22 ’s ist die Zeit …

»Du kommst aber wirklich, ja, Lou?«, fragte Ruth und gab sich alle Mühe, die Panik aus ihrer Stimme zu verbannen. Sie wanderte barfuß im Zimmer umher, und das Geräusch ihrer nackten Fußsohlen auf dem Holzboden klang, als tapsten kleine Füßchen durchs Wasser. Ihre langen braunen Haare waren auf Lockenwickler gedreht, sie hatte ein Handtuch um sich geschlungen, und auf ihren Schultern schimmerten im Licht noch Wassertropfen vom Duschen.

Lou beobachtete die Frau, mit der er seit zehn Jahren verheiratet war, drehte den Kopf von rechts nach links und wieder zurück wie bei einem Tennismatch, um sie keinen Moment aus den Augen zu lassen. Sie hatten vor, mit zwei Autos zu unterschiedlichen Zeiten in die Stadt zu fahren: Lou zur Weihnachtsparty im Büro, Ruth zur Geburtstagsfeier seines Vaters, zu der auch er sich etwas später einfinden würde. Nach der Arbeit hatte Lou schnell geduscht und sich umgezogen, aber statt dann unten auf und ab zu wandern und ungeduldig auf seine Frau zu warten, hatte er sich heute lieber aufs Bett gelegt und schaute ihr beim Anziehen zu. So machte er ganz nebenbei die Erfahrung, dass Zuschauen wesentlich unterhaltsamer war als ungeduldiges Herumtigern. Gerade hatte sich sogar noch Lucy mit ihrer Kuscheldecke zu ihm gesellt. Sie kam frisch aus {254 }der Badewanne, hatte schon den Schlafanzug an und roch zum Anbeißen lecker nach Erdbeeren.

»Natürlich komme ich«, versicherte er und lächelte Ruth an.

»Es ist bloß, weil du das Haus eigentlich schon vor einer halben Stunde hättest verlassen müssen, und dadurch bist du jetzt schon von vornherein –«, erklärte sie im Vorbeilaufen und verschwand blitzschnell im begehbaren Wandschrank. Der Rest des Satzes verschwand mit ihr, dann drangen gedämpfte Laute ins Schlafzimmer heraus, aber die Worte blieben im Schrank stecken, auf Kleiderbügeln oder ordentlich zusammengefaltet auf den Regalen. Lou lehnte sich zurück, streckte die Arme über den Kopf und lachte laut.

»Sie redet so schnell«, flüsterte Lucy.

»Stimmt«, grinste Lou, streckte die Hand aus und strich seiner Tochter eine lose Haarsträhne hinters Ohr.

In diesem Moment erschien Ruth wieder, in Unterwäsche.

»Du siehst sehr schön aus«, sagte Lou lächelnd.

»Daddy!«, rief Lucy mit einem empörten Kichern. »Sie hat aber doch bloß Unterwäsche an!«

»Ja, aber sie sieht schön aus in Unterwäsche.« Er ließ Ruth nicht aus den Augen, während Lucy auf dem Bett herumrollte und sich vor Lachen über Lous komische Ansichten kaum halten konnte.

Ruth drehte sich um, warf ihm einen raschen Blick zu, und Lou sah, wie sie schluckte. Offenbar war sie solche Aufmerksamkeiten nicht mehr gewohnt. Vielleicht machte sie sich auch Sorgen, dass er versuchte, sein schlechtes Gewissen mit Komplimenten zu beruhigen. Vielleicht hatte sie Angst, sich Hoffnungen zu machen, weil es nur eine {255 }Vorbereitung auf die nächste Enttäuschung war. Für ein paar Augenblicke war sie im Bad verschwunden, dann kam sie wieder herein, immer noch in der Unterwäsche, und fing an, im Zimmer herumzuhüpfen.

Lucy und Lou lachten.

»Was machst du denn da?«, fragte Lou.

»Meine Bodylotion muss einziehen«, erklärte sie grinsend, ohne mit dem Gehüpfe aufzuhören. Lucy sprang auf und gesellte sich zu ihr, tanzte kichernd um sie herum, bis sie zu dem Schluss kam, dass ihre Mutter jetzt genug Creme getankt hatte, und sich wieder zu ihrem Vater aufs Bett kuschelte.

»Warum bist du eigentlich immer noch da?«, fragte Ruth leise. »Du willst doch Mr Patterson bestimmt nicht warten lassen.«

»Ach, hier hab ich aber viel mehr Spaß.«

»Lou«, lachte sie, »ich weiß es zwar sehr zu schätzen, dass du seit zehn Jahren zum ersten Mal nicht ständig auf dem Sprung bist, aber du musst wirklich gehen. Klar, du hast gesagt, du schaffst es, heute Abend da zu sein, aber … «

»Ich werde da sein!«, erwiderte er ein wenig eingeschnappt.

»Okay, aber bitte komm nicht zu spät«, beendete sie ihren Satz, während sie weiter im Zimmer herumwuselte. »Die meisten Gäste deines Vaters sind schon über siebzig, es könnte also sein, dass sie eingeschlafen oder schon nach Hause gegangen sind, wenn für dich der Abend gerade erst richtig anfängt.« Sie flitzte noch einmal in den begehbaren Wandschrank.

»Ich werde rechtzeitig da sein!«, wiederholte er, mehr zu sich selbst als zu ihr.

Er hörte, wie sie in den Fächern herumwühlte und Schubladen auf- und zuschob. Dann ertönte lautes Poltern und Rumoren, als hätte sie sich gestoßen oder etwas fallen lassen, und ein lautstarkes Fluchen folgte. Doch als Ruth wieder im Schlafzimmer auftauchte, trug sie ein elegantes schwarzes Cocktailkleid.

Normalerweise hätte Lou seiner Frau in einem solchen Fall ganz automatisch gesagt, dass sie schön war, und sie dabei kaum angeschaut. Derlei Komplimente gehörten zu seinem Pflichtprogramm, denn er ging davon aus, dass Ruth sie hören wollte. Wenn er die richtigen Worte fand, würden sie schneller das Haus verlassen können und sie würde nicht die ganze Fahrt im Auto herumzappeln. Aber heute Abend verschlug es ihm schlicht die Sprache. Ruth war wunderschön. Er hatte es immer gewusst, aber plötzlich fühlte er sich, als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben wirklich sehen. Warum passierte ihm das nicht jeden Tag? Völlig fasziniert rollte er sich auf den Bauch und stützte den Kopf auf die Hände. Lucy machte es ihm nach, und so betrachteten sie beide das Wunder, das sich Ruth nannte. Zehn Jahre lang gab Lous Frau diese Vorführung nun schon – und er war unten herumgetigert und hatte sie womöglich auch noch angeblafft.

»Und vergiss nicht«, sagte sie, während sie vorüberging und dabei den Reißverschluss im Rücken hochzog, »vergiss nicht, dass du deinem Vater eine Kreuzfahrt zum Geburtstag geschenkt hast.«

»Ich dachte, wir schenken ihm eine Mitgliedschaft im Golfclub.«

»Lou, dein Dad hasst Golf.«

»Ach wirklich?«

»Ja, Opa hasst Golf«, bestätigte Lucy.

»Er wollte immer mal nach St. Lucia – erinnerst du dich an die Geschichte von Douglas und Ann und wie sie die Reise auf der Müslipackung gewonnen haben?«

»Nein.« Lou runzelte die Stirn.

»Das Müsli-Gewinnspiel!« Ruth hielt mitten im Flug zum Schrank inne und starrte Lou entgeistert an.

»Ja, was ist damit?«

»Er erzählt die Geschichte doch dauernd, Lou! Wie Douglas bei diesem Gewinnspiel mitgemacht hat, das hinten auf der Müslipackung stand, und die Reise nach St. Lucia gewonnen hat … Klingelt da nicht was bei dir?« Sie musterte ihn aufmerksam und hielt Ausschau nach dem Aufblitzen eines Fünkchens Erinnerung.

Aber Lou schüttelte nur weiter den Kopf.

»Wow, wie konntest du das nicht mitkriegen?« Sie setzte ihren Weg zum Schrank fort. »Das ist seine Lieblingsgeschichte. Da wird er ganz sentimental.«

»Dad wird nicht sentimental«, entgegnete Lou lächelnd. »Dad wird nie sentimental.«

Ruth verschwand und erschien kurz darauf wieder, einen Schuh am Fuß, den andern unter dem Arm. Rauf, runter, runter, rauf, so hinkte sie quer durchs Zimmer zur Frisierkommode.

Lucy kicherte.

Nun war der Schmuck an der Reihe – Ohrringe, Armband –, und dann zog Ruth endlich auch den anderen Schuh unterm Arm hervor und schlüpfte hinein.

Lächelnd sah Lou ihr nach, während sie ins Badezimmer stöckelte.

»Oh«, rief sie mit lauter Stimme von drinnen. »Und wenn du mit Mary Walsh sprichst, dann erwähn bitte Patrick nicht.« Sie streckte den Kopf durch die Tür. Die {258 }Hälfte ihrer Haare war noch auf den Lockenwicklern, die andere fiel ihr bereits hübsch gelockt über die Schultern. Mit traurigem Gesicht fügte sie hinzu: »Er hat sie nämlich verlassen.«

»Okay«, nickte Lou und versuchte ernst zu bleiben.

Als Ruths Kopf wieder verschwunden war, stupste er Lucy an. »Patrick hat Mary Walsh verlassen«, sagte er. »Wusstest du das?«

Lucy schüttelte heftig den Kopf.

»Hast du ihm dazu geraten?«

Sie fing an zu lachen und schüttelte abermals den Kopf.

»Wer hat dann geahnt, dass es passieren würde?«

Lucy zuckte mit den Schultern. »Vielleicht Mary?«

»Vielleicht!« Lou lachte.

»Oh, und bitte frag Laura nicht, ob sie abgenommen hat«, ertönte erneut die mahnende Stimme aus dem Badezimmer. »Das machst du immer, und sie hasst das.«

»Ist doch nett, so was zu sagen.«

»Aber nicht zu einer Frau, die die letzten zehn Jahre kontinuierlich zugenommen hat, Schatz«, lachte Ruth. »Laura kriegt dann das Gefühl, dass du sie veräppeln willst.«

»Laura ist eine Dickmadam«, flüsterte Lou seiner Tochter zu, und sie warf sich lachend aufs Bett zurück.

Auf einmal bemerkte er, wie spät es war, und sonderbarerweise wurde ihm mulmig im Magen. »Okay, ich muss jetzt wirklich los. Bis morgen dann«, sagte er zu Lucy und küsste sie auf den Kopf.

»Ich mag dich jetzt viel lieber, Daddy«, verkündete sie fröhlich.

Lou erstarrte mitten im Aufstehen.

»Was hast du gerade gesagt?«

»Dass ich dich jetzt viel lieber mag«, lächelte sie und entblößte {259 }die Lücke in ihrer unteren Zahnreihe. »Ich, Mummy und Pud gehen morgen Schlittschuhlaufen. Kommst du auch mit?«

Noch ganz verdutzt von ihrer Bemerkung und ihren Auswirkungen auf ihn sagte er nur: »Ja. Klar.«

In diesem Augenblick kam Ruth in einer Parfümwolke wieder ins Zimmer geschwebt, die Haare in lockeren Wellen, wunderschön geschminkt. Lou konnte die Augen nicht von ihr abwenden.

»Mummy, Mummy!«, jubelte Lucy und hüpfte auf dem Bett auf und ab. »Daddy kommt morgen mit zum Schlittschuhlaufen.«

»Geh da runter, Lucy, du sollst doch nicht auf dem Bett hüpfen. Runter, bitte, Herzchen. Weißt du noch, wie ich dir erklärt habe, dass Daddy wahnsinnig viel zu tun hat und keine Zeit …?«

»Ich komme wirklich mit«, unterbrach Lou sie bestimmt.

Ruth blieb der Mund offen stehen. »Oh.«

»Ist das okay?«

»Ja, klar, ich dachte bloß … Ja. Absolut. Super.« Sie nickte und ging dann sichtlich verdutzt ins Bad. Leise schloss sich die Tür hinter ihr.

Er wartete fünf Minuten, mehr konnte er sich nicht leisten.

»Ruth?«, fragte er dann und klopfte leise an die Badezimmertür. »Ruth, ist alles in Ordnung bei dir?«

»Ja, alles klar.« Sie räusperte sich und setzte forscher, als sie es wahrscheinlich beabsichtigte, hinzu: »Ich musste mir nur … nur mal schnell die Nase putzen.« Zur Bekräftigung ertönte ein lautes Schnäuzen.

»Okay, wir sehen uns dann später«, rief er. Eigentlich {260 }wäre er am liebsten hineingegangen und hätte sie zum Abschied umarmt, aber er wusste, dass die Tür aufgegangen wäre, wenn Ruth es gewollt hätte.

»Okay«, antwortete sie nur, allerdings ein bisschen weniger forsch. »Wir sehen uns dann bei der Feier.«

Da die Tür immer noch nicht geöffnet wurde, wandte er sich zum Gehen.

 

In den Büros von Patterson Developments drängten sich Lou Sufferns Kollegen und Kolleginnen, alle ganz unterschiedlich und teilweise recht spärlich bekleidet. Anders als Lou, der nach der Arbeit nach Hause gefahren war, waren die meisten direkt in einen Pub gegangen und nun ins Büro zurückgekehrt, um weiterzufeiern. Ein paar Frauen erkannte er kaum, denn unter den üblichen Hosenanzügen und Kostümen hatte man nichts von den Körpern geahnt, die heute Abend in den entsprechenden Kleidern vorgeführt wurden – für die sie zum Teil leider gar nicht geschaffen waren. Der Alltagstrott der Firma war durchbrochen, es herrschte eine fast pubertäre Atmosphäre, in der sich alle ein bisschen darstellen wollten. An diesem Tag wurden Regeln gebrochen, man sagte, was man dachte – ein gefährliches Terrain für alle Beteiligten. Über fast jeder Tür hing ein Mistelzweig, und als Lou aus dem Aufzug trat, wurde er sofort von zwei Frauen geküsst, die sich dort strategisch günstig positioniert hatten.

Anzugjacketts wurden abgelegt, und darunter kamen allerlei phantasievolle Krawatten zum Vorschein, es gab reichlich Nikolausmützen und Rentiergeweihe, an Frauenund gelegentlich auch an Männerohren baumelte Weihnachtsschmuck. Da es sich bei den Anwesenden durchweg {261 }um hart arbeitende Menschen handelte, wurde nun ebenso kräftig gefeiert.

»Wo ist Mr Patterson?«, erkundigte sich Lou bei Alison, als er seine Sekretärin endlich fand – auf dem Schoß des fünften Weihnachtsmanns, den er bisher zu Gesicht bekommen hatte. Sie trug ein enganliegendes rotes Kleid, das jede einzelne Kurve ihres Körpers sichtbar machte. Lou zwang sich, nicht so genau hinzusehen.

»Und was wünschst du dir zu Weihnachten, mein Kleiner?«, dröhnte die Stimme unter dem Kostüm hervor.

»Oh, hi, James!«, antwortete Lou höflich.

»Er wünscht sich eine Beförderung«, rief jemand aus der Menge, und ein paar Lacher folgten.

»Nicht bloß eine Beförderung, er wünscht sich Cliffs Job«, ergänzte ein Rentiergeweih, und nun lachten alle.

Um seine Frustration und Verlegenheit zu verbergen, stimmte Lou in das Gelächter ein, aber als das Gespräch sich dann wieder einem anderen Thema zuwandte, verdrückte er sich unauffällig in der Menge und zog sich in sein Büro zurück. Kein Glitzer, keine Misteln. Während die Menge draußen »Grandma got run over by a Reindeer« sang beziehungsweise brüllte, stützte er den Kopf in die Hände und wartete auf Mr Patterson. Plötzlich wurde die Musik lauter, die Bürotür ging auf, dann wurde es wieder leiser, und die Tür schloss sich. Noch ehe er aufblickte, wusste er, wer hereingekommen war.

In der einen Hand ein Glas Rotwein, in der anderen einen Whisky, schwebte Alison, die Hüften in ihrem engen roten Kleid schwingend, auf ihn zu, und auf ihren hohen Plateauabsätzen schwankte sie so, dass der Wein ein paarmal über den Glasrand schwappte.

»Vorsicht!«, warnte Lou. Seine Augen folgten jeder ihrer {262 }Bewegungen, ohne dass er den Kopf drehte, gleichzeitig selbstbewusst und unsicher.

»Ist schon okay«, flötete sie, setzte das Glas auf dem Tisch ab und lutschte mit einer sinnlichen Geste den Wein von ihrem Daumen, während sie Lou verführerisch anlächelte. »Ich hab dir einen Whisky mitgebracht.« Sie gab ihm das Glas und schlängelte sich um den Schreibtisch herum zu ihm. »Prost.« Dann ließ sie ihr Glas gegen seines klimpern und nahm, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von ihm abzuwenden, einen Schluck.

Lou räusperte sich und schob seinen Stuhl zurück, weil er sich plötzlich beengt fühlte. Alison missverstand die Geste und rutschte mit dem Hintern am Schreibtisch entlang, bis sie direkt vor ihm stand. Ihre Brust befand sich auf seiner Augenhöhe, aber er zwang sich, zur Tür zu schauen. Die Lage war brisant. Es sah schlecht aus für Lou Suffern. Aber er fühlte sich verdammt gut.

»Wir hatten nie Gelegenheit, das zu Ende zu bringen, was wir neulich angefangen hatten«, lächelte sie. »Dabei reden doch alle davon, dass man über Weihnachten nichts Unerledigtes liegenlassen soll«, fügte sie mit leiser, sinnlicher Stimme hinzu. »Da dachte ich, vielleicht sollte ich mal nachsehen, ob ich dir helfen kann.«

Scheinbar unabsichtlich schubste sie ein paar Akten vom Tisch, die chaotisch auf dem Boden landeten.

»Uuups«, lächelte sie und ließ sich direkt vor ihm auf dem Schreibtisch nieder. Ihr kurzer roter Rock rutschte noch ein Stückchen höher und entblößte ihre langen, durchtrainierten, gebräunten Beine.

Schweißperlen bildeten sich auf Lous Stirn. Ihm ging alles Mögliche durch den Kopf. Er konnte aufstehen, das Zimmer verlassen und Mr Patterson suchen, oder er konnte {263 }hierbleiben. Zusammen mit Alison. Er hatte noch die beiden Pillen, die er vor dem Müllcontainer gefunden hatte, sorgsam in sein Taschentuch gewickelt. Er konnte also auch eine davon nehmen und beides tun. Wo lagen hier die Prioritäten? Mit Alison zusammen zu sein und zur Geburtstagsfeier seines Vaters zu gehen. Nein, Mr Patterson zu suchen und zur Geburtstagsfeier seines Vaters zu gehen. Beides gleichzeitig.

Alison streckte ihre langen Beine aus und zog Lous Stuhl mit dem Fuß näher an den Tisch heran. Rote Spitze lugte verlockend zwischen ihren Schenkeln hervor, sie rutschte behutsam an den Rand des Schreibtischs und schob das Kleid dabei noch höher. So hoch, dass Lou seine Augen nicht mehr abwenden konnte. Aber da waren doch die Tabletten: Er konnte bei Alison sein und gleichzeitig bei Ruth!

Ruth.

Alison nahm seinen Kopf zwischen die Hände. Lou fühlte die Acrylnägel. Das Tipptapp auf der Tastatur, das ihn wahnsinnig machte, tagein, tagaus. Da waren sie, auf seinem Gesicht, auf seiner Brust, bewegten sich auf seinem Körper nach unten. Lange Finger auf dem Stoff des Anzugs, der doch seine innere Würde widerspiegeln sollte.

»Ich bin verheiratet«, stotterte er, als die Hand mit den Acrylnägeln in der Leistengegend anlangte. Seine Stimme klang panisch, wie die eines Kindes. Schwach und leicht zu beeinflussen.

Alison warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Ich weiß«, gurrte sie, und ihre Hände gingen unermüdlich weiter auf Forschungsreise.

»Das war kein Witz«, entgegnete er fest, und Alison hielt abrupt inne und sah Lou an. Er erwiderte ihren Blick, und so starrten sie sich eine Weile an. Dann breitete sich ein {264 }Lächeln über Alisons Gesicht, aus dem Lächeln wurde ein Lachen, sie schüttelte sich geradezu und beugte sich zurück, bis ihre langen blonden Haare die Schreibtischplatte berührten.

»Ach Lou«, stöhnte sie und tupfte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln.

»Es ist wirklich kein Witz«, beharrte Lou, nun mit festerer Stimme, in der man tatsächlich Würde und Selbstbewusstsein erkennen konnte. Auf einmal klang er wie ein Mann.

Als Alison merkte, dass er nicht zu Scherzen aufgelegt war, verstummte ihr Lachen.

»Es ist wirklich kein Witz?«, wiederholte sie, zog eine Augenbraue hoch und blickte ihm direkt in die Augen. »Vielleicht kannst du ihr was vormachen, Lou, aber uns nicht.«

»Euch?«

Sie machte eine vage Handbewegung zur Tür hinter sich. »Uns. Alle. Egal.«

Lou schob seinen Stuhl vom Tisch weg.

»Oh, okay, soll ich ›uns‹ genauer definieren? Kein Problem: Gemma aus der Buchhaltung, Rebecca aus der Kantine, Caroline aus der Personalabteilung, Tracey – meine Vorgängerin –, und den Namen der Kinderfrau hab ich nicht rausgekriegt. Soll ich weitermachen?« Sie lächelte wieder, trank einen Schluck von ihrem Rotwein und musterte ihn. Ihre Augen tränten und waren gerötet, als würde der Wein direkt in ihre Augen fließen. »Erinnerst du dich noch an sie alle?«

»Das ist so … « Lou schluckte und hatte Schwierigkeiten beim Atmen. »Das ist schon so lange her. Ich habe mich geändert.«

»Das mit der Kinderfrau war gerade mal vor sechs Monaten«, entgegnete sie lachend. »Menschenskind, Lou, was meinst du, wie viel sich ein Mensch in einem halben Jahr ändern kann? Wenn überhaupt … «

Auf einmal wurde Lou schwindlig, ihm war übel. Panik ergriff ihn, und er fuhr sich mit der feuchten Hand durch die Haare. Was hatte er nur getan?

»Denk doch mal drüber nach«, meinte Alison und kam immer mehr in Fahrt. »Wenn du hier die Nummer zwei wirst, kannst du alle haben, die du willst – aber denk immer dran, dass ich die Erste war!« Sie lachte wieder, stellte das Weinglas weg, streckte erneut den Fuß aus und angelte nach seinem Stuhl. »Und wenn du mich mitnimmst, dann kann ich mich um alle deine Bedürfnisse kümmern.«

Sie nahm ihm das Whiskyglas aus der Hand und stellte es neben ihr Weinglas auf den Tisch. Dann griff sie nach seiner Hand, zerrte ihn hoch, und er gehorchte wie eine willenlose Gliederpuppe. Sie strich mit den Händen über seine Brust, packte ihn am Revers und zog ihn noch dichter zu sich. Doch kurz bevor ihre Lippen seine berührten, drehte er rasch den Kopf zur Seite, so dass sein Mund auf ihrem Ohr landete. Ganz leise flüsterte er: »Meine Ehe ist kein Witz, Alison, und meine Frau ist ein wunderbarer Mensch. Sie sollten hoffen, eines Tages zu werden wie sie.«

Damit zog er sich endgültig von ihr zurück und trat einen Schritt vom Schreibtisch weg.

Wie erstarrt blieb Alison auf der Tischplatte sitzen. Nur ihr Mund öffnete sich, und sie begann, mit der Hand an ihrem Rocksaum herumzuzupfen.

»Ja«, sagte Lou, während er ihr zuschaute. »Sie sollten sich lieber wieder richtig anziehen. Lassen Sie sich Zeit, um sich zu sammeln, aber bevor Sie gehen, legen Sie bitte die {266 }Akten, die vorhin heruntergefallen sind, wieder an ihren Platz zurück«, fuhr er ruhig fort.

Dann steckte er die Hände tief in die Taschen, damit sie nicht sehen konnte, wie er zitterte, verließ das Büro und marschierte mitten in eine Karaoke-Veranstaltung hinein, bei der Alex aus der Buchhaltung gerade »All I Want for Christmas« von Mariah Carey zum Besten gab. Überall wirbelten Papierschlangen durch die Luft, und betrunkene Frauen und bärtige Männer überhäuften Lou mit Küssen, während er sich einen Weg zum Aufzug zu bahnen versuchte.

»Ich muss gehen«, sagte Lou, zu niemandem im Besonderen. Ein paar Leute versuchten ihn zu packen und mit ihm zu tanzen, andere stellten sich ihm einfach in den Weg, rempelten ihn an und verschütteten dabei ihre Getränke. »Ich muss gehen«, sagte Lou immer wieder, jetzt schon etwas aggressiver. Sein Kopf dröhnte, ihm war übel, und er fühlte sich, als wäre er gerade im Körper eines anderen Menschen aufgewacht, der sein Leben an sich gerissen und auf den Kopf gestellt hatte. »Mein Dad wird heute siebzig, ich muss gehen«, wiederholte er, während er sich weiter durch die Menge kämpfte. Endlich erreichte er die Aufzüge, drückte den Rufknopf und wartete mit gesenktem Kopf.

»Lou!«, hörte er da jemanden seinen Namen rufen. Aber er drehte sich nicht um. »Lou! Ich muss mich kurz mit Ihnen unterhalten!« Ohne darauf zu reagieren, beobachtete Lou die Anzeigetafel, auf der immer höhere Stockwerknummern aufleuchteten, trat nervös von einem Fuß auf den anderen und hoffte, rechtzeitig in die Kabine zu gelangen, um der Stimme entfliehen zu können.

Da fühlte er eine Hand auf seiner Schulter.

»Lou, ich hab nach Ihnen gerufen!«, sagte eine freundliche Stimme.

Nun drehte Lou sich doch um. »Oh, Mr Patterson, hallo! Tut mir leid.« Er merkte selbst, wie gereizt er sich anhörte, aber er konnte nicht anders, er musste weg von hier. Er hatte Ruth versprochen, rechtzeitig bei der Geburtstagsfeier zu sein. Rasch drückte er auf den Knopf. »Ich hab’s ein bisschen eilig, mein Vater wird heute nämlich sieb–«

»Es dauert nicht lange, versprochen. Nur eine Minute.« Jetzt lag Mr Pattersons Hand auf seinem Arm.

»Okay.« Mit zusammengekniffenen Lippen wandte Lou sich ihm zu.

»Nun, ich habe eigentlich gehofft, wir könnten uns in meinem Büro unterhalten, wenn Sie nichts dagegen haben«, lächelte Mr Patterson. »Geht es Ihnen gut? Sie sehen ein bisschen mitgenommen aus.«

»Ja, mir geht’s gut, danke, ich bin nur, na ja, nur ein bisschen in Eile.« Aber er ließ sich von seinem Chef wegführen, in Pattersons Büro, wo sie auf den beiden alten Ledersofas im etwas informelleren Bereich des Raums Platz nahmen. Lous Stirn war schweißnass, er konnte es riechen und hoffte nur, dass Mr Patterson nichts davon merkte. Hastig griff er nach dem Glas Wasser, das vor ihm stand, führte es mit zitternder Hand an die Lippen und trank in großen Schlucken. Mr Patterson schaute ihm zu.

»Hätten Sie gern etwas Stärkeres, Lou?«

»Nein danke, Mr Patterson.«

»Nennen Sie mich doch Laurence, bitte.« Mr Patterson schüttelte den Kopf. »Ehrlich, Lou, ich komme mir vor wie ein Lehrer, wenn Sie immer so offiziell sind.«

»Entschuldigung, Mr Patter–«

»Na ja, ich genehmige mir trotzdem einen Drink.« Mr {268 }Patterson stand auf und ging zur Vitrine, wo er sich aus einer Kristallkaraffe einen Brandy einschenkte. »Wollen Sie wirklich nichts?«, wiederholte er sein Angebot. »Rémy XO«, erklärte er und schwenkte sein Glas verlockend durch die Luft.

»Okay, dann nehme ich auch ein bisschen«, gab Lou nach und entspannte sich etwas. Sein Drang, so schnell wie möglich zu der Feier auf der anderen Straßenseite zu gelangen, nahm ab.

»Gut.« Mr Patterson lächelte. »Also, Lou, dann sprechen wir doch einmal über Ihre Zukunft. Wie viel Zeit haben Sie denn für mich?«

Lou nahm einen kleinen Schluck von dem teuren Brandy und landete mit einem Ruck in diesem Raum, in der Gegenwart. Er zog die Manschette über seine Armbanduhr, damit die Zeit ihn nicht mehr ablenken konnte, und machte sich auf die große Beförderung gefasst, darauf, dass seine polierten Schuhe in Cliffs Fußstapfen treten würden – nicht wörtlich natürlich, nicht zu der Klinik, in der Cliff derzeit untergebracht war, sondern lediglich in das Büro mit dem Panoramablick über die Innenstadt von Dublin. Er atmete tief durch, ignorierte auch die Uhr an der Wand, die munter weitertickte, und versuchte, die Geburtstagsfeier seines Vaters ganz aus seinen Gedanken zu verbannen. Es würde sich auszahlen. Alle würden das verstehen. Bestimmt waren sie ohnehin viel zu sehr mit Feiern beschäftigt, um zu merken, dass er nicht da war.

»Ich habe so viel Zeit, wie wir brauchen«, antwortete Lou mit einem nervösen Lächeln und brachte die nach Aufmerksamkeit brüllende Stimme in sich entschlossen zum Schweigen.