24 Die Seele holt auf

Lous Vater stand neben Lou und sah sich im Raum um wie ein verlorenes Kind, nervös und verlegen, weil all diese Menschen seinetwegen gekommen waren. Wahrscheinlich hegte er im Stillen die Hoffnung, dass sich doch noch jemand melden würde, der heute ebenfalls Geburtstag hatte, damit er nicht mehr allein im Rampenlicht stehen musste.

»Wo ist Ruth?«, fragte er seinen Sohn nach einer Weile.

»Hm.« Lou schaute sich um, konnte seine Frau aber nirgends entdecken. »Sie unterhält sich wahrscheinlich mit den Gästen.«

»Ach so. Hübsche Aussicht hat man von hier oben.« Mit einer Kopfbewegung deutete er zum Fenster. »Die Stadt hat sich ganz schön verändert, seit ich klein war.«

»Ja, ich hab mir gedacht, du würdest das mögen«, sagte Lou und freute sich, dass er anscheinend doch nicht alles falsch gemacht hatte.

»Welches ist denn jetzt eigentlich dein Büro?«, fragte sein Vater und schaute hinüber zu den Bürogebäuden auf der anderen Seite der Liffey, die um diese Zeit immer noch beleuchtet waren.

»Das dort, direkt gegenüber«, erklärte Lou und deutete hinüber. »Dreizehn Stockwerke hoch, im vierzehnten Stock.«

Sein Vater warf ihm einen verwunderten Blick zu. Wahrscheinlich verwirrte ihn die Erklärung, und zum ersten Mal konnte Lou nachvollziehen, was man an dieser Art Benennung verwirrend finden konnte. Aber diese Erkenntnis war nicht angenehm, sondern ein Gefühl, als zöge man ihm den Boden unter den Füßen weg. Dabei war er sich seiner Sache immer so sicher gewesen.

»Da, wo überall noch Licht brennt«, erklärte Lou etwas simpler. »Wegen der Weihnachtsfeier.«

»Ah, dort.« Sein Vater nickte. »Da verbringst du also einen Großteil deiner Zeit.«

»Ja«, bestätigte Lou stolz. »Übrigens habe ich heute Abend eine Beförderung gekriegt, Dad«, fügte er lächelnd hinzu. »Du bist der Erste, der es erfährt – was ja nur angemessen ist an deinem Festtag«, fügte er schnell hinzu.

»Eine Beförderung?« Die buschigen Augenbrauen seines Vaters wölbten sich nach oben.

»Ja.«

»Noch mehr Arbeit?«

»Größeres Büro. Besseres Licht«, scherzte Lou. Als sein Vater nicht lachte, wurde er ernst und räumte ein: »Ja, auch mehr Arbeit. Mehr Überstunden.«

»Aha«, sagte sein Vater nur und schwieg dann wieder.

Auf einmal spürte Lou, wie er wütend wurde. Hatte er nicht wenigstens einen Glückwunsch verdient?

»Bist du glücklich dort?«, fragte sein Vater nach einer Weile, den Blick immer noch aus dem Fenster gerichtet, in dem sich der Partyraum hinter ihnen spiegelte. »Es wäre doch vergeudete Zeit, wenn du so hart arbeitest, obwohl es dich nicht glücklich macht. Denn letztlich kommt es doch darauf an, nicht wahr?«

Lou ließ sich die Bemerkung durch den Kopf gehen. {282 }Zwar war er enttäuscht darüber, dass sein Vater ihn nicht lobte, aber gleichzeitig fand er das angeschnittene Thema sehr interessant.

»Aber du hast mir doch immer gesagt, ich soll mich anstrengen«, gab er zurück und spürte wieder die Wut, von der er bis vorhin nichts gewusst hatte. »Du hast uns immer eingeschärft, dass wir uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen sollen, nicht mal für eine Sekunde. So habe ich deine Formulierung jedenfalls in Erinnerung.« Er rang sich ein Lächeln ab, das jedoch ziemlich verkniffen ausfiel.

»Ja, sicher – ich wollte, dass ihr euch bemüht, das schon«, erwiderte sein Vater, wandte sich Lou zu und blickte ihm ganz direkt in die Augen. »Aber in jedem Bereich eures Lebens, nicht nur bei der Arbeit. Jeder Seiltänzer kann auf einer geraden Linie gehen und gleichzeitig einen Stab in der Hand halten. Aber das Balancieren auf dem Seil in schwindelerregender Höhe – das ist es, was er üben muss«, schloss er schlicht.

Eine Angestellte mit einem Stuhl in der Hand unterbrach ihr Gespräch und damit auch die Anspannung, die sich zwischen Vater und Sohn aufgebaut hatte. »Entschuldigen Sie, aber für wen ist der?«, fragte die junge Frau und sah sich suchend um. »Mein Chef hat mir gesagt, dass jemand aus Ihrer Gruppe um eine Sitzgelegenheit gebeten hat.«

»Hm, ja, das hab ich«, meinte Lou mit einem ärgerlichen Lachen. »Aber nicht um eine Sitzgelegenheit, sondern um Stühle für alle. Plural. Damit alle unsere Gäste sich hinsetzen können.«

»Oh, hm, so viele Stühle haben wir aber leider nicht«, entschuldigte sich die Bedienung eifrig. »Also, wer möchte diesen hier?«

»Meine Frau«, sagte Lous Vater rasch, denn er wollte {283 }um jeden Preis eine Szene vermeiden. »Nimm den Stuhl, Lou, und gib ihn deiner Mutter.«

»Nein, nein, ich kann gut stehen, Fred«, protestierte Lous Mutter. »Du hast Geburtstag, du kriegst den Stuhl.«

Lou schloss die Augen und atmete tief durch. Dafür hatte er nun zwölftausend Euro bezahlt? Dass seine Familie darüber diskutieren konnte, wer sich auf den einzigen verfügbaren Stuhl setzen durfte?

»Außerdem hat der DJ gesagt, dass er an traditioneller irischer Musik nur die Nationalhymne zu bieten hat. Soll er die auflegen?«, erkundigte sich die junge Frau.

»Wie bitte?«, knurrte Lou.

»Er spielt sie immer am Ende des Abends, aber sonst hat er nichts traditionell Irisches«, erklärte sie zerknirscht. »Wäre es Ihnen und Ihren Gästen recht, wenn er sie jetzt spielt?«

»Nein!«, fauchte Lou. »Das ist doch absurd. Sagen Sie das Ihrem DJ

»Aber vielleicht können Sie ihm das hier geben«, mischte sich Marcia ein und griff in eine Schachtel, die unter dem Tisch stand und aus der Partyhütchen, Papierschlangen und Girlanden hervorquollen. Lou sah sogar einen Kuchen, und jetzt überreichte Marcia der Bedienung eine Auswahl an CDs. Die Lieblingslieder ihres Vaters. Als die Bedienung damit verschwunden war, sah Marcia ihren Bruder an. »Die waren für den Fall, dass du Scheiße baust«, erklärte sie und schaute schnell wieder weg.

Diese kurze Bemerkung traf Lou härter als alles andere, was sie ihm an diesem Abend gesagt hatte. Er hatte immer gedacht, er wäre das Organisationsgenie der Familie, derjenige, der wusste, wie man eine Party ausrichtet, wie man alles bekommt, was man will, und sich so richtig amüsiert. {284 }Aber während er sich noch in dieser Illusion sonnte, hatte seine Familie seine Fehler bereits vorausgeahnt und sich hinter seinem Rücken darangemacht, einen Notfallplan vorzubereiten. In einem Pappkarton!

Plötzlich brandete Applaus auf, und aus dem Aufzug traten Quentin und Gabe – Lou hatte nicht gewusst, dass auch er eingeladen worden war –, beide mit einem großen Stapel Stühle auf dem Arm.

»Und es sind noch mehr unterwegs!«, verkündete Quentin. Schlagartig hob sich die Stimmung – die vertrauten Gesichter, auf deren so deutlich älter gewordenen Zügen sich gerade eben noch die Anstrengung des langen Stehens abgezeichnet hatte, strahlten erleichtert und in freudiger Erwartung auf.

»Lou!«, rief Gabe fröhlich, als er ihn entdeckte. »Ich freue mich so, dass Sie doch noch gekommen sind.« Er stellte rasch ein paar Stühle für die Gäste in der Nähe auf und kam dann mit ausgestreckten Händen auf Lou zu, so dass dieser sich etwas irritiert fragte, wessen Feier das eigentlich war. »Haben Sie sich verdoppelt?«, erkundigte er sich dicht an Lous Ohr.

»Was? Nein«, verärgert schüttelte Lou ihn ab.

»Oh.« Offenbar war Gabe überrascht. »Als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, waren Sie gerade mit Alison in Ihrem Büro. Ich hab gar nicht gemerkt, dass Sie die Party verlassen haben.«

»Doch, natürlich bin ich da weggegangen. Warum müssen Sie denn gleich vom Schlimmsten ausgehen – dass ich eine dieser Pillen nehmen muss, um es zur Geburtstagsfeier meines Vaters zu schaffen?«, fragte er und mimte gekonnt den Gekränkten.

Aber Gabe lächelte nur. »Hey, es ist schon komisch, wie {285 }das Leben so spielt, was?«, meinte er und knuffte Lou kameradschaftlich in die Seite.

»Was soll das denn jetzt wieder heißen?«

»Na ja, wie man in einer Minute hier oben und in der nächsten wieder ganz unten sein kann.« Auf Lous aggressiven Blick hin fuhr er fort: »Ich wollte damit doch nur sagen, dass ich ganz da unten war, als wir uns kennengelernt haben. Ich hab sehnsüchtig hier raufgestarrt und davon geträumt, mir das alles mal von innen ansehen zu dürfen. Und jetzt, schauen Sie mich an. Ist doch seltsam, wie schnell sich alles verändert. Ich bin hier oben im Penthouse, Mr Patterson hat mir einen neuen Job angeboten … «

»Was hat Mr Patterson?«

»Ja, er hat mir einen neuen Job gegeben«, grinste Gabe und zwinkerte Lou zu. »Eine Beförderung.«

Ehe Lou Gelegenheit hatte zu reagieren, kam eine Kellnerin mit einem Tablett auf sie zu.

»Möchte jemand eine Kleinigkeit zu essen?«, erkundigte sie sich lächelnd.

»Oh, nein danke. Ich warte lieber auf die Shepherd’s Pie«, antwortete Lous Mutter mit einem freundlichen Lächeln.

»Das ist die Shepherd’s Pie«, erwiderte die Frau und deutete auf ein winziges Kartoffelhäufchen in einer minikleinen Muffin-Form.

Einen Augenblick herrschte betretenes Schweigen, und Lous Herz klopfte so heftig, dass er das Gefühl hatte, es würde ihm gleich aus der Brust springen.

»Gibt es denn später noch mal was zu essen?«, fragte Marcia.

»Außer dem Kuchen? Nein«, antwortete die Frau und schüttelte den Kopf. »Das ist alles für heute Abend. Eine {286 }Vorspeisenplatte.« Wieder lächelte sie verbindlich, als merkte sie die Verärgerung nicht, die ihre Bemerkung unter den Gästen ausgelöst hatte.

»Oh«, lenkte Lous Vater betont freundlich ein. »Dann lassen Sie das Tablett doch einfach hier stehen.«

»Das ganze Tablett?« Unsicher sah die Kellnerin ihn an und warf dann einen Blick über die Schulter, ob der Manager vielleicht in der Nähe war, um ihr zu helfen.

»Ja, meine Gäste sind sehr hungrig«, erklärte der Jubilar unbeirrt, nahm der Frau ohne weitere Umstände das Tablett aus der Hand und stellte es auf den großen Tisch. Alle, die schon auf Stühlen saßen, mussten nun allerdings aufstehen, um an die Häppchen zu kommen.

»Na gut, okay.« Hilflos sah die Bedienung zu, wie die Senioren sich über das Essen hermachten, und trat dann zögernd und tablettlos den Rückzug an.

»Haben Sie gerade etwas von einem Kuchen gesagt?«, rief Marcia ihr nach. Ihrer hohen, überschnappenden Stimme hörte man den Stress an.

»Ja.«

»Darf ich ihn mir bitte ansehen?«, fragte Marcia hastig und warf Lou einen entsetzten Blick zu. »Welche Farbe hat er? Womit ist er verziert? Sind Rosinen drin? Daddy hasst nämlich Rosinen«, hörte man ihre erregte Stimme noch, während sie mit der Kellnerin in Richtung Küche verschwand, ihren Notkarton fest im Arm.

»Also, wer hat Sie eigentlich eingeladen, Gabe?«, erkundigte sich Lou, als seine Schwester weg war. Er hatte absolut keine Lust, sich über Gabes Beförderung zu unterhalten. Er war so gereizt, dass er Gabe bei diesem Thema wahrscheinlich einmal quer durch den Raum geschleudert hätte.

»Ruth«, antwortete Gabe schlicht und nahm sich vorsichtig ein Kartoffelhäufchen.

»Ach ja? Fällt mir schwer, das zu glauben«, lachte Lou.

»Warum?«, gab Gabe achselzuckend zurück. »Sie hat mich an dem Abend eingeladen, als ich bei Ihrer Familie zum Abendessen war und bei Ihnen übernachtet habe.«

»Was soll das heißen?«, zeterte Lou kindisch und baute sich drohend vor ihm auf. »Sie waren nicht zum Essen eingeladen. Sie haben mich zu Hause abgesetzt und die Reste aufgemampft.«

Gabe sah ihn seltsam an. »Okay.«

»Wo ist Ruth überhaupt? Ich hab sie den ganzen Abend noch nicht gesehen.«

»Oh, wir haben uns die meiste Zeit auf dem Balkon unterhalten. Ich mag Ruth übrigens sehr gern«, antwortete Gabe. Ein bisschen Kartoffelpüree rutschte ihm aus dem Mundwinkel übers Kinn und landete auf seiner geborgten Krawatte. Lous Krawatte, genau genommen.

Lou biss die Zähne zusammen vor Wut. »Sie mögen Ruth sehr gern? Sie mögen meine Frau sehr gern? Na, das ist ja witzig, Gabe, denn ich mag meine Frau auch sehr gern. Wir beide haben so verdammt viel gemeinsam, nicht wahr?«

»Lou, vielleicht sollten Sie ein kleines bisschen leiser sprechen«, sagte Gabe mit einem nervösen Lächeln.

Lou sah sich um, lächelte in die neugierigen Gesichter der Umstehenden und legte Gabe dann den Arm um die Schulter, um zu demonstrieren, dass alles in Ordnung war und er sein Geschimpfe witzig meinte. Aber sobald die anderen wieder wegsahen, konfrontierte er Gabe erneut, und zwar ganz ohne Lächeln.

»Sie haben es also wirklich darauf abgesehen, mir mein Leben wegzunehmen, stimmt’s, Gabe?«

Gabe machte ein einigermaßen schockiertes Gesicht, aber er hatte keine Gelegenheit zu protestieren, denn in diesem Moment öffneten sich die Aufzugstüren, und heraus stolperten Alfred, Alison und noch ein paar Leute von der Weihnachtsfeier in Lous Firma. Obwohl gerade das Lieblingsweihnachtslied von Lous Vater aus den Lautsprechern dröhnte, schafften es die Neuankömmlinge mit ihren Weihnachtsmannkostümen und Partyhütchen sofort, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Gnadenlos bliesen sie jedem, der auch nur in ihre Richtung schaute, die mitgebrachten Tröten entgegen.

Lou ließ Gabe stehen, rannte die Stufen zum Aufzug empor und stellte sich Alfred in den Weg.

»Wir sind gekommen, um Paaaaaarty zu machen, mein Freund!«, verkündete Alfred und blökte Lou mit seiner Tröte ins Gesicht.

»Alfred, ihr seid hier nicht eingeladen«, erwiderte Lou laut.

»O doch, Alison hat mich eingeladen«, wieherte Alfred. »Und ich glaube, du weißt besser als wir alle, wie schwer es ist, eine Einladung von Alison abzulehnen.« Er grinste vielsagend. »Aber es macht mir nichts, zweite Wahl zu sein«, lachte er wieder, betrunken hin und her schwankend, aber dann wanderte sein Blick über Lous Schulter, und sein Gesicht veränderte sich plötzlich. »Hallo, Ruth! Wie geht es dir?«

Lou blieb beinahe das Herz stehen, als er sich umdrehte und Ruth direkt hinter sich stehen sah.

»Hallo, Alfred«, antwortete sie nur, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihren Ehemann unverwandt an.

Angespanntes Schweigen folgte.

»Tja, das ist peinlich«, sagte Alfred unsicher. »Ich glaube, dann schließe ich mich mal lieber den anderen Partygästen an und lasse euch zwei in Ruhe aufeinander losgehen.«

Er verschwand und ließ Lou mit Ruth allein. Der Schmerz in ihrem Gesicht war wie ein Dolch in seinem Herzen. Wut wäre ihm wesentlich lieber gewesen.

»Ruth«, sagte er. »Ich hab dich schon den ganzen Abend gesucht.«

»Wie ich sehe, hat sich inzwischen auch Alison, die Partyplanerin, zu uns gesellt«, erwiderte sie, und ihre Stimme zitterte, obwohl sie sich sichtlich anstrengte, ruhig zu bleiben.

Lou blickte sich über die Schulter zu Alison um, die in ihrem kurzen Kleid verführerisch mit einem Weihnachtsmann tanzte.

Ruth starrte ihm fragend ins Gesicht.

»Nein, es ist nichts passiert«, sagte er, und auf einmal hatte er keine Kraft mehr. Er wollte einfach nicht mehr der Mann sein, den sie so anschaute. »Hand aufs Herz, es ist nichts passiert. Sie hat heute Abend versucht, mich rumzukriegen, aber ich habe mich nicht darauf eingelassen.«

Mit einem bitteren Lachen erwiderte Ruth: »Dass sie es versucht hat, kann ich mir allerdings sehr gut vorstellen.«

»Aber ich schwöre, ich hab nichts getan.«

»Du hast nichts getan? Nie?« Aufmerksam musterte sie sein Gesicht, und man sah ihr an, dass sie sich hasste. Man sah ihr an, wie unangenehm ihr die ganze Situation war, und man sah auch ihre Wut darüber, dass sie ihm diese Fragen stellen musste.

Lou schluckte. Er wollte sie nicht verlieren, aber er konnte auch nicht mehr lügen. »Wir haben uns geküsst. Einmal. Das war alles. Nichts weiter.« Er redete immer {290 }schneller, seine Panik wuchs. »Jetzt bin ich anders, Ruth. Ich bin … «

Aber sie hörte nicht mehr zu, sondern wandte sich ab, um ihre Tränen vor ihm zu verbergen. Mit einer schnellen Bewegung riss sie die Balkontür auf, und ein Schwall kalter Luft schlug Lou entgegen. Der Balkon war leer, denn die Raucher waren damit beschäftigt, mit den winzigen Shepherd’s Pies ihren Hunger zu stillen.

»Ruth … « Er griff nach ihrem Arm, um sie wieder hereinzuziehen.

»Lou, lass mich los, ich bin ehrlich nicht in der Stimmung, mit dir zu diskutieren«, wehrte sie ihn wütend ab.

Also folgte er ihr schließlich auf den Balkon, und sie traten ein Stück von der Tür weg, damit sie von drinnen nicht gesehen werden konnten. Ruth lehnte sich an die Brüstung und blickte auf die Stadt hinaus, Lou trat dicht hinter sie, schlang die Arme um sie und weigerte sich, sie wieder loszulassen, obgleich ihr Körper bei seiner Berührung sofort wieder ganz steif wurde.

»Bitte hilf mir, das wieder hinzukriegen«, flüsterte er, den Tränen nahe. »Bitte, Ruth, hilf mir, das wieder hinzukriegen.«

Sie seufzte, aber ihre Wut war noch lange nicht verraucht. »Lou, was zum Teufel hast du dir bloß dabei gedacht? Haben wir dir nicht alle oft genug gesagt, wie wichtig dieser Abend ist?«

»Doch, ich weiß, ich weiß«, stotterte er, und seine Gedanken überschlugen sich. »Ich hab versucht, euch allen zu beweisen, dass ich … «

»Wag es ja nicht, mich noch mal anzulügen«, fiel sie ihm ins Wort. »Wag es nicht, mich anzulügen, nachdem du mich gebeten hast, dir zu helfen. Du hast überhaupt {291 }nichts zu beweisen versucht. Du hattest schlicht die Nase voll davon, dass Marcia dich dauernd anruft, du hattest die Nase voll davon, dass sie für deinen Vater alles ganz genau richtig machen wollte, du warst zu beschäftigt –«

»O bitte, ich muss das jetzt nicht alles noch mal hören«, unterbrach er sie, und jedes Wort von ihr traf ihn wie ein Migräneanfall.

»Doch, genau das musst du hören. Du warst zu beschäftigt mit deiner Arbeit, um auch nur einen Gedanken an deinen Vater oder an Marcia erübrigen zu können. Du hast eine wildfremde Frau die Geburtstagsfeier organisieren lassen, eine Frau, die nichts, aber auch gar nichts über die siebzig Jahre weiß, die dein Vater auf dieser Welt zugebracht hat. Diese Frau dort!« Sie deutete nach drinnen, wo Alison unter dem Tisch mit dem Schokoladenfondue gerade den Limbo tanzte und dabei ihre rote Spitzenunterwäsche für jeden zur Schau stellte, der gewillt war hinzusehen. »Eine kleine Schlampe, die du wahrscheinlich gevögelt hast, während du ihr die Gästeliste diktiert hast«, stieß sie hervor.

Lou konnte es sich verkneifen, Ruth zu erklären, dass Alison eine qualifizierte Hochschulabsolventin und abgesehen von Partyplanung eine durchaus kompetente Fachkraft war – ihr Verhalten eben im Büro und bei der Feier seines Vaters war nicht gerade dazu angetan, ihre Ehre zu retten.

»Nein, ich hatte nichts mit ihr, das schwöre ich. Ich weiß, ich hab alles verbockt, und es tut mir furchtbar leid.« Inzwischen hatte er sich schon richtig ans Entschuldigen gewöhnt.

»Und wofür das alles? Für eine Beförderung? Noch mehr Arbeitsstunden am Tag, noch mehr Zeit im Büro, als {292 }menschenmöglich ist? Wann reicht es endlich, wann hast du genug? Wie hoch willst du denn noch hinaus, Lou? Letzte Woche hast du gesagt, man kann nur aus dem Job gefeuert werden, nicht aus der Familie. Aber ich denke, allmählich müsste selbst dir klar sein, dass auch eine Familie nicht alles mitmacht.«

»Ruth.« Er schloss die Augen und wäre bereit gewesen, auf der Stelle vom Balkon zu springen, wenn sie nicht bei ihm bleiben wollte. »Bitte verlass mich nicht, Ruth.«

»Ich meine nicht mich«, entgegnete sie. »Ich meine die da drin.«

Er drehte sich um und sah seine Familie, die sich gerade den anderen Gästen angeschlossen hatte, um gemeinsam mit ihnen eine Polonaise zu tanzen, wobei selbst die Ältesten alle paar Schritte flott das Bein in die Höhe warfen. »Aber ich begleite Quentin doch morgen zur Regatta«, beteuerte er und sah sie hoffnungsvoll an.

»Ich dachte, Gabe wollte das machen«, entgegnete Ruth stattdessen etwas verwirrt. »Er hat es ihm vorhin angeboten, ich stand dabei. Und Quentin hat ja gesagt.«

Jetzt begann Lou vor Wut zu kochen. »Nein, das mache ich und kein anderer«, verkündete er wild entschlossen.

»Ach wirklich? Bevor du mit mir und den Kindern zum Schlittschuhlaufen gehst oder danach?«, fragte sie, machte auf dem Absatz kehrt und ließ ihn allein auf dem Balkon stehen und sich verfluchen, dass er sein Versprechen vergessen hatte.

Musik von drinnen drang nach draußen, und ein Schwall kalte Luft strömte in den Saal. Dann schloss die Tür sich wieder, aber Lou spürte, dass jemand hinter ihm stand. War Ruth doch nicht hineingegangen? Hatte sie ihn am Ende doch nicht stehenlassen?

»Was ich dir angetan habe, tut mir schrecklich leid, und ich möchte alles wiedergutmachen«, sagte er erschöpft. »Ich bin so müde. Aber ich möchte das, was ich falsch gemacht habe, in Ordnung bringen. Ich möchte allen sagen, dass es mir leidtut, und ich würde alles tun, damit sie das wissen und mir glauben. Bitte hilf mir, das hinzukriegen.«

Hätte Lou sich in diesem Augenblick umgedreht, hätte er gesehen, dass seine Frau tatsächlich nicht mehr da war – sie hatte sich in eine stille Ecke zurückgezogen und weinte, bitter enttäuscht von ihrem Mann, der sie doch noch vor wenigen Stunden in ihrem Schlafzimmer überzeugt hatte, dass er sich geändert hatte. Nein, es war Gabe, der auf den Balkon gekommen war, und es war Gabe, der nun Lous Geständnis hörte.

Gabe wusste, dass Lou Suffern am Ende seiner Kraft war. Jahrelang hatte er sich durch Minuten, Stunden und Tage gehetzt, so schnell, dass er irgendwann aufgehört hatte, das Leben zu spüren. Die Blicke, Gesten und Gefühle anderer Menschen hatten ihre Wichtigkeit für ihn verloren, er konnte sie nicht einmal mehr richtig sehen. Anfangs hatte Leidenschaft ihn vorangetrieben, doch in der Anstrengung, vorwärtszukommen und das zu erreichen, was er sich wünschte, war er über sein eigentliches Ziel weit hinausgeschossen. Immer war er in Eile gewesen, hatte sich nie eine Atempause gegönnt und war so in einen Rhythmus verfallen, dem sein Herz kaum nachkam.

Als Lou die kalte Dezemberluft einsog und sein Gesicht zum Himmel hob, um die eisigen Tröpfchen zu fühlen, die sanft auf seiner Haut landeten, wusste er, dass seine Seele dabei war, ihn zu sich zu holen.

Er konnte es spüren.