25 Der schönste Tag

Um neun Uhr früh am Samstag – dem Tag nach der Geburtstagsfeier – saß Lou Suffern mit geschlossenen Augen draußen in seinem Garten und hielt sein Gesicht der Morgensonne entgegen. Er war über den Zaun geklettert, der ihren Achttausend-Quadratmeter-Landschaftsgarten mit seinen Kieselpfaden, Beeten und riesigen Blumenkübeln von dem rauen, verwilderten, von Menschenhand unberührten Terrain trennte. Überall verstreut, als hätte jemand in Dalkey eine Spritzpistole genommen und aufs Geratewohl die Nordseite der Landzunge mit gelber Farbe unter Beschuss genommen, wuchsen Ginsterbüsche. Lous und Ruths Haus stand ganz oben auf dem Hügelkamm, und von ihrem Garten aus hatte man einen Panoramablick auf das darunterliegende Dorf Howth, den Hafen und die Bucht bis hinaus zur Insel Ireland’s Eye. Oft sah man sogar den hundertachtunddreißig Kilometer entfernten Mount Snowdon im walisischen Snowdonia National Park, aber an diesem klaren Tag hatte Lou Suffern ganz andere Dinge im Sinn.

Er saß auf einem Stein und atmete tief die frische Luft ein. Seine Nase war taub vor Kälte und lief, seine Wangen waren steifgefroren, seine Ohren schmerzten im eisigen Wind, und seine Finger hatten bereits eine rötlich-blaue Färbung angenommen, als würde an den Knöcheln die Blutzufuhr {295 }abgeschnürt. Kein gutes Wetter für diese lebenswichtigen Körperteile – aber ideal fürs Segeln. Anders als die Pflanzen in den gewissenhaft gepflegten Gärten der Nachbarschaft waren die wilden Ginsterbüsche sich selbst überlassen und konnten nach Lust und Laune wachsen – wie es manchmal bei zweitgeborenen Kindern der Fall ist, denen man mehr Raum gibt und weniger Regeln aufzwingt als den wohlbehüteten Erstlingen. So war der Ginster über den Hang zigeunert und hatte sich überall auf der Landzunge etabliert. Das Gelände war hügelig und uneben, hob und senkte sich abrupt, entschuldigte sich für nichts und bot Wanderern wenig Hilfe an. Es war wie der Schüler in der hintersten Bank, still, aber stets voller verrückter Ideen, und so beobachtete es ganz entspannt die Reaktionen auf die Fallstricke, die es ausgelegt hatte. Obgleich die umliegenden Hügel diese ungestüme Seite besaßen und in Howth das für ein Fischerdorf typische geschäftige Leben herrschte, strahlte das Städtchen dennoch Ruhe und Frieden aus. Mit seinen Leuchttürmen, die die Seefahrer sicher zur Küste geleiteten, und den Klippen, die wie eine undurchdringliche Phalanx von Spartanern mit geschwellter Brust und Waschbrettbauch eine Verteidigungslinie gegen die Elemente bildeten, besaß es eine Aura von Bedachtsamkeit und fast großväterlicher Würde. Der Pier vermittelte zwischen Land und Meer und gab den Menschen die Möglichkeit, sich, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren, ein Stück hinaus auf den Ozean zu begeben. Einsam ragte der Martello Tower auf, wie ein alternder Soldat, der seinen Posten um keinen Preis verlassen möchte, obwohl längst Frieden eingekehrt ist. Trotz der Windböen, die unablässig über die Landzunge herfielen, war Howth ein standhaftes, stabiles Fleckchen Erde.

Doch Lou war nicht allein, wie er so auf dem Stein kauerte {296 }und über sein Leben nachdachte. Er saß neben sich selbst, allerdings in einer ganz anderen Aufmachung: Ein Lou trug Segelkleidung für die bevorstehende Regatta mit seinem Bruder, der andere war zum Schlittschuhlaufen mit der Familie angezogen. Aber beide starrten hinaus aufs Meer, betrachteten das Schimmern der Sonne am Horizont. Unwillkürlich musste er an ein gigantisches amerikanisches Zehn-Cent-Stück denken, das jemand als Glücksbringer ins Wasser geworfen hatte und das jetzt unter den Wellen glitzerte. Eine ganze Weile saßen die zwei Lous schon so da, in ungezwungenem Schweigen, völlig entspannt in der Gesellschaft des anderen.

Der Lou auf dem moosigen Gras blickte zu dem Lou auf dem Stein hoch und lächelte. »Weißt du, wie glücklich ich in diesem Augenblick bin? Ich stehe sozusagen neben mir – na ja, genau genommen sitze ich natürlich«, schmunzelte er.

Lou auf dem Stein verbiss sich ein Grinsen. »Je mehr Witze ich von mir höre, desto klarer wird mir, dass ich nicht komisch bin.«

»Ja, so geht es mir auch.« Lou neben ihm pflückte einen langen Grashalm und schlang ihn sich um seine violettgefrorenen Finger. »Aber ich merke auch, was für ein attraktiver Mistkerl ich bin.«

Jetzt lachten beide.

»Aber du unterbrichst die Leute oft«, stellte Lou auf dem Stein fest, denn er erinnerte sich, dass sein anderes Selbst gerne überflüssigerweise das Gespräch an sich riss.

»Ist mir auch schon aufgefallen. Ich sollte wirklich –«

»Und du hörst nicht richtig zu«, fügte er gedankenversunken hinzu. »Und deine Geschichten sind immer zu lang. Die meisten Leute sind längst nicht so an deinem Geschwafel {297 }interessiert, wie du dir einbildest«, bekannte er. »Du fragst andere auch nie, was sie machen. Das solltest du aber, unbedingt.«

»Sprich für dich«, entgegnete Lou auf dem Stein unbeeindruckt.

»Tu ich doch.«

Sie schwiegen eine ganze Weile, denn Lou Suffern hatte erst vor kurzem am eigenen Leib erfahren, was aus Stille entstehen kann. Eine Möwe schoss zu ihnen herab, krächzte, betrachtete die beiden Lous misstrauisch und flog wieder davon.

»Die erzählt jetzt allen ihren Freundinnen von uns«, sagte Lou auf dem Stein.

»Wir sollten’s uns aber nicht zu Herzen nehmen, für mich sehen die nämlich auch alle gleich aus«, meinte der andere Lou.

Wieder lachten beide.

»Ich kann nicht glauben, dass ich über meine eigenen Witze lache«, bemerkte Lou im Gras und rieb sich die Augen. »Wie peinlich.«

»Was geht hier eigentlich ab? Was meinst du?«, fragte Lou auf dem Stein ernst.

»Wenn du es nicht weißt, weiß ich es auch nicht.«

»Ja, aber wenn ich eine Theorie habe, dann hast du auch eine.«

Sie sahen einander an und wussten genau, was der jeweils andere gerade dachte.

Lou wählte seine Worte sorgfältig, bewegte sie eine Weile probeweise im Mund hin und her und sagte dann: »Ich bin nicht abergläubisch, aber ich denke, wir sollten diese Theorien für uns behalten, meinst du nicht? Es ist, wie es ist. Belassen wir es dabei.«

»Ich möchte aber nicht, dass jemand verletzt wird«, gab Lou auf dem Gras zu bedenken.

»Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?«, sagte Lou verärgert. »Dass du nicht darüber sprechen sollst.«

»Lou!«, rief Ruth aus dem Garten, und das brach den Bann zwischen ihnen.

»Komme!«, antwortete er und streckte den Kopf über den Zaun. Vor der Küchentür entdeckte er Pud, der dank seiner jüngst erworbenen Laufkünste ins Freie gelangt war und im Gras herumeierte wie ein zu früh geschlüpftes Küken. Er war hinter seinem Ball her, doch jedes Mal, wenn er in seine Nähe kam, kickte er ihn mit seinen übereifrigen Beinchen wieder weg. Schließlich aber zog er den richtigen Schluss daraus, hielt inne, ehe er den Ball erreicht hatte, schlich sich dann langsam von hinten an ihn heran, als rechnete er jederzeit damit, dass der Ball sich von alleine davonmachte, und hob kickbereit den Fuß. Weil er das Stehen auf einem Bein allerdings noch nicht geübt hatte, plumpste er mitten in der Bewegung um und landete auf seinem gutgepolsterten Hinterteil im Gras. In diesem Moment kam Lucy mit Schal und Mütze aus der Tür gelaufen, um ihrem kleinen Bruder beim Aufstehen zu helfen.

»Sie ist Ruth so ähnlich«, hörte Lou eine Stimme dicht an seinem Ohr und merkte, dass der andere Lou ihm gefolgt war.

»Ich weiß. Warte mal, was für ein Gesicht sie jetzt gleich macht.« Sie beobachteten, wie Lucy Pud mütterlich für seine Unachtsamkeit tadelte. Beide Lous lachten genau gleichzeitig über ihre ernste, erwachsene Miene.

Doch der Versuch, den kleinen Bruder an der Hand zu nehmen und ins Haus zurückzuführen, misslang gründlich. {299 }Pud protestierte lautstark, riss sich los und warf in einem Mini-Wutanfall die Ärmchen in die Luft. Kurz darauf beschloss er, allein ins Haus zurückzuwatscheln.

»Und an wen erinnert dich das?«, fragte Lou.

»Okay, wir sollten jetzt wirklich aufbrechen. Du gehst zum Hafen runter, ich fahre mit Ruth und den Kids in die Stadt. Sorg dafür, dass du pünktlich auf dem Boot bist, ja? Ich musste Quentin praktisch bestechen, dass du ihm heute helfen darfst.«

»Natürlich werde ich pünktlich sein. Brich dir nicht die Beine auf den Schlittschuhen.«

»Und du geh nicht unter.«

»Wir werden den Tag genießen.« Lou schüttelte sich selbst die Hand, und im Nu wurde aus dem Händeschütteln eine Umarmung – die herzlichste und innigste, die er seit sehr langem erlebt hatte.

 

Schon zwei Stunden vor dem Rennen traf Lou am Hafen ein. Er war so viele Jahre keine Regatta mehr gesegelt und wollte sich ein bisschen Zeit nehmen, um sich wenigstens wieder an den Jargon zu gewöhnen und ein Gefühl für das Schiff zu bekommen. Außerdem musste er eine Beziehung zum Rest der Crew aufbauen: Kommunikation war der Schlüssel jeder erfolgreichen Segeltour, und er wollte keinen der Beteiligten hängenlassen. Nein, das stimmte nicht ganz – er wollte hauptsächlich Quentin nicht enttäuschen. Ohne Probleme fand er die Alexandra, das wunderschöne Vierzig-Fuß-Segelboot, das Quentin vor fünf Jahren gekauft hatte und auf dem er nicht nur jede freie Minute verbrachte, sondern in das er auch jeden Cent steckte, den er erübrigen konnte. Quentin und fünf seiner Teammitglieder {300 }waren bereits an Bord, hatten die Köpfe zusammengesteckt und besprachen den Kurs und ihr taktisches Vorgehen.

Lou überlegte: Es sollten nur sechs Leute an Bord sein, und wenn er sich den anderen anschloss, waren sie zu siebt.

»Hi, ihr alle!«, rief er im Näherkommen.

»Lou!« Überrascht blickte Quentin auf, und Lou wurde plötzlich klar, weshalb schon sechs Leute da waren: Quentin hatte nicht damit gerechnet, dass sein Bruder tatsächlich aufkreuzen würde.

»Ich komme doch hoffentlich nicht zu spät? Du hast halb zehn gesagt, oder?«

»Ja, klar, natürlich.« Quentin bemühte sich, seine Verwunderung zu überspielen. »Absolut. Ich wollte nur, äh … « Er wandte sich zu den anderen Männern um, die abwartend dastanden. »Dann mache ich euch mal miteinander bekannt. Jungs, das ist mein Bruder Lou.«

Auch die anderen machten überraschte Gesichter.

»Wir wussten gar nicht, dass du einen Bruder hast, Quentin«, meinte einer lächelnd und trat dann vor, um Lou die Hand zu schütteln. »Ich bin Geoff. Hoffentlich weißt du, was du tust.«

»Ist schon eine Weile her«, gab Lou zu und schaute Quentin unsicher an. »Aber Quentin und ich sind früher viel gesegelt, und das vergisst man ja nie ganz. Ist wie Fahrradfahren, oder nicht?«

Alle lachten und hießen den Neuankömmling an Bord willkommen.

»Wo möchtest du mich haben?«, fragte Lou und schaute seinen Bruder an.

»Ist es wirklich in Ordnung für dich, heute mitzufahren? {301 }«, vergewisserte Quentin sich leise, außer Hörweite der anderen.

»Na klar«, antwortete Lou und gab sich alle Mühe, nicht beleidigt zu sein. »Gleiche Position wie früher?«

»Vorschiff?«, fragte Quentin.

»Aye, aye, Captain«, grinste Lou und salutierte.

Quentin lachte und wandte sich wieder dem Rest der Besatzung zu. »Okay, Jungs, ich möchte, dass wir alle harmonisch zusammenarbeiten. Denkt dran: Miteinander reden, damit die Informationen auf dem Boot ungehindert fließen können. Wenn einer etwas nicht getan hat, was er hätte tun sollen, dann sagt Bescheid – wir müssen alle wissen, wo wir dran sind. Wenn wir gewinnen, geht die erste Runde auf mein Konto.«

Alle johlten.

»Gut, Lou«, sagte Quentin und zwinkerte seinem Bruder zu. »Ich weiß, dass du dich schon lange darauf freust.«

Obwohl das nicht stimmte, hatte Lou das Gefühl, dass er nicht widersprechen sollte.

»Endlich kriegst du die Chance zu sehen, was die Alexandra draufhat.«

Lou knuffte seinen Bruder spielerisch in die Seite.

 

Ruth schob Puds Buggy durch den Fusilier’s Arch, und sie betraten St. Stephen’s Green, den Park mitten im Stadtzentrum von Dublin. Hier war eine Eisbahn angelegt worden, die Einkaufsbummler aus den umliegenden Straßen und Eislauflustige aus dem ganzen Land anzog. Lou und seine Familie gingen am Ententeich vorbei, überquerten die O'Connell Bridge und befanden sich kurz darauf in einem wahren Wunderland. In der gepflegten Parkanlage war ein {302 }Weihnachtsmarkt aufgebaut, üppig geschmückt, wie aus einem Weihnachtsfilm. Stände, an denen heiße Schokolade mit Marshmallows, Mince Pies und Früchtekuchen verkauft wurden, säumten die Wege, und der Duft von Zimt, Nelken und Marzipan wehte durch die Gänge. Die Verkäufer waren als Weihnachtselfen verkleidet, aus den Lautsprechern dröhnte Weihnachtsmusik, tropfende Eiszapfen hingen von den Budendächern, und Schneemaschinen bliesen künstliche Flocken durch die Luft.

Das Iglu des Weihnachtsmanns bildete das Zentrum des Interesses; davor hatte sich eine lange Schlange gebildet, und Elfen in grünen Kostümen und spitzen Schuhen taten ihr Bestes, den Wartenden die Zeit möglichst kurz zu machen. Riesige rot-weiß gestreifte Zuckerstangen bildeten vor dem Iglu eine Art Torbogen, aus dem Schornstein segelten Seifenblasen himmelwärts. Auf einer kleinen Wiese spielte eine Gruppe Kinder unter Aufsicht eines Elfen mit einem überdimensionalen Knallbonbon Tauziehen. Neben dem Iglu stand ein sechs Meter hoher Tannenbaum, geschmückt mit überdimensionalen Kugeln und Lametta. Von den Zweigen hingen gigantische Wasserballons, auf die eine Reihe Kinder – und noch weit mehr Väter – mit Stechpalmen umwickelte Bälle warfen und versuchten, die Ballons zum Platzen zu bringen und die Geschenke darin freizulegen. Ein rotgesichtiger Elf, der von den zerplatzenden Wasserbomben schon ganz nass war, rannte herum und hob die heruntergefallenen Geschenke vom Boden auf, während sein Gehilfe neue Ballons füllte und an einen Kollegen weiterreichte, der sie wieder an die Zweige hängte. Bei dieser Arbeit pfiff allerdings niemand entspannt vor sich hin.

Pud deutete mit seinem rundlichen kleinen Zeigefinger wild in alle Richtungen, wo etwas seine Aufmerksamkeit {303 }erregte. Lucy, die sonst so gerne plapperte, war auf einmal ganz still geworden, und ihre großen braunen Augen blickten wie gebannt unter dem dichten Pony ihres schokoladenbraunen kinnlangen Pagenkopfs hervor. Sie trug einen leuchtend roten, knielangen Mantel mit einer Doppelreihe großer schwarzer Knöpfe und einem schwarzen Pelzkragen, dazu cremefarbene Strumpfhosen und glänzende schwarze Schuhe. Mit einer Hand hielt sie sich an Puds Buggy fest, und so schien sie in ihrem ganz eigenen Paradies neben den anderen her zu schweben. Hin und wieder entdeckte sie etwas ganz Besonderes und blickte mit dem glücklichsten Lächeln, das man sich vorstellen kann, zu Lou und Ruth empor. Niemand sprach. Das war auch nicht nötig, denn sie wussten alle Bescheid.

Ein Stück vom Weihnachtsmarkt entfernt fanden sie die Eisbahn, auf der Hunderte von Menschen unterwegs waren, jung und alt. Die Warteschlange wand sich um die ganze Bahn herum, so dass jeder, der hinfiel, von neugierigen Zuschauern beäugt wurde, die natürlich über jeden lustigen Sturz lachten.

»Ihr könnt euch das da drüben anschauen«, schlug Lou vor und deutete auf den Pavillon, in dem eine Pantomime vorgeführt wurde. Dutzende Kinder saßen in Liegestühlen, fasziniert von der Zauberwelt, die sich vor ihnen entfaltete. »Ich stelle mich solange für uns an.«

Eine großzügige und gleichzeitig egoistische Geste – Lou Suffern konnte ja nicht über Nacht ein anderer werden. Er hatte sich fest vorgenommen, den Tag mit seiner Familie zu verbringen, aber inzwischen brannte sein BlackBerry ihm praktisch ein Loch in die Manteltasche, und er brauchte ein bisschen Zeit, um die Nachrichten durchzugehen, ehe er vor Spannung schlicht und einfach explodierte.

»Okay, danke«, sagte Ruth und schob Puds Buggy zu Lou in die Schlange. »Wir bleiben nicht lange.«

»Was machst du denn da?«, fragte Lou panisch.

»Na, ich geh mit Lucy rüber und seh mir die Vorstellung an.«

»Nimmst du ihn nicht mit?«

»Nein. Er ist eingeschlafen, da ist er bei dir gut aufgehoben.«

Hand in Hand mit Lucy, die fröhlich neben ihr her hüpfte, machte sich Ruth auf den Weg zum Pavillon, während Lou nichts anderes übrigblieb, als seine Panik in Schach zu halten und zu hoffen, dass Pud nicht so schnell aufwachen würde. Mit einem Auge am BlackBerry und dem anderen auf Pud entdeckte er, dass er sogar noch ein drittes Auge besaß, das die Gruppe Teenager vor ihm beobachtete, die in ihrem Hormonrausch plötzlich angefangen hatten, zu schreien und blöde herumzuhopsen – jeder Schrei und jedes ungeschickte Hopsen eine Bedrohung für den Schlaf seines Sohnes. Plötzlich fiel ihm auch auf, in welcher ohrenbetäubenden Lautstärke »Jingle Bells« aus den Lautsprechern hallte, und die Rückkoppelungen bei den Durchsagen, dass wieder ein verlorenes Familienmitglied am Elfen-Center wartete, klangen wie eine Massenkarambolage. Er hörte jedes einzelne Geräusch, jedes Kreischen der Kinder auf der Eisbahn, jeden Schrei, wenn wieder mal ein Daddy auf den Hintern fiel, jedes Knochenknirschen. In höchster Alarmbereitschaft – als müsste er jeden Moment mit einem tätlichen Angriff rechnen – ließ Lou den BlackBerry samt seinem wild blinkenden roten Licht wieder in die Tasche zurückgleiten. Langsam rückte die Schlange weiter, langsam schob er den Buggy ein Stückchen nach vorn.

Einer der fettighaarigen Pubertierenden vor ihm, der seinen Freunden mit explosionsartigen Lauten und gelegentlichen epileptisch anmutenden Gesten eine Geschichte erzählte, war besonders nervig. Als er zum Höhepunkt seiner Geschichte kam, sprang er ein Stück zurück – und stieß mit dem Arm gegen Puds Buggy.

»Sorry«, sagte er, drehte sich um und rieb sich den Arm. »Sorry, Mister. Alles klar mit dem Kleinen?«

Lou nickte. Und schluckte. Am liebsten hätte er den Knaben gepackt und erwürgt. Oder seine Eltern gesucht und ihnen einen Vortrag darüber gehalten, dass sie ihrem Sohn gefälligst das Geschichtenerzählen beibringen sollten, und zwar ohne ausladende Gesten und Spuckebomben. Vorsichtig spähte er zu Pud hinunter. O nein, das Monster war dabei zu erwachen. Langsam öffneten sich seine Augen, glasig und müde, noch längst nicht bereit, aus dem Winterschlaf zu kommen. Sie blickten nach links, blickten nach rechts, blickten in alle Richtungen, und Lou hielt den Atem an. Eine Weile sahen er und Pud einander in gespanntem Schweigen an. Dann kam der Kleine offenbar zu der Erkenntnis, dass ihm der entsetzte Ausdruck im Gesicht seines Vaters ganz und gar nicht gefiel, spuckte in hohem Bogen seinen Schnuller aus und begann zu schreien. Und zwar richtig.

»Alles ist gut, schsch«, säuselte Lou linkisch und sah flehend auf seinen Sohn hinunter.

Pud brüllte lauter, und in seinen müden Augen bildeten sich dicke Tränen.

»Hey, komm schon, Pud.« Lou lächelte den Kleinen mit seinem charmantesten Porzellanzahnlächeln an. Im Job hatte dieses Lächeln immer den gewünschten Erfolg.

Aber Pud schrie lauter.

Verlegen sah Lou sich um und entschuldigte sich bei allen, die seinen Blick erwiderten, vor allem bei dem selbstzufriedenen Vater, der ein kleines Baby vor sich auf dem Bauch trug und zwei weitere Kinder an den Händen hielt. Lou grummelte frustriert, wandte dem Mann den Rücken zu und versuchte, das Horrorgebrüll damit zu beenden, dass er den Buggy mit raschen Bewegungen vor- und zurückschob und dabei absichtlich dem Teenager in die Hacken fuhr, dem er das ganze Dilemma zu verdanken hatte. Mindestens zehn Mal steckte er Pud den Schnuller wieder in den Mund. Er legte ihm die Hand über die Augen, in der Hoffnung, der Kleine würde vielleicht wieder einschlafen, wenn es dunkel war. Nichts funktionierte. Puds kleiner Körper wand sich und versuchte, aus dem Sicherheitsgurt auszubrechen wie der Hulk aus seinen Kleidern. Inzwischen klang er wie eine Katze, die am Schwanz kopfüber ins Wasser getaucht und dann erdrosselt wird. Verzweifelt wühlte Lou in der Babytasche nach den Spielsachen, aber als er sie seinem Sohn anbot, schleuderte der sie nur voller Entrüstung auf den Boden.

Der selbstzufriedene Familienvater mit dem Baby auf dem Bauch bückte sich und half Lou beim Einsammeln. Lou nahm die Spielsachen entgegen, ohne den Mann anzusehen, und rang sich ein gegrunztes Dankeschön ab. Nachdem die meisten Gegenstände aus der Babytasche ein zweites Mal auf dem Boden gelandet waren, beschloss er, das kleine Brüllmonster freizulassen. Eine ganze Weile kämpfte er mit dem vertrackten Verschluss – was Puds Geschrei nur verstärkte und noch mehr Gestarre auf sich zog –, und gerade als ein besorgter Mensch den Sozialdienst rufen wollte, hatte er seinen Sohn endlich befreit. Allerdings hörte Pud nun keineswegs auf zu heulen, nein, {307 }er machte munter weiter, bis ihm der Rotz aus der Nase blubberte und sein Gesicht so rot war wie eine Himbeere.

Lou zeigte seinem Sohn Bäume, Hunde, Kinder, Flugzeuge, Vögel, Weihnachtsbäume, Geschenke, Elfen – bewegliche Dinge, unbewegliche Dinge und überhaupt alles, was es zu sehen gab, aber Pud ließ sich nicht beirren, sondern schrie weiter.

Zehn Minuten später kam Ruth angerannt, Lucy im Schlepptau.

»Was ist denn los?«

»Er ist aufgewacht, kaum dass ihr weg wart, und jetzt hört er nicht mehr auf zu brüllen«, erklärte Lou. Er schwitzte.

Pud warf einen Blick auf Ruth, streckte ihr die Hände entgegen und hüpfte förmlich aus Lous Armen. Als wäre ein Schalter umgelegt worden, verstummte das Geschrei, Pud klatschte in die Hände, sein Gesicht nahm wieder eine normale Farbe an, er plapperte fröhlich, strahlte seine Mutter an, spielte mit ihrer Halskette und benahm sich insgesamt, als hätte es so etwas wie das Horrorgebrüll nie gegeben. Lou war sicher, dass Pud ihn außerdem frech angrinste, wenn gerade niemand hinschaute.

 

 

Der andere Lou war unterdessen ganz in seinem Element. Inzwischen waren sie mit dem Boot unterwegs zum Startbereich nördlich von Ireland’s Eye, und er beobachtete gespannt, wie die Küste sich immer weiter entfernte. Vom Leuchtturm am Ende des Piers winkten Freunde und Familienmitglieder, viele mit Ferngläsern in der Hand.

Dem Meer wohnte ein Zauber inne. Menschen fühlten sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen, wollten am Meer leben, im Meer schwimmen, spielen, es anschauen. {308 }Das Meer war ein lebendiges Wesen, so unberechenbar wie ein großer Theaterschauspieler: Es konnte ruhig und freundlich sein, konnte sein Publikum mit offenen Armen willkommen heißen und schon im nächsten Moment sein stürmisches Temperament unter Beweis stellen, Menschen herumschleudern, als wollte es sie hinauswerfen, konnte Küsten attackieren und ganze Inseln zerstören. Es hatte verspielte Seiten, es mochte die Menschen, schaukelte Kinder, kippte Luftmatratzen, brachte Windsurfer aus dem Gleichgewicht, ging aber gelegentlich auch Seeleuten helfend zur Hand – alles mit einem verschmitzten Kichern. In voller Fahrt durch die Wogen zu preschen, den Wind in den Haaren, den Regen oder die helle Sonne im Gesicht – für Lou gab es nichts, was sich mit diesem Gefühl messen konnte. Es war lange her, dass er zum letzten Mal gesegelt war. Natürlich hatten er und Ruth oft die Ferien auf der Yacht von Freunden verbracht, aber er hatte sich eine Ewigkeit nicht mehr an dieser Art Teamsport beteiligt. Nun freute er sich unbändig auf die Herausforderung – nicht nur darauf, mit dreißig anderen Booten zu wetteifern, sondern vor allem auch darauf, dem Meer die Stirn zu bieten, dem Wind und den Wellen.

Sie näherten sich dem Startschiff, um sich identifizieren zu lassen. Die Startlinie befand sich zwischen einem rotweißen Pfahl auf dem Startboot und einer zylindrischen, orangefarbenen Boje in Fahrtrichtung links, also backbords. Lou ging am Bug des Boots in Stellung, während sie den Startbereich umkreisten und versuchten, die perfekte Position zu finden, von der aus sie die Startlinie genau zur richtigen Zeit überqueren konnten. Der Wind kam aus Nordost, Windstärke vier bei Flut, was bedeutete, dass die See nicht gut gestimmt war. Man musste sie genau im Auge {309 }behalten, um das Boot möglichst schnell durchs kabbelige, unruhige Wasser steuern zu können. Wie in alten Zeiten hatten Lou und Quentin darüber gesprochen und wussten beide genau, was zu tun war. Wenn sie die Linie zu früh überquerten, wurden sie disqualifiziert, und nun war es Lous Aufgabe, den Countdown auszuzählen, sie korrekt in Stellung zu bringen und dabei ständig mit dem Steuermann – nämlich Quentin – in Verbindung zu bleiben. Als Teenager hatten sie diese Kunst aus dem Effeff beherrscht, hatten zahlreiche Rennen gewonnen und hätten wahrscheinlich auch mit geschlossenen Augen segeln können, einfach nach der Windrichtung. Aber das war lange her, und die Kommunikation zwischen ihnen hatte sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert.

Lou bekreuzigte sich, als um 11 Uhr 25 das Ankündigungssignal gegeben wurde. Sie wendeten das Boot, gingen in Position, um möglichst früh und mit möglichst viel Fahrt die Startlinie zu überqueren. Um 11 Uhr 26 wurde die Vorbereitungsflagge gehisst. Um 11 Uhr 29 senkte sich die Einminuten-Signalflagge. Lou schwenkte heftig die Arme und gab Quentin Anweisungen, wo er das Boot platzieren sollte.

»Steuerbord, mehr nach Steuerbord, Quentin!«, brüllte er und schwenkte den rechten Arm. »Dreißig Sekunden!«

Sie kamen gefährlich nahe an eine andere Yacht heran. Lous Fehler.

»Eh, Backbord! BACKBORD!«, schrie Lou. »Zwanzig Sekunden!«

Alle Boote strengten sich an, eine gute Position zu finden, aber da dreißig von ihnen an der Regatta teilnahmen, würde nur ein kleiner Teil es schaffen, die Startlinie in der besten Stellung ganz in der Nähe des Startschiffs zu überwinden. {310 }Der Rest musste versuchen, das Beste aus dem Am-Wind-Kurs herauszuholen.

11 Uhr 30 kam das Startsignal, und mindestens zehn Boote überquerten die Startlinie vor ihnen. Nicht der beste Start, aber Lou weigerte sich, den Mut sinken zu lassen. Er war ein bisschen rostig, er brauchte Übung, aber dafür war keine Zeit, jetzt ging es ums Ganze.

Sie sausten dahin, Ireland’s Eye zu ihrer Rechten, links die Landzunge, aber natürlich wäre es Unsinn gewesen, in einem solchen Moment die Umgebung zu bewundern. Lou bewegte sich nicht, nur seine Gedanken rasten, er schaute auf die anderen Yachten, die dicht neben ihnen durchs Wasser rauschten, der Wind zerzauste seine Haare, sein Herz klopfte wild, und er fühlte sich so lebendig wie seit langem nicht mehr. Auf einmal war alles wieder da, was zum Segeln gehörte – wie es sich anfühlte, auf einem Boot zu sein. Vielleicht war er nicht mehr ganz so schnell, aber er hatte seinen Instinkt nicht verloren. So flogen sie übers Wasser, durchschnitten die Wellen auf dem Weg zur Luvmarke, etwa eine Meile von der Startlinie entfernt.

»Wenden!«, rief Quentin, und die Crew machte sich bereit. Er selbst behielt die anderen im Auge und steuerte. Alan, der Vorschoter, löste die Fockschot aus der Klemme. Luke, der für das Genuasegel zuständig war, vergewisserte sich, dass auch die neue Fockschot dichtgeholt war, und drehte ein paarmal an der Winsch. Ohne sich von seiner Position wegzurühren, versuchte Lou vorauszuahnen, was als Nächstes zu tun war, und beobachtete gleichzeitig die anderen Boote, dass keines ihnen zu nahe kam. Instinktiv wusste er, dass sie auf der Backbordseite kreuzten und keine Vorfahrt gegenüber den Booten auf der Steuerbordseite haben würden. Seine alten Taktiken fielen ihm wieder ein, {311 }und er war im Stillen sehr angetan davon, wie er das Boot direkt auf der Anliegelinie zur Luvmarke positioniert hatte. Er spürte, wie Quentins Vertrauen in ihn zurückkehrte; mit voller Fahrt sausten sie auf die Marke zu. Und darum, dass Quentin wieder an ihn glaubte, kämpfte Lou mindestens ebenso sehr wie um den Sieg in diesem Rennen.

Quentin vergewisserte sich, dass er genügend Raum hatte, und begann die Wende. Geoff, der Mann im Cockpit, wandte sich rasch dem Vorsegel zu, und als es backwehte, löste er es. Das Boot ging durch den Wind, die Großschot wurde ein paar Fuß gefiert, und die Fock schwang über. Luke zog mit aller Kraft, und als er nicht mehr konnte, bediente er die Winsch. Quentin steuerte den neuen Kurs.

»Fock über!«, brüllte Lou, und alle hängten die Beine über die Luvseite.

Quentin stieß einen Freudenschrei aus, und Lou lachte in den Wind.

Nachdem sie die erste Marke umrundet hatten und mit dem Wind auf die zweite zuflogen, wurde Lou genau zur richtigen Zeit aktiv, setzte den Spinnaker und gab Quentin mit nach oben gerecktem Daumen das Okayzeichen. Sofort kam auch Leben in den Rest der Crew, und jeder ging seiner Aufgabe nach. Sicher, Lou hatte manchmal noch zwei linke Hände, aber er merkte, dass sein Fingerspitzengefühl nach und nach zurückkehrte.

Während er zuschaute, wie der Spinnaker emporstieg, stieß auch Lou einen Freudenschrei aus.

Alan trimmte das Segel, während Robert die Winsch übernahm. Sie segelten schnell, und wieder reckte Lou die Faust in die Luft und stieß ein Triumphgeheul aus. Hinter dem Steuer stand Quentin und lachte, während der Spinnaker sich mit Wind füllte. So rasten sie zur nächsten {312 }Marke. Quentin gestattete sich einen schnellen Blick nach achtern, wo sich ihm ein großartiger Anblick bot: Um die fünfundzwanzig Segelboote verfolgten sie mit geblähten Segeln. Nicht schlecht. Die beiden Brüder wechselten einen Blick und lächelten. Sie sagten kein Wort, aber das war auch nicht nötig. Sie wussten beide Bescheid.

 

Nach dreißig Minuten Wartezeit an der Eisbahn standen Lou und seine Familie endlich an der Spitze der Schlange.

»Ich wünsch euch viel Vergnügen«, sagte Lou, klatschte in die Hände und trat von einem Fuß auf den anderen, um sich warm zu halten. »Ich geh rüber in das Café und schau euch zu.«

Ruth begann zu lachen. »Nein, Lou – du hast gesagt, du kommst mit uns Schlittschuh laufen!«

»Lieber nicht.« Er verzog das Gesicht. »Ich hab in der letzten halben Stunde so viele Männer gesehen, die älter sind als ich und sich auf dem Eis total zum Affen machen. Was, wenn jemand mich hier sieht? Da bleib ich doch lieber draußen, vielen Dank. Außerdem ist die hier neu und darf nur chemisch gereinigt werden«, fügte er mit Blick auf seine Hose hinzu.

»Na gut«, meinte Ruth bestimmt. »Dann macht es dir sicher nichts aus, auf Pud aufzupassen, solange Lucy und ich Schlittschuh laufen.«

Die Drohung verfehlte nicht ihre Wirkung. »Komm, Lucy«, sagte Lou und packte seine Tochter hastig bei der Hand. »Holen wir uns Schlittschuhe.« Er zwinkerte Ruth zu, die lachend mit Pud zurückblieb, und machte sich auf den Weg zu den Schlittschuhen. Direkt vor dem Supervater, der inzwischen im Stil des Rattenfängers von Hameln {313 }eine ganze Kinderschar im Schlepptau hatte, erreichte er die Ausgabetheke. Ha! Mit einem stillen Triumphgefühl nahm er zur Kenntnis, dass er dem Angeber zuvorgekommen war. Jetzt, wo die Eisbahn direkt vor ihm lag, freute er sich wie ein Kind auf das bevorstehende Abenteuer.

»Welche Größe?«, erkundigte sich der Mann hinter der Theke.

»44 ½ bitte«, antwortete Lou und sah Lucy erwartungsvoll an. Ihre großen braunen Augen erwiderten seinen Blick, aber sie blieb stumm.

»Sag dem Mann doch mal deine Schuhgröße, Schätzchen«, sagte er schließlich und spürte dicht hinter sich den Supervater, der ihm penetrant im Nacken saß.

»Die weiß ich nicht, Daddy«, antwortete Lucy, fast flüsternd.

»Na ja, du bist vier, richtig?«

»Fünf«, verbesserte sie ihn leise und runzelte die Stirn.

»Sie ist fünf«, erklärte er dem Mann. »Also bitte einmal die Größe für eine Fünfjährige.«

»Die Schuhgröße hängt sehr stark vom einzelnen Kind ab.«

Lou seufzte und zog sein BlackBerry heraus. Um keinen Preis war er bereit, sich noch einmal hinten anzustellen. Hinter ihm richtete sich der penetrante Supervater zu voller Größe auf und rief über Lous Kopf hinweg: »Zweimal Größe 36, einmal Größe 35 und eine 45 ½, bitte!«

Lou verdrehte die Augen und äffte ihn tonlos nach, was Lucy zum Schieflachen fand und ihrerseits imitierte, während sie auf Antwort warteten.

»Hallo?«

»Welche Schuhgröße hat Lucy?«

Ruth lachte. »Sechsundzwanzig.«

»Okay, danke.« Er legte auf.

Auf dem Eis angekommen, hielt er sich sorgfältig mit einer Hand an dem Zaun fest, der die Bahn umgab. Dann nahm er Lucy bei der Hand. Ruth stand mit Pud, der wieder bester Laune war, aufgeregt mit den Beinen strampelte und die Ärmchen schwenkte, auf der anderen Seite der Absperrung.

»Also, Schätzchen, hör mir gut zu«, sagte Lou, während er schwankend das Eis betrat. »Es ist sehr gefährlich, du musst ganz vorsichtig sein, okay? Halt dich hier am Geländer fest, ja?«

Brav tat Lucy, was er sagte, und nebeneinander wackelten sie los. Im Handumdrehen war sie sicherer als Lou, dessen Knöchel immer noch abwechselnd nach rechts oder nach links abknickten.

Nach einer Weile begann Lucy, schneller zu fahren. »Süße!«, rief Lou, und seine Stimme zitterte, während er auf das kalte, harte Eis hinuntersah und sich vorstellte, wie es sich anfühlen würde, wenn er hinfiel. Er konnte sich überhaupt nicht mehr erinnern, wann ihm so etwas zum letzten Mal passiert war. Wahrscheinlich war er noch ein kleiner Junge gewesen, schließlich gehörte Hinfallen ja in die Kindheit.

Der Abstand zwischen ihm und Lucy wurde größer.

»Hol sie ein, Lou!«, forderte Ruth ihn von der anderen Seite der Abgrenzung auf. Sie ging neben ihm her, während er ungeschickt vorwärtsschlurfte, und Lou konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören.

»Ich wette, du amüsierst dich köstlich«, sagte er, konnte aber nur ganz kurz zu ihr aufblicken, so sehr musste er sich darauf konzentrieren, nicht umzufallen.

»O ja, das tu ich.«

Langsam schob er den linken Fuß vor, glitt aber weiter als beabsichtigt und landete fast im Spagat. Tapsig wie Bambi, das sich zum ersten Mal auf seine dünnen Beinchen stellt, wackelte und schlingerte er herum, schwenkte die Arme im Kreis wie eine im Marmeladenglas gefangene Fliege und hörte Ruth wieder lachen. Aber er machte Fortschritte. Ab und zu schaute er sich nach Lucy um, die in ihrem feuerwehrroten Mantel zum Glück gut zu sehen war und inzwischen schon den halben Weg um die Bahn herum geschafft hatte.

Der penetrante Supervater rauschte an ihm vorüber, mit wild schwingenden Armen, als wollte er an einem Rodelrennen teilnehmen, und sein Fahrtwind hätte Lou fast aus dem Gleichgewicht gebracht. Hinter ihm kam die Kinderschar angesaust, alle Hand in Hand. Und was war das – sangen sie etwa beim Schlittschuhlaufen? Das war zu viel. Langsam ließ Lou die Abgrenzung los und versuchte, sich mit wackligen Knien aufrecht zu halten. Langsam rutschte er mit einem Fuß nach vorn, leider wieder ein wenig zu weit – sein Rücken bog sich gefährlich durch, er kippte nach hinten und drohte wie ein Käfer auf dem Rücken zu landen. Im allerletzten Moment gewann er das Gleichgewicht zurück und setzte den anderen Fuß nach.

»Hi, Daddy«, rief Lucy im Vorübersausen. Sie hatte die erste Umrundung der Eisbahn unfallfrei hinter sich gebracht.

Entschlossen entfernte sich Lou vom Rand der Eisbahn und den Anfängern, die sich dort zentimeterweise voranhangelten. Er würde den penetranten Supervater übertrumpfen, der da im Kreis herumfegte wie Roadrunner persönlich.

Auf halbem Weg zwischen der Abgrenzung und dem {316 }Bahninneren war Lou jetzt ganz auf sich selbst gestellt, doch er bewegte sich schon ein wenig sicherer vorwärts und versuchte auch, zum Balancieren die Arme zu schwingen wie die anderen. Allmählich nahm er Tempo auf. In ziemlich primitiver Lauftechnik, gebückt und mit wedelnden Armen – eher ein Eishockeyspieler als ein anmutiger Eisläufer – umkreiste er das Rund und wich dabei Kindern und alten Leuten so gut es ging aus. Gelegentlich rempelte er jemanden an, und einmal hörte er ein Kind nach einem Zusammenstoß laut weinen. Ein Pärchen, das ihm Hand in Hand entgegenglitt, riss er glatt auseinander. Doch er war so darauf konzentriert, nicht umzufallen, dass er kaum Zeit fand, sich zu entschuldigen. Er überholte Lucy, ohne anhalten zu können, raste weiter und immer weiter, schneller und immer schneller, rundherum. Geräusche und Farben verschwammen, Lou kam sich vor wie auf einem Karussell. Unwillkürlich lächelte er. Abermals kam er an dem Supervater vorbei, dann zum dritten Mal an Lucy, an Ruth, hörte, wie sie seinen Namen rief, und nahm wahr, dass sie ihn fotografierte. Aber er konnte und wollte nicht anhalten. Er genoss den Wind in seinen Haaren, die vorbeiwirbelnden Lichter der Stadt, die frische kalte Luft, den sternbedeckten Himmel des früh hereinbrechenden Abends. Er fühlte sich frei und lebendig, so ausgelassen, wie er schon lange nicht mehr gewesen war. Und weiter ging es, rundherum, immer im Kreis.

 

Zum dritten und letzten Mal gingen die Alexandra und ihre Crew auf Kurs. Tempo und Koordination waren im Lauf der letzten Stunde wesentlich besser geworden, und Lou hatte alle Schnitzer wiedergutgemacht, die ihm anfangs {317 }unterlaufen waren. Jetzt näherten sie sich der Leetonne und mussten ein weiteres Mal das Spinnaker-Manöver vollführen.

Lou vergewisserte sich, dass die Leinen genug Spiel hatten, um ausgebracht zu werden. Geoff setzte die Fock, Lou führte sie in die Vorlieksnut, und Luke sorgte dafür, dass das Vorsegel belegt war. Robert ging in Position, um die lose Schot unter dem Großsegel zu packen, damit sie den Spinnaker einholen konnten. Sobald er in Stellung war, ging alles Schlag auf Schlag. Geoff machte das Fall los und half, den Spinnaker darunter einzuholen. Joey löste die Bergeleine und straffte sie so, dass der Spinnaker wie eine Flagge außerhalb des Boots fliegen konnte. Als der Spinnaker im Boot war, trimmte Joey das Großsegel, Geoff senkte den Spinnakerbaum, und Lou barg ihn.

Zum letzten Mal war der Spinnaker unten, und sie näherten sich der Ziellinie. Nun funkten sie den Rennleiter auf Kanal 37 an und baten um Bestätigung. Obwohl sie nicht als Erste durchs Ziel gingen, waren sie überglücklich. Lou und Quentin sahen einander an und lächelten. Keiner sagte etwas. Aber das war auch nicht nötig. Denn sie wussten beide Bescheid.

 

Inzwischen war der andere Lou doch hingefallen, lag auf dem Rücken, hielt sich die schmerzenden Rippen und konnte nicht aufhören zu lachen, während die anderen Eisläufer unbeirrt an ihm vorbeischwirrten. Ihm war genau das passiert, wovor ihm so sehr gegraut hatte – er hatte den komischsten Sturz des Tages hingelegt. Mitten auf der Eisbahn war er gelandet, und Lucy, die sich vor Lachen ebenfalls kaum halten konnte, versuchte, ihn am Arm zu {318 }packen und hochzuziehen. Sie waren Hand in Hand eine Weile nebeneinander ihre Runden gelaufen, als Lou übermütig wurde, prompt über seine eigenen Füße stolperte, das Gleichgewicht verlor und käfergleich auf dem Rücken landete. Zum Glück hatte er sich nichts gebrochen, höchstens sein Stolz hätte verletzt sein können, aber das war ihm vollkommen gleichgültig. Er ließ sich von Lucy aufhelfen – obwohl er es auch alleine geschafft hätte – und merkte an dem Blitz, der aus Ruths Richtung aufleuchtete, dass sie sich auch dieses Motiv nicht hatte entgehen lassen. Dann trafen sich ihre Blicke, und er lächelte ihr zu.

Sie sprachen am Abend nicht über diesen Tag. Das war auch nicht nötig. Denn sie wussten alle Bescheid.

Es war der schönste Tag ihres Lebens gewesen.