woche.« (Schwang da in seiner Stimme ein neuer, ungewohnter Ton von Gereiztheit mit?)
»Ja, ich gebe es zu. Aber, wie ich eben sagte, es ist bestimmt das letzte …«
»Was haben wir also gemacht?«
»Äh, ich dachte, am besten wäre, du sagst, wir hatten ein Treffen mit unserem schwedischen Kunden …«
»Und wo?«
»Äh … vielleicht High Wycombe?«
»Gut, also High Wycombe. Sind wir in meinem Wagen hingefahren?«
»Äh, ja. Ich … äh, wir waren so gegen sechs Uhr fertig.«
»Gegen sechs. Na schön.«
»Es ist nur für alle Fälle – du verstehst, was ich meine? Ich bin mir ziemlich sicher, daß Celia, falls sie sich bei dir erkundigt, nicht nach Einzelheiten fragen wird, aber …«
»Ich habe verstanden. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Das sagst du so einfach!«
»Hör mal, Charles, es tut mir leid, aber ich muß jetzt langsam los. Es ist schon …«
»Ja, natürlich. Entschuldige! Ich wünsche dir eine gute Reise. Und, Conrad … was ich noch sagen wollte: vielen Dank; du hast mir sehr geholfen!«
Charles hatte kaum aufgelegt, da klingelte es, und seine Sekretärin teilte ihm mit, daß sie einen Anruf von außerhalb für ihn habe. Privat.
»Richards. Guten Morgen.«
»Charles!« Ihre Stimme war zärtlich und hingebungsvoll.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich nicht hier im Büro …«
Der Ärger war ihm deutlich anzuhören, aber sie ging unbekümmert darüber hinweg.
»Aber Liebling, nun hab dich mal nicht so. Du bist doch allein. Ich habe deine Sekretärin extra vorher gefragt.«
Charles holte tief Luft. »Was willst du also?«
»Dich!«
»Hör zu, ich …«
»Ich hatte heute morgen einen Anruf von Keith. Er muß noch mindestens eine Woche in Südafrika bleiben. Eine Woche! Deshalb wollte ich dich fragen, ob ich nicht so gegen halb zwei, zwei im Schlafzimmer die Heizung anstellen soll …?«
»Hör zu, Jenny! Ich kann heute nicht kommen. Du weißt doch, daß es samstags nicht geht«, sagte er unfreundlich.
»War ja nur eine Frage! Du brauchst deshalb doch nicht gleich so ärgerlich zu werden. Dann sehen wir uns eben morgen. Ich dachte nur, ich könnte es ja mal versuchen. Es hätte ja sein können, daß du vielleicht ausnahmsweise …«
»Hör zu …«
»Nun laß doch endlich mal dieses blöde ›Hör zu‹!«
»Tut mir leid. Entschuldige bitte. Was ich dir sagen wollte, war, daß wir uns nächste Woche nicht werden treffen können. Es ist zu riskant. Gestern …«
»Was soll das heißen?«
Charles dachte an ihr langes blondes Haar und ihren schlanken Körper und fühlte, wie eine verzweifelte Angst in ihm hochstieg.
»Hör zu, Jenny«, sagte er bittend, »ich werde versuchen, es dir zu erklären, nur jetzt …«
»Auf die Erklärung bin ich gespannt!«
»Ich kann jetzt nicht. O Gott!« Es war wie ein Aufschrei.
»Wann denkst du, daß wir uns sehen können?« fragte sie kühl.
»Ich werde mich bei dir melden. Aber nächste Woche ist es unmöglich. Es geht einfach nicht …«
Doch sie hatte schon aufgelegt.
Charles lehnte sich schwer atmend in seinem Ledersessel zurück. Der scharfe, krampfartige Schmerz zwischen seinen Schulterblättern drohte ihm die Luft zu nehmen. Er wollte eine Tablette nehmen, doch als er die Schachtel öffnete, sah er, daß sie leer war.
An diesem Samstag brachte die Oxford Mail auf Seite zwei einen verspäteten Bericht über den Selbstmord einer gewissen Anne Scott aus Jericho, Canal Reach Nr. 9. Unter denen, die ihn lasen, waren auch einige, die sie gekannt hatten: die Murdochs, Conrad Richards, Morse. Daß auch Charles Richards ihn zu Gesicht bekam, war wohl nichts anderes als Zufall. Er hatte, nachdem die Arbeit im Verlag erledigt war, den White Swan aufgesucht und sich dort drei doppelte Whiskies genehmigt. Bei seiner Ankunft zu Hause stellte er fest, daß Celia sich den Rolls genommen hatte. In der Küche lag ein Zettel, sie sei nach Oxford zum Einkaufen gefahren. »Bin gegen fünf wieder da. Im Kühlschrank steht eine Pastete für dich.« Als sie zurückkam, hatte er im Wohnzimmer gesessen und gerade die Sportschau gesehen. Sie hatte eine Oxford Mail mitgebracht, die sie, als sie wieder hinausging, beiläufig neben ihn auf den Wohnzimmertisch legte – Seite zwei nach oben.