Kapitel Zehn
… die Noten
Sind der Notiz nicht wert,
notiert Euch das.
Shakespeare,
Viel Lärmen um nichts,
2. Akt, 3. Szene
Am Samstag, vier Tage nach dem Gerichtstermin, bei dem über die Todesursache von Anne Scott befunden worden war, klopfte in Canal Reach ein Mann an die Tür von Nr. 2 und erklärte der nervösen, hochschwangeren jungen Frau, die ihm öffnete, er sei im Auftrag des Archivs der Bodleian Library unterwegs zwecks Forschungen über die sozioökonomische Entwicklung Jerichos in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Sie konnte ihm dazu, wie nicht anders zu erwarten, nicht viel sagen, und er verabschiedete sich höflich und ging weiter zum Nachbarhaus. Dort war anscheinend niemand da. Der Mann in Nr. 6, ein Hüne in mittleren Jahren, dessen Arme von den Schultern bis hinunter zu den Handgelenken über und über tätowiert waren, riet ihm schroff, ›Leine zu ziehen, aber ganz schnell, mit ihnen habe er nichts am Hut‹. Offenbar war er der Annahme, ein in Missionstätigkeit sich übendes Sektenmitglied vor sich zu haben. In Nr. 8 traf er einen schmalen, blassen jungen Mann mit Brille an, der sich in bezug auf die lokale Geschichte als wahre Fundgrube erwies. Der Mann von der Bodleian Library kam gar nicht schnell genug nach … ›Wichtigstes Jahrzehnt 1821 – 31, dazu eine Monographie von Eliza M. Hawtrey (? -1954) – müßte bei Ihnen in der Bibliothek eigentlich vorhanden sein, würde ich gern mal reinsehn – unterschiedliche Dachkonstruktionen, Backstein, Schiebefenster – ein Mensch ging von Jerusalem hinab gen Jericho und fiel unter die Mörder – Ansiedlung von Künstlern – 1825 Lucy’s Eisengießerei – Umzug der Oxford University Press auf ihr heutiges Grundstück 1826 – und nicht zu vergessen: der Kanal, Oxford-Banbury-Coventry-Midlands, fertiggestellt 1790 – nicht zu vergessen auch St. Paul’s, begonnen 1835, und St. Barnabas, begonnen 1869.‹
»Wunderbar – wirklich ganz wunderbar!« sagte der Mann von der Bodleian Library, der den Auftrag hatte, die sozioökonomische Entwicklung Jerichos in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu erforschen, als der Redestrom des jungen Mannes erste, nicht unwillkommene Anzeichen zeigte, allmählich nachzulassen. »Höchst interessant und, vor allem, von so immenser Wichtigkeit. Sie sind Historiker, nehme ich an?«
»Nein, nein. Ich arbeite bei Morris in Cowley.«
Der Mann von der Bodleian Library mußte erst noch einen langen Vortrag, in dem ihm ungeahnte Einzelheiten über den Bau der Eisenbahn offeriert wurden, über sich ergehen lassen, für den er sich, seiner Rolle entsprechend, lebhaft bedankte, ehe es ihm gelang, sich zu verabschieden. Als die Tür von Nr. 8 sich endlich schloß, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Die meisten Anwohner würden inzwischen von seiner Anwesenheit Kenntnis haben – ganz wie es in seiner Absicht gelegen hatte. In Nr. 10 machte niemand auf; das Fahrrad war nicht da. Er überquerte die schmale (wirklich lächerlich schmale!) Straße und klopfte an die Tür von Nr. 9, dreimal, laut und vernehmlich, während er verstohlen die Türklinke herunterdrückte. Es war abgeschlossen. Zur Begrüßung von Mrs Purvis in Nr. 7 setzte er sein gewinnendstes Lächeln auf, und als sie hörte, daß er damit befaßt sei, für die Royal Architectural Society ein Buch über die Innenaufteilung – zwei Räume unten, zwei Räume oben – bestimmter um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gebauter Häuser zu schreiben, lud sie ihn umgehend ein, doch näherzutreten. Zehn Minuten später saß er hinten in dem niedrigen Küchenanbau, vor sich eine Tasse Tee, und gab sich den Anschein, als könne er sich nichts Schöneres vorstellen, als mit ihr zu plaudern, so daß Mrs Purvis ihrer verheirateten Tochter am nächsten Tag begeistert berichtete, sie habe noch nie einen so wohlerzogenen und gebildeten Menschen kennengelernt.
»Ich sehe, Sie ziehen Ihr Gemüse selbst«, sagte Morse, stand auf und sah vorbei an dem dunkelgrünen Schuppen, in dem sich vermutlich das Außenklo befand und eine Ecke für die Kohlen, auf das kleine Stück Garten hinaus. »Das finde ich vernünftig. Ich wollte neulich bei mir in Summertown einen Blumenkohl kaufen, und sie haben einen so unverschämten Preis dafür verlangt, daß ich es gelassen habe.«
Sie strahlte geschmeichelt. Morse wußte, daß er jetzt den zweiten Schritt tun konnte, ohne daß sie mißtrauisch werden würde.
»Was haben Sie hier eigentlich für einen Boden, Mrs Purvis? Lehmig oder …« Morse versuchte sich zu erinnern, welche Eigenschaften man einem Boden noch zuschreiben konnte, »oder eher alkalisch?«
Sie hob etwas hilflos die Schultern. »Also da fragen Sie mich wirklich zuviel.«
Morse lächelte ihr zu. »Na, wenn Sie wollen, kann ich ja mal einen Blick …«
Einen Moment später standen sie draußen im Garten. Morse bückte sich, nahm etwas Erde auf und ließ sie mit Kennermiene durch die Finger rieseln. Dabei blickte er unauffällig zu Anne Scotts Haus hinüber. Der bei den Häusern in dieser Gegend übliche niedrige Küchenanbau war hier erweitert und durch eine geschickte Dachkonstruktion in das Haus einbezogen worden. An der Schmalseite des Gartens gab es eine Mauer, die offenbar frisch ausgebessert worden war; die Mauer an der gegenüberliegenden Längsseite dagegen wies, wohl als Folge jahrelanger Frosteinwirkung, viele abgeplatzte Stellen auf. Gleich hinter dieser Mauer begann das Gelände der Bootswerft. Von dort aus müßte es eigentlich möglich sein … Er warf noch einen letzten Blick in die Runde, dann verabschiedete er sich von Mrs Purvis. Er hatte erfahren, was er wissen wollte. Es war bezeichnend für Morses Gründlichkeit (manche nennen es auch krankhaften Perfektionismus), daß er sich die Mühe machte und, um den Anschein aufrechtzuerhalten, auch noch bei Nr. 5, 3 und 1 anklopfte, wenn auch, das sollte der Ehrlichkeit halber hinzugefügt werden, nicht besonders laut. Er hatte Glück. In Nr. 5 war niemand da, und das Gespräch mit der Frau in Nr. 3 war nur kurz, da sie schwerhörig war. Gegenüber dem taperigen Alten in Nr. 1, der gleich einen Schritt auf ihn zu machte, so als sei er nicht abgeneigt, ein längeres Schwätzchen zu halten, flüchtete Morse in die Frage, ob er ihm sagen könne, wo ein gewisser Mr … äh, Mr Green zu finden sei. Zu seiner großen Verblüffung nickte der Alte sofort zustimmend mit dem Kopf und wies mit einem knochigen, arthritisgekrümmten Finger hinüber zu Nr. 8, dort, wo Morse den so überaus beschlagenen jungen Automobilarbeiter angetroffen hatte.
Morse hätte jetzt gehen können, doch der Alte ließ ihn so schnell nicht wieder ziehen. »Habe ich Sie nicht schon mal irgendwo gesehen, Mister?« fragte er, trat noch einen Schritt näher an Morse heran und blickte ihm mit vorgerecktem Hals forschend ins Gesicht.
Morse spürte plötzlich eine ganz irrationale Angst, entlarvt zu werden, und beeilte sich zu erklären, daß er öfter in der Gegend sei, weil er die Geschichte Jerichos erforsche (»im Auftrag der Bibliothek, wissen Sie!«). Der Alte nickte, und sie kamen ins Gespräch. Morse erfuhr, daß er jeden Abend zwei Stunden im Printer’s Devil verbrachte (»von acht bis zehn, Mister, regelmäßig wie Stuhlgang«).
Morse hörte es mit großem Interesse. Wenn – dann also zwischen acht und zehn. Was konnte schon groß passieren?!
Sein nächster Besuch galt dem Schlosser (es war derselbe, den Walters vor einer Woche aufgesucht hatte). Er blieb ihm gegenüber einigermaßen bei der Wahrheit, wies sich korrekt als Inspector aus und erklärte, er habe sich im Haus Nr. 9 Canal Reach umsehen wollen (was der Wahrheit entsprach), aber leider feststellen müssen, daß er den Schlüssel für das Haus im Präsidium habe liegenlassen (was schlicht gelogen war) und ob er, Mr Grimes, ihm vielleicht mit einem Schlüssel für die Haustür aushelfen könne. Aber Mr Grimes bedauerte: er habe keinen passenden Schlüssel da. Natürlich könne er mitkommen und das Schloß öffnen, das sei kein Problem. Das Schloß, das er nicht aufbekomme, müsse erst noch gebaut werden … Falls also der Inspector einverstanden sei … Morse schüttelte energisch den Kopf. Mit einem Schlosser in Canal Reach anzurücken war wirklich das letzte, was er wollte.
Er nahm einen neuen Anlauf. »Wissen Sie«, sagte er, »eigentlich dürfte ich nicht darüber reden, aber die Sache ist die, wir haben da einen Hinweis erhalten … wegen der Selbstmordgeschichte, Sie erinnern sich. Wir müssen dem natürlich nachgehen, aber wir möchten vermeiden, daß die Nachbarn etwas mitbekommen und dann vielleicht unruhig werden. Nun hat dummerweise einer unserer Sergeants die beiden Schlüssel verlegt, so daß wir …«
»Sie meinen, die drei Schlüssel, oder, Inspector?«
Der Schlosser berichtete von Walters’ Besuch; Morse hörte ihm zu und kam ins Grübeln …
»Daß es noch einen zur Hintertür gibt, habe ich ihm nicht gesagt«, fuhr Grimes fort, »er hat mich nicht danach gefragt, und es erschien mir nicht wichtig.«
Morse schob wortlos eine Fünfpfundnote über den Ladentisch, und der Schlosser förderte einen Schlüssel zutage. Der passe auf jeden Fall, er selbst habe vor einem halben Jahr das Schloß eingebaut und wisse noch genau, um welchen Typ es sich handele. »Ich kann mich doch auf Ihr Stillschweigen verlassen, oder?« fragte Morse, der sich einen Moment lang vorgestellt hatte, was sie im Präsidium sagen würden, wenn sie dahinterkämen, was er hier trieb … Das halbherzige Nicken, das er zur Antwort erhielt, war wenig geeignet, ihn zu beruhigen. Irgendwie war er ja wirklich verrückt … Andererseits – dieser Fall ging ihn ganz persönlich an, und wenn er es recht bedachte, so war ihm das Risiko eigentlich egal.