»Schwachsinn«, sagte der Truthahnjunge, als Raphie eine Pause machte, um Luft zu holen. Statt etwas zu antworten, wartete Raphie, ob der Knabe ihm gegenüber vielleicht noch etwas Konstruktiveres in petto hatte.
»Totaler Schwachsinn«, wiederholte der jedoch nur noch einmal.
»Okay, das reicht«, sagte Raphie, stand auf und packte Becher, Papptasse und Bonbonpapiere zusammen. Während er seine Geschichte erzählte, hatte er einiges an Süßigkeiten vertilgt. »Dann lass ich dich jetzt in Frieden auf deine Mutter warten.«
»Nein, bleiben Sie hier!«, rief der Junge.
Aber Raphie machte einen Schritt zur Tür.
»Sie können die Geschichte doch nicht einfach an der Stelle abbrechen«, zeterte der Truthahnwerfer weiter. »Sie können mich doch nicht so hängenlassen!«
»Na ja, so geht es einem eben, wenn man etwas nicht zu würdigen weiß«, entgegnete Raphie achselzuckend. »Und wenn man mit einem Truthahn Fensterscheiben einschmeißt.« Damit verließ er den Verhörraum.
Jessica stand in der winzigen Küche der Station und trank die nächste Tasse Kaffee. Ihre Augen waren rot, entzündet, mit dunklen Ringen.
»Schon Kaffeepause?« Raphie tat, als würde er ihren lädierten Zustand nicht bemerken.
Sie blies auf den Kaffee, nippte und sagte, ohne beim Sprechen die Tasse vom Mund zu nehmen: »Du warst eine halbe Ewigkeit da drin.« Dabei studierte sie aufmerksam das Schwarze Brett, das direkt vor ihr hing.
»Ist dein Gesicht okay?«
Sie nickte einmal kurz – wahrscheinlich der ausführlichste Kommentar, den sie zu den Schnitten und Kratzern, die ihr Gesicht überzogen, abzugeben bereit war. Abrupt wechselte sie das Thema. »Wie weit bist du mit der Geschichte gekommen?«
»Bis zu Lou Sufferns erster Verdoppelung.«
»Was hat der Junge dazu gesagt?«
»Ich glaube, ›Schwachsinn‹ war der Ausdruck seiner Wahl, dicht gefolgt von ›totaler Schwachsinn‹.«
Jessica lächelte schwach, blies erneut auf ihren Kaffee und nippte wieder. »Du bist weiter gekommen, als ich dachte. Du solltest ihm die Videoaufnahmen von der Nacht zeigen.«
»Haben wir die Tapes von der Videoüberwachung in dem Pub denn schon?«, fragte Raphie und drückte noch einmal auf den Schalter am Wasserkessel. »Wer hat da an Weihnachten gearbeitet? Der Weihnachtsmann?«
»Nein, die Tapes sind noch nicht da, aber die von Patterson Developments. Da wissen sie anscheinend nicht, wie man einen Tag Urlaub nimmt.« Jessica verdrehte die Augen. »An Weihnachten, also ehrlich. Jedenfalls, auf der Aufnahme von der Konferenz sieht man einen Mann aus seinem Büro verschwinden, der genau aussieht wie Lou.«
»Aber bei der Videokonferenz könnte es doch dieser Gabe-Kerl sein. Er und Lou sehen sich total ähnlich.«
»Könnte sein, ja.«
»Wo bleibt der überhaupt? Er sollte doch schon vor einer Stunde hier sein.«
Jessica zuckte die Achseln.
»Na ja, er sollte zusehen, dass er seinen Hintern hier demnächst reinschafft und seinen Führerschein mitbringt, wie ich es ihm gesagt habe«, grollte Raphie. »Sonst werde ich … «
»Sonst wirst du was?«
»Sonst werde ich ihn persönlich festnehmen.«
Langsam senkte Jessica die Kaffeetasse, und ihre tiefen, geheimnisvollen Augen bohrten sich in seine. »Mit welcher Begründung willst du ihn denn bitte festnehmen, Raphie?«
Aber Raphie ignorierte sie, goss sich noch einen Kaffee ein und schaufelte zwei Löffel Zucker hinein, wogegen Jessica – wahrscheinlich, weil sie seine grimmige Entschlossenheit spürte – nicht protestierte. Dann füllte er den Pappbecher mit Wasser und trottete wieder den Korridor hinunter.
»Wo gehst du hin?«, rief sie ihm nach.
»Die Geschichte fertig erzählen«, brummte er.