Kapitel Fünfundzwanzig
Ohne Bildung ist das Leben
eines Mannes gleich dem Tod.
Cicero
Das helle Licht des sonnigen Oktobertages verlieh den schäbigen Straßen ein beinahe freundliches Aussehen, und auch die eintönigen Fassaden der Reihenhäuser wirkten weniger trist als gewöhnlich. Hier und da standen Frauen zu einem kleinen Schwatz beieinander, sie wienerten ihre Türklinken, in der Hoffnung daß jemand vorbeikäme, mit dem sich ein Gespräch anfangen ließe, oder gingen einkaufen. Da die Männer um diese Stunde bei der Arbeit, die Kinder in der Schule waren, ließen sie sich Zeit. Der strahlende Sonnenschein wirkte belebend auf das Gemeinschaftsgefühl.
Auch Sergeant Lewis, der am Morgen von Morse nach Jericho geschickt worden war, um Erkundigungen über Jackson einzuziehen, profitierte von dem schönen Wetter – alle Leute, auf die er traf, waren gutgelaunt und gesprächig. Wieder zurück im Präsidium, erstattete er Morse Bericht. Mittels diskreter Fragen hatte er herausgefunden, daß Jackson durchaus nicht arm gewesen war. Durch seine gelegentlichen Aushilfsjobs, bei denen oft recht umfangreiche Arbeiten auszuführen waren, hatte er seine Rente erheblich aufbessern können. Das Haus, in dem er gewohnt hatte, war sein Eigentum gewesen, er hatte an die fünfzehnhundert Pfund Erspartes, dazu Pfandbriefe im Wert von noch einmal zweihundertfünfzig Pfund. Seine Angelausrüstung war sicher auch nicht billig gewesen. Lewis schätzte, daß sie an die tausend Pfund gekostet haben mochte. Trotz dieses relativen Wohlstands hatte er fast immer, wenn er etwas kaufte, am Preis herumgenörgelt und zu feilschen versucht. Manchmal hatte er auch Schulden gemacht, die er jedoch am Ende immer beglichen hatte. Auch die Raten für seine neue Angelrute hatte er pünktlich bezahlt. Merkwürdigerweise schien niemand wirklich etwas gegen ihn gehabt zu haben; es war eher so, daß er ihnen gleichgültig gewesen war – im Leben wie im Tode. Lewis fand das fast noch schlimmer, als wenn sie ihn gehaßt hätten.
Morse hörte seinen Bericht mit Interesse an und erzählte dann seine eigenen, ungleich dramatischeren Erlebnisse.
»Haben wir eine schriftliche Aussage von ihr?« fragte Lewis.
»Eine schriftliche Aussage?«
»Aber ohne die geht es nicht, Sir.« Was blieb Lewis übrig, als bei Mrs Richards anzurufen, um mit ihr einen Termin für die schriftliche Fixierung ihrer Aussage zu vereinbaren. Sie war einverstanden, daß er am Nachmittag vorbeikäme. Lewis dachte insgeheim, daß er sich diesen Weg hätte sparen können, wenn Morse gleich daran gedacht hätte, das Nötige zu tun, sagte aber nichts. Er wußte, daß Morses Interesse an formalen Dingen gering war – zumal, wenn die Aussage wie hier nur dazu diente, eine offene Frage zu klären, für die Lösung des Falles jedoch keinerlei Bedeutung besaß. Und tatsächlich war Morses Wissensdurst, die Familie Richards betreffend, im Schwinden begriffen. Gleich nach Verlassen des Verlages hatte er beschlossen, sich intensiver als bisher mit der Person des toten Jackson zu befassen. Ein Besuch in Canal Reach konnte da nicht schaden, auch wenn er nicht hätte sagen können, was er sich davon eigentlich erwartete.
So stand Morse am Nachmittag gegen zwanzig vor drei auf der Türschwelle von Nr. 10. Er schloß auf und ging gleich in den oberen Stock. Die blutbefleckte Bettwäsche war abgezogen worden, nur die Decken lagen, ordentlich zusammengefaltet, noch am Fußende. Irgend jemand hatte die verstreuten Zeitschriften aufgesammelt und zwei Stapel gemacht, die Pornohefte und die Anglerzeitschrift sorgfältig geschieden. Er setzte sich aufs Bett, nahm sich eines der Pornohefte und blätterte es durch. Die wenigen Sätze Text waren in Dänisch oder Schwedisch, aber die Fotos waren so eindeutig, daß man die Kenntnis dieser Fremdsprachen entbehren konnte. Gelangweilt legte er die Magazine bald wieder beiseite, verließ das Zimmer und ging nach unten in die Küche.
Jackson hatte nur wenig Geschirr und so gut wie kein modernes Küchengerät besessen. In der Vorratskammer standen nur ein paar Dosen Baked Beans, das war alles. Unter dem schmierigen Spültisch lag eine Nummer der Sun; daneben lagen abgewaschen in einem gelben Plastikkorb der Teller und das Besteck, die er zu seiner letzten Mahlzeit benutzt hatte. Nein, hier gab es nichts zu entdecken.
Im vorderen Zimmer war es nicht viel anders – auch hier gab es nichts, was Morse interessiert hätte. Auf dem staubigen Kaminsims stand die Miniaturausgabe einer Kanone aus der Zeit des Burenkrieges; einziger Schmuck an der verblichenen grünen Tapete war der Kalender eines Anglerclubs, der noch den Monat September anzeigte. Auf einem Schränkchen lag neben einem unordentlichen Haufen Papierkram ein Transistorradio. Morse drehte geistesabwesend am Schalter, doch es blieb stumm. Vermutlich war die Batterie leer. Bei Ermittlungsarbeiten war er von penibler Gründlichkeit, und so nahm er sich seufzend und obwohl er sich nicht viel davon versprach, auch noch den Stapel Papier vor: ein veralteter Versandhauskatalog, Jacksons Rentenbuch, ein ungeöffneter Brief mit der letzten Gasrechnung, eine alte Ausgabe des Oxford Journal, ein illustrierter Führer durch Die Fischwelt der britischen Inseln, zwei Broschüren mit dem Titel Wir packen es, eine schmale Schachtel mit zwei neuen weißen Taschentüchern, ein Reklamezettel. Plötzlich hielt Morse inne und griff nach den Broschüren. Ja, genau – jetzt fiel es ihm wieder ein. Die beiden Hefte waren Begleitmaterial zu einer Fernsehserie gleichen Titels, die sich speziell an Analphabeten oder Beinahe-Analphabeten wandte. War Jackson auch Analphabet? Und war dies der Grund, warum sich in seinem Haus kaum ein Buch befunden hatte? Wie anders sah es dagegen im Haus gegenüber aus, wo Anne Scott Regale voller Bücher um sich gehabt hatte, die vielen Reihen von Penguin Klassikern zum Beispiel; Homer, Platon, Thukydides, Äschylos, Sophokles, Horaz, Livius, Vergil … Wenn Jackson diesen Reichtum hätte sehen können … Aber wahrscheinlich hätte es ihn gar nicht interessiert; es hatte dort anderes zu sehen gegeben, das ihn vermutlich viel mehr gereizt hatte, zum Beispiel eine Frau und ihren Liebhaber, die sich bei hellichtem Tage auszogen …
Morse stieg wieder nach oben in den ersten Stock, nahm das Fernglas, das auf dem Nachttisch lag, trat ans Fenster und sah hinüber zu Nr. 9. Wow! Das war ja fast, als sei man selbst drüben im Zimmer. Er verließ seinen Fensterplatz, ging in den hinteren Raum und blickte in dem schon dämmrigen Nachmittagslicht auf den schmalen Streifen Garten hinaus. In etwa dreißig Meter Entfernung, ganz am Ende, befand sich ein Schuppen. Aus purer Spielerei setzte er das Fernglas ans Auge; die schmutzigen Fensterscheiben behinderten jedoch die Sicht, und so legte er das Glas beiseite, um den Haken zu lösen und das Fenster hochzuschieben. Während er sich noch damit abmühte, war ihm plötzlich, als sehe er in dem Schuppen einen Schatten. Er riß das Fernglas hoch und war sich, nachdem er einen Blick hindurchgeworfen hatte, ganz sicher: da machte sich jemand in Jacksons Schuppen zu schaffen. Er raste die Treppe hinunter, durch die Küche zur Hintertür, drehte so leise wie möglich den Schlüssel herum, holte tief Luft, schob die Riegel zur Seite und stürzte hinaus.
Unglücklicherweise stolperte er nach wenigen Metern über den Mülleimer. Vermutlich hatte ihn einer der Beamten nach der Durchsuchung des Gartens dort stehenlassen. Der Deckel fiel laut klappernd herunter und drehte sich scheppernd fort und fort wie ein Kreisel. Morse stieß einen unterdrückten Schrei aus, halb aus Schmerz, halb vor Wut. Der Krach, den er veranstaltet hatte, hätte selbst einen Tauben gewarnt. Wenn der Jemand, der in Jacksons Schuppen herumgegeistert war, nicht schon vorher, als er oben das Fenster geöffnet hatte, aufmerksam geworden war, dann jetzt ganz bestimmt! Er rieb sich einen Moment das schmerzende Schienbein. Als er sich aufrichtete, sah er gerade noch den schattenhaften Umriß einer Person, die sich an der Mauer hochzog. Der sich drehende Deckel war zur Ruhe gekommen, und der Garten lag in völliger Stille. Morse atmete aus. Puh! Wenn er Lewis dabeigehabt hätte, hätte er sich vielleicht an die Verfolgung gemacht. Aber so, allein, hatte er sich einer möglichen Konfrontation nicht gewachsen gefühlt. Wenn er es hier mit Jacksons Mörder zu tun hatte, so war mit dem Mann nicht zu spaßen.
Der Schuppen war unaufgeräumt und voll mit nutzlosem Zeug. Löchrige Eimer, kaputte Kescher und dazwischen ein paar Gartengeräte, eine verrostete Harke und ein grober Besen. Morse hatte das Gefühl, daß, wenn er ein Teil davon anfaßte und hervorzuziehen versuchte, alles andere gleich auf ihn herunterstürzen würde. An der linken Seite schien es etwas aufgeräumter zu sein. Hier lehnten ordentlich hintereinander sieben Angelruten, die der Tür am nächsten stehende sah sehr durchgestylt aus und schien noch wenig gebraucht zu sein – das war vermutlich die Neuanschaffung, für die er noch Raten zu zahlen gehabt hatte. Doch Morse hielt sich nicht lange bei der Betrachtung der Angelruten auf, denn vor allem beschäftigte ihn die Frage, wo der Eindringling hier etwas gesucht hatte. Beim zweiten Hinsehen entdeckte er es: auf einer angebrochenen Plastiktüte mit Torfmull lag umgekippt ein Weidenkorb, wie ihn Angler benutzten. Der Inhalt war achtlos auf dem Boden verstreut: Haken, Dosen mit Köder, Schwimmer, Gewichte, eine Zange, Rollen Angelschnur, ein Messer. Morse sah sich die Bescherung an und seufzte. Was hatte der Mann nur gesucht? Er hatte nicht die geringste Idee. Und das kam selten genug vor.
Als er das Haus verließ und auf der Straße stand, dachte er sich, daß er schnell noch einmal gegenüber bei Nr. 9 hereinschauen konnte. Er schloß auf und betätigte den Lichtschalter gleich links von der Tür. Doch der Strom war schon abgeschaltet, es blieb alles dunkel. Er fand, daß er heute schon genug mitgemacht hätte und nicht auch noch in einem kalten, dunklen Haus herumtappen mußte. Auf der Matte an der Tür lag ein brauner Briefumschlag, hinter dessen Sichtfenster mit Schreibmaschine getippt Annes Name und Adresse stand. Wahrscheinlich eine Rechnung. Die würde nun wohl nicht mehr bezahlt werden. Morse nahm das Kuvert auf und steckte es ein.
Er fuhr links die Canal Street hinunter, vorbei an den grünen Toren von Lucy’s Eisengießerei und bog dann nach rechts in die Juxon Street. Die Kreuzung Juxon/Ecke Walton Street war verstopft. Während er wartete, ließ er seinen gelangweilten Blick über die nächststehenden Gebäude wandern und registrierte, wenn auch nur unterschwellig, die Firmennamen auf den Türschildern: The Jericho Testing Laboratories, Welsh & Cohen, Zahnärzte … Dann war die Kreuzung wieder frei, und er fuhr los.
Lewis war schon zurück aus Abingdon. Er legte Morse die Aussage von Celia Richards vor, und dieser überflog sie kurz.
»Ja, das können Sie dann abtippen. Aber vermeintlich wird mit ›t‹ geschrieben, und regelmäßig mit ›ß‹.«
Lewis schwieg. Er wußte, daß Rechtschreibung nicht seine starke Seite war.
»Wieviel hat eigentlich Jacksons neue Angelrute gekostet?« fragte Morse plötzlich.
»Danach habe ich mich nicht erkundigt, Sir«, antwortete Lewis verblüfft. »Es ist eine von diesen neuen, die ganz leicht und innen hohl sind, aber trotzdem sehr viel aushalten.«
»Ich habe Sie nach dem Preis gefragt, nicht nach ihren Qualitäten. Ich will ja schließlich keine kaufen.«
Lewis kannte diese Stimmung bei ihm. Morse war dann gereizt und bissig, und das beste war, man ließ ihn in Ruhe. Meistens hatte er sich vorher über sich selbst geärgert, und in der Regel dauerte es nicht lange, bis er in tiefes Grübeln verfiel, um am Ende mit einer erstaunlichen Entdeckung überzukommen.
Am frühen Abend fuhr Conrad seinen Bruder Charles zum Flughafen Gatwick. Die Maschine startete planmäßig um halb zehn, und Charles lehnte sich aufatmend in die Polster zurück. Er war auf dem Weg nach Madrid.