Kapitel Vierzehn

 

Chaos ging dem Kosmos voraus;

und in ein Chaos ohne Form

und ohne Leere sind wir wieder gestürzt.

John Livingstone Lowes, The Road to Xanadu

 

Am Montag ging Morse seinen dienstlichen Pflichten nur der Form halber nach und war froh, als er das Präsidium am frühen Nachmittag verlassen konnte, um sich endlich wieder der selbstgestellten Aufgabe, gewisse Unstimmigkeiten beim Tode Anne Scotts aufzuklären, widmen zu können. Mrs Gwendola Briggs war sich, kaum daß sie ihm gegenübersaß, darüber im klaren, daß der Chief Inspector von anderem Kaliber war als der höfliche, etwas unsichere junge Constable, der sie vor zehn Tagen aufgesucht hatte. Dieser Mann hier gab sich nicht die geringste Mühe, höflich zu erscheinen, war ruppig und kurz angebunden, und er stellte seine Fragen auf eine Art, die den Gedanken an ein Verhör nahelegte. Wer war an jenem Abend noch dagewesen? Wo hatten die einzelnen Spieler gesessen? Worüber hatte man sich unterhalten? Hatte es Absagen gegeben, oder war irgend jemand erst in letzter Minute erschienen? Hatte sie die Blätter mit den Ergebnissen noch? Um welche Zeit war Schluß gewesen? Wo hatten die Autos gestanden? Wie viele der Spieler waren überhaupt mit dem Wagen gekommen? Wer genau? Die schnelle Abfolge der Fragen, die Schärfe, mit der er darauf bestand, daß sie sich genau erinnere, machten sie unsicher und nervös, und sie hätte viel darum gegeben, wenn statt Morse noch einmal der große, etwas ungelenke Constable gekommen wäre, dessen freundliche, niemals insistierende Fragen sie ganz entspannt hatte über sich ergehen lassen können. Morse dagegen brachte sie in Bedrängnis, ließ sie spüren, daß er ihre Antworten für unzulänglich hielt, und sie empfand fast so etwas wie Schuldgefühl, sich nicht besser erinnern zu können. Er erzielte jedoch (wie sie im nachhinein zugeben mußte) mit seiner Art durchaus die von ihm gewünschte Wirkung. Wenn man es genau betrachtete, so hatte er sie quasi gezwungen, ihm alles mitzuteilen, was sie wußte, und das war weit mehr, als sie vorher für möglich gehalten hätte. Morse war denn auch, als er – in der Hand eine Liste aller Gäste und ihrer Adressen – aufstand, um sich zu verabschieden, recht zufrieden mit dem, was seine Fragen zutage gefördert hatten. Zudem schloß er nicht aus, daß er von dem einen oder anderen der Spieler noch etwas erfahren würde. Da es beim Bridge (wie er gerade eben gelernt hatte) offenbar üblich war, daß das Paar, welches den Rubber gewonnen hatte, den Tisch wechselte, war es mehr als wahrscheinlich, daß Anne im Laufe des Abends mit allen Anwesenden irgendwann, wenn auch vielleicht nur kurz, gesprochen hatte.

»Alles in allem war es also ein ganz normaler Bridgeabend wie sonst auch?« fragte Morse abschließend.

»Nun, wie man’s nimmt. Nicht so ganz. Dieser Dienstag war der erste Jahrestag unserer Clubgründung, und so haben wir gegen elf eine kurze Pause gemacht, um auf die Zukunft anzustoßen und darauf, daß es den Club noch viele, viele Jahre geben möge. Oh …« Sie hielt inne. Ihr war wohl aufgegangen, daß ihre Begeisterung in Anbetracht dessen, daß eine Mitspielerin wenige Stunden später Selbstmord begangen hatte, vielleicht fehl am Platze war, und sah Morse Entschuldigung heischend an. Doch der musterte sie nur mit einem Blick kühler Geringschätzung, und sie flüchtete sich schnell in ein verspätetes Bedauern.

»Wenn man bedenkt, daß das nun Annes letzter Abend war … Die arme, arme Anne! Aber sie hat sich auch nie etwas anmerken lassen, sonst hätte man ja vielleicht …«

»Hat letzten Dienstag wieder ein Bridgeabend stattgefunden?«

»Ja, natürlich.«

»Sie hatten nicht das Gefühl, daß man den Abend auf Grund besonderer Umstände vielleicht besser einmal hätte ausfallen lassen sollen?«

Sie sah ihn erstaunt an. »Nein«, sagte sie entschieden und fügte ein wenig von oben herab hinzu: »Das Leben muß schließlich weitergehen, Inspector.«

Morses Gesichtsausdruck nach zu schließen sah er dafür, was sie anging, keine unbedingte Notwendigkeit. Er enthielt sich jedoch eines Kommentars und begann statt dessen, die Gästeliste zu überfliegen. Bei dem Namen Murdoch hielt er inne. War das etwa dieselbe Mrs Murdoch, auf deren Party in Nord-Oxford Anne und er sich begegnet waren? Wahrscheinlich. Er dachte zurück an jenen ersten Abend … Nein, nicht ersten Abend, es war ja kein anderer mehr gefolgt … An jenem einen Abend also, den sie zusammen verbracht hatten, und wie sie beide dagesessen hatten, getrennt von den anderen, in einer Welt für sich. Und bestimmt wäre er mit zu ihr nach Hause gegangen. Doch dann war der Anruf gekommen … Ach, nicht mehr daran denken! Nicht an den Abend und auch nicht an sein Verhalten danach. Er hätte sich wieder bei ihr melden sollen. Aber hätte das wirklich etwas geändert? Was aber nun das Vergessen-Wollen anging, war es nicht eigentlich doch seine Pflicht, sich zu erinnern? Vielleicht hatte sie etwas gesagt, das sich erst jetzt im nachhinein als wichtig erwies. Es war jedoch eine traurige Tatsache, daß seinem Erinnerungsvermögen, was jenen Abend anging, enge Grenzen gesetzt waren. Er hatte einfach zuviel getrunken. Die Wechselwirkung zwischen Alkoholgenuß und Gedächtnisleistung war übrigens ein ausgesprochen faszinierendes Phänomen. Er hatte gerade vor kurzem etwas darüber gelesen. Wenn man dem Artikel Glauben schenken durfte, so hatten Psychologen der Universität Oxford folgendes herausgefunden: Ließ man einen Studenten in betrunkenem Zustand lernen, so war er nach ein paar Stunden, wenn er wieder nüchtern war, kaum oder gar nicht in der Lage, das Gelernte zu reproduzieren. Ließ man ihn umgekehrt zwar nüchtern lernen, gab ihm aber später Alkohol zu trinken und forderte ihn dann auf, sich an den gelernten Stoff zu erinnern, so zeigte es sich, daß auch dieser Student kaum etwas behalten hatte. Und jetzt kam der Clou: Stand nämlich ein Student, bereits während er lernte, unter Alkohol und man gab ihm weiterhin zu trinken und befragte ihn einige Stunden später, so konnte er, betrunken wie er war, den Stoff hervorragend wiedergeben. Er hätte also, dachte Morse, um sich den Abend wieder ins Gedächtnis rufen zu können, gar nicht mehr nüchtern werden dürfen … Aber dafür war es nun zu spät. Leider. Denn er war sich fast sicher, daß sie irgend etwas gesagt hatte, an das er sich hätte erinnern sollen. Einen Moment lang, er war schon an der Tür, meinte er, eine Idee zu haben, was es gewesen sein könnte … Doch schon verflüchtigte sie sich wieder. Er fühlte sich plötzlich gereizt und frustriert, und sein einziger Trost war die Hoffnung auf ein Bier. Doch da würde er noch etwas Geduld haben müssen, die Pubs machten erst in zwei Stunden auf.

Er hörte, wie Mrs Briggs mit Nachdruck hinter ihm die Tür schloß, und fragte sich einen Augenblick, ob er nicht doch etwas verbindlicher hätte sein sollen. Doch dann schüttelte er den Kopf. Nein, er hatte sie behandelt, wie sie es verdiente.

 

Morse fuhr nach Nord-Oxford, um Mrs Murdoch aufzusuchen, doch einer der Jungen öffnete die Tür. Wie waren gleich die Namen? Michael und …

»Guten Abend, Michael.«

»Ich bin Edward.«

»Oh, ja natürlich. Ich bitte um Entschuldigung. Könnte ich wohl deine Mutter sprechen?«

»Sie ist nicht da. Sie ist bei Michael. Er liegt im Krankenhaus.«

»Ein Verkehrsunfall?« Wie kam er bloß darauf? Als ob es nicht tausend andere Gründe für einen Krankenhausaufenthalt geben konnte. Merkwürdigerweise schien die Frage dem Jungen peinlich zu sein. Er schluckte nervös und biß sich auf die Lippen.

»Nein, kein Verkehrsunfall«, sagte er schließlich. »Michael hat Drogen genommen. Und neulich hat er dann wohl eine Überdosis erwischt.«

»Das tut mir wirklich leid. Ist es ernst?«

Der Junge nickte. »Ich glaube ja.«

Auf einmal konnte Morse sich wieder erinnern. Genau. Dies hier war der jüngere Bruder, drei, vier Zentimeter größer als Michael, mit etwas bräunlicherem Teint und dunklerer Haarfarbe. Und plötzlich kam ihm die Erleuchtung. ›E. M.‹ … Edward Murdoch! Aber natürlich. Immer mittwochs nachmittags. Und die Initialen ›M. M.‹, die bis etwa Juni dieses Jahres in Anne Scotts Kalender aufgetaucht waren, konnte er sich jetzt ebenfalls erklären. Sie standen für Michael Murdoch.

Noch ganz unter dem Eindruck seiner unverhofften Erkenntnis, ging er ohne Umschweife aufs Ziel los. »Wie war das denn am Mittwoch vorletzter Woche, an dem Tag, an dem Ms Scott Selbstmord beging? Hättest du da nicht eigentlich Unterricht bei ihr gehabt?« Er wartete gespannt auf eine Reaktion des Jungen, doch der blieb völlig ruhig und sah ihn mit seinen dunklen Augen unverwandt an.

»Ja.«

»Du bist also hingegangen?«

»Nein. Sie hat mir in der Woche davor gesagt, daß sie … daß sie an dem Mittwoch nicht könne.«

»Ich verstehe.« Etwas im Ton des Jungen hatte ihn aufhorchen lassen, und aus einer Intuition heraus fragte er: »Mochtest du sie?«

»Ja.« Er sagte es entschieden und zugleich sehr sanft.

Morse hätte gerne weiter nachgefragt, lenkte dann aber doch zu einem unverfänglicheren Thema über.

»Du machst nächstes Jahr Abitur?«

Der Junge nickte. »Ja. Ich habe Deutsch, Französisch und Latein gewählt.«

»Und wie sieht’s aus? Bist du zuversichtlich?«

»Nicht besonders.«

»Ach, an deiner Stelle würde ich mir nicht zu viele Sorgen machen. Und auf Zuversicht kommt es im Grunde nicht an. Das ist sowieso eine reichlich überschätzte Haltung. (Waren das nicht Mrs Murdochs Worte gewesen an jenem Abend vor mehr als vier Monaten – gleich zu Anfang, als sie ihn begrüßt hatte? Offensichtlich waren doch nicht alle Eindrücke verlorengegangen; was die ersten Stunden anging, schien sein Gedächtnis offenbar zu funktionieren.) Und laß es dir von einem alten Mann wie mir gesagt sein: wenn du im Leben weiterkommen willst, dann ist das einzige, was zählt, Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit.« Morse hörte sich reden, viel zu laut und unerträglich gönnerhaft, doch der strenge, beinahe etwas verächtliche Blick des Jungen ließ ihm keine Chance zu einem ehrenhaften Rückzug.

»Ich saß gerade am Schreibtisch, als Sie kamen, Inspector.«

»Tüchtig, tüchtig! Nun, dann will ich dich nicht länger aufhalten.« Er wandte sich zum Gehen. »Was ich nur noch gerne wissen möchte – hat Ms Scott dir gegenüber irgendwann einmal eine Andeutung über ihr Privatleben gemacht?«

»Ist das der Grund, warum Sie Mutter sprechen wollten – um ihr Fragen zu stellen über Ms Scott?«

»Ja.«

»Also, mir hat sie nichts erzählt.«

Das klang ja fast wie eine Verteidigung. »Und dein Bruder? Hat er irgendwann einmal etwas in dieser Richtung erwähnt?«

»Was erwähnt?«

»Ach, ist nicht so wichtig. Richte bitte deiner Mutter aus, daß ich da war, und sag ihr, daß ich in den nächsten Tagen noch einmal wiederkomme.« Er sah den Jungen einen Moment lang durchdringend an, dann drehte er sich um und ging.

 

Miss Edgeley war die letzte auf Morses Liste. Ja, sie hatte an dem Abend mit Anne gesprochen. Anne hatte sie um einen Gefallen gebeten: sie komme doch auf dem Heimweg am Haus der Murdochs vorbei, ob sie wohl einen Brief bei ihnen durchstecken könne. Edward Murdoch sei einer ihrer Schüler, und sie habe eine Nachricht für ihn.

»Und warum hat sie ihn nicht Mrs Murdoch mitgegeben?«

»Es war schon ziemlich spät. Ich glaube, Mrs Murdoch war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr da. Sie ist ein bißchen früher gegangen als die anderen. Ihr Tisch war wohl schon fertig, und wenn sie sowieso keinen Preis zu erwarten hatte … Aber das ist jetzt nur so eine Vermutung von mir. Ich habe Anne gesagt, daß ich den Brief mitnehmen könne, und sie holte ein Blatt Papier heraus und stellte sich an die Anrichte …«

»Sie hat die Nachricht dort geschrieben?«

»Ja. Auf der Anrichte. Ich habe noch ihren eleganten Kugelschreiber bewundert. Ein silberner Parker.«

»Was hat sie auf Sie für einen Eindruck gemacht? War sie bedrückt?«

»Nein, das würde ich nicht sagen. Eher ein bißchen hektisch. Aber wir hatten alle etwas getrunken …«

»So gegen elf haben Sie doch eine Pause eingelegt, um auf das einjährige Bestehen Ihres Clubs anzustoßen. Da werden Sie doch vermutlich alle etwas zusammengestanden und sich unterhalten haben. Können Sie sich noch erinnern, um was es da ging? Ich meine, mal abgesehen von Bridge.«

Miss Edgeley schüttelte den Kopf und lächelte bedauernd.

»Nein, es tut mir leid, aber es ist jetzt schon fast vierzehn Tage her.«

»Denken Sie nach, es fällt Ihnen bestimmt wieder ein!« bat Morse beschwörend. Es schien ihm viel daran zu liegen, und so versuchte sie, sich zu konzentrieren. Worüber hatten sie denn bloß gesprochen? Über das Wetter? Über die steigenden Preise? Auch nicht. Moment! Jetzt hatte sie’s. Kinder. Sie hatten über Kinder gesprochen. Es hatte da vor einiger Zeit einen Aufruf von Oxfam gegeben, man möge Geld spenden für kambodschanische Flüchtlingskinder. Oder waren es koreanische Kinder gewesen? Egal. Jedenfalls für Kinder in einem dieser Länder da unten in Asien.

Morse seufzte innerlich. Sehr hilfreich war das ja alles nicht. Aber immerhin wußte er jetzt, daß Anne wenige Stunden vor ihrem Tod Edward Murdoch noch eine Nachricht hatte zukommen lassen wollen. Merkwürdig, daß der Junge dies keiner Erwähnung für wert befunden hatte. Da würde er noch einmal nachhaken.

Armer Morse! Da hatte er soeben eine wichtige Information erhalten und es nicht einmal gemerkt. Irgendwann fiel es ihm auf – aber erst sehr viel später.