Kapitel Sechsundzwanzig
Es gibt eine Gruppe von Kreuzworträtseln,
bei der das Lösungswort
in der Frage selbst verborgen ist –
und zwar in der richtigen Reihenfolge
der Buchstaben.
D. S. Macnutt, Des Ximenes Buch
über die Kunst des Kreuzworträtsels
Am nächsten Morgen hatte Morse vor sich auf dem Schreibtisch zwei Aktenordner liegen, der eine rot, der andere grün, mit der Aufschrift Anne Scott und George Jackson. Morse starrte sie mit Widerwillen an, ohne sie zu öffnen. Er hielt es für unwahrscheinlich, daß er aus ihnen irgend etwas erfahren würde, was das Rätsel der beiden Tode aufhellen würde. Für ihn stand fest, daß das Zusammentreffen der beiden Todesfälle innerhalb so kurzer Zeit und in derselben kleinen Straße kein Zufall sein konnte. Aber worin der Zusammenhang nun bestand, hatte er trotz allen Grübelns nicht herausbekommen. Das machte ihn fuchsig, und Lewis, der um Viertel vor neun morgenfrisch und nichtsahnend das Büro betrat, hatte es auszubaden.
»Was liegt heute an, Sir?«
Morse deutete auf die Aktenordner. »Wir beschäftigen uns zur Abwechslung mal mit dem, was Bell und seine Jungs herausbekommen haben. Wie ich die kenne, wird ein Haufen überflüssiger Informationen dabei sein, und vermutlich kaum geordnet – na ja.«
Lewis nickte und nahm Morse gegenüber Platz. »Mit welchem der beiden fangen wir an?«
Morse schien seine Frage nicht gehört zu haben. Er blickte abwesend zum Fenster hinaus auf den Parkplatz und war in die Betrachtung der dort abgestellten Polizeiwagen, meist BMWs und Fords, versunken.
»Wie?«
»Ich habe gefragt, mit welchem wir anfangen.«
»Was fragen Sie mich? Es gibt wohl gar nichts, was Sie mal allein entscheiden können.«
Lewis hatte verstanden, daß dicke Luft war, griff wortlos nach dem roten Ordner und begann, die Unterlagen zu Anne Scotts Selbstmord zu studieren. Nach kurzer Zeit riß auch Morse sich vom Anblick der Autos los und zog, unlustig, wie es schien, den grünen Ordner zu sich herüber.
Eine halbe Stunde lang beschäftigten sich beide schweigend mit dem von Bells Leuten zusammengetragenen Material.
»Warum, glauben Sie, hat sie sich umgebracht?« fragte Morse unvermittelt.
»Weil sie schwanger war.«
»Ist das nicht ein bißchen schwach als Motiv? Eine Abtreibung ist doch heutzutage kein Problem mehr.«
»Für viele ist das aber nach wie vor eine furchtbare Sache.«
»Denken Sie, daß sie gewußt hat, daß sie schwanger war?«
»Müßte sie eigentlich. Hier steht, die Schwangerschaft hat seit acht bis zehn Wochen bestanden.«
»Hm.«
»Also, meine Frau hat es immer gewußt.«
»So?«
»Ja. Sie war sich natürlich nicht hundertprozentig sicher, und deshalb ist sie dann auch immer in die Klinik zur Schwangerensprechstunde gegangen.«
»Und was haben die dort gemacht?«
»Ich glaube, sie mußte Urin abgeben, und der wurde dann an ein Labor geschickt, und …«
Auf Morses Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, er sprang hoch, kam um den Schreibtisch herum und klopfte dem verdatterten Lewis anerkennend auf die Schulter.
»Lewis, Sie sind ein Genie!«
»Aber wieso? Was habe ich denn …?«
»Fangen Sie an zu suchen! Er muß hier irgendwo dazwischen sein. Ein Umschlag mit ein paar Resten halbverbrannten Papiers.«
Der Umschlag war schnell gefunden, und Lewis holte die beiden Papierfetzen heraus: ICH und RAT. Sie sagten ihm nichts.
»Gestern nachmittag bin ich dran vorbeigefahren, aber es ist mir nicht aufgefallen – als ob ich Stroh im Kopf hätte!« Morse schien erst jetzt zu bemerken, daß Lewis immer noch nicht begriffen hatte, worum es eigentlich ging, und bequemte sich endlich zu einer Erläuterung. »Diese Buchstaben hier sind Teile eines Briefkopfes.« Doch der Sergeant blickte noch immer verständnislos, und Morse demonstrierte es ihm, indem er es aufschrieb. JerICHo Testing LaboRATories. »Rufen Sie dort an, Lewis, und bringen Sie in Erfahrung, wann sie Anne Scott das Ergebnis zugeschickt haben.«
»Aber warum ist denn das so wichtig?«
»Wenn sie den Brief einen Tag vor ihrem Tod bekommen hat, dann könnte das bedeuten …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, wohl, weil er seiner Sache selbst nicht ganz sicher war. »Und dann rufen Sie gleich auch noch bei der Post an und erkundigen sich, wann in Jericho normalerweise Zustellung ist.«
»Na, so gegen acht, würde ich denken.«
»Es ist mir lieber, Sie fragen noch einmal nach. – Acht bis zehn Wochen! Wie lange ist Richards schon in Abingdon?«
»Aber was hat das denn …«
»Drei Monate, Lewis. Ich glaube, er hat in seinem Vortrag von drei Monaten gesprochen. Rufen Sie ihn an, Lewis, und …«
»Also, Sir, jetzt lassen Sie mich aber erst mal machen, und geben Sie mir nicht immer neue Aufträge, sonst komme ich zu gar nichts.«
»Ja, machen Sie nur, machen Sie, Lewis, ich werde Sie jetzt in Ruhe lassen.«
»Wen soll ich zuerst anrufen?«
»Was fragen Sie mich?! Es gibt wohl nichts …« Doch dann lächelte er Lewis huldvoll zu. »Wen immer Sie für richtig halten, mein lieber Lewis. Ich glaube, die Reihenfolge spielt keine große Rolle.«
Ein Abglanz des Lächelns lag noch auf seinem Gesicht, als er sich jetzt wieder dem Aktenordner zuwandte. Endlich hatte er den Einstieg, nach dem er so lange gesucht hatte. Jetzt konnte er loslegen.
Lewis hatte innerhalb einer halben Stunde alle Telefonate erledigt. Bei den Jericho Testing Laboratories hatte er erfahren, daß Anne Scott am Nachmittag des 1. Oktober angerufen habe, um sich zu erkundigen, ob sie schwanger sei. Man hatte ihr mitgeteilt, das Ergebnis werde ihr, sobald es vorliege, zugeschickt, und das war auch geschehen. Am 2. Oktober war der Befund hinausgegangen – er war positiv gewesen. Der Anruf bei der Post brachte die Information, daß – wie Lewis gesagt hatte – alle Briefe gegen acht, spätestens halb neun in den Händen der Empfänger seien. Das Gespräch mit Charles Richards kam nicht zustande. Bei ihm zu Hause hob niemand ab, und als Lewis im Verlag anrief, verband man ihn mit seinem Bruder Conrad. Der antwortete auf Lewis’ diesbezügliche Frage, ohne lange überlegen zu müssen, der Umzug nach Abingdon liege etwa drei Monate zurück – drei Monate und vier Tage, um genau zu sein. Morse hatte, während Lewis telefonierte, die Akte Jackson studiert und während des Lesens ein paarmal befriedigt genickt. Er war jedoch nur mit halber Aufmerksamkeit bei der Sache gewesen und hatte gar nicht bemerkt, wie eins der Blätter zu Boden gefallen war. Lewis sah es dort liegen, hob es auf und gab es dem Chief Inspector.
»Gehört das nun zu meiner oder zu Ihrer Akte, Sir?« Morse warf einen Blick auf die Notiz. »In Ihre Akte. Irgend so ein alter Knacker hat gemeint, sich melden zu müssen, um uns mitzuteilen, daß sie sich am Dienstag vor Anne Scotts Tod im Bridgeclub über Geburtstage unterhalten haben. Mit was für einem Scheiß manche Leute kommen …«
Lewis nickte und wandte sich wieder seiner Akte zu. Als er ein paar Sekunden später zufällig hochblickte, saß Morse starr wie ein Ölgötze da, die Augen unverwandt ins Leere gerichtet. Aus der Zigarette, die vergessen im Aschenbecher lag, stieg ein zarter blauer Rauchfaden.
Kurz vor Mittag rief Conrad Richards seinen Bruder in Madrid an.
»Hallo, Charles! Buenas – na, du weißt schon! Como está?«
»Gut, sehr gut. Und dir?«
»Ich hatte heute morgen einen Anruf von der Polizei. Sie wollten – wissen, wie lange wir schon in Abingdon sind.«
»Das war alles?«
»Ja.«
»Hm. Ich verstehe«, sagte Charles nachdenklich. »Wie geht es Celia?«
»Ganz gut, glaube ich. Sie ist nach Cambridge gefahren, um Betty zu besuchen. Sie wird vermutlich bei ihr übernachten. Ich habe ihr jedenfalls zugeredet, daß sie es tut.«
»Da bin ich erleichtert.«
»Und – Charles, jetzt mal was anderes. Ich habe da eine Anfrage bekommen von der Prüfungsbehörde hier; sie möchten, daß wir fünfhundert Exemplare irgendeines klassischen Textes nachdrucken, der nicht mehr aufgelegt wird. Copyright und so weiter ist kein Problem. Sollen wir es machen? Was meinst du?«
Sie diskutierten ein paar Minuten über die Kalkulation, dann sagte Charles, Conrad möge die Entscheidung treffen, die er für richtig halte. Sie verabschiedeten sich.
Ein paar Minuten später verließ Charles Richards sein Hotel und ging die sonnendurchflutete Calle de Alcatá hinunter, betrat das Café Léon und bestellte sich einen Cuba Libre.
Die ganze Fahrt nach Cambridge kehrten Celias Gedanken immer wieder zu den Ereignissen der letzten drei Wochen zurück. Sie war sich bewußt, daß sie nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit fuhr, und versuchte immer wieder, sich ausschließlich auf den Verkehr zu konzentrieren, aber es wollte ihr nicht gelingen. In Bedford übersah sie einen Autofahrer, der sie in einer Einbahnstraße in der Innenstadt – durchaus zulässig – links hatte überholen wollen und hätte ihn beinahe gerammt, was er mit wütendem Gehupe quittierte. Später fuhr sie ein kurzes Stück auf der A 1 und verpaßte um ein Haar die Ausfahrt nach St. Neots. Das laute Quietschen der Reifen, als sie bremste, ging ihr so durch und durch, daß sie erst an den Straßenrand fahren und sich ein paar Minuten erholen mußte, bevor sie sich traute, die Fahrt fortzusetzen. Was war bloß in diesen drei Wochen aus ihr geworden, dachte sie verzweifelt.
Sie hatte die beiden Brüder kennengelernt, kurz nachdem sie in Croydon ihren Verlag gegründet hatten. Von Anfang an hatte sie nur für Charles Augen gehabt. Charles – mit seinem Charme, seiner Lebensfreude, seiner ausgeprägten Männlichkeit. Ziemlich schnell, noch vor ihrer Ehe, hatte sie jedoch auch die Schattenseiten seines Charakters gesehen: das schnelle Gekränktsein, seine Empfänglichkeit für Schmeicheleien, die kalte Rücksichtslosigkeit, was geschäftliche Dinge anging. Und schon damals hatte er jeder hübschen Frau hinterhersehen müssen. Die unverhohlene Begehrlichkeit, die in seinen Augen zu lesen war, hatte sie verstört, so daß sie den Blick jedesmal hatte abwenden müssen. Trotzdem waren sie in den ersten Jahren ihrer Ehe noch relativ glücklich gewesen. Sie hatten einen großen Freundeskreis gehabt und ein geselliges Leben geführt. In dieser Zeit war es ein paarmal vorgekommen, daß sie dem Werben eines Bekannten nachgegeben und mit ihm geschlafen hatte. Aber das waren nie mehr als kurze Episoden gewesen; sie hätte nie zugelassen, daß daraus eine Affäre wurde. Charles dagegen hatte zu allen Zeiten andere Frauen neben ihr gehabt – flüchtige Abenteuer manchmal, aber auch dauerhaftere Beziehungen. Sie wußte es von ihm selbst; er hatte es ihr einmal gestanden. Und dann im Vergleich dazu Conrad – der gute, treue Conrad! Damals, ganz zu Anfang, war er genauso verliebt in sie gewesen wie Charles. Aber dessen sprühende Lebhaftigkeit und mitreißender Elan hatten sie gleich so gefangengenommen, daß sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihn näher kennenzulernen. Ihr Urteil über ihn hatte schnell festgestanden: zu unentschlossen, zu passiv, nicht männlich genug. In den Jahren danach lernte sie ihn allmählich als Freund schätzen, und ihr wurde klar, wie unrecht sie ihm getan hatte. Er war nicht unentschlossen und passiv, nur vorsichtiger als Charles, auch rücksichtsvoller und besaß nicht dessen unbedingtes Durchsetzungsvermögen, das sie inzwischen abstieß, weil sie wußte, was dabei alles auf der Strecke blieb – Anstand, Großzügigkeit, Mitgefühl … Sie rief sich Conrads leises, ein wenig scheues Lächeln ins Gedächtnis zurück, wenn er sah, daß es ihr gutging. Wäre sie heute glücklicher, wenn sie ihn statt Charles geheiratet hätte? Er hatte sie nie gefragt, weil von Anfang an Charles Ansprüche auf sie geltend gemacht hatte. Für Charles wäre Konkurrenz eine Herausforderung und ein Ansporn gewesen, während Conrad sich in solchen Situationen lieber zurückzog. Schon seltsam, dieser Unterschied der Temperamente, und dabei sahen sie sich äußerlich so ähnlich … Aber Charles war durch und durch eine Kämpfernatur, während Conrad … Doch auch diese Einschätzung würde sie vielleicht korrigieren müssen. In den letzten Tagen war bei Conrad eine neue, ganz überraschende Seite zum Vorschein gekommen …
In Cambridge bog sie in die Huntingdon Road ein, die nach Girton führt, wo ihre Schwester wohnte.
Als Betty mit den Sherrygläsern zurück ins Wohnzimmer kam, saß Celia, von heftigem Schluchzen geschüttelt, zusammengekauert in einem Sessel.
»Wenn du darüber sprechen magst, kannst du es mir erzählen, aber du mußt nicht. Hier, trink erstmal einen Sherry, das wird dir guttun. Ich hoffe, du bleibst über Nacht. Das Bett ist schnell gemacht, und ich habe zwei Theaterkarten.«
Nach einer Weile sah Celia auf und lächelte ihrer Schwester verloren zu. »Ach, Betty, ich bin so froh, daß ich hierherkommen kann. Aber ich glaube, ich möchte wirklich nicht darüber sprechen.«