Raphie beobachtete den Truthahnjungen, als sie zum Ende der Geschichte gekommen waren. Einen Moment war er ganz still.
»Woher wissen Sie das alles?«, fragte er dann.
»Wir haben es aus Gesprächen mit Lous Familie und mit seinen Kollegen nach und nach zusammengestückelt.«
»Haben Sie auch mit Gabe gesprochen?«
»Ja, vorhin. Aber nur ganz kurz. Wir warten noch darauf, dass er aufs Revier kommt.«
»Und Sie waren heute früh in Lous Haus?«
»Ja.«
»Und er war nicht da?«
»Keine Spur von ihm, nirgends. Das Bett war noch warm.«
»Haben Sie sich das ausgedacht?«
»Nein, jedes Wort ist wahr.«
»Erwarten Sie, dass ich Ihnen das abnehme?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Was war dann der Zweck des Ganzen?«
»Menschen erzählen Geschichten, und es ist an denen, die zuhören, sie zu glauben oder nicht. Das ist nicht die Aufgabe des Erzählers.«
»Aber sollte nicht wenigstens der seine Geschichte glauben?«
»Der Erzähler sollte vor allem erzählen«, antwortete Raphie und zwinkerte.
»Glauben Sie das, was Sie mir erzählt haben?«
Raphie schaute sich im Raum um, ob nicht womöglich unbemerkt jemand hereingekommen war. Dann zuckte er linkisch die Achseln und drehte den Kopf. »Was für den einen eine Lektion ist, ist für den anderen einfach nur eine Geschichte. Aber oft ist die Geschichte des einen für den anderen eine Lektion.«
»Was soll denn das nun schon wieder heißen?«
Raphie wich der Frage aus, indem er einen Schluck Kaffee trank.
»Sie haben gesagt, die Geschichte könnte eine Lektion sein – aber was soll man daraus lernen?«
»Wenn ich dir das erklären muss, Junge … « Raphie verdrehte die Augen.
»Ach, kommen Sie.«
»Du sollst die Menschen, die du liebst, nicht für selbstverständlich nehmen«, antwortete Raphie, zuerst etwas verlegen. »Du sollst allen besonderen Menschen in deinem Leben mit Respekt, Aufmerksamkeit und Wertschätzung begegnen. Dich auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist.« Er räusperte sich und sah schnell weg, denn Predigen war nicht seine Sache.
Der Truthahnjunge verdrehte die Augen und tat so, als müsste er gähnen.
Aber da schob Raphie entschlossen seine Verlegenheit beiseite und gab sich einen letzten Versuch, zu dem Teenager durchzudringen. Obwohl er jetzt eigentlich hätte gemütlich zu Hause sitzen und sich die zweite Portion von {358 }seinem Weihnachtsessen schmecken lassen sollen, statt sich hier von diesem Jungen frustrieren zu lassen.
Er beugte sich über den Tisch. »Gabe hat Lou ein Geschenk gemacht, ein ganz besonderes Geschenk. Ich mache mir nicht die Mühe, dich zu fragen, was das war, ich erkläre es dir lieber gleich, und du solltest mir gut zuhören, denn wenn ich fertig bin, gehe ich endgültig, und dann bist du allein und kannst in Ruhe über das nachdenken, was du gemacht hast. Und wenn du nicht aufpasst, kehrst du in die Welt zurück als wütender junger Mann und wirst für den Rest deines Lebens wütend bleiben.«
»Okay«, sagte der Truthahnjunge defensiv und setzte sich aufrecht hin, als erwartete er eine Strafpredigt vom Direktor.
»Gabe hat Lou Zeit geschenkt, Junge.«
Der Truthahnjunge rümpfte die Nase.
»Oh, klar, du bist vierzehn und denkst, du hast alle Zeit der Welt. Aber das stimmt nicht. Keiner von uns hat endlos Zeit. Aber wir verschwenden unsere Zeit mit dem gleichen Elan und der gleichen Achtlosigkeit wie die Schnäppchenjäger im Januar ihr Geld. In einer Woche wird es auf den Straßen von diesen Leuten nur so wimmeln, die mit weit offenem Portemonnaie die Läden überschwemmen und ihr Geld mit vollen Händen zum Fenster hinauswerfen.« Einen Augenblick schien es, als würde Raphie sich wieder in sein Schneckenhaus zurückziehen, und seine Augen versteckten sich unter den buschigen grauen Brauen.
Der Truthahnjunge beugte sich vor und starrte ihn an, offensichtlich amüsiert darüber, dass Raphie plötzlich so etwas wie Gefühle zeigte. »Aber man kann ja wieder neues Geld verdienen, wen kümmert es also?«
Mit einem Ruck tauchte Raphie aus seiner Trance auf und {359 }starrte den Truthahnjungen an, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Und genau das macht die Zeit ja so wertvoll, richtig? Wertvoller als Geld, wertvoller als sonst irgendetwas. Kein Mensch kann sich wieder neue Zeit dazuverdienen. Wenn eine Stunde, eine Woche, ein Monat vergangen ist, kriegt man sie nicht zurück, nie mehr. Für Lou Suffern wurde die Zeit knapp, und Gabe hat ihm ein bisschen Extrazeit geschenkt, damit Lou seine Angelegenheiten regeln und zu einem guten Ende bringen konnte. Das ist das Geschenk, um das es hier geht.« Raphies Herz pochte wild in seiner Brust. Er schaute auf seinen Kaffee hinunter und schob ihn weg, denn er merkte, wie sein Herz sich plötzlich zusammenkrampfte. »Deshalb sollten wir die Dinge in Ordnung bringen, bevor … «
Ihm blieb die Luft weg, und er wartete, bis der Krampf vorbei war.
»Meinen Sie, es ist zu spät, um … « Der Truthahnjunge wickelte das Kapuzenband seines Pullis um den Finger und stockte. »Na ja, Sie wissen schon, um die Dinge in Ordnung zu bringen, die Dinge mit … na ja … wissen Sie … «
»Mit deinem Dad?«
Der Junge zuckte die Achseln und sah weg. Anscheinend wollte er es lieber nicht zugeben.
»Es ist nie zu spät –« Abrupt hielt Raphie inne und nickte, als wäre ihm etwas eingefallen, nickte noch einmal, stand mit entschlossenem Gesicht auf und schob seinen Stuhl zurück.
»Warten Sie, wo wollen Sie denn hin?«
»Dinge in Ordnung bringen, Junge. Und ich schlage vor, du machst das Gleiche, wenn deine Mutter dich nachher abholt.«
Der Teenager blinzelte ihn an, und in seinen blauen Augen {360 }war die Unschuld noch zu erkennen, wenn auch verschleiert vom Nebel aus Wut und Verwirrung.
Raphie ging den Korridor hinunter und lockerte unterwegs seine Krawatte. Als er eine Stimme seinen Namen rufen hörte, drehte er sich nicht um, sondern verließ den Belegschaftsbereich und betrat den Empfangsraum, der heute an Weihnachten leer war.
»Raphie!«, rief Jessica, denn sie war es, die hinter ihm herjagte.
»Ja?«, antwortete er und blickte sich ein bisschen atemlos zu ihr um.
»Alles klar mit dir? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Ist es dein Herz? Bist du okay?«
»Alles in Ordnung«, entgegnete er nickend. »Alles in Ordnung. Was ist los?«
Jessica kniff die Augen zusammen und musterte ihn durchdringend, denn sie wusste, dass er log. »Macht der Junge dir Schwierigkeiten?«
»Nein, überhaupt nicht, er frisst mir inzwischen aus der Hand, könnte man sagen. Wirklich – alles in Ordnung.«
»Wohin gehst du dann?«
»Eh?« Er blickte zur Tür, aber ehe ihm noch eine Lüge einfallen wollte, noch eine Unwahrheit, wie er das seit zehn Jahren praktizierte, seufzte er – ein langer Seufzer, den er schon seit langer Zeit mühsam zurückhielt – und gab sich geschlagen. Die Wahrheit klang sonderbar, aber tröstlich, als sie sich endlich von seiner Zunge löste.
»Ich möchte nach Hause«, sagte er und wirkte auf einmal sehr alt. »Ich möchte, dass der Tag vorbei ist und ich zu meiner Frau nach Hause kann. Und zu meiner Tochter.«
»Du hast eine Tochter?«, fragte sie überrascht.
»Ja«, antwortete er, schlicht, aber von Herzen. »Ich habe {361 }eine Tochter. Sie wohnt auch da oben in Howth. Deshalb bin ich jeden Abend mit dem Auto dort. Ich möchte sie einfach im Auge behalten. Auch wenn sie nichts davon weiß.«
Eine Weile starrten die beiden einander stumm an. Sie wussten, dass heute Morgen etwas Seltsames mit ihnen geschehen war, etwas, das sie für immer verändert hatte.
»Ich war verheiratet«, erklärte Jessica schließlich. »Autounfall. Ich war dabei. Hab seine Hand gehalten. Genau wie heute früh.« Sie schluckte und senkte die Stimme. »Ich hätte alles darum gegeben, wenn ich ihm wenigstens noch ein paar Stunden hätte schenken können.« Da, sie hatte es gesagt. »Ich habe Lou geholfen, eine Tablette zu schlucken, Raphie«, fuhr sie dann mit fester Stimme fort und blickte ihm in die Augen. »Ich weiß, das hätte ich wahrscheinlich nicht tun dürfen. Sicher, ich kann nicht beweisen, ob die Sache mit den Pillen stimmt oder nicht – wir können Gabe ja nicht finden –, aber wenn ich Lou zu ein paar Extrastunden mit seiner Familie verholfen habe, bin ich froh. Und ich würde es jederzeit wieder tun – falls jemand fragt.«
Raphie nickte nur und nahm ihre zweite Beichte schweigend zur Kenntnis. Er würde alles in die Aussage einfügen, die sie zu Protokoll gegeben hatten, aber das musste er ihr nicht eigens erklären. Sie wusste es längst.
So starrten sie einander an, ohne sich wirklich zu sehen. Ihre Gedanken waren anderswo, in der Vergangenheit, bei der Zeit, die verloren war und niemals wiederkommen würde.
»Wo ist mein Sohn?« Eine aufgeregte Frauenstimme durchbrach das Schweigen. Als sie die Tür aufgemacht hatte, war ein Schwall Licht in die dunkle Polizeistation gedrungen. Dahinter kroch auch die Kälte des Tages herein {362 }– Schneeflocken hatten sich in den Haaren der Frau verfangen und lösten sich von ihren Stiefeln, als sie auf den Boden stampfte. »Er ist noch ein Kind«, erklärte sie und schluckte, und ihre Stimme bebte. »Ein vierzehnjähriger Junge. Ich hab ihn losgeschickt, um Soßenbinder zu holen. Und jetzt haben wir keinen Truthahn«, erklärte sie etwas zusammenhanglos.
»Ich kümmere mich darum«, sagte Jessica zu Raphie und nickte ihm aufmunternd zu. »Geh du nach Hause.«
Und das tat er auch.
Manchmal wirkt sich etwas sehr Wichtiges nur auf einen kleinen Kreis von Leuten aus. Umgekehrt kann etwas scheinbar ganz Nebensächliches das Leben einer großen Masse beeinflussen. In beiden Fällen kann ein Ereignis – sei es nun groß oder klein – eine ganze Reihe von Menschen betreffen, einen nach dem anderen. Ereignisse können uns zusammenbringen. Denn wir sind alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Ein Ereignis setzt etwas in uns in Bewegung, das uns mit einer Situation und mit anderen Menschen verbindet und uns zum Leuchten bringt wie eine Lichterkette am Weihnachtsbaum, verdreht und verwoben, aber alle verknüpft mit dem gleichen Draht. Manche gehen aus, andere flackern, andere leuchten hell und kräftig, aber alle hängen wir an der gleichen Strippe.
Am Anfang habe ich gesagt, dass diese Geschichte von einem Menschen handelt, der herausfindet, wer er ist. Von einem Menschen, dessen Schutzschichten sich lösen und dessen Herz für all die sichtbar wird, die wichtig sind. Und davon, dass alle, die wichtig sind, sich dieser Person ebenfalls zeigen. Bestimmt haben Sie gedacht, ich rede von {363 }Lou Suffern, nicht wahr? Falsch. Ich meine damit uns, uns alle.
Eine Lektion sucht den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen uns und verbindet uns alle miteinander, wie die Glieder einer Kette. Am Ende dieser Kette hängt eine Uhr, und auf dem Ziffernblatt dieser Uhr sieht man, wie die Zeit vergeht. Wir hören es, dieses leise Ticktack, das jede Stille durchbricht, und wir sehen es auch. Aber oft fühlen wir es nicht. Jede Sekunde hinterlässt ihre Spuren im Leben jedes einzelnen Menschen, sie kommt und geht wieder, in aller Stille, ohne großes Trara. Sie löst sich in Luft auf, wie der Dampf von einem heißen Christmas-Pudding. Wenn wir Zeit haben, hält sie uns warm, aber wenn unsere Zeit vorüber ist, werden auch wir kalt. Zeit ist kostbarer als Gold, kostbarer als Edelsteine, kostbarer als Öl und kostbarer als irgendein anderer wertvoller Gegenstand. Es ist die Zeit, an der es uns oft mangelt, es ist die Zeit, die den Krieg in unseren Herzen verursacht. Deshalb müssen wir klug mit ihr umgehen. Zeit kann nicht eingepackt und mit einer hübschen Schleife verziert unter den Tannenbaum gelegt werden.
Zeit kann man nicht verschenken. Aber wir können sie miteinander teilen.