11 Der Jongleur

Um fünf Uhr nachmittags, genau um die Zeit, als Lou hätte aufbrechen müssen, um noch rechtzeitig für Lucys Aufführung nach Hause zu kommen, wanderte er unruhig in seinem Büro hin und her, von der Tür zum Schreibtisch, vom Schreibtisch zur Tür und wieder zurück. Hin und her, her und hin. Die Tür stand sperrangelweit offen, als wartete sie darauf, dass Lou jeden Moment den Korridor hinunter und in Mr Pattersons Büro rennen würde, um dort zu verkünden, dass er sich leider doch nicht mit Bruce Archer zum Kaffee treffen konnte. Denn wie Mr Patterson hatte ja auch Lou familiäre Verpflichtungen. Heute Abend ist meine Tochter ein Blatt, Laurence! Doch jedes Mal, wenn Lou es bis zur Tür schaffte, blieb er dort wie angewurzelt stehen, machte schließlich wieder kehrt und begann erneut, um seinen Schreibtisch herumzutigern.

Alison beobachtete ihn neugierig von ihrem Schreibtisch aus und blickte jedes Mal vom Tippen auf, wenn Lou die Tür erreichte. Irgendwann verstummte das Geklapper ihrer Acrylnägel auf den Tasten ganz.

»Lou, kann ich irgendwas für Sie tun?«

Da endlich sah er sie an, als wäre ihm plötzlich aufgefallen, dass er sich in einem Büro befand und dass Alison schon die ganze Zeit über anwesend gewesen war. Er richtete {129 }sich auf, zupfte seine Krawatte zurecht und räusperte sich.

»Äh … nein, danke, Alison«, antwortete er, und es hörte sich förmlicher an, als er es gemeint hatte. Er war so erpicht darauf, sie von seiner Zurechnungsfähigkeit zu überzeugen, dass er sich anhörte wie ein Betrunkener, der um jeden Preis nüchtern klingen will.

Langsam näherte er sich wieder seinem Schreibtisch, aber dann hielt er abrupt inne und streckte den Kopf aus der Tür. »Hören Sie, Alison, dieses Meeting … «

»Mit Bruce Archer, ja.«

»Er will sich doch wirklich nur zum Kaffee mit mir treffen, oder?«

»Ja, das hat Mr Patterson gesagt.«

»Und weiß er auch, dass ich es bin, mit dem er sich trifft?«

»Mr Patterson?«

»Nein, Bruce Archer.«

»Mr Patterson hat ihn vorhin angerufen und ihm erklärt, dass er selbst es nicht schafft und dass deshalb ein Kollege für ihn einspringt.«

»Gut. Dann erwartet Bruce Archer mich also vielleicht gar nicht?«

»Soll ich es noch mal für Sie bestätigen lassen?«

»Äh … nein. Ich meine, doch, hm … « Er dachte nach, während Alisons Hand unentschlossen über dem Hörer schwebte. »Nein«, sagte er schließlich fest, drehte sich um und ging in sein Büro zurück. Aber schon wenige Sekunden später streckte er wieder den Kopf durch die Tür. »Doch. Bestätigen Sie es bitte.« Dann verschwand er schnell wieder. Er setzte seine Wanderung fort, bis er Alison rufen hörte: »Hi, Gabe!«

Lou erstarrte und lief, aus Gründen, die er selbst nicht begriff, zur Tür, wo er mit dem Rücken zur Wand stehen blieb und durch die offene Tür das Gespräch draußen belauschte.

»Hi, Alison.«

»Sie sind heute aber schick.«

»Danke. Mr Patterson hat mich gefragt, ob ich hier oben ein paar Dinge für ihn erledigen kann, deshalb dachte ich, ich sollte vielleicht ein bisschen gepflegter aussehen.«

Lou äugte durch die Ritze hinter den Türangeln und sah Gabe mit einem neuen Haarschnitt, ebenso perfekt frisiert wie Lou. Über seiner Schulter lag, noch in Plastikfolie verpackt, ein offenbar neuer dunkler Anzug.

»Ist der neue Anzug auch für hier oben?«, fragte Alison.

»Oh, der? Der ist einfach nur für mich. Man weiß ja nie, wann man mal einen Anzug brauchen kann«, antwortete er – reichlich kryptisch, fand Lou. »Jedenfalls soll ich Ihnen diese hier geben. Ich glaube, es sind Pläne. Ich glaube, Lou wollte sie sich ansehen.«

»Woher haben Sie die?«

»Die hab ich beim Architekten abgeholt.«

»Aber der arbeitet doch heute zu Hause«, sagte Alison, während sie verwirrt in den braunen Umschlag sah.

»Ja, ich hab die Sachen bei ihm zu Hause abgeholt.«

»Aber Lou hat Mr Patterson erst vor ungefähr fünf Minuten danach gefragt. Wie haben Sie das so schnell geschafft?«

»Oh, ich weiß auch nicht. Ich hab einfach nur, wissen Sie … « Lou sah, wie Gabe mit den Achseln zuckte.

»Nein, das weiß ich überhaupt nicht«, lachte Alison. »Aber ich würde es gern erfahren. Würde mich nicht überraschen, wenn Mr Patterson Ihnen Lous Job gibt.«

Die beiden lachten lauthals über diesen Witz, und Lou ärgerte sich so, dass er beschloss, Alison nach diesem Gespräch das Leben zur Hölle zu machen.

»Ist Lou da?«

»Ja, er ist in seinem Büro. Warum?«

»Geht er nachher zu dem Treffen mit Bruce Archer?«

»Ja. Glaube ich wenigstens. Warum?«

»Ach, nur so. Ist Alfred heute Abend frei?«

»Komisch, vorhin hat Lou mich das Gleiche gefragt. Ja, Alfred ist frei, ich hab mich bei seiner Sekretärin erkundigt. Sie heißt Melissa und würde Ihnen bestimmt gefallen«, sagte sie mit einem flirtigen Lachen.

»Damit ich das richtig verstehe: Lou weiß also, dass Alfred Zeit hat, sich mit Bruce zu treffen, falls er selbst sich entschließt abzusagen?«

»Ja, ich hab es ihm gesagt. Warum, was ist denn los?« Sie senkte die Stimme. »Was ist das denn für ein Theater wegen heute Abend? Lou hat sich schon die ganze Zeit deswegen so komisch benommen.«

»Ach ja? Hm.«

Das reichte, Lou hielt es nicht mehr aus. Er schloss so heftig seine Bürotür, dass die beiden vor Schreck zusammenzuckten. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und nahm das Telefon ab.

»Ja?«, meldete sich Alison.

»Holen Sie mir Harry vom Postraum ans Telefon, und danach rufe ich Ronan Pearson an und frage ihn, ob Gabe die Pläne wirklich persönlich bei ihm abgeholt hat. Aber sorgen Sie dafür, dass Gabe nichts davon mitkriegt.«

»Ja, selbstverständlich, einen Augenblick bitte«, sagte sie ganz professionell mit ihrer besten Telefonstimme.

Kurz darauf klingelte das Telefon. Lou richtete noch einmal {132 }seine Krawatte, räusperte sich und drehte seinen riesigen Ledersessel so, dass er aus dem Fenster sehen konnte. Der Tag war kalt, aber klar und windstill. Einkäufer hasteten unter den zahllosen buntblinkenden Neonschildern umher, völlig versunken in die Ausübung der Religion dieser Jahreszeit, die Arme beladen mit Tüten.

»Yello«, bellte Harry ins Telefon.

»Harry, hier ist Lou.«

»Was?«, brüllte Harry. Im Hintergrund waren laute Maschinengeräusche und Stimmen zu hören, und Lou blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls laut zu sprechen. Vorsichtig sah er sich um, um sich zu vergewissern, dass er ungestört war, dann wiederholte er: »Hier ist Lou, Harry.«

»Lou wer?«

»Lou Suffern.«

»Oh, Lou, hi, wie kann ich Ihnen helfen? Ist Ihre Post mal wieder im zwölften Stock gelandet?«

»Nein, nein, ich hab alles bekommen, danke.«

»Gut. Der neue Mitarbeiter, den Sie mir geschickt haben, ist ein Genie, was?«

»Ach ja, wirklich?«

»Gabe? Absolut. Kriegt von allen hervorragende Kritiken. Man hat das Gefühl, er ist vom Himmel gefallen. Ich sag Ihnen, er hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt auftauchen können, ungelogen. Sie wissen ja, dass wir zu wenig Leute hatten. In der ganzen Zeit, die ich schon hier arbeite, ist es nie so wild zugegangen wie dieses Weihnachten. Scheint alles immer schneller zu werden. Daran muss es wohl liegen, ich werde nämlich garantiert nicht langsamer. Aber Sie haben echt eine gute Wahl getroffen, Lou, ich schulde Ihnen was. Womit kann ich Ihnen denn heute helfen?«

»Nun, wegen Gabe«, begann Lou langsam, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. »Sie wissen doch, dass er noch ein paar andere Aufgaben hier im Gebäude übernommen hat. Andere Arbeiten, zusätzlich zu der in der Poststelle.«

»Ja, das hab ich gehört. Er war heute Morgen total aufgeregt. Hat sich in der Pause gleich einen neuen Anzug besorgt und alles. Keine Ahnung, wie er die Zeit dafür gefunden hat, manche Leute hier schaffen es ja nicht mal, sich eine Zigarette anzuzünden. Der ist echt von der schnellen Truppe, dieser Gabe. Würde sagen, es wird nicht lange dauern, dann ist er raus hier und treibt sich oben bei Ihnen rum. Mr Patterson hat ihn allem Anschein nach schon ins Herz geschlossen. Das freut mich für Gabe, er ist ein guter Kerl.«

»Ja … ich wollte nur Bescheid sagen, damit die andere Arbeit sich nicht womöglich negativ auf die bei Ihnen auswirkt.« Lou versuchte es noch einmal. »Er sollte sich ja nicht ablenken lassen oder in Gedanken bei den anderen Dingen sein, die er sonst noch erledigen muss, wissen Sie? Hier ist es oft ganz schön hektisch, da kann so was leicht passieren.«

»Ich bin sehr dankbar für Ihren Hinweis, Lou, aber was Gabe nach dreizehn Uhr tut, überlasse ich ganz seiner eigenen Verantwortung. Ehrlich gesagt, bin ich froh, dass er noch zusätzlich etwas gefunden hat. Er ist mit seinem Job hier so schnell durch, dass es schwer ist, ihn überhaupt bis zur ersten Pause zu beschäftigen.«

»Na gut. Okay. Aber falls es irgendwelche Schwierigkeiten mit ihm gibt, dann tun Sie einfach, was Sie tun müssen, Harry. Ich möchte nicht, dass Sie sich in irgendeiner Weise mir gegenüber verpflichtet fühlen, dass er an Bord bleibt. Verstehen Sie?«

»Ja, das weiß ich, Lou. Aber er ist ein guter Kerl, Sie brauchen sich überhaupt keine Sorgen zu machen.«

»Okay, danke. Passen Sie auf sich auf, Harry.«

Dann war die Leitung tot. Lou seufzte, drehte sich langsam in seinem Stuhl und wollte den Hörer auflegen. Aber als er sich umwandte, blickte er mitten in Gabes Gesicht, der hinter dem Schreibtisch stand und ihn aufmerksam musterte.

Lou stieß einen Schrei aus und fuhr so heftig zusammen, dass er den Hörer fallen ließ. »Herr des Himmels!« Er presste sich die Hand auf sein heftig klopfendes Herz.

»Nein, ich bin’s bloß«, korrigierte ihn Gabe, und seine blauen Augen bohrten sich in die von Lou.

»Haben Sie schon mal was von Anklopfen gehört? Wo ist Alison?« Lou beugte sich seitwärts aus seinem riesigen Sessel, um ihren Arbeitsplatz ins Visier zu nehmen, und sah, dass er unbesetzt war. »Wie lange sind Sie schon hier?«

»Lange genug.« Gabes Stimme klang sanft, und genau das raubte Lou fast den letzten Nerv. »Wollen Sie mich in Schwierigkeiten bringen, Lou?«

»Was?« Noch immer pochte Lous Herz wie wild, denn er hatte sich von dem Schrecken keineswegs erholt. Außerdem war ihm die Kombination von Alisons Abwesenheit und Gabes Nähe extrem unangenehm. Allein die Gegenwart dieses Mannes brachte ihn aus dem Konzept.

»Nein«, beantwortete er Gabes Frage schließlich doch, schluckte schwer und hasste sich für seine plötzliche Schwäche. »Ich habe Harry nur angerufen, um zu hören, ob er mit Ihnen zufrieden ist. Weiter nichts.« Er war sich bewusst, dass er klang wie ein Schuljunge, der sich für irgendeine Missetat rechtfertigte.

»Und ist er mit mir zufrieden?«

»Ja, ist er. Aber Sie müssen verstehen, dass ich mich ihm gegenüber verantwortlich fühle, weil ich Sie gefunden und zu uns ins Boot geholt habe.«

»Sie haben mich gefunden.« Gabe lächelte und ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen, als hätte er sie nie zuvor gehört oder ausgesprochen.

»Was ist daran denn so komisch?«

»Nichts«, antwortete Gabe, weiterhin lächelnd, und begann, sich in Lous Büro umzuschauen, die Hände tief in den Taschen, mit seinem typischen herablassenden Gesichtsausdruck, der weder Neid noch Bewunderung beinhaltete.

»Es ist jetzt zweiundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden nach fünf«, stellte Gabe fest, ohne auf die Uhr zu schauen. »Vierunddreißig, fünfunddreißig, sechsunddreißig … « Er wandte sich um und lächelte Lou erneut an. »Sie verstehen ja sicher, was ich meine.«

»Und?« Lou schlüpfte in sein Jackett und schielte verstohlen auf seine Armbanduhr, um sicherzugehen. Es war genau siebzehn Uhr zweiundzwanzig.

»Sie müssen jetzt los, richtig?«

»Was meinen Sie denn, was ich gerade mache?«

Gabe wanderte zum Konferenztisch hinüber, nahm drei Früchte aus der Schale – zwei Orangen und einen Apfel – und inspizierte sie gründlich. »Entscheidungen, Entscheidungen, immer diese Entscheidungen«, sagte er, die drei Stücke Obst fest in der Hand.

»Hungrig?«, fragte Lou nervös.

»Nein.« Wieder lachte Gabe. »Verstehen Sie was vom Jonglieren?«

Auf einmal hatte Lou wieder dieses seltsame Gefühl im Herzen, und ihm stand ganz klar vor Augen, was er an Gabe {136 }nicht leiden konnte: Genau diese Art von Fragen, genau solche sonderbaren Kommentare – denn sie erwischten ihn jedes Mal auf dem falschen Fuß.

»Sie sollten lieber drangehen«, fuhr Gabe fort.

»Was? Wo dran denn?«

Ehe Gabe antworten konnte, klingelte das Telefon, und obwohl Lou sonst darauf bestand, dass Alison seine Anrufe vorfilterte, stürzte er sich diesmal sofort auf den Hörer.

Es war Ruth.

»Hallo, Schatz.« Lou gab Gabe mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er gehen sollte, aber Gabe ignorierte ihn komplett und fing stattdessen an, mit den Früchten zu jonglieren. Da ihm nichts Besseres einfiel, wandte Lou ihm den Rücken zu. Aber das fühlte sich noch unangenehmer an, und er drehte sich schnell wieder um. So konnte er diesen seltsamen Jongleur wenigstens im Auge behalten.

»Hm, ja, wegen heute Abend … Mir ist leider was dazwischengekommen, und … «, begann er mit gesenkter Stimme.

»Lou, tu mir das nicht an«, erwiderte Ruth. »Es wird Lucy das Herz brechen.«

»Ich schaffe es ja bloß nicht zu der Aufführung, Liebes. Lucy wird mein Fehlen bestimmt nicht mal bemerken, im Zuschauerraum ist es ja stockdunkel. Du kannst doch einfach so tun, als wäre ich da. Der Rest des Abends ist kein Problem, aber Mr Patterson hat mich gebeten, mich mit einem unserer Klienten zu treffen. Der Termin ist ziemlich wichtig und könnte mir helfen, Cliffs Job zu kriegen, weißt du?«

»Ich weiß, ich weiß. Und wenn du tatsächlich eine Beförderung bekommst, hast du vermutlich noch weniger Zeit für uns als bisher.«

»Nein, nein, ich muss nur in den nächsten paar Monaten richtig reinhauen, um mich zu beweisen.«

»Vor wem willst du dich denn beweisen? Laurence weiß doch längst, was du kannst, schließlich bist du seit fünf Jahren in der Firma. Aber egal, ich möchte über dieses Thema jetzt nicht diskutieren. Kommst du nun zu Lucys Aufführung oder nicht?«

»Zu der Aufführung?« Lou biss sich auf die Lippe und warf einen Blick auf seine Uhr. »Nein, das werde ich wohl nicht schaffen.«

In diesem Moment ließ Gabe den Apfel fallen, fuhr aber fort, mit den beiden Orangen zu jonglieren, während der Apfel gemächlich über den Teppich in Richtung Lous Schreibtisch kullerte. Mit einem kindischen Gefühl der Befriedigung nahm Lou zur Kenntnis, dass Gabe ein Missgeschick unterlaufen war.

»Dann kommst du also erst zum Essen nach Hause? Mit deinen Eltern, Alexandra und Quentin? Ich hab gerade mit deiner Mum telefoniert, und sie hat gesagt, dass sie sich sehr darauf freut. Du hast sie seit einem Monat nicht mehr besucht, weißt du.«

»Aber es ist noch längst keinen Monat her, dass ich sie gesehen habe. Ich hab Dad getroffen, und das war grade mal … « Er hielt inne und rechnete. »Na ja, vielleicht ist es doch fast einen Monat her.« Ein ganzer Monat? Wie die Zeit verflogen war.

Für Lou waren die Besuche bei seinen Eltern eine lästige Pflicht – ungefähr wie Bettenmachen. Wenn er sein Bett nicht gemacht hatte, musste er immer wieder an die unordentlichen Laken denken, bis ihn das schließlich so störte, dass er es lieber schnell hinter sich brachte. Sobald die Sache erledigt war, war er zufrieden. Aber dann, gerade {138 }wenn er dachte, die Angelegenheit wäre abgehakt und aus der Welt, wachte er auf und wusste, dass alles wieder von vorne losging. Beim Gedanken daran, wie sein Vater sich darüber beklagte, dass sie sich so selten sahen, wäre Lou am liebsten auf der Stelle weggelaufen. Immer der gleiche jammerige Satz – es konnte einen in den Wahnsinn treiben. Natürlich machte ihm das Gejammer auch ein schlechtes Gewissen, aber hauptsächlich verspürte er den Wunsch, es nie mehr hören zu müssen – was dazu führte, dass er noch seltener den Kontakt zu seiner Familie suchte. Er musste genau in der richtigen Stimmung dafür sein, denn dann konnte er seine Gefühle aus einer gewissen Distanz betrachten. Wenn er das nicht schaffte, blaffte er unbeherrscht zurück und hielt seinem Vater in allen Einzelheiten vor, wie eingespannt und erfolgreich er war, nur um den alten Mann mundtot zu machen. Und heute war Lou ganz ohne Zweifel nicht in der richtigen Stimmung. Bestimmt war es für alle Beteiligten leichter, wenn er sich erst zu den anderen gesellte, nachdem sie schon etwas getrunken hatten.

»Womöglich schaffe ich es nicht zum Essen, aber auf jeden Fall komme ich zum Nachtisch. Ehrenwort.«

Gabe ließ eine Orange fallen, und Lou wäre vor Freude am liebsten an die Decke gesprungen. Mit spöttisch geschürzten Lippen fuhr er fort, Ruth Ausreden zu erzählen, wobei er es tunlichst vermied, sich zu entschuldigen – er konnte ja nichts dafür, dass die Dinge sich so entwickelt hatten! Schließlich legte er auf und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was ist denn so lustig?«, fragte Gabe, wobei er die letzte Orange mit einer Hand hochwarf und wieder auffing. Die andere Hand hatte er in die Tasche gesteckt.

»Sie können nicht so besonders gut jonglieren, was?«, grinste Lou.

»Touché«, gab Gabe lächelnd zurück. »Sie sind ein guter Beobachter. Ich kann tatsächlich nicht besonders gut jonglieren, aber ich hatte ja auch von Anfang an vor, die beiden anderen Früchte fallen zu lassen und nur diese hier in der Hand zu behalten. Das zählt dann eigentlich nicht als Jonglieren, oder?«

Lou nahm die seltsame Antwort mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis, ordnete noch ein paar Dinge auf seinem Schreibtisch, zog dann seinen Mantel über und machte sich bereit zu gehen.

»Nein, Gabe, es ist im engeren Sinne kein Jonglieren, wenn man sich so was vorher vornimmt … « Abrupt hielt er inne, denn plötzlich wurde ihm klar, was er da sagte, und er hörte Ruths Stimme in seinem Kopf. Ruckartig blickte er auf, spürte wieder die seltsame Kälte um sein Herz, aber Gabe war nicht mehr da, und die Orange lag vor ihm auf dem Schreibtisch.

»Alison!«, rief er und marschierte, die Orange fest in der Hand, aus seinem Büro. »Ist Gabe grade hier rausgegangen?«

Alison hob den Finger, um ihm zu signalisieren, dass er sich einen Moment gedulden musste, während sie etwas auf einen Notizblock kritzelte und der Stimme am anderen Ende der Telefonleitung lauschte.

»Alison«, unterbrach er sie rücksichtslos, und sie wurde panisch, kritzelte schneller, nickte hektischer, hielt aber diesmal die ganze Hand in die Höhe.

»Alison«, fauchte Lou ein drittes Mal und legte einfach die Hand über den Hörer, um das Gespräch gewaltsam zu beenden. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«

Mit offenem Mund starrte sie ihn an, während der Hörer schlapp von ihrer Hand baumelte. »Ich kann nicht glauben, dass Sie gerade … «

»Ja, ja, ich habe Ihr Gespräch unterbrochen, richtig, aber Sie werden es überleben. Ist Gabe grade hier vorbeigekommen?«, fragte er. Seine Stimme klang gehetzt, denn sie musste rennen, hüpfen, springen, um mit seinem Herzen Schritt zu halten.

»Äh … « Alison überlegte. »Er stand vor ungefähr zwanzig Minuten bei mir am Schreibtisch und … «

»Ja, ja, das weiß ich doch alles. Aber vor einer Sekunde war er in meinem Büro, und dann ist er plötzlich verschwunden. Also – haben Sie ihn gesehen?«

»Na ja, er muss ja hier gewesen sein, aber … «

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein, ich war am Telefon und … «

»Menschenskind!« Lou schlug mit seiner bereits lädierten Faust auf den Tisch. »Ach Mist!«, schrie er mit schmerzverzerrtem Gesicht.

»Was ist denn los, Lou? Beruhigen Sie sich doch bitte.« Alison stand auf und streckte ihm die Hand hin.

Aber Lou wich zurück. »Ach, übrigens«, sagte er, senkte die Stimme und kam wieder näher. »Kriege ich eigentlich jemals Post unter einem anderen Namen?«

»Wie meinen Sie das?«, fragte sie stirnrunzelnd.

»Na, Sie wissen schon … « Er sah nach links und rechts und presste leise hervor: »Aloysius.«

»Aloysius?«, wiederholte Alison.

Er verdrehte die Augen. »Nicht so laut!«, flüsterte er.

»Nein«, antwortete sie gedämpft. »Den Namen Aloysius habe ich noch nie auf Ihrer Post gesehen.« Als erreichte ihre Stimme erst mit einer gewissen Zeitverzögerung ihr {141 }Ohr, lächelte sie dann plötzlich, schnaubte kurz und fing wieder an zu lachen. »Warum in aller Welt sollte ein Name wie Aloy– … « Als sie seinen Blick sah, erstarben die Worte auf ihren Lippen, und ihr Lächeln verschwand. »Oh. Oje. Das ist ein … « – ganz unvermittelt wurde ihre Stimme eine Oktave höher – » … ein wunderschöner Name.«

 

Lou überquerte die Seán O'Casey Bridge, eine neue Fußgängerbrücke, die die beiden neuangelegten Kais im Norden und im Süden – den North Wall Quay und den Sir John Rogerson’s Quay – miteinander verband. Noch hundert Meter, und er war am Ziel: The Ferryman, der einzige authentische Pub, den es in diesem Bereich der Kais noch gab. Der Ferryman war kein Lokal für Cappuccino und Ciabatta, und deshalb war auch die Kundschaft etwas Besonderes. In der Bar befanden sich eine Handvoll Weihnachtseinkäufer, die sich ein Stück von den ausgetretenen Touristenpfaden entfernt hatten, um sich eine Pause zu gönnen und die halberfrorenen Finger an einem Glas mit einem heißen Getränk zu wärmen. Daneben wurde der Pub hauptsächlich von Angestellten jeden Alters frequentiert, die sich nach einem harten Tag hier entspannten. Menschen in Anzügen drängten sich auf den Bänken, Bierund Schnapsgläser auf den Tischen. Schon um diese Zeit – kurz nach sechs – waren die Menschen dem Business District entflohen und suchten Zuflucht im nächstbesten Ort alkoholischer Erbauung.

Zu diesen Menschen gehörte auch Bruce Archer, der mit einem Guinness an der Bar saß und dröhnend über einen Witz lachte, den einer seiner Nachbarn – ebenfalls ein Anzugträger – gemacht hatte. Wie Hühner auf der Stange {142 }saßen die Männer am Tresen, Schulterpolster an Schulterpolster, fast durchweg in Nadelstreifen, karierten Socken und blankpolierten Schuhen, Tabellen und Marktanalysen in den Aktentaschen. Keiner von ihnen trank Kaffee. Lou hätte es wissen müssen. Er hatte nicht daran gedacht, aber als er die Männer jetzt sah, wie sie lachten und sich gegenseitig auf den Rücken schlugen, war er kein bisschen überrascht, also musste er es gleichzeitig doch gewusst haben.

Bruce wandte sich um und entdeckte ihn sofort. »Lou!«, rief er quer durch den Raum. Er hatte einen ausgeprägten Bostoner Akzent, und mehrere Gäste wandten interessiert den Kopf, allerdings weniger wegen Bruce, sondern um den gutaussehenden und tadellos gekleideten Mann zu betrachten, der soeben hereingekommen war. »Lou Suffern! Schön, dass wir uns endlich mal wiedersehen!« Damit erhob er sich vom Barhocker, kam mit ausgestreckten Armen auf Lou zu, packte seine Hand und schüttelte sie überschwänglich wie ein Hund seine Beute, während er ihm mit der anderen kumpelhaft auf den Rücken klopfte. »Ich möchte Sie gern mit den Jungs bekannt machen. Jungs, das ist Lou. Lou Suffern, von Patterson Developments. Wir haben zusammen am Manhattan Building gearbeitet, von dem ich euch erzählt habe, und eines Abends hatten wir ein echt wildes Erlebnis zusammen. Wartet nur, bis ihr die Geschichte hört, ihr werdet’s nicht glauben. Lou, das ist Derek aus … « Und so ging Lou in einem Meer von Namen unter, die er im gleichen Augenblick wieder vergaß. Er versuchte, das Bild seiner Frau und seiner Tochter aus seinem Kopf zu verjagen, während er eine Hand nach der anderen schüttelte, die seine entweder fast zerquetschte, zu feucht oder zu schlaff war oder ihm vor lauter Schütteln halb die Schulter ausrenkte. Er versuchte zu vergessen, dass er für {143 }das hier seine Familie im Stich gelassen hatte. Er versuchte alles zu vergessen. Die Männer lachten ihn aus, als er Kaffee bestellte, und drängten ihm ein Bier auf, und als er nach dem ersten Pint gehen wollte, überhörten sie ihn einfach. Das Gleiche passierte nach dem zweiten Pint. Und nach dem dritten. Beim vierten hatte er die Diskussionen satt und ließ sich überreden, von Bier auf Jack Daniels umzusteigen, und das Klingeln seines Handys wurde umgehend von pubertärem Gejohle übertönt. Danach brauchte Lou keine Überredung mehr. Während das Handy alle zehn Minuten vibrierend einen Anruf von Ruth anzeigte, feierte er mit Bruce Archer und seinen Jungs. Ruth würde es verstehen – und wenn nicht, war sie eine total uneinsichtige Person.

Auf der anderen Seite der Bar saß eine Frau, die Lous Aufmerksamkeit auf sich zog; auf dem Tresen standen der nächste Whisky und eine Coke. Sinn und Verstand waren mit den Rauchern nach draußen gegangen, und da standen sie und fröstelten, überlegten, ob sie ein Taxi rufen sollten, sahen sich aber gleichzeitig nach jemandem um, der sie mit nach Hause nehmen und nett zu ihnen sein würde. Und dann ging Sinn, halberfroren und entsetzlich frustriert, mit den Fäusten auf Verstand los, während Lou der Szene den Rücken zuwandte und sich auf sein Ziel konzentrierte.