Kapitel Achtundzwanzig
Besitzt du große Fähigkeiten,
so wird Fleiß sie noch steigern;
sind sie nur mäßig,
dann wird Fleiß den Mangel ausgleichen.
Sir Joshua Reynolds
Lewis wußte, kaum daß er Conrad Richards’ Büro im zweiten Stock des Verlagsgebäudes betreten hatte, daß der Mann ihm sympathisch war. Er hatte ihn höflich, wenn auch reichlich vage über den Zweck seines Besuches informiert (»Wir ermitteln immer noch im Fall Jackson, und da hielten wir es für unsere Pflicht, Sie aufzusuchen«), und Richards hatte keine Einwände erhoben. Zwar schien er (wie Lewis Morse anschließend berichtete) über das Ansinnen, sich Fingerabdrücke abnehmen lassen zu sollen, etwas erstaunt, hatte aber nicht protestiert, sondern bereitwillig alle zehn Finger erst auf das Stempelkissen und dann auf die Karte gedrückt.
»Es geschieht alles zum Zweck der Eliminierung, Sir«, sagte Lewis, der es dank Morses Vorbild inzwischen auch schon recht weit in der Kunst gebracht hatte, pompös klingende und dabei vollkommen nichtssagende Erklärungen zu liefern.
»Ich verstehe schon, aber …«
»Ich weiß, Sir. Es ist, weil Ihre Abdrücke jetzt aktenkundig sind, nicht? Das ist allen immer unangenehm – da sind Sie nicht der einzige.«
Es war Richards, wie er so dastand, die Arme ausgestreckt und die Hände gespreizt wie eine Frau, die sich die Nägel gerade frisch lackiert hat, anzusehen, daß er seine Lage etwas mißlich fand.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mal auf die Toilette gehe und mir die Finger wasche?«
»Nein, das können Sie selbstverständlich tun. Ich gehe sowieso gleich. Ich habe nur noch eine Frage – reine Formalität, Sie verstehen. Können Sie mir sagen, wo Sie sich am Abend des 19. zwischen 20 und 21 Uhr aufgehalten haben?«
Richards runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf.
»Nein, tut mir leid. Ich kann versuchen, es herauszubekommen – vielleicht fällt es mir auch von selbst wieder, ein –, aber im Moment bin ich überfragt. Wahrscheinlich war ich zu Hause und habe gelesen, aber ich weiß es nicht sicher.« Er schüttelte wieder den Kopf, schien jedoch nicht übermäßig davon beunruhigt zu sein, daß er die Antwort schuldig bleiben mußte.
»Sie leben allein, Sir?«
»Ja, ich bin ein überzeugter Junggeselle.«
»Gut – denken Sie in Ruhe noch einmal darüber nach und geben uns in den nächsten Tagen Bescheid.«
»Das werde ich tun. Vermutlich kann ich, wenn ich richtig anfange zu überlegen, den Abend irgendwie rekonstruieren, aber das heißt ja noch immer nicht, daß ich wirklich ein hieb- und stichfestes Alibi hätte.«
»Das haben sowieso nur die wenigsten, Sir. Damit rechnen wir gar nicht.«
»Na, das erleichtert mich.«
Lewis stand auf. »Ich würde übrigens gern schnell noch Ihren Bruder sprechen …«
»Mein Bruder ist verreist, Officer. Er ist geschäftlich in Spanien und wird erst in ungefähr einer Woche wieder zurück sein.«
»Ach so. Dann melde ich mich noch mal, wenn er wieder hier ist.«
Nachdem Lewis gegangen war, saß Conrad Richards am Schreibtisch, das Kinn in die Hand gestützt, und dachte nach. Seinem Gesichtsausdruck war nichts zu entnehmen, es sei denn eine gewisse Entschlossenheit. Dann schien er zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Er zog das Telefon zu sich heran, nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer.
Derweil saß Morse frustriert und mißgelaunt neben der Kirche in Radley auf einer Bank und wartete, daß Lewis ihn abholen kam. Zwar hatte er es sich nicht recht eingestehen wollen, aber sein Besuch bei Mrs Hills war weniger dienstlich motiviert gewesen (obschon er durchaus noch einige Zweifel hegte, was das Alibi anging, das sie Charles Richards für den Nachmittag des 3. Oktober ausgestellt hatte) als aus der ganz privaten, frivolen Hoffnung, daß es sich bei ihr um eine junge, sinnliche Frau handele (Telefonstimmen konnten natürlich auch trügen!), mir der er eine angenehme halbe Stunde verbringen könnte. Aber sie war nicht dagewesen. Das Haus hatte einen abweisenden, verlassenen Eindruck gemacht, und auf sein Klingeln hatte niemand geöffnet. Von einer Nachbarin erfuhr er schließlich, daß sie gestern nachmittag verreist sei. – Er war einen Tag zu spät gekommen.
Noch immer mit sich selbst zerfallen und trübe zu Boden starrend, bemerkte er den weißen Polizeiwagen erst, als er dicht neben ihm anhielt.
»Na, hat sich der Besuch gelohnt, Sir?« erkundigte sich Lewis, als Morse neben ihm Platz nahm.
»Ja, war ganz aufschlußreich«, sagte Morse in einem Ton, der Lewis signalisieren sollte, daß weitere Fragen unerwünscht seien.
Lewis schwieg denn auch eine Weile, doch dann siegte seine Neugier, und er begann erneut: »Sieht sie gut aus?«
»Woher soll ich das wissen?« blaffte Morse. »Ich hab sie doch gar nicht getroffen. Sie ist verreist – nach Spanien.«
»Nach Spanien?« Lewis pfiff leise durch die Zähne. »Sieh mal einer an. Da zieht’s ja heute wohl mächtig viele hin.« Er berichtete Morse von seinem Besuch bei Conrad Richards und erwähnte, welch positiven Eindruck er von ihm gewonnen hätte. Morse hörte ihm, ohne ihn zu unterbrechen, bis zum Ende zu. Für Lewis wieder einmal ein Grund, sich zu wundern: Im Pub beim Bier kriegte man bei Morse kein Wort dazwischen, aber sobald er in einem Auto saß, wurde er schweigsam wie ein Trappist. War schon ein merkwürdiger Mensch, der Chef!
»Was schlagen Sie also vor, Lewis?«
»Ich finde, wir sollten die Fingerabdrücke so schnell wie möglich ins Labor bringen, damit sie dort einen Vergleich anstellen – vielleicht ist der Fall Jackson dann ja schon gelöst. Ich glaube nämlich, daß Charles Richards seinen Bruder im Wagen mitgenommen hat, als er an dem Abend nach Oxford zum Clarendon Institute fuhr, und daß er ihn irgendwo in Jericho rausgelassen hat. Na, und dann ist Conrad losmarschiert, um ihm einzuheizen, und ist ein bißchen gewalttätig geworden …«
»Sie meinen also, Charles Richards habe seinen Bruder ins Vertrauen gezogen und ihm gesagt, daß er erpreßt wurde?«
Lewis nickte. »Charles Richards ist Jackson, wie Sie vorhin sagten, gefolgt, als der sich das Geld geholt hat, und dann, als er wußte, wo er wohnte, ist er zu Conrad gegangen, hat ihm alles erzählt und ihn um seine Hilfe gebeten. Eigentlich sehr geschickt von ihm! Er selbst besorgt sich für die Tatzeit ein wasserdichtes Alibi, und auf Conrad fällt ja sowieso kein Verdacht.«
»Hm.« Morse blickte skeptisch. Es war nicht auszuschließen, daß Conrad, wie Lewis gemeint hatte, sich sozusagen an Charles’ Statt Jackson vorgeknöpft hatte. Aber er hatte noch gut Jacksons blutiges, entstelltes Gesicht in Erinnerung. Da hatte jemand ohne Rücksicht auf die Folgen unbarmherzig zugeschlagen, auch wenn die schwere Schädelverletzung, die zu seinem Tode geführt hatte, ihm vielleicht unabsichtlich zugefügt worden war. Nach dem, was Celia Richards ihm von ihrem Schwager erzählt hatte, aber auch nach Lewis’ eigener Schilderung hatte Morse von ihm jedoch eher den Eindruck eines rücksichtsvollen, alles in allem eher sanften Mannes gewonnen. Nun hatte er zwar im Laufe seiner Tätigkeit bei der Polizei schon manche Überraschung erlebt und glaubte inzwischen, daß jeder grundsätzlich zu allem fähig sei – die entsprechenden Gefühle wie Wut, Haß, Verzweiflung vorausgesetzt. Doch gerade das machte ihm Conrad als Täter so unwahrscheinlich. Die Tötung Jacksons – ob vorsätzlich oder nicht – war Folge eines Ausbruchs ungezügelter Wut. Würde die Tatsache, daß Jackson seinen Bruder erpreßte, Conrad wirklich in eine derartige Raserei versetzt haben können? – Verdammt! Er hätte selbst nach Abingdon fahren und Conrad aufsuchen sollen, statt in Radley hinter Mrs Hills …
»Wenden Sie, Lewis, wir fahren zurück!«
»Wie?«
»Wir fahren nach Abingdon. Ich will selbst mit Conrad Richards sprechen. Treten Sie mal ein bißchen aufs Gas.«
Aber sie trafen ihn nicht mehr an. Seine Sekretärin teilte ihnen mit, er habe sich vor etwa zehn Minuten ein Taxi gerufen. Ihr gegenüber hatte er nur gesagt, daß es sich um eine Geschäftsreise handele, aber weder, wohin er fuhr, noch wann er zurückkommen wollte.
Morse verfluchte die Anwandlung von Schwäche, die ihn nach Radley gelockt hatte, und ließ seinen Ärger über sich selbst an der nun wahrlich unschuldigen Sekretärin aus. Nachdem er sie mit einigen eindrucksvollen Sätzen gründlich eingeschüchtert hatte, verlangte er barschen Tones alle verfügbaren Schlüssel. Der Inhalt von Conrads Schreibtisch (dessen Schubladen alle offen waren) erwies sich als harmlos: Verträge, Rechnungen, Unterlagen für die Bilanz – nichts, was für sie von Interesse hätte sein können. Hier hatte Conrad jedenfalls nichts versteckt – vielleicht aus dem einfachen Grund, daß es nichts zu verstecken gab. Morse setzte sich in den Schreibtischsessel und blickte um sich. In einem Rollschrank reihte sich eine Unzahl von Aktenordnern, aber er hielt es für sinnlos, sie auch noch durchzusehen – er glaubte nicht, daß sie dort etwas finden würden. Die Wände des Büros waren kahl und schmucklos bis auf zwei Bilder: das eine war eine farbige Reproduktion eines wie hingehaucht wirkenden Wandgemäldes aus Pompeji, das andere eine schwarzweiße Luftaufnahme des mauerumschlossenen Carcassonne, das immer noch aussah wie eine Stadt des Mittelalters. Und was ließ sich aus der Wahl der Bilder schließen?
Sie gingen hinunter in den ersten Stock, um sich auch in Charles Richards’ Büro umzusehen. Das junge Ding, dessen Stelle Celia Richards gestern eingenommen hatte, war leicht davon zu überzeugen, daß es vor allem in ihrem eigenen Interesse sei, ihnen das Büro und den Schreibtisch mittels Übergabe der Schlüssel zugänglich zu machen. Auch hier wieder ein Rollschrank mit Aktenordnern, der Schreibtisch allerdings unaufgeräumter als der von Conrad, mit einem Haufen geöffneter Briefe, Stapeln von Ordnern, etlichen Büchern – wohl verlagseigenen Produktionen – und einem bis zum Rand vollen Aschenbecher. Es war Lewis, der ihn fand. Er lag unter einem Stapel Papier in der rechten unteren (abgeschlossenen) Schreibtischschublade.
»Ich glaube, das hier könnte wichtig sein, Sir«, verkündete er strahlend und reichte Morse den zusammengefalteten Bogen.
Sehr geerter Mister Richards
Es ist wegen Missis Scott, das ich ihnen schreibe.
Ich weis über sie beide bescheid …
Beim Hinausgehen blieb Morse im Vorzimmer am Schreibtisch der Sekretärin stehen.
»Sie waren gestern nicht hier, oder?«
»Woher …?« Seine scheinbare Allwissenheit schien sie völlig durcheinanderzubringen, und unter seinem durchdringenden Blick wurde sie über und über rot.
»Es ist ja nicht verboten, sich freizunehmen, aber ich hätte gern gewußt, warum.«
»Ich habe nicht freigenommen. Mr Richards sagte mir, er würde mich nicht benötigen, und ich solle ruhig …«
»Welcher Mr Richards?«
»Mr Charles, Sir. Er sagte …«
Aber Morse winkte nur ungeduldig ab und ging ohne Gruß hinaus.
»Besonders freundlich waren Sie aber nicht zu ihr, Sir«, bemerkte Lewis mit leichtem Vorwurf.
»Man führt uns an der Nase herum, Lewis. Der gesamte Richards-Clan lügt wie gedruckt. Ich möchte wetten, daß das Mädchen da oben mit ihnen unter einer Decke steckt. Und jetzt geht’s erst mal zurück ins Präsidium.«
Auf der Rückfahrt verfiel er wieder in sein übliches Schweigen. Der Brief, den Lewis gefunden hatte, lag aufgefaltet in seinem Schoß. Morses Blick kehrte wieder und wieder zu ihm zurück, und jedesmal runzelte er die Stirn – irgend etwas schien ihn zu befremden. Als Lewis auf den Parkplatz hinter dem Präsidium einbog, trug sein Gesicht einen Ausdruck tiefer Nachdenklichkeit.
»Wissen Sie was, Lewis«, sagte er, als sie auf das Gebäude zuschritten. »Ich glaube, wir sind die ganze Zeit auf einer völlig falschen Fährte gewesen.«
»Aber woher …«
»Ja, sind denn heute alle taub, oder was?« schnaubte Morse.
Lewis schluckte die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, hinunter und folgte Morse in die Kantine. Nachdem er seine Tasse Tee ausgetrunken hatte, stand er jedoch gleich wieder auf.
»Ich werde jetzt mal rübergehen ins Labor und denen die Fingerabdrücke zeigen. Hoffentlich hab ich recht, und sie stimmen wirklich mit denen, die sie in Jacksons Schlafzimmer gefunden haben, überein. Hätten Sie Lust zu einer Wette?«
»Auf einmal so wagemutig, Lewis? Aber mehr als ein paar Shilling würde ich an Ihrer Stelle nicht riskieren. Die Wette verlieren Sie nämlich.«
Lewis zuckte nur mit den Schultern. Mochte Morse auch griesgrämig in die braune Brühe starren, die sie hier als Tee ausschenkten, und dasitzen wie sieben Tage Regenwetter, ihn focht das nicht an. Er hatte keine Ahnung, was den Chief Inspector auf die verrückte Idee gebracht hatte, sie seien auf der falschen Fährte, aber man mußte ja nicht alles, was er sagte, unbedingt ganz ernst nehmen. Der Erpresserbrief, den er (!) gefunden hatte, war schließlich eine Tatsache, und wenn sich jetzt noch herausstellte, daß die Fingerabdrücke übereinstimmten … Weit konnte Richards noch nicht sein. Luton? Heathrow? Gatwick? Man würde, sobald das Ergebnis des Vergleichs vorlag, landesweit eine Fahndung auslösen müssen …
Eine halbe Stunde später erhielt Lewis die niederschmetternde Nachricht, daß die Fingerabdrücke aus Jacksons Schlafzimmer mit denen von Conrad Richards in keinem Bogen, keinem Wirbel, keiner einzigen Schleife übereinstimmten.