8 Puddin’ and Pie

Als die Stadt Lou wieder ausspuckte und auf die Küstenstraße lotste, die ihn zu seinem Haus in Howth, County Dublin, brachte, war es schon halb zehn Uhr abends. Eine Häuserreihe säumte die Küste direkt am Meer, wie ein kunstvoller Rahmen um ein perfektes Aquarellbild. Windgepeitscht und von einem Leben in der salzigen Seeluft ausgewaschen, hatten sie sich der großen amerikanischen Tradition angeschlossen und ihre Dächer mit Glitzerlichtern und riesigen Weihnachtsmännern samt Rentierschlitten geschmückt. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und durch die Scheiben sah man die Kerzen an den Weihnachtsbäumen schimmern, was Lou plötzlich ins Gedächtnis rief, wie er als kleiner Junge zum Zeitvertreib immer versucht hatte, im Vorbeifahren möglichst viele Bäume zu zählen. Zu seiner Rechten konnte er über die Bucht hinweg bis nach Dalkey und Killiney sehen, und jenseits des öligen Schwarz des Meers funkelten die Lichter von Dublin, wie Zitteraale in einem dunklen Brunnen.

In Howth zu wohnen war schon immer Lous Traum gewesen. Buchstäblich: Seine ersten Erinnerungen stammten von hier, ebenso wie der Wunsch dazuzugehören, und später das sich aus dem Dazugehören entwickelnde Gefühl von Geborgenheit. Der Fischer- und Yachthafen war ein {84 }beliebter Naherholungsort, direkt an der Nordseite von Howth Head, fünfzehn Kilometer von Dublin entfernt. Das Dorf war auch historisch nicht uninteressant: Klippenpfade führten an der Ortschaft und ihrer Klosterruine vorüber, ein Stück landeinwärts lag ein Schloss aus dem fünfzehnten Jahrhundert mit einem großen Rhododendrongarten, und eine Menge alter Leuchttürme säumte die Küste. Doch auch in der Gegenwart war einiges los, es gab Pubs für jeden Geschmack, Hotels, ein richtig gutes Fischrestaurant, und der Blick über die Dublin Bay, die Wicklow Mountains und das Boyne Valley war einfach atemberaubend. Eine schmale Landzunge verband die Halbinsel mit dem Rest des Landes – eine schmale Landzunge, die auch Lous Arbeit mit seinem Familienleben verknüpfte. Ein Schnipsel nur, so dass Lou, wenn der Sturm zuschlug, von seinem Bürofenster die wütende Liffey beobachtete und sich vorstellte, wie die wilden grauen Meereswogen über diesen Schnipsel hinwegtobten, an ihm leckten wie Flammen und drohten, die Verbindung zu seiner Familie gänzlich abreißen zu lassen. Manchmal war es diese Version, der Lou in seinen Tagträumen nachhing, manchmal – in seinen positiveren Augenblicken – stellte er sich auch vor, die Seinen unter Einsatz seines Lebens vor der Gewalt der Elemente zu beschützen.

Hinter ihrem großen Landschaftsgarten, von dem man über die Dublin Bay hinausblickte, war die Natur wild und schroff, lila Heidekraut und hüfthohes Gras. Nach vorn ging der Blick auf Ireland’s Eye, und an klaren Tagen war die Aussicht auf die Insel so sensationell, dass man fast das Gefühl hatte, es wäre eine grüne Leinwand an den Wolken aufgehängt und bis zum Meeresboden ausgerollt worden. Vom Hafen aus erstreckte sich ein langer Pier, auf dem Lou gerne entlangwanderte. Meistens allein. So war es allerdings {85 }nicht immer gewesen, denn seine Liebe zu diesem Ort war entstanden, als er noch ein Kind gewesen war und seine Eltern jeden Sonntag mit ihm, Marcia und seinem großen Bruder Quentin nach Howth gefahren waren, um, ganz gleich bei welchem Wetter, auf dem Pier spazieren zu gehen. Diese Tage waren entweder so warm und sonnig gewesen, dass Lou noch heute beim Betreten des Piers die Eiscreme zu schmecken glaubte, oder es hatte so heftig gestürmt, dass sich die Familie aneinander festhalten musste, damit der Wind sie nicht ins Meer hinausfegte.

Bei diesen Familienausflügen verschwand Lou in seiner eigenen Welt. Dann war er Pirat auf hoher See. Oder Strandwächter. Oder Soldat. Manchmal sogar ein Walfisch. Er konnte alles sein, was er wollte. Alles, was er sonst nicht war. Jedes Mal, wenn er den Pier betrat, ging er erst ein Stückchen rückwärts und blickte zurück zum Parkplatz, bis das leuchtend rote Familienauto nicht mehr zu sehen war und die Menschen sich in Pinguine verwandelt hatten – dunkle Punkte, die mit verschwommenen Bewegungen in der Gegend herumwatschelten.

Noch immer liebte Lou die Spaziergänge auf dem Pier; es war seine Startbahn zu Ruhe und Frieden. Er liebte es, wie die Autos und Häuser, die auf der Klippe kauerten, langsam verblassten, während er sich immer weiter vom Land entfernte. Dann stand er Schulter an Schulter mit dem Leuchtturm und blickte zusammen mit ihm hinaus aufs unendliche Meer. Nach einer langen Arbeitswoche konnte er hier all seinen Kummer, all seine Sorgen aufs Wasser hinauswerfen und zuschauen, wie sie mit einem leisen Platschen auf den Wellen aufkamen und dann gemächlich auf den Grund hinuntersanken.

Aber als Lou an dem Abend des Tages, an dem er Gabe {86 }kennengelernt hatte, nach Hause fuhr, war es zu spät, um noch auf dem Pier spazieren zu gehen. Der Blick ließ sich nicht per Knopfdruck einschalten, er sah nur Dunkelheit und das gelegentliche Aufblitzen eines Leuchtturms. Trotz der späten Stunde und der Tatsache, dass es mitten in der Woche war, präsentierte sich das Städtchen heute nicht wie sonst als stiller, beschaulicher Erholungsort. So kurz vor Weihnachten pulsierte in den Restaurants das Leben, man traf sich zum Essen, zur Weihnachtsfeier, zur Jahresversammlung oder zu irgendwelchen sonstigen Feiern. Alle Boote waren schon für die Nacht an Land gezogen, und auch die Seehunde schliefen schon, die Bäuche voll von den Makrelen, die die Besucher ihnen zugeworfen hatten. Die kurvenreiche Straße, die bergauf zum Hügelkamm führte, war schwarz und still, und da er fast zu Hause war und sich sonst weit und breit niemand in der Nähe befand, trat Lou aufs Gaspedal seines Porsche 911. Er ließ das Fenster herunter, und seine Haare flatterten im Wind, während das Dröhnen des Motors durch Hügel und Bäume hallte. So brauste er den Hang hinauf, und unter ihm glitzerte die Stadt mit ihren Millionen Lichtern und sah ihm nach, wie er sich den bewaldeten Hügel hochschlängelte wie eine Spinne durchs hohe Gras.

Doch dann hörte er, wie zur Krönung dieses langen, ereignisreichen Tages, plötzlich lautes Sirenengeheul, und als er in den Rückspiegel spähte, musste er leise fluchend zur Kenntnis nehmen, dass direkt hinter ihm ein Polizeiwagen mit blitzendem Blaulicht auftauchte. Langsam nahm er den Fuß vom Gas, in der Hoffnung, die Polizisten würden ihn einfach überholen, aber nein, Sirenengeheul und Warnlicht galten eindeutig ihm. Also blinkte er und fuhr an den Straßenrand, blieb mit den Händen auf dem Steuer sitzen und {87 }beobachtete, wie eine ihm wohlbekannte Gestalt aus dem Streifenwagen kletterte. Langsam trat der Mann an Lous Fahrertür, sah sich dabei um, als machte er einen netten Nachtspaziergang, und gab Lou damit genug Zeit, sich das Hirn nach dem Namen des Sergeants zu zermartern, seine überlaute Musik auszustellen und noch einen ausführlichen Blick in den Seitenspiegel zu werfen. Aber auch eine genauere Betrachtung des Mannes half ihm hinsichtlich des Namens leider nicht auf die Sprünge.

Der Mann stellte sich an Lous Tür und beugte sich herab, um ihn durch das offene Fenster zu mustern.

»Mr Suffern«, sagte er ohne eine Spur von Sarkasmus, was Lou mit einiger Erleichterung registrierte.

»Sergeant O'Reilly.« In letzter Sekunde fiel ihm der Name doch noch ein, und er lächelte den Polizisten an, wobei er die Zähne entblößte wie ein nervöser Schimpanse.

»Da sehen wir uns in einer sehr vertrauten Situation wieder«, stellte Sergeant O'Reilly mit einer Grimasse fest. »Zu Ihrem Pech sind wir beide wohl häufig zur gleichen Zeit auf dem Heimweg.«

»Ja, das stimmt, Sir. Ich entschuldige mich. Die Straße war ruhig, ich dachte, da ist es okay, mal ein bisschen schneller zu fahren. Kein Schwein unterwegs.«

»Nur ein paar unschuldige Menschen. Das ist ja immer das Problem.«

»Und ich bin einer von ihnen, Euer Ehren«, lachte Lou, der seine Wortwahl bereits bereute, und streckte wie zu seiner Verteidigung beide Hände in die Höhe. »Das ist das letzte Stückchen der Strecke, ich bin gleich zu Hause. Ich hatte grade erst Gas gegeben, als Sie mich rangewinkt haben, glauben Sie mir. Wollte einfach nur heim zur Familie.«

»Ich hab Ihren Motor noch in Sutton Cross heulen gehört, und das ist ganz schön weit die Straße runter.«

»Ist ja auch so still heute Abend.«

»Und Sie haben einen lauten Motor. Das weiß ich, Mr Suffern. Aber so was ist trotzdem gefährlich.«

»Wahrscheinlich lassen Sie mich nicht mit einer Verwarnung davonkommen, oder?«, fragte Lou und versuchte, Aufrichtigkeit und Reue in sein gewinnendes Lächeln einfließen zu lassen. Beides gleichzeitig.

»Sie kennen die Geschwindigkeitsbegrenzung?«

»Ja, sechzig Stundenkilometer.«

»Und nicht hundertund–«

Mitten im Wort brach der Sergeant ab und richtete sich mit einem Ruck auf, so dass Lou keinen Blickkontakt mehr mit ihm aufnehmen konnte, sondern stattdessen die Gürtelschnalle des Mannes vor der Nase hatte. Da er nicht wusste, was der Sergeant vorhatte, blieb er sitzen, spähte aus dem Fenster auf die Straße und hoffte, dass er nicht noch mehr Punkte in der Verkehrssünderkartei aufgebrummt bekam. Wenn man mehr als zwölf hatte, war man den Führerschein endgültig los, und mit seinen acht war er ziemlich dicht dran. Vorsichtig schaute er zu dem Polizisten hoch und sah, dass er in seine linke Brusttasche fasste.

»Brauchen Sie einen Stift?«, rief Lou voller Hilfsbereitschaft und griff in seine Innentasche.

Doch der Sergeant zuckte nur zusammen und wandte Lou stumm den Rücken zu.

»Hey, alles klar bei Ihnen?«, erkundigte Lou sich besorgt. Schon wanderte seine Hand zum Türgriff, um auszusteigen und nachzuschauen, aber im letzten Moment überlegte er es sich anders.

Der Sergeant gab ein unverständliches Grunzen von {89 }sich, dem Ton nach möglicherweise eine Warnung. Dann sah Lou im Seitenspiegel, wie er sich umdrehte und langsam zu seinem Wagen zurücktrottete. Aber sein Gang war ungewöhnlich, denn er schien das linke Bein ein wenig nachzuziehen. War er womöglich betrunken? Der Sergeant öffnete seine Autotür, stieg ein, ließ den Motor an, wendete und war wenig später verschwunden. Stirnrunzelnd blickte Lou ihm nach. Dieser Tag wurde immer verrückter, selbst noch am Abend.

 

Als Lou die Auffahrt zu seinem Haus erreichte, verspürte er den gleichen Stolz und die gleiche Zufriedenheit wie immer, wenn er nach Hause kam. Für die meisten Durchschnittsmenschen spielt Größe keine Rolle, aber Lou wollte nicht durchschnittlich sein und fand, dass die Dinge, die er besaß, ihn als Mensch definierten. Er legte Wert darauf, von allem das Beste zu bekommen, und für ihn waren Größe und Menge Maßstäbe, an denen dies bemessen werden konnte. Obwohl das Haus nur mit wenigen anderen in einer Sackgasse ganz oben auf dem Hügel lag, hatte er die bereits existierenden Grenzmauern höher bauen und am Eingang ein riesiges Automatiktor mit Sicherheitskameras errichten lassen.

Im Schlafzimmer der Kinder waren die Lichter bereits aus, was Lou mit einer ihm unerklärlichen Erleichterung zur Kenntnis nahm.

»Ich bin da!«, rief er in das stille Haus.

Aus dem Fernsehzimmer die Halle hinunter hörte man eine atemlose und ziemlich hysterische Frauenstimme irgendwelche Bewegungsabläufe ansagen. Ruths Fitness-DVD.

Lou lockerte die Krawatte und öffnete den obersten Hemdknopf, schleuderte die Schuhe von den Füßen, spürte die wohltuende Wärme der Fußbodenheizung durch den Marmor und begann, die Post, die auf dem Tischchen lag, durchzugehen. Allmählich entspannten sich seine Gedanken, das Stimmengeschnatter aus den verschiedenen Meetings und Telefonaten wurde etwas leiser, ohne jedoch ganz wegzugehen. Mit jedem Kleidungsstück, das er ablegte – dem Mantel, den er über eine Stuhllehne warf, dem Jackett, das er auf den Tisch fallen ließ, den Schuhen, die über den Boden schlidderten, der Krawatte, mit der er ebenfalls auf den Tisch zielte, die aber zu Boden rutschte, seiner Mappe hier, Kleingeld und Schlüssel dort –, rückten die Ereignisse des Tages weiter in den Hintergrund.

»Hallo«, rief er noch einmal, lauter diesmal, und nahm zur Kenntnis, dass niemand gekommen war, um ihn zu begrüßen. Genau genommen meinte er damit nur seine Frau. Vielleicht war sie zu sehr damit beschäftigt, beim Einatmen bis vier zu zählen, wie es die hysterische Frau im Fernsehzimmer anordnete.

»Schschsch«, hörte er da ein Zischen aus dem Obergeschoss, gefolgt vom Knarren der Dielen, das die Schritte seiner Frau auf dem Treppenabsatz hervorriefen.

Das irritierte ihn. Nicht das Knarren, denn das Haus war alt und hatte ein Recht darauf zu knarren, aber dass er zur Ruhe gemahnt wurde, war ein Problem für ihn. Da hatte er den ganzen Tag praktisch ununterbrochen geredet, souverän im Fachjargon diskutiert, seine Überredungskünste eingesetzt und intelligente Konversation gemacht, hatte Deals vorgeschlagen, ausgehandelt und abgeschlossen, und keiner hatte ihn dabei auch nur ein einziges Mal zum Schweigen bringen wollen. Schschsch – so redeten Lehrer {91 }und Bibliothekare, nicht erwachsene Menschen in ihrem eigenen Haus. Plötzlich hatte er das Gefühl, die Realität verlassen zu haben und in einem Kinderhort gelandet zu sein. Erst vor einer Minute war er durch die Tür getreten, und schon war er verärgert.

»Ich habe Pud gerade hingelegt. Er kann mal wieder nicht schlafen«, erklärte Ruth von der Treppe in einem lauten Flüstern. Zwar verstand Lou, warum sie flüsterte, aber er konnte es nicht leiden. Genau wie die Schschsch-Sprache war dieses Geflüster etwas für Kinder in der Schule oder für Teenager, die sich von zu Hause weg- oder nach Hause zurückschlichen. Er mochte keine Einschränkungen, vor allem nicht in seinem eigenen Haus.

Mit »Pud« meinte seine Frau ihren gemeinsamen Sohn Ross. Er war inzwischen gut ein Jahr alt, konnte sich aber von seinem Babyspeck noch nicht trennen, so dass sein Körper an den ungebackenen Teig eines Croissants erinnerte – oder eben an einen Pudding. Daher kam sein Spitzname Pud, der sich unglücklicherweise durchzusetzen schien.

»Ganz was Neues«, brummte Lou, womit er auf Puds notorisch mangelnde Schlafbereitschaft anspielte, und kramte dabei in der Post nach etwas, was nicht aussah wie eine Rechnung. Ein paar Umschläge riss er auf und ließ sie wieder auf den kleinen Flurtisch fallen. Papierschnipsel segelten auf den Boden.

Unterdessen war Ruth in ihrem Velours-Trainings- und/ oder -Schlafanzug die Treppe heruntergekommen. In letzter Zeit konnte Lou nicht mehr richtig unterscheiden, was sie eigentlich anhatte. Ihre langen, schokobraunen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und sie schlurfte in Hausschuhen auf ihn zu – ein Geräusch, das seinen Ohren weh tat, noch schlimmer als der Staubsauger, {92 }den er bis zu diesem Moment am meisten zu hassen geglaubt hatte.

»Hi«, begrüßte sie ihn und lächelte. Das müde Gesicht verschwand, und auf einmal war für einen kurzen Moment eine Erinnerung, eine Spur von der Frau zu sehen, die er geheiratet hatte. Doch so schnell, wie sie gekommen war, verschwand sie auch schon wieder und ließ ihn mit der Frage zurück, ob er es sich nur eingebildet hatte und ob dieser Teil von ihr überhaupt existierte. Jedenfalls trat nun die Frau mit dem Gesicht, das er zurzeit jeden Tag zu sehen bekam, auf ihn zu und küsste ihn auf den Mund.

»Guter Tag?«, fragte sie.

»Viel zu tun.«

»Trotzdem gut?«

Lou war ganz in seine Post vertieft. Erst nach einem langen Moment spürte er Ruths Blick auf sich ruhen.

»Hm?« Er blickte auf.

»Ich hab dich gerade gefragt, ob du einen guten Tag hattest.«

»Ja, und ich hab geantwortet, dass ich viel zu tun hatte.«

»Ja, und ich hab gefragt, ob der Tag trotzdem gut war. Schließlich hast du immer viel zu tun, aber nicht alle Tage sind gut. Ich hoffe, heute war gut«, fügte sie mit angestrengter Stimme hinzu.

»Das hat sich aber nicht so angehört«, entgegnete er, ohne die Augen von dem Brief zu nehmen, den er gerade zu Ende las.

»Tja, aber ich klinge genau wie beim ersten Mal, als ich dich gefragt habe.«

»Ruth, ich lese meine Post!«

»Das sehe ich«, murmelte sie und bückte sich, um die {93 }leeren, zerrissenen Umschläge aufzusammeln, die auf dem Boden lagen und den Flurtisch zierten.

»Und – was habt ihr denn heute so erlebt?«, fragte er, während er den nächsten Umschlag aufriss. Das Papier flatterte zu Boden.

»Den üblichen Irrsinn. Kurz bevor du zurückgekommen bist, hab ich aufgeräumt. Zum millionsten Mal«, antwortete sie und bückte sich demonstrativ nach dem nächsten zerknüllten Papierball. »Marcia hat ein paarmal angerufen und wollte dich sprechen. Zuerst hab ich das Telefon eine Ewigkeit nicht gefunden, weil Pud das Handteil mal wieder versteckt hat. Jedenfalls braucht sie Hilfe bei der Entscheidung, wo die Geburtstagsfeier für deinen Vater stattfinden soll. Ihr gefällt die Idee mit dem Festzelt hier, aber Quentin ist natürlich dagegen. Er möchte im Yachtclub feiern. Ich glaube, deinem Dad wäre beides recht – nein, das stimmt nicht, ich glaube, deinem Vater wäre beides unrecht, aber da er sowieso nichts zu sagen hat, findet er sich mit beidem ab. Deine Mum hält sich sowieso raus. Also, was hast du Marcia gesagt?«

Schweigen. Geduldig wartete Ruth, bis Lou seinen Brief fertig gelesen hatte. Aber nachdem er das Blatt zusammengefaltet und auf den Flurtisch hatte fallen lassen, griff er sofort nach dem nächsten Umschlag.

»Schatz?«

»Hm?«

»Ich hab dich nach Marcia gefragt«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen und bückte sich weiter nach den heruntergefallenen Papierresten.

»Ach ja.« Er entfaltete den Brief. »Sie war bloß, äh … « Er blieb stecken und las.

»Ja?«, fragte Ruth laut.

Er blickte auf und sah sie an, als bemerkte er sie zum ersten Mal. »Sie hat wegen der Feier angerufen«, erläuterte er und verzog das Gesicht.

»Ich weiß.«

»Woher weißt du das?« Wieder begann er zu lesen.

»Weil sie – ach, vergiss es.« Noch mal neu ansetzen. »Sie ist total aufgeregt wegen der Feier, was? Nach allem, was sie im letzten Jahr hinter sich hat, ist es richtig schön zu sehen, dass sie sich mal wieder so richtig engagiert. Sie hat geredet wie ein Wasserfall – was es zu essen gibt, welche Musik sie am besten findet … « Sie verstummte.

Schweigen.

»Hm?«

»Marcia«, sagte Ruth und rieb sich die müden Augen. »Wir sprechen von Marcia, aber du bist so damit beschäftigt … « Sie machte sich auf den Weg in die Küche.

»Ach das. Ich übernehme die Sache mit der Party. Alison organisiert alles.«

Ruth blieb stehen. »Alison?«

»Ja, meine neue Sekretärin. Hast du sie eigentlich schon kennengelernt?«

»Nein, noch nicht.« Langsam ging sie wieder auf ihn zu. »Schatz, Marcia hat sich echt gefreut, die Party zu organisieren.«

»Und jetzt freut sich Alison«, entgegnete er lächelnd. »Oder auch nicht.« Er lachte laut über seinen Witz.

Sie grinste geduldig über den vertrauten Scherz, aber eigentlich hätte sie Lou am liebsten erwürgt. Er hatte Marcia, die doch solche Freude dran hatte, einfach die Organisation entrissen und in die Hände einer Frau gelegt, die keine Ahnung hatte von dem Jubilar, der da im Kreis seiner Familie und Freunde die siebzig Jahre seines Lebens feiern wollte.

Ruth holte tief Atem und entspannte die Schultern. Noch mal neu ansetzen. »Dein Essen ist fertig.« Wieder machte sie sich auf den Weg zur Küche. »Ich muss es bloß noch schnell warm machen. Und ich hab den Apfelkuchen gekauft, den du so magst.«

»Ich hab schon gegessen«, sagte er, faltete den Brief wieder zusammen und zerriss ihn in kleine Stücke. Ein paar Schnipsel landeten auf dem Boden. Entweder war es das Rascheln, mit dem das Papier den Marmorboden berührte, oder das, was er gesagt hatte, auf alle Fälle blieb Ruth abrupt stehen.

»Ich heb das blöde Papier schon auf«, sagte Lou ärgerlich.

Doch sie drehte sich langsam um und fragte leise: »Wo hast du gegessen?«

»Bei Shanahans. Rib-eye Steak. Ich bin satt.« Gedankenverloren rieb er sich den Bauch.

»Mit wem?«

»Kollegen.«

»Mit welchen Kollegen?«

»Ist das vielleicht die spanische Inquisition?«

»Nein, bloß deine Frau, die gern wissen möchte, mit wem ihr Mann zu Abend gegessen hat.«

»Mit ein paar Typen aus dem Büro. Du kennst sie nicht.«

»Das hättest du mir ruhig sagen können.«

»Es war geschäftlich. Keine Ehefrauen anwesend.«

»Das hab ich auch nicht gemeint – ich hätte es nur gern gewusst, denn dann hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, extra für dich zu kochen.«

»Himmel, Ruth, tut mir echt leid, dass du gekocht und den blöden Kuchen gekauft hast«, explodierte er.

»Schschsch«, sagte sie wieder, schloss die Augen und hoffte inständig, dass Lous laute Stimme das Baby nicht geweckt hatte.

»Nein, ich lass mir den Mund nicht verbieten«, brüllte er unbeirrt weiter. »Okay?« Wütend stapfte er in den Salon. Seine Schuhe ließ er mitten in der Halle stehen, passend zu den auf dem Flurtisch verstreuten Briefen und Umschlägen.

Ruth atmete ein weiteres Mal tief durch, wandte sich von der Unordnung ab und verschwand im entgegengesetzten Teil des Hauses.

 

Als Lou sich wieder zu seiner Frau gesellte, saß sie in der Küche und aß Lasagne und Salat. Vor ihr wartete der Kuchen. Dazu sah sie sich auf dem großen Plasmafernseher, der in dem direkt angeschlossenen informellen Wohnzimmer stand, an, wie Frauen in Fitnessklamotten in der Gegend herumhüpften.

»Ich dachte, du hast schon mit den Kindern gegessen«, bemerkte er, nachdem er eine Weile zugeschaut hatte.

»Hab ich auch«, antwortete sie mit vollem Mund.

»Warum isst du dann noch mal?« Er sah auf seine Uhr. »Es ist fast elf. Ein bisschen spät zum Essen, findest du nicht?«

»Du isst doch auch um diese Zeit«, erwiderte sie stirnrunzelnd.

»Ja, aber ich beklage mich nicht erst, dass ich fett bin, und esse dann zweimal zu Abend, mit Kuchen zum Nachtisch«, lachte er.

Mühsam schluckte sie den Bissen hinunter, den sie gerade im Mund hatte. Er fühlte sich an wie ein Stein. Lou hatte {97 }nicht gemerkt, was er sagte, er wollte sie nicht absichtlich verletzen. Er wollte sie nie verletzen, er tat es einfach. Nach einer langen Stille, in der Ruths Wut sich allmählich legte und sie wieder Appetit bekam, setzte sich Lou neben sie an den Küchentisch. Von draußen klammerte sich die Dunkelheit an die kalten Fensterscheiben und brannte darauf, ins Haus einzudringen. Dahinter waren die Millionen Lichter der Stadt auf der anderen Seite der Bucht, wie Weihnachtslichter, die aus der Finsternis herabbaumelten.

»Der Tag heute war seltsam«, sagte Lou schließlich.

»Warum?«

»Keine Ahnung«, seufzte er. »Ich hab mich irgendwie komisch gefühlt. Einfach komisch.«

»So fühle ich mich fast jeden Tag«, entgegnete Ruth und lächelte.

»Wahrscheinlich hab ich mir irgendwas eingefangen. Ich fühle mich … irgendwie daneben.«

Ruth legte die Hand auf seine Stirn. »Du fühlst dich aber nicht heiß an.«

»Wirklich nicht?« Er sah sie überrascht an und überprüfte ihre Feststellung dann selbst. »Ich fühle mich aber so. Bestimmt liegt es an diesem Kerl. Diesem Typen bei der Arbeit.« Er schüttelte den Kopf. »Echt sonderbar.«

Mit gerunzelter Stirn musterte Ruth ihn. Sie war es nicht gewohnt, dass ihr Mann um Worte verlegen war.

»Dabei fing alles ganz gut an.« Er schwenkte den Wein in seinem Glas herum. »Vor dem Büro habe ich einen Mann namens Gabe getroffen. Ein Obdachloser – na ja, eigentlich weiß ich gar nicht, ob er wirklich obdachlos ist, er sagt, er hat einen Platz zum Wohnen. Aber er hat trotzdem auf der Straße gebettelt.«

In diesem Moment knisterte das Babyfon, und Pud {98 }begann leise zu weinen. Zuerst war es nur ein schläfriges Jammern. Ruth legte Messer und Gabel beiseite, schob den noch halbvollen Teller von sich und betete, dass er von alleine wieder aufhörte.

»Jedenfalls«, fuhr Lou fort, ohne etwas zu bemerken, »jedenfalls hab ich ihm einen Kaffee gekauft, und wir sind ins Gespräch gekommen.«

»Das war nett von dir.« Inzwischen blendete der Mutterinstinkt alles andere aus, und Ruth hörte nur noch die Stimme ihres Kindes, dessen verschlafenes Wimmern sich Stück für Stück zu einem ausgewachsenen Geschrei steigerte.

»Er hat mich an mich erinnert«, erzählte Lou verwirrt weiter. »Er war genau wie ich, und wir hatten ein total komisches Gespräch über Schuhe.« Er lachte, als er daran dachte. »Er konnte sich an jedes einzelne Paar Schuhe erinnern, das in das Gebäude gegangen ist, und da hab ich ihm einen Job gegeben. Na ja, genau genommen nicht ich, ich hab nur Harry angerufen … «

»Lou, Schatz«, fiel sie ihm ins Wort, »hörst du das denn nicht?«

Er sah sie verständnislos an, irritiert, weil sie ihn unterbrochen hatte. Aber dann legte er den Kopf schief, lauschte, und nun drang das Weinen doch zu ihm durch.

»Schon gut, geh ruhig«, seufzte er und massierte sich die Nasenwurzel. »Vorausgesetzt, du vergisst nicht, dass ich dir von meinem Tag erzählt habe. Sonst machst du mir doch ständig Vorwürfe, weil ich es angeblich nie tue«, murmelte er.

»Was soll denn das nun wieder heißen?«, fragte sie mit erhobener Stimme. »Dein Sohn weint. Soll ich vielleicht die ganze Nacht hier sitzen und warten, bis du deine Geschichte {99 }von einem Obdachlosen, der Schuhe mag, fertig erzählt hast, während unser Sohn um Hilfe ruft? Oder würdest du möglicherweise auch mal selbst nach ihm sehen? Was meinst du?«

»Gut, ich gehe«, sagte er, aber ohne sich von seinem Stuhl zu rühren.

»Nein, lass nur, ich mach das schon.« Sie stand auf. »Ich möchte, dass du so was tust, ohne dass ich dich daran erinnern muss. Nicht, um Gummipunkte zu sammeln, Lou, du solltest es wollen

»Du scheinst aber auch nicht grade scharf darauf zu sein«, grummelte er und fummelte an seinen Manschettenknöpfen herum.

Auf halbem Weg zur Tür blieb sie stehen. »Weißt du eigentlich, dass du noch keinen einzigen Tag alleine mit Ross verbracht hast?«

»Du benutzt ja auf einmal seinen richtigen Namen, da muss es dir wohl ernst sein. Was soll das alles denn plötzlich?«

Jetzt gab es für Ruth kein Halten mehr, und der ganze Frust machte sich Luft. »Du hast ihn nicht gewickelt, du hast ihn nicht gefüttert.«

»O doch, ich hab ihn gefüttert.«

Das Weinen wurde lauter.

»Du hast kein Fläschchen zubereitet, keinen Brei, hast ihn nie angezogen, nie mit ihm gespielt. Du machst überhaupt nie was mit ihm allein, es sei denn, ich bin in der Nähe und komme alle fünf Minuten angerannt, damit du eine wichtige Mail schicken oder einen Anruf annehmen kannst. Unser Kind ist jetzt schon über ein Jahr auf der Welt, Lou. Über ein Jahr

»Warte mal.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, {100 }zog ein Büschel nach oben und schloss die Faust darum, bei ihm immer ein sicheres Zeichen, dass er wütend war. »Ich habe dir doch grade noch erzählt, wie mein Tag bei der Arbeit war, was dich doch sonst immer so brennend interessiert – wie kommt es, dass du plötzlich zum Angriff übergehst?«

»Du warst so damit beschäftigt, über dich zu reden, dass du nicht mal deinen eigenen Sohn weinen gehört hast«, stellte sie müde fest, und sie wusste, dass dieses Gespräch genau dorthin führen würde, wohin jeder derartige Streit sie bisher geführt hatte. Nämlich nirgendwohin.

Lou schaute sich im Zimmer um und streckte mit einer dramatischen Geste die Arme aus. »Glaubst du vielleicht, ich sitze den ganzen Tag an meinem Schreibtisch und drehe Däumchen? Nein, ich gebe mein Bestes und versuche, alles so hinzukriegen, dass ich dir und den Kindern das hier ermöglichen kann und Ross tatsächlich etwas zu essen hat, also entschuldige bitte, wenn ich ihm nicht jeden Morgen persönlich die zerdrückten Bananen in den Mund stopfe. Ich muss schon mit genug anderen Dingen jonglieren.«

»Du jonglierst mit überhaupt nichts, Lou. Du entscheidest dich für das eine und lässt das andere einfach sausen. Das ist etwas anderes.«

»Ich kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, Ruth! Wenn du Hilfe brauchst hier im Haus, dann sag es, und wir holen uns eine Kinderfrau, wann immer du willst.«

Ihm war bewusst, dass er sich jetzt auf einen noch größeren Streit eingelassen hatte, und während Puds Heulen im Babyfon immer lauter wurde, bereitete er sich auf die unausweichlichen Attacken vor. Um dem ersten, immer gleich verhassten Argument vorzubeugen, war er versucht {101 }hinzuzufügen: »Und ich verspreche auch, diesmal nicht mit ihr zu schlafen.«

Aber das Argument kam nicht. Stattdessen ließ Ruth die Schultern sinken, und auf einmal änderte sich ihr Verhalten. Sie resignierte, gab einfach den Kampf auf und machte sich stumm auf den Weg zu ihrem Sohn.

Lou griff nach der Fernbedienung und richtete sie wie einen Revolver auf den Fernseher. Wütend drückte er auf den Abzug und stellte das Gerät aus. Die schwitzenden Frauen in ihren Elasthansachen schrumpften zu einem Lichtkreis im Zentrum des Bildschirms, ehe sie ganz verschwanden.

Gedankenverloren zog er den Apfelkuchen zu sich heran und begann, darin herumzustochern. Wie war es bloß zu diesem Streit gekommen? Von der ersten Sekunde an, als er das Haus betreten hatte … Und es würde genauso enden wie an so vielen anderen Abenden: Wenn er ins Bett kam, würde sie bereits schlafen oder zumindest so tun. Ein paar Stunden später würde er aufwachen, ein bisschen trainieren, duschen und dann zur Arbeit gehen.

Er seufzte, und als er sich selbst seufzen hörte, bemerkte er plötzlich, dass kein Heulen mehr aus dem Babyfon kam, sondern nur noch ein leises Knistern. Anscheinend hatte Pud aufgehört zu weinen. Lou streckte die Hand aus, um das Gerät abzustellen, aber in diesem Moment hörte er ein anderes Geräusch. Ohne lange nachzudenken, drehte er am Lautstärkeknopf. Als Ruths Schluchzen die Küche erfüllte, brach es ihm fast das Herz.