Um 5 Uhr 59 erwachte Lou. Die vorangegangene Nacht war genauso verlaufen, wie er es vorausgesehen hatte: Als er ins Bett kam, lag Ruth mit dem Rücken zu ihm, hatte die Decke eng um sich geschlungen und war ungefähr so zugänglich wie ein Einsiedlerkrebs in seiner Muschel. Die Botschaft war unmissverständlich.
Lou brachte es nicht fertig, sie zu trösten. Er schaffte es nicht, die unsichtbare Grenze zu überschreiten, die sie im Bett und im Leben überhaupt trennte, und dafür zu sorgen, dass alles wieder gut wurde. In ihrer Studentenzeit, als sie kein Geld gehabt und in den scheußlichsten Bruchbuden gehaust hatten – wo die Heizung nur gelegentlich funktionierte und sie sich das Bad mit einem Dutzend Mitbewohner teilen mussten –, war das ganz anders gewesen. Sie hatten auf einem schmalen Bett in einem Kabuff geschlafen, das so klein war, dass man sich kaum umdrehen konnte. Aber das störte sie nicht, es gefiel ihnen sogar, so nahe beieinander zu sein. Jetzt besaßen sie ein riesiges Bett, mehr als zwei mal zwei Meter, so groß, dass sich ihre Fingerspitzen, wenn sie auf dem Rücken nebeneinanderlagen und die Arme ausstreckten, gerade eben berührten. Monströs viel Platz und monströs viele kalte Stellen, auf denen nie jemand lag und die nie richtig warm wurden.
Lou dachte an die Anfänge ihrer Beziehung, daran, wie er und Ruth sich kennengelernt hatten – zwei Neunzehnjährige, die unbeschwert und ziemlich betrunken das Ende ihres ersten Studienhalbjahrs feierten. Die Prüfungen waren überstanden, die Noten noch zu weit weg, um sich ihretwegen Sorgen zu machen, vor ihnen lagen die Weihnachtsferien, und so trafen sie sich bei der Comedy-Night in der International Bar in der Wicklow Street.
Nach dieser Nacht konnte Lou an nichts anderes mehr denken, und auch über die Feiertage, die er bei seinen Eltern verbrachte, bekam er Ruth nicht mehr aus dem Kopf. Bei jedem Bissen Truthahn, bei jeder Süßigkeit, die er aus buntem Glanzpapier auswickelte, ja selbst bei den üblichen Monopoly-Kabbeleien – immerzu wanderten seine Gedanken zu Ruth. Ihretwegen verlor er sogar seinen Titel beim Krümelzähl-Wettbewerb mit Marcia und Quentin. Lou musste grinsen, als er sich jetzt an dieses Spiel erinnerte, das er jedes Jahr mit seinen Geschwistern gespielt hatte. Papierkrönchen auf dem Kopf, die Zungen konzentriert in den Mundwinkel geklemmt, so saßen alle drei, nachdem ihre Eltern vom Tisch aufgestanden waren, vor ihren Tellern und zählten eifrig jedes kleine Krümelchen, das von der Truthahnfüllung übrig geblieben war. Normalerweise rotteten Marcia und Quentin sich zusammen, um ihren Bruder gemeinsam zu schlagen, aber sie hielten nie lange genug durch, und Lous Engagement – oder besser gesagt seine Besessenheit – war einfach nicht zu toppen. An dem besagten Weihnachten jedoch gewann Quentin, denn als das Telefon klingelte und Ruth sich meldete, vergaß Lou seinen Siegeseifer völlig. Für kindische Vergnügungen wie Krümelzählen hatte er von nun an keine Zeit mehr. Mit so etwas gab sich ein erwachsener {106 }Mann nicht ab. Aber vielleicht war er noch gar kein erwachsener Mann.
An jenem Weihnachten hätte sich der neunzehnjährige Lou nach einem Moment wie diesem gesehnt. Er hätte die Chance, in die Zukunft zu reisen, um neben Ruth in diesem schönen Bett zu liegen – in einem schönen Haus, mit zwei süßen Kindern im Nebenzimmer –, gierig und ohne Zögern beim Schopf gepackt. Er sah Ruth an. Inzwischen hatte sie sich auf den Rücken gedreht, ihr Mund war leicht geöffnet, und ihre Haare plusterten sich wild um ihren Kopf. Unwillkürlich lächelte er.
Bei den Prüfungen damals hatte Ruth besser abgeschnitten als Lou, was nicht sonderlich schwer war, und auch in den folgenden vier Studienjahren war es so geblieben. Das Lernen war Ruth immer leichtgefallen, während Lou Tag und Nacht büffeln musste, um den Anforderungen gerade eben gerecht zu werden. Ihm war schleierhaft, woher sie die Zeit nahm nachzudenken – geschweige denn zu lernen –, denn sie war eigentlich ständig unterwegs, und sie gingen fast jeden Abend aus. Mindestens einmal pro Woche schmuggelten sie sich uneingeladen in irgendwelche Partys, wurden rausgeschmissen, übernachteten auf Feuerleitern, und Ruth schaffte es trotzdem, mit fertigen Hausarbeiten zum ersten Morgenseminar zu erscheinen. Sie war ein Multitalent mit schier endloser Energie; vom Herumsitzen wurde ihr schnell langweilig. Sie liebte Abwechslung und Abenteuer, und sie fühlte sich am wohlsten, wenn möglichst viel los war. Zu zweit waren sie Herz und Seele jeder Party, und jeder Tag war voller Leben.
Wenn Lou wieder einmal eine Prüfung vermasselt hatte und sie wiederholen musste, half Ruth ihm beim Lernen. Vor dem Sommer-Examen machte sie aus der Lernerei eine {107 }Quiz-Show mit allem, was dazugehört: Preise, Strafminuten, Schnellfeuerrunden. Sie staffierte sich entsprechend aus und spielte gleichzeitig Quizmasterin, Assistentin und Konkurrentin. Für eine richtige Antwort wurden verlockende Gewinne in Aussicht gestellt. Ruth entwarf Bewertungsbogen, formulierte ausgeklügelte Fragen, sorgte für entsprechende Musik und falschen Applaus. Der Lebensmitteleinkauf wurde in das Quizsystem integriert, und wenn Lou Popcorn wollte, musste er erst eine Frage korrekt beantworten. Manchmal versuchte er zu mogeln, wenn er etwas nicht wusste. »Keine Ahnung«, brummte er dann frustriert und versuchte, sich das Popcorn trotzdem zu nehmen.
»Nein, Drücken gilt nicht, Lou, du weißt die Antwort«, entgegnete sie dann mit fester Stimme und verwehrte ihm den Zugriff aufs Regal.
Selbst wenn Lou sicher war, die Antwort nicht zu kennen, brachte Ruth ihn dazu, so lange in den tiefsten Tiefen seines Gehirns – in Bereichen, von deren Existenz er bisher nichts gewusst hatte – zu forschen, bis er dort tatsächlich Informationen entdeckte, von denen er bislang nichts gewusst hatte. Manchmal machte sie solche Spielchen auch, wenn er mit ihr schlafen wollte.
»Beantworte zuerst mal Folgendes.«
Trotz seines Protests und seiner Annäherungsversuche blieb sie hart und versuchte ihn zu motivieren. »Komm schon, Lou, du weißt es doch.«
So lernte er weit mehr, als er selbst je geglaubt hätte.
Irgendwann fassten sie den Plan, nach der Uni zusammen nach Australien zu reisen und – ehe das richtige Arbeitsleben begann – ein Abenteuerjahr außerhalb von Irland zu verbringen. Sie waren fest entschlossen, ihren {108 }Freunden nachzureisen, die den Sprung schon vor ihnen gewagt hatten. Systematisch legten sie Geld für den Flug zurück und arbeiteten gemeinsam für ihren Traum – Lou als Barmann in einer Kneipe in Temple Bar, Ruth kellnerte. Aber dann fiel er durchs Examen, und wenn Ruth ihn nicht mit Menschen- und mit Engelszungen überredet und davon überzeugt hätte, dass er es beim zweiten Anlauf schaffen konnte, hätte er wahrscheinlich die Flinte ins Korn geworfen. Allerdings brachte er es nicht übers Herz, bei der Examenszeremonie, bei der Ruth, die die Prüfung mit fliegenden Fahnen bestanden hatte, eine Auszeichnung verliehen wurde, dabei zu sein, sondern tauchte erst zum inoffiziellen Teil auf, trank zu viel und vermieste ihr den Abend – darin war er schon damals recht gut gewesen.
Während er das letzte Studienjahr wiederholte, machte Ruth ihren Master in Wirtschaftswissenschaften, mehr oder weniger als Zeitvertreib. Sie rieb es ihm nie unter die Nase, gab ihm nie das Gefühl, dass er ein Versager war, stellte sich und ihre eigenen Erfolge nie in den Vordergrund. Sie tat, was sie konnte, damit er keinen Grund hatte, sich minderwertig zu fühlen. Sie blieb ihm treu, kümmerte sich um ihn, war weiterhin Herz und Seele jeder Party – und scheffelte nebenbei ihre Einsen.
Hatte er sie damals zu hassen begonnen? Vor so langer Zeit schon? Er wusste nicht, ob es daran lag, dass er sich schon immer wie ein Versager vorgekommen war. Oder versuchte er sie mit seinem Verhalten zu bestrafen? Vielleicht steckte auch gar nichts kompliziert Psychologisches dahinter, sondern er war schlicht zu schwach und zu egoistisch. Jedenfalls konnte er nicht nein sagen, wenn eine attraktive Frau auch nur in seine Richtung schaute. Und schon gar nicht, wenn sie nach Handtasche, Mantel und {109 }dann nach seiner Hand griff. Wenn ihm so etwas passierte, verlor er jedes Gefühl für sich selbst. Sicher, er konnte unterscheiden, was richtig und was falsch war, aber in solchen Situationen kümmerte es ihn einfach nicht. Da fühlte er sich unbesiegbar, es gab für ihn keine Konsequenzen und keine üblen Nachwirkungen.
Vor sechs Monaten hatte Ruth ihn im Bett mit der Kinderfrau erwischt. Zwar war er nicht oft mit ihr zusammen gewesen, aber er wusste, wenn man davon ausging, dass es für Affären so etwas wie unterschiedliche Fairness-Niveaus gab, dann war Sex mit der Kinderfrau ziemlich unterste Schublade. Seither hatte es keine Seitensprünge mehr gegeben, mal abgesehen von der Knutscherei mit Alison, die eindeutig ein Fehler gewesen war. Wenn man davon ausging, dass es auch Maßstäbe für akzeptable Entschuldigungen gab – und die gab es in Lous Weltbild durchaus –, dann wäre der Vorfall eher leicht entschuldbar. Er war betrunken gewesen, Alison war eine attraktive junge Frau, und er konnte die Knutscherei zwar nicht mehr ungeschehen machen, aber er bereute sie zutiefst. Seiner Meinung nach zählte der Vorfall demzufolge so gut wie gar nicht.
»Lou«, unterbrach Ruths ungehaltene Stimme seine Grübeleien, und er fuhr erschrocken zusammen.
Er sah sie an. »Guten Morgen«, lächelte er. »Du kommst nie drauf, woran ich grade gedacht … «
»Hörst du das denn nicht?«, unterbrach sie ihn. »Du bist doch hellwach und starrst an die Decke.«
»Hm?« Er drehte sich nach links und sah, wie der Wecker auf sechs Uhr sprang. »Oh, tut mir leid«, sagte er, beugte sich hastig hinüber und stellte den Alarm ab.
Aber ganz offenbar war es nicht das Richtige, denn Ruths Gesicht lief plötzlich knallrot an, sie schoss aus dem {110 }Bett wie eine Rakete und lief mit wehenden Haaren aus dem Zimmer. Erst in diesem Moment hörte Lou Puds Geschrei.
»Scheiße.« Müde rieb er sich die Augen.
»Du hast grade ein ganz böööses Wort gesagt«, erklang ein Stimmchen von hinter der Tür.
»Guten Morgen, Lucy«, rief er lächelnd, und schon erschien seine Tochter: eine Fünfjährige im rosa Schlafanzug, die schokobraunen Haare mit den dichten Ponyfransen vom Schlaf zerzaust, die Decke im Schlepptau. Am Fußende des Betts blieb sie stehen und blickte ihren Vater mit ihren großen braunen Augen besorgt an. Lou wartete, dass sie etwas sagte.
»Du kommst aber heute Abend, oder, Daddy?«
»Was ist denn heute Abend?«
»Meine Aufführung.«
»O ja, stimmt! Aber du willst nicht wirklich, dass ich mir das anschaue, oder, Süße?«
»Doch«, entgegnete sie und nickte heftig.
»Aber warum denn?« Wieder rieb er sich den Schlaf aus den Augen. »Du weißt doch, dass Daddy schrecklich viel zu tun hat. Ich hab überhaupt keine Zeit.«
»Aber ich hab dolle viel geübt.«
»Warum zeigst du es mir nicht einfach jetzt? Dann muss ich es mir nicht später noch mal anschauen.«
»Aber jetzt hab ich doch mein Kostüm nicht an.«
»Das ist in Ordnung, ich stelle es mir einfach vor. Mum sagt doch immer, das ist gut, stimmt’s?« Er ließ die Tür nicht aus dem Auge, denn er wollte sicher sein, dass Ruth nicht etwa zuhörte. »Und du kannst es mir zeigen, während ich mich anziehe, okay?«
Damit schlug er die Decke zurück, und während Lucy {111 }herumzuhüpfen begann, sauste er durchs Zimmer und schlüpfte in Shorts und Unterhemd, denn er wollte vor der Arbeit noch kurz ein bisschen Sport machen.
»Daddy, du schaust ja gar nicht zu!«
»Doch, doch, Süße, komm doch mit nach unten, während ich trainiere. Im Fitnessraum gibt es jede Menge Spiegel, da kannst du gut üben. Das macht bestimmt Spaß, was?«
Aber als er auf dem Laufband stand, stellte er im Fernseher die Nachrichten an.
»Daddy, du schaust mir ja gar nicht zu!«
»Doch, doch, Engelchen.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Was bist du denn?«
»Ein Blatt. Heute ist ein windiger Tag, und ich falle vom Baum, und da muss ich immer so machen.« Sie wirbelte im Fitnessraum herum, und Lou sah wieder zum Fernseher.
»Was hat ein Blatt mit Jesus zu tun?«
»Dem Sänger?« Sie hörte auf zu tanzen und hielt sich an der Trainingsbank fest. Wahrscheinlich war ihr schwindlig geworden.
Lou runzelte die Stirn. »Nein, nicht dem Sänger. Worum geht es denn in eurem Stück?«
Lucy holte tief Luft, und es klang, als spulte sie etwas Auswendiggelerntes herunter, als sie antwortete: »Drei weise Männer müssen einen Star suchen.«
»Wie bitte?«, fragte er verwundert, während er sein Tempo auf dem Laufband steigerte, bis er zügig joggte.
»Sie suchen einen Star«, wiederholte sie geduldig. »Die drei Männer sind nämlich die Jury bei Such den Superstar, und dann singt Pontius Pilatus, und alle schreien Buh, und dann singt Judas, und sie schreien wieder Buh, und dann singt Jesus, und er gewinnt, weil er den X-Faktor hat.«
»Ojemine.«
»Ja, und die Geschichte heißt ›Jesus Christ Superstar‹.« Sie tanzte noch eine Runde.
»Und warum bist du ein Blatt?«
Sie zuckte die Achseln, und Lou musste lachen.
»Kommst du heute Abend und guckst mir zu? Biiiiitte!«
»Japp«, antwortete er und wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß vom Gesicht.
»Versprochen?«
»Na klar«, sagte er abschließend. »Okay, aber geh jetzt mal wieder zu deiner Mum zurück, ich muss duschen.«
Zwanzig Minuten später kam Lou in die Küche, um sich – in Gedanken schon halb bei der Arbeit – kurz zu verabschieden. Pud saß in seinem Hochstuhl und schmierte sich behaglich eine Pampe aus Banane und Butterkeks in die Haare. Lucy lutschte an einem Löffel und glotzte fasziniert auf den Fernseher, wo in ohrenbetäubender Lautstärke irgendwelche Cartoons liefen. Ruth war noch im Morgenmantel und schmierte Brote für Lucy. Sie sah erschöpft aus.
»Tschüss.« Lou küsste Lucy auf den Kopf, aber sie war so in ihre Zeichentrickfilme vertieft, dass sie überhaupt nicht reagierte. Dann ging er zu Pud und versuchte, in seinem Gesicht eine bananenmatschfreie Stelle zu finden. »Äh, tschüss«, sagte er schließlich und drückte auch seinem Sohn etwas linkisch ein Küsschen auf den Kopf. Zuletzt ging er zu Ruth.
»Sollen wir uns um sechs dort treffen oder von hier zusammen hinfahren?«, fragte sie.
»Wohin denn?«
»Zur Schule.«
»Oh. Apropos … « Er senkte die Stimme.
»Du musst mitkommen, du hast es ihr versprochen.« Ruth hielt in ihrer Arbeit inne und sah ihn, das Buttermesser in der Hand, wütend an.
»Lucy hat mir unten ihren Tanz gezeigt, und wir haben uns unterhalten. Es ist in Ordnung für sie, wenn ich bei der Aufführung nicht dabei bin.« Er zupfte an dem Stück Schinken herum, das auf dem Teller lag. »Weißt du eigentlich, warum sie bei dem Krippenspiel ein Blatt ist?«
Ruth lachte. »Lou, du willst mich wohl veräppeln. Ich hab dir schon vor einem Monat gesagt, du sollst dir den Termin in deinen Terminkalender schreiben, dann hab ich dich letzte Woche noch mal daran erinnert und sogar noch diese Tracey in deinem Büro angerufen … «
»Ah, jetzt verstehe ich, was schiefgelaufen ist!« Er schnippte mit den Fingern. »Da haben wir doch des Rätsels Lösung. Tracey ist weg, und Alison hat ihren Job übernommen. Vermutlich gab es bei dem Wechsel ein Problem im Informationsfluss.« Lou versuchte ganz locker zu klingen, aber die Fröhlichkeit auf Ruths Gesicht ging immer mehr in Enttäuschung über, wozu sich langsam auch noch Hass und Abscheu gesellten. Und alles zusammen galt ihm.
»Ich hab es letzte Woche zweimal erwähnt. Aber du hörst mir ja nicht zu, obwohl ich mir manchmal schon vorkomme wie ein blöder Papagei. Erst sind wir bei der Schulaufführung, und danach essen wir hier mit deiner Mum, deinem Dad, Alexandra und Quentin zu Abend. Vielleicht ist Marcia auch da, falls sie ihre Therapiestunde verschieben kann.«
»Nein, die sollte sie keinesfalls verpassen«, meinte Lou {114 }und verdrehte die Augen. »Ruth, bitte, ich würde mir lieber Daumenschrauben anlegen lassen, als mit diesen Leuten zu essen.«
»Das ist deine Familie, Lou.«
»Quentin kennt nur ein einziges Thema, nämlich Segelboote. Boote, Boote und noch mal Boote. Ein Gespräch, in dem nicht Worte wie Spiere und Klampe vorkommen, ist für ihn unvorstellbar.«
»Früher bist du gern mit Quentin segeln gegangen.«
»Ja, ich bin gern gesegelt. Nicht unbedingt mit Quentin, und es ist auch lange her. Heute könnte ich Spieren wahrscheinlich nicht mehr von Klampen unterscheiden.« Er stöhnte. »Und Marcia … die braucht keine Therapie. Die braucht nur einen ordentlichen Tritt in den Arsch. Alexandra ist okay.« Gedankenverloren verstummte er.
»Das Boot oder die Frau?«, fragte Ruth sarkastisch und warf ihm einen vielsagenden Seitenblick zu.
Entweder hörte Lou sie nicht, oder er zog es vor, ihre Frage zu ignorieren. »Ich habe keine Ahnung, was sie an Quentin findet. Sie ist doch ein ganz anderes Kaliber als er.«
»Eher dein Kaliber, meinst du?«, zischte Ruth.
»Sie ist eben Model, Ruth.«
»Und?«
»Das Einzige, was Quentin mit einem Model gemeinsam hat, ist die Tatsache, dass er Modellboote sammelt.« Er lachte, sprach aber sofort irritiert weiter. »Mum und Dad sind auch da?«, wollte er wissen. »Kommt nicht in die Tüte.«
»So ein Pech«, sagte Ruth und machte sich wieder an die Schulbrote. »Lucy erwartet, dass du bei ihrem Auftritt dabei bist, deine Eltern freuen sich auf das Essen, und ich {115 }brauche dich hier. Ich kann nicht gleichzeitig kochen und Gastgeberin spielen.«
»Mum hilft dir bestimmt gern.«
»Deine Mum hat gerade eine Hüftoperation hinter sich.« Ruth musste sich zusammennehmen, um nicht laut zu kreischen.
»Das weiß ich sehr wohl, schließlich hab ich sie vom Krankenhaus abgeholt und mir deshalb einen Mordsärger eingehandelt, genau wie ich es geahnt habe«, grummelte er. »Während Quentin mit seinem Boot unterwegs war.«
»Er hatte ein Rennen, Lou!« Jetzt ließ sie das Messer fallen und wandte sich ihm zu. »Bitte«, sagte sie sanfter, küsste ihn auf den Mund, und er schloss die Augen, um den seltenen Moment auszukosten.
»Aber ich hab bei der Arbeit so viel um die Ohren«, sagte er leise mitten in ihren Kuss hinein. »Das ist wichtig für mich.«
Ruth zog sich zurück. »Na ja, da bin ich aber froh, dass wenigstens etwas wichtig für dich ist, Lou. Einen Augenblick dachte ich schon, du wärst kein Mensch mehr.« Stumm wandte sie sich wieder den Broten zu und bearbeitete sie so ungestüm, dass das Messer Löcher in dem braunen Brot hinterließ. Ohne darauf zu achten, klatschte sie Schinkenscheiben und Käse darauf, drückte das Sandwich platt und zerteilte es diagonal mit einem scharfen Messer. Dann marschierte sie durch die Küche, knallte Schranktüren und riss mit heftigen Bewegungen Alufolie ab.
»Also, was ist denn los?«
»Was los ist? Das Leben besteht nicht nur aus Arbeit, es will auch gelebt werden! Wir müssen endlich wieder anfangen, Dinge gemeinsam zu tun, und das bedeutet, dass du auch Dinge für mich tust, selbst wenn du nicht unbedingt {116 }scharf darauf bist, und umgekehrt. Welchen Sinn hat das Ganze sonst?«
»Was meinst du denn bitte mit umgekehrt – wann verlange ich denn jemals von dir, etwas zu tun, was du nicht willst?«
»Lou«, begann sie zähneknirschend. »Die Leute, die zum Essen kommen, sind deine Familie, nicht meine.«
»Dann sag ihnen ab! Mich stört das nicht.«
»Du hast Verantwortung deiner Familie gegenüber.«
»Aber ich habe noch viel mehr Verantwortung meiner Arbeit gegenüber, denn die Familie kann mich nicht feuern, wenn ich nicht zu einem blöden Essen erscheine, oder?«
»Doch, das kann sie, Lou«, entgegnete sie leise. »Man nennt das nur nicht feuern.«
»Soll das vielleicht eine Drohung sein?« Er senkte die Stimme. »Du kannst mir solche Bemerkungen nicht einfach an den Kopf werfen, Ruth, das ist nicht fair.«
Ruth klappte eine Barbie-Lunchbox auf, stellte sie unsanft auf die Küchentheke, warf das Sandwich, ein paar Ananasscheiben und Kidneybohnen in einer Tupperdose hinein, knallte eine Barbie-Serviette obendrauf und schloss schwungvoll den Deckel. Trotz der ziemlich unsanften Behandlung hörte man von Barbie keinen Protest.
Schweigend starrte Ruth ihren Mann an und ließ ihren Blick für sich sprechen.
»Okay, gut, ich versuche, rechtzeitig da zu sein«, lenkte Lou ein – um Ruth einen Gefallen zu tun und gleichzeitig, um endlich aus dem Haus zu kommen. Dabei meinte er kein einziges Wort ernst. Als sie daraufhin den Blick nicht abwandte, korrigierte er sich und verstieg sich sogar zu dem Versprechen: »Ich werde da sein.«
Um acht traf Lou bei der Arbeit ein, eine Stunde früher als seine Kollegen, denn er legte Wert darauf, als Erster da zu sein – dann fühlte er sich wichtig und war den anderen einen Schritt voraus. Er wanderte in der engen Aufzugskabine auf und ab und wünschte sich, sie wäre immer so leer, er genoss es, nirgends anhalten zu müssen und direkt ins vierzehnte Stockwerk fahren zu können. Nachdenklich stieg er dort aus und trat auf den stillen Korridor. Er konnte noch die verschiedenen Reinigungsprodukte riechen, die gestern Abend von der Putzkolonne benutzt worden waren. Teppichschaum, Möbelpolitur und Lufterfrischer – alle diese Düfte hingen noch in den Gängen, unberührt von Morgenkaffee und Körpergeruch. Draußen vor den glänzenden Fenstern war es um diese frühe Stunde im Frühwinter noch stockdunkel, und die Scheiben wirkten kalt und hart. Der Wind fegte um das Gebäude, und Lou freute sich darauf, aus den gespenstisch leeren Korridoren in sein Büro zu kommen und dort seine Morgenroutine zu beginnen.
Doch auf dem Weg dorthin blieb er plötzlich stehen wie angewurzelt. Er sah, dass Alisons Schreibtisch leer war, wie immer um diese Zeit. Aber die Tür zu seinem Büro stand offen, und es brannte Licht. Energisch marschierte er darauf zu, und sein Herz begann vor Wut heftig zu pochen, als er Gabe entdeckte, der ganz selbstverständlich in dem Raum umherging. Mit einem leisen Aufschrei rannte Lou los und schlug mit der Faust so energisch gegen die Tür, dass sie mit einem Ruck aufschwang. Er atmete tief ein, um seinem Ärger mit Gebrüll Luft zu machen, doch ehe ein Wort über seine Lippen kam, hörte er hinter der Tür eine Stimme.
»Meine Güte, wer ist das denn?«, sagte sein Chef erschrocken.
»Oh, Mr Patterson, tut mir leid«, erwiderte Lou atemlos und konnte gerade noch verhindern, dass ihm die Tür beim Zurückschwingen ins Gesicht schlug. »Ich wusste nicht, dass Sie hier sind.« Er rieb sich die Hand, die von dem Schlag ganz schön weh tat und jetzt zu pochen begann.
»Lou!«, rief Mr Patterson erschrocken und brachte sich, so rasch er konnte, ebenfalls vor der schwingenden Tür in Sicherheit. »Und nennen Sie mich bitte Laurence, das sage ich Ihnen doch schon die ganze Zeit. Sie sind ja heute so richtig … so richtig energiegeladen, was?« Er sah aus, als hätte er sich noch nicht ganz von seinem Schock erholt.
»Guten Morgen, Sir.« Unsicher blickte Lou von Mr Patterson zu Gabe. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie erschreckt habe. Ich dachte, es wäre womöglich jemand unbefugt hier eingedrungen.« Unwillkürlich wanderten seine Augen zu Gabe.
»Guten Morgen, Lou«, begrüßte dieser ihn höflich.
»Guten Morgen, Gabe.« Lou nickte ihm zu und hätte sich dringend eine Erklärung gewünscht, warum sein Chef mit Gabe um acht Uhr morgens hier in seinem Büro stand.
Nachdenklich musterte er den leeren Postwagen und die ihm unbekannten Akten auf seinem Schreibtisch. Wie immer hatte er am vorhergehenden Abend gewissenhaft seinen Papierkram erledigt und abgelegt, denn er konnte sein Büro nicht verlassen, solange noch Arbeit auf dem Tisch lag. Weder er noch Alison, die um vier Feierabend gemacht hatte, konnten die Akten hier liegengelassen haben. Er sah Gabe argwöhnisch an.
Aber Gabe erwiderte seinen Blick vollkommen ruhig.
»Ich hab mich gerade ein bisschen mit Gabe hier unterhalten«, {119 }erklärte Mr Patterson. »Er hat mir erzählt, dass er seit gestern hier arbeitet. Ist es nicht toll, dass er heute gleich als Erster gekommen ist? Das zeigt doch echtes Engagement.«
»Er war der Erste? Wirklich?« Lou setzte ein falsches Lächeln auf. »Wow. Sieht ganz danach aus, als hätten Sie mich heute früh überholt, denn normalerweise ist nie jemand vor mir da.« Lou wandte sich an Mr Patterson und bleckte erneut seine makellosen Zähne. »Aber das wussten Sie ja schon, richtig, Gabe?«
Gabe gab das Lächeln zurück. »Wie sagt man so schön? Morgenstund hat Gold im Mund.«
»O ja. Allerdings.« Wütend, aber immer noch lächelnd starrte Lou ihn an. Ein wütender Blick und ein Lächeln. Beides zur gleichen Zeit.
Mr Patterson beobachtete den Austausch mit wachsendem Unbehagen. »Nun, es ist kurz nach acht, ich glaube, ich sollte jetzt lieber gehen.«
»Kurz nach acht, sagen Sie? Das ist ja komisch«, meinte Lou und wurde plötzlich wieder munter. »Da ist die Post ja noch gar nicht da. Was, äh, was haben Sie eigentlich in meinem Büro zu suchen, Gabe?« Die Schärfe in seiner Stimme war nicht zu überhören. Mr Patterson machte ein verlegenes Gesicht, und Gabe grinste seltsam.
»Na ja, ich bin früh gekommen, um mich ein bisschen mit dem Gebäude vertraut zu machen. Ich muss mich in so kurzer Zeit in so vielen verschiedenen Stockwerken zurechtfinden, da wollte ich mal in Ruhe nachsehen, wer wo sitzt.«
»Ist das nicht toll?«, fragte Mr Patterson in das darauf folgende Schweigen hinein.
»Ja, schon, aber Sie wussten doch, wo mein Büro ist«, {120 }entgegnete Lou verkniffen. »Damit haben Sie sich bereits gestern vertraut gemacht … Also, was haben Sie in meinem Büro zu suchen, wenn ich fragen darf?«
»Nun, nun, Lou, ich glaube, ich muss mich hier mal einmischen«, ging Mr Patterson ungelenk dazwischen. »Ich bin Gabe auf dem Korridor begegnet, und wir haben uns ein bisschen unterhalten. Ich habe Gabe gefragt, ob er netterweise ein paar Akten für mich in Ihr Büro bringen könnte, Lou. Dann habe ich gemerkt, dass ich eine Akte in meiner Mappe vergessen hatte, aber als ich mich umdrehte, war er schon weg. Paff! Einfach so.« Mr Patterson lachte leise.
»Paff«, wiederholte Gabe und grinste Lou an. »Ja, das passt zu mir.«
»Ich mag es, wenn jemand schnell ist, aber noch besser gefällt es mir, wenn jemand schnell und effizient arbeitet, und – meine Güte – das kann man bei Ihnen wirklich nicht abstreiten.«
Um ein Haar hätte Lou »Danke schön« gesagt, aber Gabe kam ihm zuvor.
»Danke, Mr Patterson! Und wenn es noch etwas gibt, was ich für Sie tun kann, sagen Sie mir bitte Bescheid. Um die Mittagszeit ist meine Schicht zu Ende, aber ich bin gern bereit, den Rest des Nachmittags noch irgendwo anders auszuhelfen. Die Arbeit hier macht mir Spaß.«
Lous Magen zog sich zusammen.
»Das ist wunderbar, Gabe, danke. Ich behalte Ihr Angebot im Hinterkopf«, antwortete Mr Patterson und wandte sich dann so eindeutig an Lou, dass dieser erwartete, dass Gabe sich verziehen würde. Doch nichts dergleichen geschah. »Nun Lou«, fuhr Mr Patterson unbeirrt fort. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich heute Abend mit Bruce {121 }Archer treffen können. Sie erinnern sich doch bestimmt noch an ihn.«
Lou nickte, und ihm wurde bange ums Herz.
»Ich wollte den Termin eigentlich selbst übernehmen, aber heute früh ist mir eingefallen, dass ich noch etwas anderes zu erledigen habe.«
»Heute Abend?«, hakte Lou nach, und seine Gedanken überschlugen sich.
Er dachte an Lucy, wie sie im Schlafanzug im Fitnessraum herumgehopst war, er dachte an Ruths Gesicht, als er bei ihrem Kuss die Augen geöffnet hatte – so entspannt hatte sie ausgesehen, so schön und glücklich, wie früher.
Auf einmal merkte er, dass die beiden Männer ihn unverwandt anstarrten.
»Ja, heute Abend. Nur wenn Sie Zeit haben, natürlich. Sonst frage ich Alfred – also machen Sie sich bloß keinen Stress.« Mr Patterson wedelte beschwichtigend mit der Hand.
»Nein, nein«, rief Lou hastig. »Heute Abend, kein Problem. Überhaupt kein Problem.«
Vor seinem inneren Auge fiel Lucy, schwindlig vom Hopsen und Tanzen, plötzlich um, Ruth öffnete die Augen und befreite sich aus seiner Umarmung. Der Zauber des Augenblicks war zerstört, denn er hatte das Versprechen gebrochen, dass er seiner Frau vor nicht einmal einer Stunde gegeben hatte.
»Großartig. Großartig. Nun, Louise kann Sie über die Details informieren – Uhrzeit, Treffpunkt und so weiter. Ich habe heute Abend nämlich einen furchtbar wichtigen Termin«, verriet er und zwinkerte Gabe dabei zu. »Die Weihnachtsaufführung meiner Kleinen. Um ein Haar hätte ich sie vergessen, aber dann kam sie heute Morgen {122 }als Stern verkleidet zu mir gelaufen – ist das zu glauben. Ich möchte ihren Auftritt auf gar keinen Fall versäumen«, schloss Mr Patterson mit einem Lächeln.
»Na klar, das verstehe ich.« Lou hatte einen dicken Kloß im Hals. »Solche Dinge sind sehr wichtig.«
»Gut, dann viel Spaß heute Abend und mein Kompliment dafür, dass Sie diesen neuen Mitarbeiter für uns gefunden haben, Lou«, sagte Mr Patterson und klopfte Gabe anerkennend auf den Rücken.
Als Lou sich zu Gabe umwandte, um ihn noch einmal wütend anzufunkeln, hörte er hinter sich eine wohlbekannte muntere Stimme.
»Morgen, Laurence!«
»Ah, Alfred!«, rief Mr Patterson.
Alfred war groß, über eins achtzig, jungenhaft, mit weißblonden Haaren. Er war in England auf dem Internat gewesen und sprach, obwohl er in Irland geboren war und auch die Sommerferien immer hier verbracht hatte, mit einem arroganten britischen Akzent und dem entsprechenden Grinsen dazu. Der Höcker auf seiner Nase zeugte noch von seiner Rugby-Zeit, und er lief – wie Gabe gestern schon so treffend bemerkt hatte – ziemlich aufgeblasen durch die Gegend, schleuderte die Wildlederquasten an seinen Schuhen durch die Luft und wirkte, eine Hand immer locker in der Hosentasche, überhaupt wie ein Schuljunge, der es faustdick hinter den Ohren hat.
Alfreds Blick fiel auf Gabe, und er musterte ihn unverhohlen von oben bis unten, während er darauf wartete, mit dem Neuankömmling bekannt gemacht zu werden. Gabe nahm Alfred seinerseits gelassen und selbstbewusst in Augenschein.
»Schöne Schuhe«, meinte Gabe schließlich, und Lou {123 }schaute hinunter auf die braunen Slipper, die Gabe ihm gestern beschrieben hatte.
»Danke«, antwortete Alfred etwas verwundert.
»Ihre Schuhe finde ich auch sehr schön, Mr Patterson«, fuhr Gabe mit einem Blick in Mr Pattersons Richtung fort.
Es folgte ein etwas unbehaglicher Moment, in dem alle auf die Schuhe der beiden Angesprochenen starrten. Für die meisten Menschen wäre das seltsam gewesen, aber nicht für Lou, dessen Herz geradezu absurd zu rasen begann, als er die schwarzen Slipper und die braunen Quastenschuhe sah. Genau die beiden Schuhpaare, die Gabe ihm gestern Morgen beschrieben hatte. Also traf Alfred sich mit Mr Patterson! Lou blickte von einem zum andern und fühlte sich plötzlich hintergangen. Cliffs Job war noch nicht offiziell ausgeschrieben, und Lou war wild entschlossen, dafür zu sorgen, dass er ihn bekam – und nicht Alfred.
Mr Patterson verabschiedete sich und ging den Korridor hinunter, die Aktentasche fröhlich in der Hand schwenkend.
»Wer sind Sie eigentlich?«, erkundigte sich Alfred nun doch direkt bei Gabe, und Lou spitzte die Ohren.
»Ich bin Gabriel«, antwortete Gabe und streckte ihm die Hand entgegen. »Meine Freunde nennen mich Gabe, aber Sie können Gabriel zu mir sagen«, fügte er lächelnd hinzu.
»Charmant. Ich bin Alfred.« Alfred nahm die dargebotene Hand. Doch sein Händedruck war kühl und schlaff, und er ließ Gabe sofort wieder los. Danach wischte er sich – ob bewusst oder unbewusst – die Hand am Hosenbein ab. »Kenne ich Sie?«, fragte Alfred und kniff die Augen zusammen.
»Nein, wir sind uns noch nie begegnet, aber vielleicht erkennen Sie mich trotzdem.«
»Wie das? Waren Sie schon mal in einer Reality-Show oder so?« Wieder studierte Alfred sein Gegenüber eindringlich, zwar immer noch mit einem Schmunzeln, aber schon deutlich weniger selbstbewusst.
»Sie sind jeden Tag an mir vorbeigegangen, draußen vor dem Gebäude.«
Ratlos wanderte Alfreds Blick weiter zu Lou. »Kannst du mir auf die Sprünge helfen, Kumpel?«
»Ich saß immer vor der Tür, aber dann hat Lou mir einen Job gegeben.«
Jetzt erschien ein breites, unverkennbar erleichtertes Grinsen auf Alfreds arrogantem Gesicht. Schlagartig veränderte sich sein ganzes Auftreten, und er war wieder der große Zampano. Ein Obdachloser konnte seine Position ja nicht bedrohen!
Mit einem ironischen Lachen wandte er sich an Lou und sagte in herablassendem Ton, als wäre Gabe gar nicht da: »Du hast ihm einen Job gegeben, Lou? Tja, es naht das Fest der Liebe, nicht wahr? Aber was hast du dir dabei gedacht?«
»Alfred, lassen wir das, bitte«, wehrte Lou ab. Die Situation war ihm extrem peinlich.
»Okay, okay.« Alfred streckte verteidigend die Hände in die Höhe und lachte dabei in sich hinein. »Stress hat vermutlich bei jedem unterschiedliche Auswirkungen. Hey, darf ich mal kurz dein Bad benutzen?«
»Was? Nein, hier nicht, Alfred, bitte geh zu den Toiletten.«
»Ach, komm schon, stell dich doch nicht so an.« Seine Stimme klang seltsam belegt. »Dauert nur eine Sekunde. {125 }Bis dann, Gabe, ich werde versuchen, mit meinem Kleingeld auf Ihren Wagen zu zielen, wenn Sie vorbeikommen«, witzelte Alfred, während er Gabe noch einmal von oben bis unten musterte. Dann feixte er wieder, zwinkerte Lou zu und verschwand rasch in Lous privatem Bad.
Kurz darauf hörten Lou und Gabe, wie er sich lautstark die Nase putzte.
»Anscheinend geht hier eine ganz gemeine Erkältung um«, stellte Gabe lächelnd fest.
Lou verdrehte die Augen. »Es tut mir leid, Gabe, Alfred ist einfach … na ja, wissen Sie, man darf ihn nicht so ernst nehmen.«
»Ach, eigentlich sollte man niemanden allzu ernst nehmen, schließlich kann jeder sowieso immer nur das kontrollieren, was direkt um ihn herum ist«, sagte er und beschrieb mit den Armen einen Kreis um sich selbst. »Solange man sich darum nicht kümmert, sollte man auch nicht ernst genommen werden. Hier, ich hab Ihnen was mitgebracht.« Er beugte sich zur unteren Ablage seines Wagens und holte von dort einen Pappbecher mit Kaffee. »Sie haben von gestern noch was bei mir gut. Es ist ein Latte macchiato, die Maschine hat wieder funktioniert.«
»Oh, danke.« Jetzt fühlte Lou sich noch schlechter. Dieser Mann löste übergangslos einfach die widersprüchlichsten Gefühle in ihm aus.
»So, dann gehen Sie heute Abend also zu einem Essen?« Gabe löste die Bremse von seinem Wagen und schob ihn zur Tür. Ein Rad quietschte ohrenbetäubend.
»Nein, wir trinken bloß einen Kaffee. Es ist kein richtiges Essen.« Lou war plötzlich unsicher, ob Gabe womöglich darauf hoffte, eingeladen zu werden. »Keine große Sache. Dauert garantiert nicht länger als eine Stunde.«
»Ach, kommen Sie, Lou«, grinste Gabe und klang dabei auf geradezu alarmierende Weise wie Ruth. Ach, komm schon, das wusstest du doch. Aber er vollendete den Satz anders. »Sie wissen doch, dass sich so ein Treffen immer bis zum Essen hinzieht«, fuhr er fort. »Dann kommen die Drinks und dann wahrscheinlich noch was anderes … « – er zwinkerte Lou zu – »Und dann kriegen Sie zu Hause Schwierigkeiten, stimmt’s, Aloysius?«, schloss er mit singender Stimme, was Lou eine dicke Gänsehaut verursachte.
Dann war Gabe durch die Tür und unterwegs zum Aufzug, und das Quietschen des Wagenrads hallte durch den stillen Korridor.
»Hey!«, rief Lou ihm nach, aber Gabe drehte sich nicht um. »Wie haben Sie das rausgefunden? Das weiß hier keiner!«
Obwohl er allein im Büro war, sah Lou sich hektisch um, ob womöglich jemand zugehört hatte.
In diesem Augenblick öffnete sich die Badezimmertür, und Alfred kam heraus, rieb sich die Nase und schniefte. »Was soll der Lärm? Hey, woher hast du den Kaffee?«
»Von Gabe«, antwortete Lou geistesabwesend.
»Von wem? Ach ja, von dem Obdachlosen«, sagte Alfred ohne wirkliches Interesse. »Also echt, Lou, was hast du dir bloß dabei gedacht, der Kerl könnte dich ruinieren.«
»Was meinst du denn damit?«
»Komm schon, bist du vielleicht von gestern? Du hast einem Mann, der rein gar nichts hat, einen Job in einer Firma gegeben, wo man alles haben kann. Schon mal was davon gehört, dass Leute in Versuchung geraten? Na ja, eigentlich hätte ich das nicht fragen müssen, ich weiß ja, mit wem ich spreche.« Er zwinkerte vielsagend. »Du machst ja auch {127 }ungefähr jedes Mal schlapp, wenn eine kleine Versuchung am Horizont auftaucht. Vielleicht bist du gar nicht so viel anders als der Obdachlose«, fügte er hinzu. »Auf alle Fälle siehst du ihm ähnlich. Ihr solltet mal zusammen das Lied der Vogelfrau oder was Ähnliches vorsingen, dann können wir es noch besser beurteilen«, lachte er mit rasselnder Brust – das Ergebnis von vierzig Zigaretten pro Tag.
»Na, das sagt ja eine Menge über deine Allgemeinbildung, Alfred, wenn die einzige Obdachlose, die dir einfällt, aus Mary Poppins stammt«, fauchte Lou.
Sofort verwandelte sich Alfreds Keuchen in einen ausgewachsenen Husten. »Tut mir leid, Kumpel. Hab ich da etwa einen wunden Punkt getroffen?«
»Dieser Gabe und ich, wir sind uns kein bisschen ähnlich«, blaffte Lou weiter, während er zu den Aufzügen spähte.
Aber Gabe war bereits verschwunden. Mit einem Klingelton gab der Aufzug seine Ankunft bekannt, die Türen öffneten sich, aber die Kabine war leer, und es wollte auch niemand einsteigen. In dem Spiegel, der die hintere Wand der Kabine schmückte, konnte Lou die Verwirrung auf seinem eigenen Gesicht erkennen.