19 Lou trifft Lou

Siegestrunken fuhr Lou zu Hause vor, hörte voller Genugtuung den Kies unter den Rädern knirschen und freute sich an dem elektronischen Gartentor, das sich automatisch hinter ihm schloss. Das Dinner-Meeting war ein Erfolg gewesen: Lou hatte das Gespräch bestimmt, hatte hervorragende Überzeugungsarbeit geleistet, versiert verhandelt und interessant Konversation gemacht. Die anderen hatten über seine Witze gelacht – schließlich waren es ja auch seine besten gewesen! – und förmlich an seinen Lippen gehangen. In gutem Einvernehmen und sehr zufrieden waren die Männer aufgebrochen, und Lou hatte noch einen letzten Drink mit Alfred genommen, bevor er nach Hause gefahren war.

Im Erdgeschoss brannte kein Licht, aber oben war es so hell wie auf einer Landebahn.

Er trat ein in die Finsternis. Normalerweise ließ Ruth das Licht in der Eingangshalle brennen, aber heute musste er an den Wänden nach dem Lichtschalter tasten. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase.

»Hallo?«, rief er. Seine Stimme hallte drei Treppen hinauf bis zum Oberlicht im Dach.

Im Haus herrschte Chaos, was völlig unüblich war, denn sonst war immer alles ordentlich, wenn Lou heimkam. Überall {208 }lagen Spielsachen auf dem Fußboden herum. »Hm«, machte Lou missbilligend.

»Hallo?«, rief er, während er die Treppe hinaufstieg, noch einmal. »Ruth?«

Er wartete darauf, dass ihr »Schsch!« die Stille durchbrechen würde, aber nichts dergleichen geschah.

Stattdessen sah er, als er den Treppenabsatz erreichte, Ruth aus Lucys Zimmer laufen, die Hand vor dem Mund, die Augen weit aufgerissen. Sie rannte ins Badezimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Dann hörte man, wie sie sich übergab.

Am anderen Ende des Flurs fing Lucy an zu weinen und rief nach ihrer Mutter.

Lou stand wie angewurzelt mitten auf dem Treppenabsatz, blickte von einem Zimmer zum anderen und wusste nicht, was tun.

»Geh zu ihr, Lou«, rief Ruth aus dem Bad, ehe sie sich wieder der Kloschüssel widmete.

Aber Lou zögerte, und Lucys Weinen wurde lauter.

»Lou!«, schrie Ruth, dringlicher diesmal.

Er fuhr auf, denn ihr Ton erschreckte ihn. Langsam ging er zu Lucys Zimmer, öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinein. Er kam sich vor wie ein Eindringling, denn er betrat eine Welt, in die er sich sonst nur selten vorwagte. Alle möglichen Spielzeugartikel von Dora the Explorer hießen ihn willkommen, und es roch durchdringend nach Erbrochenem. Lucy war nicht in ihrem Bett, aber die Laken und die rosarote Bettdecke waren zerwühlt. Lou folgte den Geräuschen ins Badezimmer und fand seine Tochter dort, Häschenhausschuhe an den Füßen, auf die Fliesen gekauert. Auch sie übergab sich in die Kloschüssel und schluchzte dabei leise vor sich hin. Sie spuckte und weinte, {209 }weinte und spuckte, und das Geräusch hallte unten in der Toilette wider.

Die Aktentasche noch in der Hand, stand Lou da und sah sich um. Was sollte er tun? Schließlich holte er ein Taschentuch aus seiner Tasche und hielt es sich vor Mund und Nase, um den Geruch etwas zu mildern und sich vor Ansteckung zu schützen.

In diesem Moment kam Ruth zurück, und als sie sah, dass ihr Mann tatenlos zuschaute, wie seine fünfjährige Tochter sich unter Qualen erbrach, drängte sie sich an ihm vorbei und eilte Lucy zu Hilfe.

»Alles okay, Herzchen.« Ruth fiel auf die Knie und schlang die Arme um ihre Tochter. »Lou, bitte hol mir doch mal zwei feuchte Waschlappen.«

»Feucht?«

»Halt sie unters kalte Wasser und drück sie dann aus, damit sie nicht mehr tropfnass sind«, erklärte sie ruhig.

»Mach ich, klar.« Kopfschüttelnd über seine eigene Unwissenheit wanderte er langsam aus dem Schlafzimmer, blieb aber auf dem Treppenabsatz stehen, schaute unsicher nach links und nach rechts und ging schließlich ins Schlafzimmer zurück. »Waschlappen sind …?«

»Im Wäscheschrank«, ergänzte Ruth.

»Natürlich.« Er ging zum Wäscheschrank und betastete, ohne Tasche und Mantel abzulegen, die verschiedenfarbigen Waschlappen. Braun, beige oder weiß? Er konnte sich nicht entscheiden. Schließlich wählte er Braun, ging zurück zu Lucy und Ruth, hielt die Waschlappen im Badezimmer unter den Wasserhahn und gab sie dann seiner Frau, wobei er hoffte, dass er alles richtig gemacht hatte.

»Noch nicht«, erklärte Ruth. Lucy hatte gerade eine Pause, und Ruth streichelte ihr beruhigend den Rücken.

»Okay, wo soll ich sie hinlegen?«

»Neben Lucys Bett. Und könntest du bitte ihr Bett frisch beziehen? Sie hatte einen kleinen Unfall.«

Lucy begann wieder zu weinen und kuschelte sich erschöpft an die Brust ihrer Mutter, die ebenfalls bleich und müde wirkte, die Haare streng zurückgezurrt, die Augen rot und geschwollen. Offenbar war die Nacht ziemlich anstrengend gewesen.

»Die Laken sind auch im Wandschrank. Und das Iberogast steht im Arzneischrank in der Kammer.«

»Das was?«

»Iberogast. Magenmittel. Lucy mag Pfefferminz. O Gott«, sagte sie dann, schlug sich die Hand vor den Mund, sprang auf und rannte den Flur hinunter zum Elternbad.

Jetzt war Lou allein mit Lucy, die mit geschlossenen Augen an der Badewanne lehnte und schläfrig zu ihm aufschaute. Er verließ rückwärts das Bad und fing an, ihr Bett abzuziehen. Während er dabei war, hörte er Pud aus dem Nebenzimmer weinen. Seufzend stellte er endlich seine Aktentasche ab, zog Mantel und Jackett aus und schleuderte beides von sich, mitten in Doras Zelt. Dann öffnete er den obersten Hemdknopf und krempelte die Ärmel auf.

 

Lou starrte tief in seinen Jack Daniels auf Eis und ignorierte den Barmann, der sich über den Tresen beugte und wütend in sein Ohr sprach.

»Haben Sie mich gehört?«, knurrte der Mann.

»Ja, ja, meinetwegen«, antwortete Lou, aber seine Zunge stolperte über die Worte wie ein Fünfjähriger über seine offenen Schnürsenkel. Außerdem hatte er sofort wieder vergessen, was der Barmann ihm gesagt hatte. Wegwerfend {211 }wedelte er mit der Hand durch die Luft, als wollte er eine Fliege verscheuchen.

»Nein, nicht meinetwegen, Kumpel. Lassen Sie die junge Dame in Ruhe, verstanden? Sie möchte sich nicht mit Ihnen unterhalten, sie möchte Ihre Geschichte nicht hören, sie interessiert sich nicht für Sie. Ist das klar?«

»Ja, okay«, brummelte Lou, und jetzt fiel ihm auch die unhöfliche Blondine wieder ein, die ihn einfach ignorierte. Er konnte gut auf ein Gespräch mit ihr verzichten, sie steuerte ja sowieso so gut wie nichts bei, und die Journalistin, mit der er vorhin geredet hatte, schien auch nicht viel mehr Interesse an seiner erstaunlichen Lebensgeschichte zu haben. Also glotzte er weiter in seinen Whisky. Heute Abend war etwas Außergewöhnliches geschehen, aber keiner wollte etwas davon hören. War die Welt verrückt geworden? Waren alle so an neue Erfindungen und wissenschaftliche Entdeckungen gewöhnt, dass die Vorstellung eines geklonten Menschen jede Schockwirkung verloren hatte? Nein, die jungen Besucher dieser trendigen Bar wollten lieber ihre Cocktails schlürfen. Die jungen Frauen gondelten mitten im Dezember mit gebräunten Beinen und kurzen Röcken durch die Gegend, die Haare blond gesträhnt, Designer-Handtaschen über den ebenfalls gebräunten Armen, und alle sahen so exotisch und fehl am Platz aus wie eine Kokosnuss am Nordpol. Ihre Aufmachung war ihnen wichtiger als die wahrhaft großen Ereignisse im Land. Ein Mann war geklont worden. Heute Nacht existierten zwei Lou Sufferns in der Stadt. Bilokation war Realität geworden, ein Mensch konnte sich gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten aufhalten. Lou lachte leise in sich hinein und schüttelte den Kopf. Das war alles so komisch. Er allein wusste Bescheid über die {212 }unendlichen Möglichkeiten des Universums, und niemand interessierte sich dafür.

Da er den Blick des Barkeepers wieder auf sich gerichtet fühlte, stoppte er sein Sologelache und konzentrierte sich stattdessen wieder auf das Eis in seinem Glas. Er beobachtete, wie es herumrutschte und versuchte, es sich gemütlich zu machen, aber alles Drehen und Wenden half nichts, es versank nur immer tiefer in der Flüssigkeit. Allein vom Zuschauen konnten einem die Augen zufallen. Endlich wandte der Barmann sich wieder den anderen Leuten zu, die sich am Tresen drängten, und ließ Lou in Frieden. Um ihn herum wogte der Lärm von Menschen, die mit anderen Menschen zusammen sind: Feierabend-Flirts, Feierabend-Streitereien, junge Frauen, die sich in Gruppen um ihren Tisch zusammendrängten und ihre Umgebung ausblendeten, Gruppen junger Männer an der Bar, die mit ihren Blicken angestrengt alles verfolgten, was sich um sie herum abspielte. Auf vielen Tischen standen mit Bierdeckeln zugedeckte Gläser, und an den leeren Plätzen um sie herum konnte man ablesen, dass ihre Besitzer draußen waren, wo sie in den Raucherbereichen ihre Zigaretten anzündeten und neue Beziehungen sondierten.

Lou sah sich um und versuchte, Blickkontakt mit jemandem aufzunehmen. Anfangs war er wählerisch, denn er hätte lieber einer attraktiven Person seine Geschichte zum zweiten Mal erzählt, aber dann beschloss er, nicht so pingelig zu sein. Irgendjemand würde sich doch für das Wunder interessieren, das er erlebte, oder nicht?

Doch der einzige Blick, der seinem begegnete, war wieder der des Barmanns.

»Geb’n Sie mir noch ein’n«, lallte Lou, als er sich näherte. »Ein’n schön’n Jack on the rocks.«

»Ich hab Ihnen doch grade schon einen hingestellt«, entgegnete der Barmann, diesmal ein wenig amüsiert. »Und den haben Sie noch nicht mal angerührt.«

»Na und?« Lou schloss ein Auge, um den Mann besser fixieren zu können.

»Was würde es bringen, wenn Sie zwei auf einmal vor sich stehen haben?«

Das brachte Lou zum Lachen, ein keuchendes Lachen tief aus der Brust, in die sich vorhin der kalte Dezemberwind schutzsuchend geflüchtet hatte, wie eine verängstigte Katze, die beim Krachen des Feuerwerks durch die Türklappe flitzt.

»Ich fürchte, ich hab die Pointe nicht mitgekriegt«, lächelte der Barkeeper. Jetzt, wo es am Tresen ruhig war, konnte er zum Zeitvertreib zwar keine Drinks mehr ausgeben, hatte dafür aber Muße, sich den Betrunkenen zu widmen.

»Ach, hier interessiert sich niemand dafür«, antwortete Lou, auf einmal wieder wütend, und machte eine abschätzige Handbewegung zu den anderen Gästen in der Umgebung. »Die kümmern sich bloß um Sex on the Beach, Hypotheken auf dreißig Jahre und Saint Tropez. Ich hab mal hingehört, und von was anderem reden die hier nicht.«

Der Barmann lachte. »Sagen Sie das lieber nicht so laut. Wofür interessiert sich keiner?«

Lou wurde wieder ernst und fixierte den Barmann mit todernstem Blick. »Fürs Klonen.«

Das Gesicht des Barmanns veränderte sich, und seine Augen leuchteten neugierig auf. Vielleicht bekam er endlich etwas anderes zu hören als das ewiggleiche Gejammer. »Fürs Klonen? Dafür interessieren Sie sich also, was?«

»Interessieren? Ich würde sagen, das ist mehr als Interesse«, {214 }lachte Lou herablassend und zwinkerte dem Barkeeper zu. Dann nippte er an seinem Whisky und nahm Anlauf, seine Geschichte zu erzählen. »Vielleicht ist es schwer zu glauben, aber ich … « – er holte tief Luft – » … ich bin geklont worden«, begann er. »So ein Typ hat mir Pillen gegeben, und ich hab sie genommen«, fuhr er fort und hickste laut. »Wahrscheinlich glauben Sie mir nicht, aber genau das ist passiert. Hab es mit eigenen Augen gesehen.« Dabei deutete er auf seine Augen, verschätzte sich aber in der Entfernung und piekte mit dem Finger hinein. Doch schon ein paar Sekunden später hatte er sich die Tränen abgewischt und fuhr fort: »Es gibt mich zweimal.« Zur Veranschaulichung hob er vier Finger, dann drei, dann einen und schließlich zwei.

»Ach wirklich?«, fragte der Barkeeper, nahm ein Pint-Glas und begann, ein Guinness zu zapfen. »Wo ist denn der andere, Ihr Klon? Ich wette, der ist stocknüchtern.«

Lou lachte wieder keuchend. »Der ist zu Hause bei meiner Frau«, kicherte er. »Und meinen Kindern. Und ich bin hier mit der da.« Er deutete mit dem Daumen nach links.

»Mit wem?«

Lou schaute zur Seite und fiel dabei fast vom Barhocker. »Oh, sie ist – wo ist sie denn geblieben?« Er wandte sich wieder an den Barmann. »Vielleicht ist sie auf dem Klo – sie ist super, wir haben uns echt gut unterhalten. Journalistin. Sie will darüber schreiben. Aber das ist unerheblich. Jedenfalls bin ich hier und habe den ganzen Spaß … « – er lachte wieder laut – » … und mein Klon ist zu Hause bei meiner Frau und den Kindern. Und morgen, wenn ich aufwache, nehme ich gleich noch so eine Tablette – das sind keine Drogen, das ist was Pflanzliches, gegen meine Kopfschmerzen.« Mit ernster Miene deutete {215 }er auf seinen Kopf. »Und dann bleibe ich im warmen Bett liegen, und der Klon kann arbeiten gehen. Ha! Was ich alles machen werde, zum Beispiel … « Er dachte eine Weile angestrengt nach, ohne jedoch zu einem Ergebnis zu kommen. »Na ja, viele Dinge eben. Reisen werde ich. Ein verdammtes Wunder ist das. Wissen Sie, wann ich meinen letzten freien Tag hatte?«

»Wann denn?«

Lou dachte wieder scharf nach. »Letztes Weihnachten. Kein Telefon, kein Computer. Letztes Weihnachten.«

Der Barmann sah ihn zweifelnd an. »Sie haben dieses Jahr keine Ferien gemacht?«

»Eine Woche hab ich Urlaub genommen. Mit den Kindern.« Er verzog das Gesicht. »Überall nur Sand, widerlich. Auf dem Laptop, auf dem Handy. Und auch auf dem hier.« Er griff in die Tasche, zog seinen BlackBerry hervor und knallte ihn auf den Tresen.

»Vorsicht!«

»Dieses Ding hier. Folgt mir überallhin. Wenn Sand reinkommt, macht nichts, es funktioniert trotzdem. Die Droge der Nation. Dieses Ding.« Er fuchtelte mit dem Finger daran herum und drückte dabei aus Versehen auf irgendwelche Tasten. Der Bildschirm leuchtete auf, Ruth und die Kinder lächelten Lou an. Pud mit seinem albernen breiten zahnlosen Grinsen, Lucy mit ihren großen braunen Augen, die unter ihrem Pony hervorschielten, Ruth, die beide Kinder fest im Arm hatte. Ruth hielt die Familie zusammen. Lächelnd studierte Lou das Bild. Dann ging das Licht aus, das Display wurde schwarz, und das Gerät starrte ihn vorwurfsvoll an. »Auf den Bahamas waren wir«, fuhr er mit seiner Erklärung fort. »Und sogar da haben sie mich gekriegt mit ihrem Biep-biep. Biep-biep, biep-biep, so {216 }kriegen die mich immer«, lachte er wieder. »Und das rote Licht. Das sehe ich im Schlaf, unter der Dusche, jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, das rote Licht und das Biep-biep. Ich hasse das verfluchte Biep-biep

»Dann nehmen Sie sich doch mal einen Tag frei«, schlug der Barmann vor.

»Kann ich nicht. Hab viel zu viel zu tun.«

»Na ja, jetzt, wo man Sie geklont hat, können Sie doch immer freimachen, wenn Sie Lust dazu haben«, scherzte der Barkeeper und schaute sich um, ob ihnen jemand zuhörte.

»Ja«, bestätigte Lou träumerisch. »Es gibt so vieles, was ich gerne tun möchte.«

»Was zum Beispiel? Was möchten Sie jetzt gerade am allerliebsten tun?«

Lou schloss die Augen. Der Schwindel ergriff die günstige Gelegenheit und breitete sich aus, um ihn vom Stuhl zu werfen.

»Hoppla!« Schnell riss er die Augen wieder auf. »Ich möchte nach Hause, aber das geht nicht. Der Klon lässt mich ja nicht. Vorhin hab ich ihn angerufen und ihm gesagt, dass ich müde bin und nach Hause möchte. Aber er lässt mich nicht.« Lou schnaubte. »Der allmächtige Bestimmer sagt nein.«

»Wer sagt nein?«

»Mein Klon.«

»Ihr Klon hat Ihnen gesagt, Sie sollen wegbleiben?« Der Barkeeper musste sich ein Lachen verbeißen.

»Er ist zu Hause, und ich kann da ja nicht noch mal aufkreuzen. Aber ich bin müde.« Seine Augenlider senkten sich. Aber dann fiel ihm etwas ein, und er schlug sie schnell wieder auf. Er beugte sich vertraulich zu dem Barmann {217 }und senkte die Stimme. »Ich hab ihn durchs Fenster beobachtet, wissen Sie«, sagte er leise.

»Den anderen?«

»Ja, Sie haben’s kapiert. Ich bin nach Hause gegangen und hab ihn von draußen beobachtet. Er war da drin, ist mit Bettwäsche und Handtüchern rumgerannt, treppauf, treppab, als hielte er sich für was ganz Besonderes.« Wieder schnaubte er laut. »Grade noch seh ich ihm zu, wie er bei ’nem Geschäftsessen seine dämlichen Witze erzählt, und in der nächsten Sekunde macht er zu Hause die Betten. Glaubt, er kann beides.« Lou verdrehte die Augen. »Deshalb bin ich hierher zurückgekommen.«

»Vielleicht kann er es«, grinste der Barmann.

»Vielleicht kann er was?«

»Vielleicht kann er beides«, erklärte der Barmann und zwinkerte. »Gehen Sie nach Hause«, sagte er, nahm Lous Glas und ging zur anderen Seite des Tresens, weil dort ein Kunde auf Bedienung wartete.

Während der junge Gast seine Bestellung herunterratterte, dachte Lou lang und angestrengt nach. Wenn er nicht nach Hause durfte, konnte er nirgendwohin.

 

»Alles okay, Schätzchen, alles okay, Daddy ist ja da«, sagte Lou, hielt Lucys dunkle Haare aus ihrem Gesicht und rieb ihr sanft den Rücken, während sie sich über die Kloschüssel beugte und sich ungefähr zum zwanzigsten Mal in dieser Nacht übergab. In T-Shirt und Boxershorts saß Lou neben ihr auf den kalten Badezimmerfliesen und lehnte sich an die Badewanne, während der kleine Körper seiner Tochter sich immer wieder zusammenkrampfte und die letzten Reste ihres Mageninhalts nach oben beförderte.

»Daddy … « Ganz klein war das Stimmchen, das durch die Tränen kam.

»Alles okay, Schätzchen, ich bin da«, wiederholte er verschlafen. »Es ist beinahe vorbei.« Wie viel mehr konnte ihr kleiner Körper denn noch von sich geben?

Alle zwanzig Minuten war er aus Lucys Bett aufgestanden, wo er neben ihr ein bisschen geschlafen hatte, war mit ihr ins Bad gewankt, wo sie sich erbrochen hatte und ihr Körper innerhalb weniger Augenblicke die Temperatur wechselte, von eiskalt zu glühend heiß und wieder zurück. Normalerweise war es Ruths Aufgabe, die ganze Nacht mit den Kindern aufzubleiben, ob sie krank waren oder nicht, aber zu Lous Pech – und ihrem eigenen – machte sie das Gleiche durch wie ihre kleine Tochter, in ihrem eigenen Badezimmer ein Stück weiter den Flur hinunter. Magen-Darm-Grippe, die sich häufig um die Weihnachtszeit ausbreitete, ein unwillkommenes Geschenk zum Jahresende für diejenigen, deren Abwehrkräfte sich schon vor dem offiziellen Datum vom alten Jahr verabschieden wollten.

Lou trug Lucy wieder ins Bett zurück, und sie schlang die Arme fest um seinen Hals. Sie schlief bereits wieder, völlig erschöpft von den Anstrengungen dieser Nacht. Lou legte sie ins Bett, deckte ihren jetzt wieder kühlen Körper warm zu und platzierte ihren Lieblingsteddy dicht neben ihrem Gesicht, wie Ruth es ihm in einer Brechpause gezeigt hatte. Da vibrierte wieder sein Handy auf dem Pink-Princess-Nachttischchen. Inzwischen war es vier Uhr morgens, und es war der fünfte Anruf, den er von sich selbst bekommen hatte. Als er einen Blick auf das Display warf, erschien sein eigenes Gesicht.

»Was ist jetzt schon wieder?«, flüsterte er ins Telefon, {219 }bemühte sich aber, Lautstärke und Wut so weit wie möglich in Schach zu halten.

»Lou! Ich bin’s – Lou!«, ertönte die betrunkene Stimme am anderen Ende, gefolgt von einem dröhnenden Lachen.

»Hör auf mich anzurufen«, sagte Lou, ein bisschen lauter.

Im Hintergrund hörte man stampfende Musik, laute Stimmen und ein Geschnatter unspezifischer Worte. Gläser klirrten, jemand rief etwas Unverständliches, und alle paar Sekunden ertönten Lachexplosionen aus unterschiedlichen Ecken des Raums. Man konnte sich fast einbilden, die Alkoholdämpfe zu riechen, die versuchten, sich durchs Telefon in Lucys friedlich unschuldige Welt zu schleichen. Instinktiv hielt Lou die Hand über den Hörer, um zu verhindern, dass die Erwachsenenwelt ihren kindlichen Schlaf störte.

»Wo bist du überhaupt?«

»Leeson Street. Irgendwo«, brüllte er zurück. »Ich hab ’ne Frau kennengelernt, Lou«, faselte die Stimme weiter. »Verdammt heiß! Du wärst stolz auf mich. Nein, du wärst natürlich stolz auf dich!« Erneut das dröhnende Gelächter.

»Was?!«, blaffte Lou. »Nein! Fang bloß nichts mit ihr an!«, rief er. Einen Moment flatterten Lucys Augenlider wie zwei kleine Schmetterlinge, und große braune Augen starrten ihn erschrocken an. Aber als sie ihren Daddy erkannte, verschwand der alarmierte Ausdruck, ein kleines Lächeln erschien auf ihren Lippen, und die Augen schlossen sich wieder. Das Vertrauen, das sie mit diesem kurzen Blick ausgedrückt hatte, berührte Lou tief. Er begriff, dass er ihr Beschützer war, derjenige, der ihr die Angst nehmen und ein Lächeln auf ihr Gesicht zaubern konnte, und dieses {220 }Gefühl war besser als alles, was er jemals in seinem Leben gefühlt hatte. Besser als der Deal, den er vorhin beim Dinner abgeschlossen hatte, besser als Alfreds Gesichtsausdruck, mit dem er Lou im Restaurant empfangen hatte. Auf einmal hasste er den Mann am anderen Ende der Leitung, ja, er verabscheute ihn so, dass er ihn am liebsten geschlagen hätte. Seine Tochter kotzte sich die Seele aus dem Leib, sie war so fertig und erschöpft, dass sie kaum die Augen offen halten konnte, von Stehen ganz zu schweigen, und dieser Kerl hockte in der Kneipe, soff sich um den Verstand, baggerte irgendwelche Frauen an und erwartete ganz selbstverständlich von Ruth, dass sie all das hier ohne ihn erledigte. Er verabscheute den Mann am anderen Ende der Leitung von ganzem Herzen.

»Aber sie ist echt heiß, du solltest sie mal sehen«, lallte der unterdessen weiter.

»Vergiss es«, antwortete Lou scharf, mit leiser, drohender Stimme. »Ich schwöre bei Gott, wenn du irgendwas anstellst, dann … «

»Was dann? Dann bringst du mich um?« Abermaliges Dröhngelächter. »Das klingt, als wolltest du dir die Nase abschneiden, um dein Gesicht zu ärgern, mein Freund. Tja, wo zum Teufel soll ich denn hin, hä? Sag es mir! Ich kann nicht heim, ich kann nicht zur Arbeit – also, wohin soll ich gehen?«

In diesem Moment öffnete sich die Schlafzimmertür, und Ruth erschien. Sie machte einen ebenso erschöpften Eindruck wie ihre Tochter.

»Ich ruf dich zurück«, sagte Lou und beendete eilig das Gespräch.

»Mit wem telefonierst du denn um diese Zeit?«, fragte Ruth leise. Sie hatte ihren Bademantel übergezogen und {221 }die Arme schützend um ihren Körper geschlungen. Ihre Augen waren rot und geschwollen, die Haare immer noch zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie sah so zerbrechlich aus, als könnte eine laute Stimme sie umwerfen. Zum zweiten Mal in dieser Nacht wurde Lou warm ums Herz, und er ging mit offenen Armen auf sie zu.

»Das war bloß ein Typ, den ich kenne«, flüsterte er und strich ihr über die Haare. »Er ist total betrunken, irgendwo in einer Bar, und geht mir mit seinen Anrufen auf den Wecker. Ein echter Loser«, fügte er leise hinzu. Dann klappte er das Handy zu und warf es beiseite, mitten in einen Stapel Teddybären. »Wie geht es dir?«, fragte er, trat einen Schritt zurück und musterte Ruths Gesicht. Ihre Stirn glühte, aber sie fröstelte in seinen Armen.

»Ganz gut.« Sie schenkte ihm ein zittriges Lächeln.

»Nein, es geht dir nicht wirklich gut. Du solltest dich schnell wieder hinlegen, ich bringe dir einen feuchten Waschlappen.« Er küsste sie liebevoll auf die Stirn, sie schloss die Augen, und ihr Körper entspannte sich in seinen Armen.

Am liebsten hätte Lou die Faust in die Luft gereckt und laut gejubelt, aber er wollte die Umarmung nicht lösen. Denn zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er, wie Ruth aufhörte, gegen ihn zu kämpfen. Jedes Mal, wenn er sie in den letzten sechs Monaten umarmt hatte, war sie sofort starr und steif geworden – als hätte sie das Gefühl, dadurch deutlich machen zu müssen, dass sie sein Verhalten nicht billigte. Doch nun genoss er diesen Moment, in dem sie in seinen Armen ganz weich wurde – es war ein stummer, aber unschätzbarer Etappensieg für ihre Ehe.

Auf einmal fing das Handy zwischen den Teddys wieder {222 }an zu vibrieren und in Bär Paddingtons Armen herumzuhüpfen. Lous Gesicht erschien erneut auf dem Bildschirm, und er musste schnell wegsehen, weil er seinen Anblick nicht ertragen konnte. Jetzt konnte er verstehen, wie Ruth sich ihm gegenüber fühlte.

»Da ist schon wieder dein Freund«, sagte Ruth und zog sich ein Stück zurück, damit er nach dem Telefon greifen konnte.

»Nein, lass ihn.« Er ignorierte das Handy und zog Ruth wieder an sich. »Ruth«, sagte er leise und hob mit den Fingern leicht ihr Kinn an, dass sie ihm ins Gesicht sehen konnte. »Es tut mir leid.«

Erschrocken starrte Ruth ihn an. Offensichtlich war sie sicher, dass seine Entschuldigung einen Haken hatte. Es musste einen Haken geben. Lou Suffern hatte gesagt, dass ihm etwas leidtat. Und das gehörte nicht zu seinem Wortschatz.

Aus dem Augenwinkel sah Lou das Telefon vibrieren, bis es sich schließlich aus Paddingtons Arm löste und auf Winnie Puhs Kopf landete, von wo es von einem Bären zum nächsten weitergereicht wurde wie eine heiße Kartoffel. Dann war es einen Moment still, fing aber gleich wieder an, Lous Gesicht erschien, lächelte, grinste ihn an, lachte ihn aus und erklärte ihm, dass er ein Schwächling war, weil er diese Worte in den Mund genommen hatte. Aber er kämpfte dagegen an, kämpfte gegen die betrunkene, dumme, kindische, unvernünftige Seite in sich an, weigerte sich, ans Telefon zu gehen, weigerte sich, seine Frau loszulassen. Er schluckte schwer.

»Ich liebe dich, weißt du.«

Es war, als würde sie das zum ersten Mal hören. Es war, als hätte man sie beide zurückversetzt unter den {223 }Weihnachtsbaum von Ruths Eltern in Galway, an ihrem allerersten gemeinsamen Weihnachten. Die Katze lag zusammengerollt auf ihrem Lieblingskissen am Feuer, der verrückte Hund, der schon viel zu viele Jahre auf der Welt war, vergnügte sich im Garten hinter dem Haus und bellte alles an, egal ob es sich bewegte oder nicht. Damals hatte Lou ihr gesagt, dass er sie liebte, dort neben dem künstlichen weißen Weihnachtsbaum, über den sich Ruths Eltern noch wenige Stunden zuvor lautstark gestritten hatten – Mr O'Donnell wollte einen richtigen Tannenbaum, Mrs O'Donnell war dagegen, weil sie keine Lust hatte, ständig die Nadeln wegsaugen zu müssen. Grüne, rote und blaue Lichter leuchteten rhythmisch an dem furchtbar kitschigen Baum auf und verglommen wieder, unentwegt, und obwohl der Baum so hässlich war, wirkte er sehr entspannend – als würde ein Brustkorb sich beim Atmen gemächlich heben und senken. Es war der erste gemeinsame Augenblick, den Ruth und Lou an diesem Tag hatten, überhaupt die einzige ungestörte Zeit zu zweit, denn Lou musste auf der Couch übernachten, während Ruth abends züchtig in ihrem Zimmer verschwand. Er hatte nicht geplant, ihr seine Liebe zu gestehen, ja, eigentlich hatte er vorgehabt, diese Worte überhaupt nie auszusprechen, aber sie waren einfach ungefragt über seine Lippen gekommen. Eine Weile hatte er mit ihnen gekämpft, sie im Mund hin und her bewegt, sie nach vorn befördert und wieder zurückgeholt, weil er nicht den Mut hatte, sie herauszulassen. Aber dann waren sie plötzlich draußen, und augenblicklich veränderte sich seine Welt. Zwanzig Jahre später, hier im Schlafzimmer seiner Tochter, fühlte es sich an, als wäre derselbe Moment zurückgekehrt, mit dem gleichen Ausdruck der Freude und Überraschung auf Ruths Gesicht.

»O Lou«, sagte sie leise, schloss die Augen und gab sich ganz dem Moment hin. Doch dann machte sie abrupt die Augen wieder auf, und eine Besorgnis flackerte in ihnen, eine Unruhe, die Lou eine Höllenangst vor dem machte, was sie sagen würde. Was wusste sie? Sein Verhalten in der Vergangenheit stürzte sich auf ihn wie ein gespenstischer Piranhaschwarm, gemein und hinterlistig. Er dachte an diesen anderen Teil seiner selbst, der irgendwo betrunken da draußen umherstreifte und womöglich seine neuerwachte Beziehung zu seiner Frau zerstörte, die Reparaturen rückgängig machte, die sie beide so viel Anstrengung gekostet hatten. Er hatte eine Vision der beiden Lous: Einer baute eine Backsteinmauer, der andere schlug mit einem Vorschlaghammer alles sofort wieder kurz und klein. Genau das hatte Lou die ganze Zeit getan. Auf der einen Seite hatte er seine Familie aufgebaut, während er auf der anderen mit seinem Verhalten alles kaputtzumachen drohte.

Mit einem Ruck löste Ruth sich von ihm und rannte ins Bad. Lou hörte, wie sie die Klobrille hochklappte und sich ein weiteres Mal übergab. Da sie es hasste, wenn jemand in solchen Augenblicken bei ihr war, schaffte sie es sogar noch – wie immer eine Meisterin in Multitasking – mit dem ausgestreckten Bein die Badezimmertür hinter sich zuzuschlagen.

Lou seufzte, ließ sich auf den Boden sinken und landete mitten in der Teddykolonie, wo zum x-ten Mal das Telefon zu vibrieren begann.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte er mit dumpfer Stimme und erwartete, seine eigene betrunkene Stimme zu hören. Aber er irrte sich.