Kapitel Vier

 

Ich leg mich nieder und schlummre,

Erwach jeden Morgen neu.

Wes ist der nachtlange Atem,

Der mich am Leben erhält?

A. E. Housman, More Poems

 

In den frühen Nachtstunden, zur selben Zeit, als Bell und Walters in Anne Scotts Haus nach ihrem Abschiedsbrief suchten, saß Edward, der jüngere der beiden Murdoch-Brüder, das Kopfkissen im Rücken, in seinem Bett, vor sich auf den Knien ein aufgeschlagenes Buch – Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen. Edward beherrschte die deutsche Sprache mehr schlecht als recht und hatte in der Vergangenheit wenig Interesse gezeigt, sich gründlicher mit ihr zu beschäftigen. Doch dann, im letzten Sommer, hatte es jemand unternommen, ihm die Augen für ihre Schönheiten zu öffnen und es vermocht, ihn zu begeistern. Es war eine Frau, der dies gelungen war – Ms Anne Scott. Edward hatte einen Teil des Abends damit zugebracht, sich in Formulierungen für den von ihm geplanten Essay über Kafkas Kurzgeschichte Das Urteil zu üben. Doch irgendwann hatte er gemerkt, daß er sich den Text noch einmal genau würde ansehen müssen, bevor er mit dem Schreiben anfangen konnte. Gerade eben war er mit seiner Lektüre fertig geworden, doch seine Augen verweilten beim letzten Satz, um ihn noch weiter auf sich wirken zu lassen. In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr. In Gedanken übersetzte er die ihm inzwischen vertrauten Worte ins Englische: In this moment there went across the bridge a (das ›geradezu‹ bereitete ihm Schwierigkeiten, und er ließ es erst einmal aus) continuous flow of traffic. Wow! Was für ein Satz! Denn während oben die Menschen gleichgültig und nichtsahnend in ihren Autos die Brücke passierten, hing unter der Brücke der Held (Held?), mit immer schwächer werdenden Händen die Geländerstangen umfassend, entschlossen und dazu verurteilt, seinem Leben durch Selbstmord ein Ende zu setzen. Edward hatte plötzlich eine Idee, worauf das ›geradezu‹ abzielen mochte. Er machte sich am Rand eine Notiz und klappte das Buch zu. Ein weißer Umschlag (mit dem kurzen Brief noch darin) markierte die Stelle, wo im Anschluß an die Erzählung die Anmerkungen begannen. Er lehnte den Band gegen einen Stapel Bücher auf seinem Nachttisch und löschte das Licht. Dann lag er, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, mit offenen Augen im Dunkeln und begann zu träumen … Der Mittelpunkt des Traumes war sie – Anne Scott. Michael, der der ältere von ihnen beiden war, kannte sie länger und besser und hatte des öfteren Andeutungen fallenlassen, daß er und Anne … Er hatte nie so recht gewußt, was er davon halten sollte, bei Michael konnte man schon, als er noch klein war, Wunsch und Wirklichkeit nicht unterscheiden. Aber seit letztem Mittwoch war er fast geneigt, ihm zu glauben. Und wie in den Nächten zuvor begann er, sich den Nachmittag vor einer Woche wieder in allen Einzelheiten in Erinnerung zu rufen, um noch einmal jenen aufregenden Moment zu durchleben, als sie …

Er hatte am letzten Mittwoch zunächst vor verschlossener Tür gestanden. Das war ungewöhnlich, sie sperrte sonst nie ab. Da es keine Klingel gab, hatte er geklopft. Zuerst zaghaft, dann kräftiger. Als sich endlich drinnen etwas rührte, hatte er erleichtert aufgeseufzt. Gleich danach hörte er, wie der Schlüssel ins Schloß gesteckt und mit metallischem Klicken umgedreht wurde. Und dann stand sie vor ihm.

»Edward! Du bist es! Komm doch herein. Ich habe völlig die Zeit verschlafen.« Ihre Haare, die sie normalerweise hochgesteckt trug, hingen ihr offen auf die Schultern. Sie hatte einen gestreiften Morgenmantel an, dessen gedeckte Farben ihn an das Gewand einer ägyptischen Königin erinnerten, das er irgendwo einmal ausgestellt gesehen hatte. Aber vor allem ihr Gesicht hatte es ihm angetan. Sie lächelte, nein strahlte, als ob sie voller Erwartung sei und sich riesig freue, ihn zu sehen. Ihn! Mit einer flüchtigen Bewegung ordnete sie sich das Haar, dann trat sie zurück, um ihn einzulassen.

»Du kannst gleich mit nach oben kommen. Ich brauche nicht lange.« Sie hakte sich leicht bei ihm ein und führte ihn die Treppe hinauf in das hintere Zimmer, das sie als »mein Arbeitszimmer« bezeichnete. Sie ließ ihn während des Unterrichts immer an ihrem Schreibtisch sitzen. Meistens gab sie ihm einen deutschen Text in die Hand, und er rackerte sich eifrig ab – für sie, denn sie saß an seiner Seite, und er wollte, daß sie mit ihm zufrieden war. Sie kam mit ins Zimmer, um das elektrische Öfchen anzustellen, und als sie sich herunterbeugte, um den Schalter zu betätigen, öffnete sich der Ausschnitt ihres Morgenmantels, und er sah, daß sie darunter nackt war. Der kurze Moment reichte aus, um ihn in einen Taumel erotischer Phantasien zu versetzen. Sie richtete sich wieder auf und ging hinüber ins andere Zimmer, um sich anzuziehen.

Eine oder zwei Minuten später rief sie nach ihm.

»Edward? Edward?«

Er ging hinüber. Ihre Schlafzimmertür war offen, aber er blieb befangen auf der Schwelle stehen.

»Komm doch richtig rein! Oder hast du Angst, daß ich dich beiße?«

Sie stand mit dem Rücken zu ihm am Fuß eines breiten Doppelbettes und war dabei, sich den Verschluß ihres hellgrauen Rockes zuzuhaken. Der Rock war am Saum etwas eingerissen. Dieser eingerissene Saum war merkwürdigerweise immer das erste, was er vor sich sah, wenn er in späteren Jahren an diese Szene zurückdachte. Und er dachte oft daran zurück: wie sie dagestanden hatte, die Hände in Taillenhöhe, um den Reißverschluß zuzumachen und den Rock zurechtzuziehen, vor allem aber, wie sie sich dann halb zu ihm umgewandt hatte, so daß er ihre Brüste hatte sehen können, denn sie hatte nichts als den Rock angehabt.

»Bist du so lieb und springst schnell runter in die Küche? Unten über dem Wäschetrockner hängt noch mein BH; ich habe ihn gestern abend gewaschen. Bringst du ihn mir hoch?«

Er ging wie schlafwandelnd die Treppe hinunter und hörte kaum, daß sie ihm von oben hinterherrief: »Den schwarzen!« Als er zurückkam, drehte sie sich ganz zu ihm herum. Sie trug noch immer nicht mehr als ihren Rock. Mit einem Lächeln des Dankes nahm sie ihm den BH ab und bemerkte erst in diesem Moment, daß er sie wie hypnotisiert anstarrte.

»Entschuldige, Edward. Bin ich etwa die erste Frau, die du so siehst? Geh schon mal vor ins andere Zimmer, ich komme gleich nach; ich will mir nur noch die Haare hochstecken.«

Die nächste Dreiviertelstunde hatte er sich tapfer geschlagen: Er hatte mit aller Kraft dagegen angekämpft, weiter an sie zu denken, und sich gleichzeitig so heftig wie selten zuvor bemüht, den Text, den sie ihm vorgelegt hatte, zu verstehen. Es war Kafkas Erzählung ›Das Urteil‹ gewesen. Den letzten, so unerbittlichen wie schrecklichen Satz hatte sie ihm laut vorgelesen. Er hatte den Ton ihrer Stimme noch im Ohr …

 

Er drehte sich auf die Seite und dachte daran, daß der zurückliegende Tag für ihn mit einer großen Enttäuschung begonnen hatte. Er war am Morgen als erster aufgewesen, hatte sich Teewasser aufgesetzt, Weißbrot in den Toaster gesteckt und das Radio angemacht. Gegen zwanzig nach sieben hatte er das Klappern gehört, als der Zeitungsbote die Times durch den Briefschlitz gesteckt hatte. Als er hinausgegangen war, um sie zu holen, hatte er auf der Türmatte den schmalen weißen Umschlag liegen sehen. Es war eigentlich noch zu früh für die Post, und als er den Brief aufgehoben und umgedreht hatte, hatte er gesehen, daß er nicht frankiert war. Er war an ihn adressiert. Mit etwas zittriger Hand hatte er ihn geöffnet und die wenigen Zeilen gleich überflogen.

Auf den Ellenbogen gestützt, richtete er sich halb auf, knipste die Nachttischlampe an, zog den Brief aus dem Buch und las noch einmal, was sie ihm geschrieben hatte.

 

Lieber Edward,

es tut mir leid, aber unsere gewohnte Stunde muß heute ausfallen. Lies weiter Kafka – du wirst merken, was für ein großer Schriftsteller er war. Alles Gute für Dich!

Deine Anne (Scott)

 

Er hatte sie nie ›Anne‹, sondern immer nur ›Miss Scott‹ genannt; Das ›Miss‹ geriet ihm dabei häufig zu prononciert, was daran lag, daß er es, mehr unbewußt als bewußt, absetzen wollte gegen die Anrede ›Mrs‹, die er affektiert fand und schon rein vom Klang her ablehnte. Sollte er nächste Woche einfach mal etwas riskieren und sie mit ihrem Vornamen ansprechen? Nächste Woche … bis dahin war es noch lang.

Er löschte das Licht und schlief bald darauf ein.

 

Morse wachte am nächsten Morgen gegen Viertel nach sieben auf. Er fühlte sich verspannt und zerschlagen. Eine halbe Stunde später beim Rasieren verzog er den Mund zu einem bitter-geringschätzigen Grinsen, nickte seinem Spiegelbild zu und sagte leise: »Dreckskerl!« Plötzlich fiel ihm ein, daß er gestern abend seinen Wagen auf dem Hof des Clarendon Institute hatte stehenlassen, und ausgerechnet heute morgen mußte er schon um neun Uhr in Banbury sein. Da gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder er nahm den Bus oder rief Lewis an.

Die Entscheidung fiel ihm nicht besonders schwer.

Zu seinem großen Ärger mußte Morse, als er und der Sergeant am Clarendon Institute eintrafen, feststellen, daß man ihm einen Zettel an die Windschutzscheibe geklebt hatte, und zwar – offenbar mit voller Absicht – gerade so, daß er ihm beim Fahren die Sicht versperren würde. Es war eine mehr oder minder offizielle Mitteilung, unterzeichnet ›Oxford University Press. Die Verlagsleitung‹.

 

Dieser Hof ist Privatgelände, Fremden ist das Abstellen ihres Fahrzeugs untersagt. Wir fordern Sie deshalb auf, Ihren Wagen unverzüglich zu entfernen. Das Kennzeichen ist notiert worden, und die Delegierten der Oxford University Press werden, sollten Sie noch einmal widerrechtlich hier parken, umgehend Klage gegen Sie einreichen.

 

Die mühselige Arbeit, den Zettel abzukratzen, fiel natürlich Lewis zu, der Morses halbherziges Angebot zu helfen gleich abgelehnt hatte, wohl weil er wußte, was davon zu halten war.