Als er dann allein in seinem Büro saß, holte Lou die Tabletten aus der Tasche und stellte sie vor sich auf den Tisch. Dann legte er den Kopf auf den Tisch und schloss erschöpft die Augen.
»Mann, du bist aber ganz schön fertig«, hörte er jemanden direkt an seinem Ohr sagen und fuhr hoch.
»Alfred!«, rief er und rieb sich die Augen. »Wie viel Uhr ist es?«
»Sieben Uhr fünfundzwanzig. Keine Sorge, du hast deinen Termin nicht verpasst. Was du mir zu verdanken hast«, schmunzelte er, während seine nikotinfleckigen Wurstfinger mit den abgekauten Nägeln aufdringlich über Lous Schreibtisch wanderten und überall Schmierflecken hinterließen. Lou platzte fast vor Ärger. Konnte dieser Mann seine Griffel nicht bei sich behalten?
»Hey, was ist denn das hier?«, fragte Alfred plötzlich, hob den Pillenbehälter hoch und ließ den Deckel aufschnappen.
»Gib das sofort wieder her!« Lou griff nach den Tabletten, aber Alfred zog sie weg und kippte sich stattdessen ein paar davon auf seine schwitzige Handfläche.
»Alfred, gib mir meine Tabletten zurück«, sagte Lou streng und bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, {193 }wie verzweifelt er war. Aber Alfred dachte gar nicht daran, seiner Aufforderung nachzukommen, sondern schwenkte den Behälter triumphierend vor Lous Nase herum. Schikane auf dem Niveau alberner Schuljungen, aber typisch für Alfred.
»Böser, böser Lou, was führst du denn wieder im Schilde?«, trällerte Alfred, und sein Singsang ging Lou durch Mark und Bein.
Ihm war klar, dass Alfred jede Möglichkeit nutzen würde, um diese Pillen gegen ihn zu verwenden, also zermarterte er sich den Kopf nach einer schnellen und plausiblen Erklärung.
»Sieht aus, als würdest du dir eine Ausrede ausdenken«, grinste Alfred. »Aber ich weiß doch, wenn du bluffst, das habe ich in jedem Meeting mitgekriegt, mich kannst du damit nicht an der Nase rumführen! Warum sagst du nicht einfach die Wahrheit? Traust du mir etwa nicht?«
Lou lächelte und antwortete ebenfalls in einem leichten, fast scherzhaften Ton, obwohl sie es alle beide todernst meinten. »Möchtest du eine ehrliche Antwort? Nein, in letzter Zeit hab ich kein Vertrauen mehr zu dir. Es würde mich nicht wundern, wenn du schon Pläne schmiedest, wie du diesen kleinen Behälter gegen mich verwenden könntest.«
Alfred lachte. »Also wirklich. Behandelt man denn so einen alten Freund?«
Lous Lächeln verblasste. »Ich weiß nicht, Alfred, sag du es mir.«
Einen Moment starrten sie einander an. Alfred sah als Erster weg.
»Denkst du an was Bestimmtes, Lou?«
»Was meinst du?«
»Schau mal«, begann Alfred, seine Schultern sackten herab, der Angeber Alfred verschwand von der Bühne, und an seiner Stelle erschien nun Alfred, der Bescheidene. »Wenn es dir um das Meeting heute Abend geht, da kannst du ganz sicher sein, dass ich den Termin nicht das kleinste bisschen manipuliert habe. Frag Melissa. Bei dem Wechsel von Tracey zu Alison gab es ein ziemliches Chaos, und da ist eine ganze Menge verlorengegangen.« Er zuckte die Achseln. »Obwohl mir Alison unter uns gesagt sowieso ein bisschen unzuverlässig vorkommt.«
»Schieb nicht Alison die Schuld in die Schuhe«, verteidigte Lou seine Sekretärin und verschränkte abwehrend die Arme.
»Ach ja«, grinste Alfred und nickte langsam. »Ich hab ja ganz vergessen, dass ihr beide was miteinander habt.«
»Wir haben nichts. Verdammt nochmal, Alfred.«
»Na gut, Entschuldigung.« Alfred machte eine Bewegung, als zöge er einen Reißverschluss über seinen Mund. »Von mir wird Ruth es jedenfalls nicht erfahren, das verspreche ich dir.«
Schon allein die Tatsache, dass er Ruths Namen erwähnte, ging Lou gegen den Strich. »Was ist denn bloß in dich gefahren?«, fragte er, jetzt unverhohlen im Ernst. »Was hast du denn? Liegt es an dem Zeug, das du dir jeden Tag in die Nase bläst? Was ist los? Hast du Angst vor der Umstellung … «
»Vor der Umstellung?«, schnaubte Alfred. »Das klingt ja, als wäre ich eine Frau in den Wechseljahren.«
Lou starrte ihn an.
»Mit mir ist alles paletti, Lou«, fuhr Alfred langsam fort. »Ich bin der Gleiche wie immer. Du bist es, der sich seltsam benimmt. Alle reden schon darüber, sogar Mr Patterson. {195 }Vielleicht lieg es ja an denen hier.« Wieder klapperte er mit dem Pillendöschen vor Lous Gesicht herum, genau wie vorhin Gabe.
»Das sind Kopfschmerztabletten.«
»Ich kann aber kein Etikett entdecken.«
»Die Kinder haben es abgekratzt. Würdest du jetzt bitte so freundlich sein und die Dinger wieder rausrücken?« Lou streckte Alfred die offene Handfläche hin.
»Aha, Kopfschmerztabletten. Verstehe.« Alfred betrachtete das Döschen noch einmal prüfend. »Das sind also Kopfschmerztabletten, ja? Ich dachte nämlich, ich hätte den Obdachlosen irgendwas von Naturheilmittel faseln hören.«
Lou schluckte. »Hast du mir etwa nachspioniert, Alfred? Ist es das, womit du dir die Zeit vertreibst?«
»Nein«, entgegnete Alfred mit einem entspannten Lachen. »Das würde ich nie tun. Aber ich lasse mal ein paar von denen hier für dich analysieren, damit wir sichergehen können, dass es wirklich Kopfschmerztabletten sind und nicht doch was Stärkeres.« Damit holte er eine Pille aus dem Behälter, steckte sie in die Tasche und gab Lou das Döschen dann zurück. »Es ist schön, der Wahrheit auf den Grund gehen zu können, wenn meine Freunde mich anlügen.«
»Das Gefühl kenne ich«, stimmte Lou zu, froh, Gabes Pillen wieder in der Hand zu halten. »Zum Beispiel war es ziemlich stark, als ich erfahren habe, dass du dich vor ein paar Tagen morgens mit Mr Patterson getroffen hast und dass ihr letzten Freitag zusammen zum Lunch gegangen seid.«
Alfred starrte ihn ehrlich schockiert an, für ihn eine Seltenheit.
»Oh«, sagte Lou leise. »Du wusstest also nicht, dass ich es wusste, richtig? Tut mir leid. Aber jetzt solltest du dich lieber auf den Weg zu deinem Dinner machen, sonst verpasst du noch die Vorspeise. Immer nur Arbeit und nie Kaviar ist nicht gut für unseren Alfred.« Er führte seinen sprachlosen Kollegen zur Tür, öffnete sie für ihn, zwinkerte und machte sie leise, aber bestimmt direkt vor Alfreds Nase wieder zu.
Neunzehn Uhr dreißig kam und ging, ohne dass Arthur Lynch auf dem Fünfzigzoll-Plasmabildschirm vor Lou am Konferenztisch erschien. Da Lou bewusst war, dass er jeden Moment von den Teilnehmern der Konferenz gesehen werden konnte, bemühte er sich, möglichst entspannt dazusitzen, aber nicht einzuschlafen. Um neunzehn Uhr vierzig wurde er von Mr Lynchs Sekretärin informiert, dass Mr Lynch sich ein paar Minuten verspäten würde.
Während Lou dasaß, wartete und immer schläfriger wurde, stellte er sich Alfred im Restaurant vor: Unverfroren wie immer, immer im Mittelpunkt, laut und bemüht, unterhaltsam zu sein – so würde er aller Wahrscheinlichkeit nach die Lorbeeren für einen Deal einheimsen, an dem Lou keinen Anteil hatte. Es sei denn, Alfred versagte. Dadurch, dass Lou diesen Termin versäumte – das wichtigste Meeting des Jahres –, entging ihm die größte Chance, sich vor Mr Patterson in ein gutes Licht zu rücken. Cliffs Job und das leerstehende Büro, das dazugehörte, tanzten ihm tagaus, tagein verlockend vor der Nase herum wie die Karotte vor dem Maulesel. Cliffs ehemaliges Zimmer lag ein Stück weiter den Korridor hinunter, direkt neben dem von Mr Patterson, mit offenen Jalousien, unbesetzt. Ein {197 }wesentlich größerer Raum mit wesentlich besserem Licht, der förmlich nach Lou rief. Sechs Monate waren inzwischen seit Cliffs Zusammenbruch verstrichen. Er hatte sich schon eine ganze Weile davor sonderbar verhalten, und eines Morgens hatte Lou ihn dann zusammengekauert unter seinem Schreibtisch gefunden, am ganzen Körper zitternd, die Tastatur, auf der seine Finger eine Art panischen Morsecode trommelten, fest an die Brust gedrückt. Mit weitaufgerissenen Augen und angsterfüllter Stimme stammelte er, immer wieder und mit wachsender Verzweiflung, »sie« würden kommen und ihn holen.
Wer »sie« waren, das hatte Lou nicht herausfinden können. Zwar versuchte er, Cliff behutsam unter dem Tisch hervorzulocken und dazu zu bewegen, Schuhe und Socken wieder anzuziehen, aber als er sich ihm näherte, holte Cliff aus, schwang die Maus an ihrem Kabel wie ein Cowboy sein Lasso und traf Lou damit mitten im Gesicht. Die kleine Plastikmaus tat ihm allerdings nicht halb so weh wie der Anblick dieses erfolgreichen jungen Mannes, der so vollkommen die Fassung verloren hatte. Nun stand Cliffs Büro schon seit Monaten leer, und obwohl die Berichte aus der Klinik nicht positiv klangen, nahm das Mitgefühl für Cliff ab, während die Konkurrenz um seinen Job sich rapide zuspitzte. Vor kurzem hatte Lou gehört, dass Cliff angefangen hatte, wieder Kontakt mit anderen Menschen aufzunehmen, und sich fest vorgenommen, ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu besuchen. Er wusste, dass es richtig gewesen wäre, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, aber irgendwie fand er nie die Zeit dazu …
Immer frustrierter starrte Lou auf den schwarzen, leblosen Bildschirm. Sein Kopf pochte und dröhnte von der Schädelbasis bis zu den Augen, und er konnte keinen {198 }klaren Gedanken fassen. Vor lauter Verzweiflung holte er schließlich die Pillen aus der Tasche und betrachtete sie.
Er dachte daran, was Gabe ihm über Mr Patterson und Alfred erzählt hatte. Gabe hatte die Schuhsituation korrekt eingeschätzt, er hatte ihm gestern früh Kaffee gebracht, ihn nach Hause gefahren und Ruth für sich gewonnen. Lou grübelte und grübelte, bis er schließlich zu der Erkenntnis gelangte, dass Gabe ihn kein einziges Mal im Stich gelassen hatte und dass er ihm vertrauen konnte. Kurz entschlossen nahm Lou das Tablettendöschen, machte es auf und ließ eine der kleinen, weißglänzenden Pillen langsam auf seine verschwitzte Handfläche kullern. Eine Weile spielte er damit, rollte die Pille zwischen den Fingern herum, leckte daran, aber als nichts Dramatisches passierte, steckte er sie schließlich in den Mund und spülte sie schnell mit einem Glas Wasser hinunter.
Dann wartete er, klammerte sich aber zur Sicherheit mit beiden Händen an den Konferenztisch, so fest, dass seine Hände auf der Glasplatte, die das massive Walnussholz schützte, schwitzige Abdrücke hinterließen. Aber nichts geschah. Schließlich nahm er die Hände vorsichtig vom Tisch und inspizierte sie, als könnte er die Wirkung des Naturheilmittels eventuell an seinen schweißnassen Handflächen erkennen. Doch noch immer konnte er nichts Ungewöhnliches feststellen – keine Halluzinationen setzten ein, nichts Lebensbedrohliches, außer dass sein Kopf weiterhin höllisch weh tat.
Um Viertel vor sieben war Arthur Lynch noch immer nicht auf dem Bildschirm. Ungeduldig klopfte Lou mit seinem Stift auf die Glasplatte, denn inzwischen war es ihm gleichgültig, welchen Eindruck er bei den Leuten auf der anderen Seite der Kamera hinterließ. Paranoid, wie er {199 }bereits war, begann er sich einzureden, dass es überhaupt kein Meeting gab, sondern dass Alfred diesen Termin irgendwie inszeniert hatte, um allein zu dem Dinner mit Thomas Crooke gehen und den wichtigen Deal ohne Lou aushandeln zu können. Aber Lou würde nicht zulassen, dass Alfred noch mehr von seiner harten Arbeit sabotierte! Hektisch stand er auf, griff nach seinem Mantel und rannte zur Tür. Gerade hatte er sie aufgerissen und wollte den Fuß über die Schwelle setzen, da hörte er eine Stimme aus dem Fernseher hinter ihm.
»Tut mir wirklich sehr leid, dass ich Sie habe warten lassen, Mr Suffern.«
Lou erstarrte, schloss die Augen, seufzte tief und verabschiedete sich wehmütig von seinem Traum vom Top-Büro mit Panoramablick über Dublin. Dann überlegte er schnell, was er tun sollte – losrennen und noch rechtzeitig zum Dinner mit Crooke kommen oder sich umdrehen und sich den Dingen stellen, die jetzt von ihm erwartet wurden? Ehe er Zeit hatte, die Entscheidung zu treffen, hörte er eine andere Stimme im Büro, und nun blieb ihm fast das Herz stehen.
»Kein Problem, Mr Lynch. Bitte nennen Sie mich doch Lou. Ich habe Verständnis dafür, dass die Dinge manchmal etwas länger dauern können, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Kommen wir gleich zur Sache, ja? Wir haben eine Menge miteinander zu besprechen.«
»Selbstverständlich, Lou. Und nennen Sie mich doch bitte Arthur. Ja, wir haben ein gutes Stück Arbeit vor uns, aber bevor ich Sie mit den beiden Gentlemen neben mir bekannt mache – möchten Sie vielleicht erst noch Ihr momentanes Gespräch beenden? Ich sehe, Sie haben Gesellschaft?«
»Nein, nein, Arthur, ich bin allein im Büro«, hörte Lou sich sagen. »Alle anderen sind schon weg.«
»Aber da ist doch ein Mann an der Tür, ich sehe ihn auf dem Bildschirm.«
Da er nun entdeckt war, drehte Lou sich langsam um und nahm die Situation in Augenschein. Tatsächlich – er saß immer noch am Konferenztisch, am gleichen Platz wie vorhin, ehe er seine Flucht geplant, den Mantel gepackt und sich auf den Weg zur Tür gemacht hatte. Ein zutiefst schockiertes Gesicht starrte ihm entgegen. Der Boden schwankte unter seinen Füßen, und er musste sich am Türrahmen festhalten, um nicht umzufallen.
»Lou? Sind Sie noch da?«, fragte Arthur, und beide Köpfe im Büro wandten sich wieder dem Bildschirm zu.
»Äh, ja, ich bin hier«, stammelte der Lou am Konferenztisch. »Entschuldigen Sie, Arthur, der Gentleman hier ist ein … ein Kollege von mir. Er wollte gerade gehen, ich glaube, er hatte eine dringende Verabredung zum Essen.« Lou drehte sich um und warf dem Lou, der an der Tür stand, einen warnenden Blick zu. »Nicht wahr?«
Lou an der Tür nickte nur und verließ mit weichen Knien und zittrigen Beinen den Raum. Bei den Aufzügen hielt er inne, lehnte sich an die Wand, versuchte, wieder zu Atem zu kommen, und wartete, dass der Schwindel nachließ. Als der Aufzug ankam und seine Türen für ihn öffnete, stolperte Lou hinein, drückte Erdgeschoss und kauerte sich in die Ecke der Kabine. Immer weiter entfernte er sich von sich selbst, von dem Lou, der im vierzehnten Stockwerk zurückblieb.
Um acht saß Lou im Konferenzraum von Patterson Developments und verhandelte mit Arthur Lynch. Zur gleichen Zeit wurden Alfred und das Team seiner Verhandlungspartner {201 }zu ihrem Tisch geführt – und Lou betrat das Restaurant. Er gab dem Ober seinen Kaschmirmantel, rückte seine Krawatte zurecht, strich sich über die Haare und ging, eine Hand in der Tasche, die andere Hand locker im Rhythmus seiner Schritte schwingend, auf die Gruppe am Tisch zu. Endlich war sein Körper wieder entspannt, alles Steife, alle Beklemmungen waren von ihm gewichen. Um in seinem Job richtig zu funktionieren, musste er die Bewegungen seines Körpers spüren, die zwanglosen Bewegungen eines Mannes, dem die bevorstehende Entscheidung persönlich nicht wichtig ist, der aber alles daransetzt, sein Gegenüber vom Gegenteil zu überzeugen, nämlich davon, dass sein Interesse einzig und allein ihm, seinem Kunden, gilt.
»Entschuldigen Sie bitte, meine Herren, dass ich mich ein wenig verspätet habe«, begrüßte er die anderen Männer, die sich bereits in die Speisekarte vertieft hatten.
Alle schauten auf, und Lou ergötzte sich vor allem an Alfreds Gesichtsausdruck: Eine La-Ola-Welle der Emotionen, von Überraschung über Ärger zu Wut. Jede Regung bestätigte Lou in seinem Verdacht, dass das ganze Terminchaos von Alfred doch absichtlich inszeniert worden war. Er ging um den Tisch herum, begrüßte die anderen Dinnergäste, aber als er zu Alfred kam, hatte sein Freund und Kollege bereits wieder seinen üblichen blasierten Ausdruck aufgesetzt und seinen Schock für den Augenblick verdrängt.
»Patterson wird dich umbringen«, stieß Alfred leise aus dem Mundwinkel hervor. »Aber wenigstens kriegen wir einen Deal heute Abend unter Dach und Fach. Willkommen, mein Freund.« Er schüttelte Lou die Hand, strahlend – wahrscheinlich, weil er die Illusion genoss, dass Lou morgen entlassen werden würde.
»Um die andere Sache habe ich mich schon gekümmert«, erwiderte Lou schlicht und wandte sich ab, um seinen Platz einzunehmen.
»Wie meinst du das?«, fuhr Alfred ihn an, in einem Ton, der zeigte, dass er ganz vergessen hatte, wo er sich befand, und packte Lou am Arm.
Lou lächelte ihren Gesprächspartnern charmant zu, drehte sich kurz um und entfernte diskret Alfreds Hand – einen Finger nach dem anderen – von seinem Arm. »Wie ich es gesagt habe – es ist alles geregelt«, wiederholte er.
»Du hast die Videokonferenz abgesagt?«, hakte Alfred nach und grinste nervös. »Komm, verrat mir, was los ist.«
»Nein, nein, nichts ist abgesagt. Keine Sorge, Alfred. Wollen wir unsere Aufmerksamkeit jetzt nicht unseren Gästen zuwenden?« Lou ließ seine weißen Zähne blitzen und setzte sich, ohne weiter auf Alfred zu achten. »Also, Gentlemen, was sieht auf dieser Speisekarte denn besonders lecker aus? Die Foie gras kann ich uneingeschränkt empfehlen, die habe ich hier schon einmal gegessen. Eine wahre Gaumenfreude.« Er lächelte wieder in die Runde und widmete sich dann ganz dem Vergnügen des Verhandelns.
Um zwanzig nach neun an diesem Abend war die Videokonferenz mit Arthur Lynch erledigt, und Lou stand erschöpft, aber fröhlich, beschwingt und siegessicher vor dem Fenster des Saddle Room Restaurant. Er hatte den Mantelkragen gegen den schärfer werdenden Dezemberwind hochgeschlagen und den Schal fest um den Hals geschlungen, aber er fühlte die Kälte nicht, als er sich selbst durchs Fenster beobachtete, wie er weltmännisch eine {203 }Anekdote zum Besten gab, während alle Anwesenden ihm gebannt lauschten. Alle bis auf Alfred natürlich. Nachdem Lou drinnen seine Kollegen fünf Minuten mit seinen lebhaften Gesten und seinem ausdrucksvollen Mienenspiel beglückt hatte, fingen die Männer im Chor an zu lachen, und Lou draußen erkannte, dass er die Geschichte erzählt hatte, wie er und seine Kollegen in London statt in einem Stripteaseschuppen aus Versehen in einer Schwulenkneipe gelandet waren. Doch während er seine eigenen Konversationskünste beobachtete, schwor er sich, nie wieder von dieser Begebenheit zu sprechen. Er sah aus und benahm sich wie ein arroganter Volltrottel.
Plötzlich spürte er jemanden neben sich.
»Verfolgen Sie mich etwa?«, fragte er, ohne die Augen von der Szene hinter dem Fenster abzuwenden.
»Nein, nein, ich dachte mir nur, dass Sie hierherkommen würden«, antwortete Gabe fröstelnd und steckte die Hände in die Taschen. »Wie machen Sie Ihre Sache da drin? Sie sind der Alleinunterhalter, wie üblich, was?«
»Was geht hier eigentlich vor, Gabe?«
»Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, richtig? Jetzt haben Sie bekommen, was Sie wollten. Jetzt können Sie an zwei Orten gleichzeitig sein. Allerdings lässt die Wirkung bis morgen früh nach, darauf sollten Sie sich gefasst machen.«
»Welcher von beiden bin ich denn wirklich?«
»Keiner, wenn Sie mich fragen.«
Lou sah ihn an und runzelte die Stirn. »Mir reicht es für heute mit den tiefen Erkenntnissen. Die bringen mir nichts.«
Gabe seufzte. »Beide sind real. Beide Lous funktionieren so, wie Sie immer funktionieren. Wenn Sie wieder zu einem werden, sind Sie einfach wieder ganz normal.«
»Und wer sind Sie?«
Gabe verdrehte die Augen. »Sie haben zu viele Filme gesehen. Ich bin Gabe. Der Typ, den Sie von der Straße geholt haben.«
»Was ist in den Dingern eigentlich drin?«, wollte Lou wissen und holte die Pillen aus seiner Tasche. »Sind sie gefährlich?«
»Ein bisschen Einsicht ist drin. Und die hat noch keinem geschadet.«
»Aber damit könnten Sie bestimmt viel Geld machen. Wer weiß sonst noch von dem Zeug?«
»Nur die richtigen Leute – die Leute, die sie hergestellt haben. Und versuchen Sie bloß nicht, damit reich zu werden, sonst müssen Sie einigen Personen Rede und Antwort stehen.«
Für den Augenblick steckte Lou zurück. »Gabe, Sie können mich nicht verdoppeln und dann von mir erwarten, dass ich das einfach so hinnehme, ohne nachzufragen. Es könnte ja direkte gesundheitliche Konsequenzen für mich haben, ganz zu schweigen von den lebensverändernden psychischen Folgen. Außerdem muss der Rest der Welt unbedingt davon erfahren – das ist doch der Wahnsinn! Wir müssen uns zusammensetzen und darüber reden.«
»Na klar, wir setzen uns zusammen«, versprach Gabe und musterte Lou aufmerksam. »Und wenn Sie es dem Rest der Welt erzählen, landen Sie entweder in der Gummizelle oder Sie werden in die Freakshow aufgenommen und können in der Zeitung jeden Tag einen Artikel über sich lesen – mit ungefähr der gleichen Zeilenzahl wie bei Dolly, dem geklonten Schaf. Wenn ich Sie wäre, würde ich alles einfach für mich behalten und das Beste aus einer sehr glücklichen Situation machen. Aber Sie sind so blass. Alles in Ordnung?«
Lou lachte hysterisch. »Nein! Überhaupt nichts ist in Ordnung. Dieses Zeug, das Sie mir gegeben haben, ist nicht normal. Warum tun Sie dauernd so, als wäre es etwas ganz Alltägliches?«
Gabe zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich, weil ich daran gewöhnt bin.«
»Daran gewöhnt?« Lou knirschte mit den Zähnen. »Und – wohin soll ich jetzt gehen?«
»Na ja, Sie haben sich um den Termin im Büro gekümmert, und es sieht ganz danach aus, als würde sich Ihre andere Hälfte um das Treffen hier kümmern«, grinste Gabe. »Da bleibt für Sie noch ein ganz spezieller Ort, wo Sie hingehen könnten.«
Lou dachte darüber nach. Kurz darauf breitete sich ganz langsam ein Lächeln über sein Gesicht aus, seine Augen begannen zu strahlen, und er hatte zum ersten Mal an diesem Abend das sichere Gefühl, Gabe zu verstehen. »Okay, gehen wir.«
»Was?« Gabe schien verdutzt. »Wohin denn?«
»In den Pub. Der erste Drink geht auf mich. Mann, was machen Sie denn für ein Gesicht? War es nicht das, was Sie gemeint haben?«
»Nein. Ich meinte nach Hause, Lou.«
»Nach Hause?« Lou verzog das Gesicht. »Warum sollte ich nach Hause gehen?«
Er wandte sich noch einmal um und betrachtete sich selbst an dem Tisch im Restaurant, wie er gerade zur nächsten Anekdote ansetzte. »Oh, das ist die Geschichte, wie ich mal in Boston auf dem Flughafen festsaß. Da war diese Frau mit mir im Flieger … « Er lächelte und drehte sich zu Gabe um, aber Gabe war verschwunden.
»Na, wer nicht will, der hat schon«, murmelte Lou. Noch {206 }eine Weile beobachtete er sich selbst am Restauranttisch, wie in Trance und nicht ganz sicher, ob er das, was hier vorging, wirklich erlebte. Er hatte sich ein Pint mehr als verdient, und wenn seine andere Hälfte nach dem Essen nach Hause gehen wollte, bedeutete das, dass er die ganze Nacht unterwegs sein konnte und keiner etwas davon merkte. Niemand außer der Person, die mit ihm zusammen sein würde. Da konnte er sich doch ganz unbeschwert eine schöne Zeit machen.