17 Ein Rums in der Nacht

Um sieben an diesem Abend, als Lous Kollegen bereits vom Bürogebäude ausgespuckt und vom um sich greifenden Weihnachtswahn draußen verschlungen worden waren, blieb er selbst noch an seinem Schreibtisch sitzen, fühlte sich jedoch weniger wie der weltgewandte Geschäftsmann, sondern – obwohl er sich in all den Jahren so bemüht hatte, ihn zu vergessen und endgültig hinter sich zu lassen – eher wie Aloysius, der Schuljunge, der wieder einmal nachsitzen musste. Aloysius starrte mit der gleichen mangelnden Begeisterung auf die Akten, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, als würde er vor einem Teller mit Gemüse sitzen, das ihn allein kraft seiner grünen Existenz der Freiheit beraubte. Als klarwurde, dass sich die Videokonferenz unmöglich absagen und auch keinesfalls verschieben ließ, war Alfred zu Lou gekommen, hatte sich mit großen, scheinbar ehrlich enttäuschten Hundeaugen und mit der Energie eines Topstaubsaugers darum bemüht, sich von jedem Verdacht, er könnte an dem Terminchaos mitschuldig sein, zu befreien und Möglichkeiten zu finden, wie sie nun gemeinsam am besten mit der Situation zurechtkommen konnten. Da er so überzeugend war wie immer, hatte Lou irgendwann vergessen, was für ein Problem er mit Alfred gehabt hatte, und sich gefragt, warum er jemals überhaupt auf die Idee {178 }gekommen war, ihm Vorwürfe zu machen. Genau diesen Effekt hatte Alfred immer wieder auf andere Menschen – wie ein Bumerang, der durch den Dreck geschleift worden ist und trotzdem bereitwillig von den gleichen Händen wieder in Empfang genommen wird, die ihn anfangs hatten loswerden wollen.

Draußen war es schwarz und kalt. Autoschlangen verstopften Brücken und Kais, die Menschen waren auf dem Weg nach Hause und zählten die letzten Tage der Weihnachtshektik an den Fingern ab. Harry hatte ganz recht, es ging alles viel zu schnell, und die fieberhaften Vorbereitungen hatten inzwischen mehr Bedeutung als das Fest selbst. Lous Kopf dröhnte noch mehr als am Morgen – die Migräne hatte sich hinter dem linken Auge festgesetzt. Er musste die Schreibtischlampe wegdrehen, weil ihm das Licht weh tat, und konnte kaum noch denken, geschweige denn einen sinnvollen Satz bilden. So schlüpfte er schließlich in seinen Kaschmirmantel, wickelte sich den Schal um den Hals und verließ das Büro, um sich in der nächstgelegenen Apotheke Kopfschmerztabletten zu besorgen. Er wusste, dass ein großer Teil seines Zustands auf den Kater zurückzuführen war, aber er war auch überzeugt, dass er sich irgendetwas eingefangen hatte, denn er war schon die ganzen letzten Tage nicht richtig auf dem Damm gewesen. Desorganisiert, unsicher – Eigenschaften, die ihm sonst fremd und deshalb bestimmt einer Krankheit anzulasten waren.

Die Korridore waren dunkel; in den Privatbüros waren alle Lichter gelöscht, abgesehen von der schwachen Notbeleuchtung für die Sicherheitsleute, die regelmäßig ihre Runden machten. Lou drückte auf den Rufknopf bei den Aufzügen und wartete auf das Geräusch, mit dem die Seile in Aktion traten und die Kabine durch den Schacht {179 }zu ziehen begannen. Aber alles blieb still. Er drückte noch einmal auf den Knopf und schaute auf die Anzeige. Es leuchtete das E für Erdgeschoss, und nichts rührte sich. Er drückte noch einmal. Nichts geschah. Er drückte noch ein paarmal und wurde schließlich so wütend, dass er anfing, den unschuldigen Knopf mit Fausthieben zu traktieren. Das Ding war außer Betrieb. Typisch.

Nach einer Weile beruhigte er sich wieder und machte sich auf die Suche nach der Feuertreppe. Das Dröhnen in seinem Kopf hatte nicht nachgelassen. Bis zu seiner Konferenz blieben ihm noch dreißig Minuten, gerade genug Zeit, um die dreizehn Stockwerke hinunterzurennen, die Tabletten zu holen und mit ihnen wieder hinaufzuhasten. Er verließ den vertrauten Hauptkorridor, drängte sich durch ein paar Türen, die er nie richtig wahrgenommen hatte, und gelangte auf wesentlich schmalere Gänge, in denen es keinen Teppichboden mehr gab. Statt der dicken Türen aus Walnussholz und der Wandvertäfelung gab es weiße Farbe und Spanholzplatten, und die Büros waren nur noch so groß wie Abstellkammern. Statt der Gemälde, über deren künstlerische Bedeutung er sich jeden Tag seine Gedanken machte, säumten Faxgeräte und Kopierer die Gänge.

Schließlich bog er um eine Ecke, stutzte und fing dann leise an zu lachen, denn hier offenbarte sich ihm das Geheimnis von Gabes unglaublichem Arbeitstempo. Vor ihm befand sich ein Lastenaufzug, die schmale graue Kabine vom gespenstisch weißgrünen Licht einer langen Neonröhre erhellt. Lou trat hinein. Das Licht tat ihm in den Augen weh, aber ehe er sich die Knöpfe genauer anschauen konnte, schlossen sich auch schon die Türen, und der Aufzug bewegte sich rasant nach unten. Er fuhr etwa doppelt so {180 }schnell wie die regulären Personenaufzüge, und wieder war Lou sehr zufrieden, dass er durchschaut hatte, wie Gabe so schnell von einem Ort zum andern gelangte.

Während der Aufzug weiter nach unten fuhr, drückte Lou auf den Knopf für das Erdgeschoss, aber der weigerte sich aufzuleuchten. Er drückte noch ein paarmal, heftiger und heftiger, und beobachtete besorgt, wie das Licht von einer Stockwerkzahl zur nächsten wechselte. Zwölf, elf, zehn … Der Aufzug nahm immer mehr Tempo auf. Neun, acht, sieben … Von einem Abbremsen war nichts zu merken. Rasselnd fuhr die Kabine an den Seilen hinunter, und mit wachsender Angst und Erregung begann Lou auf alle Knöpfe zu drücken, die er finden konnte, einschließlich des Alarms. Ohne den geringsten Erfolg. Der Aufzug rauschte weiter durch den Schacht in die Tiefe, anscheinend nach seinem eigenen Plan.

Als ihn nur noch wenige Stockwerke vom Erdgeschoss trennten, trat Lou von der Tür zurück und kauerte sich vorsichtshalber in eine Ecke der Aufzugskabine. Dort ging er in die Hocke, steckte den Kopf zwischen die Knie und machte sich auf den Aufprall gefasst.

Kurz darauf wurde der Aufzug langsamer und blieb dann unvermittelt stehen. Die Kabine hüpfte ein paarmal am Ende des Seils und kam zitternd zur Ruhe. Als Lou seine fest zugekniffenen Augen öffnete, sah er, dass er im Keller gelandet war. Als hätte der Aufzug die ganze Zeit normal funktioniert, ertönte ein fröhliches »Pling«, und die Türen öffneten sich. Lou schauderte, denn der Keller vermittelte keineswegs die freundliche Vertrautheit des vierzehnten Stocks, an die er gewöhnt war. Nein, hier war es kalt und dunkel, kein Teppich, sondern staubiger, harter Betonboden. Er verspürte nicht die geringste Lust, hier auszusteigen, {181 }und drückte hektisch noch einmal auf den Erdgeschossknopf, um so schnell wie möglich zu Marmorboden und Teppichen, zu cremefarbenen Verzierungen und Chrom zurückzukehren. Aber der Knopf weigerte sich noch immer aufzuleuchten, der Aufzug reagierte nicht, und die Türen blieben offen. So blieb Lou schließlich nichts anderes übrig, als auszusteigen und die Feuertreppe zu suchen, die zum Erdgeschoss emporführte. Sobald er jedoch die Kabine verlassen hatte und mit beiden Füßen auf dem Betonboden stand, schlossen sich die Türen hinter ihm, und der Aufzug fuhr nach oben.

Der Keller war nur schwach beleuchtet. Am Ende des Korridors flackerte eine Neonröhre – an und aus, an und aus –, was seinen Kopfschmerzen ganz und gar nicht zusagte und ihn ein paarmal ins Stolpern brachte. Um ihn herum summten diverse Maschinen, an der unverkleideten Decke lagen die ganzen elektrischen Leitungen offen. Der Boden war kalt und hart unter seinen Lederschuhen, Wollmäuse stiegen auf und legten sich auf seine glänzendpolierten Schuhspitzen. Doch als er so den schmalen Gang entlangwanderte und den Ausgang suchte, hörte er auf einmal Musik. Allem Anschein nach kam sie aus einer Tür am Ende eines weiteren Ganges, der nach rechts abbog – »Driving Home for Christmas« von Chris Rea. In dem Gang auf der anderen Seite sah er über einer Metalltür das grüne Schild des Notausgangs leuchten: ein Mann, der aus einer Tür eilte. Unschlüssig schaute er zurück zu dem Raum am Ende der Halle, wo Musik und Licht durch den Ritz unter der Tür drangen. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Noch hatte er genug Zeit, zur Apotheke zu gehen und es rechtzeitig zur Videokonferenz zurück ins Büro zu schaffen – vorausgesetzt, der Aufzug funktionierte wieder. Schließlich {182 }gewann jedoch seine Neugier die Oberhand, er eilte die Halle hinunter und klopfte an die Tür. Weil die Musik so laut war, dass er sein eigenes Klopfen kaum hörte, öffnete er die Tür langsam und streckte den Kopf hinein.

Der Anblick, der sich ihm bot, verschlug ihm die Sprache.

Hinter der Tür befand sich ein kleiner Lagerraum mit hohen Metallregalen, die vom Boden bis zur Decke reichten und mit allem erdenklichen Kleinkram gefüllt waren, von Glühbirnen bis Klopapier. Dazwischen waren zwei Gänge, beide nicht länger als drei Meter. Insbesondere der zweite zog Lous Aufmerksamkeit auf sich, denn durch die Regale hindurch drang Licht, und als Lou näher herantrat, sah er, dass auf dem Boden ein ihm wohlbekannter Schlafsack ausgebreitet war, von der Wand bis zu der Stelle, wo das Regal anfing. Auf dem Schlafsack lag Gabe und las in einem Buch, so vertieft, dass er nicht einmal aufschaute, als Lou hereinkam. Auf dem unteren Regalbord stand eine Reihe brennender Kerzen, Duftkerzen, wie sie auch in den Toiletten der Büros zu finden waren, und eine kleine Lampe ohne Schirm, die in der Ecke des Raums ihr Licht verbreitete. Gabe war in die gleiche schmutzige Decke gewickelt, die Lou von draußen vor dem Gebäude kannte. Außerdem stand ein Wasserkocher auf dem Regal, und daneben lag eine halbleere Sandwichpackung. Weiter oben hing Gabes neuer Anzug, in der Plastikhülle, offenbar noch ungetragen. Der Anblick des makellosen Anzugs, der an einem Metallregal in einem Abstellraum hing, erinnerte Lou an die gute Stube seiner Großmutter – etwas Kostbares, das man sich für ganz besondere Gelegenheiten aufsparte, die nie eintraten oder wenn sie eintraten, nicht als solche erkannt wurden.

Schließlich schaute Gabe sich doch um und fuhr mit einem {183 }solchen Ruck hoch, dass ihm sein Buch aus der Hand flog. Zum Glück verfehlte es die Kerze.

»Lou!«, rief er erschrocken.

»Gabe«, antwortete Lou, ohne jedoch die Befriedigung zu empfinden, die er eigentlich erwartet hatte. Die Szenerie vor ihm war so traurig. Kein Wunder, dass dieser Mann jeden Morgen als Erster und jeden Abend als Letzter im Büro war. Dieser mit Ramsch vollgestopfte kleine Raum war Gabes Zuhause geworden.

»Wofür ist der Anzug?«, fragte Lou und betrachtete ihn von oben bis unten. Das elegante Kleidungsstück wirkte in dem staubigen Raum, zwischen all dem billigen Zeug, das abgelegt und irgendwann vergessen worden war, völlig fehl am Platz. Ein sauberer, teurer Anzug, das passte einfach nicht.

»Oh, man weiß doch nie, wann man mal einen guten Anzug braucht«, antwortete Gabe und beobachtete Lou argwöhnisch. »Werden Sie mich verraten?«, fragte er, klang allerdings nicht besorgt, sondern eher interessiert.

Lou sah ihn an und spürte Mitgefühl in sich aufsteigen. »Weiß Harry denn, dass Sie hier sind?«

Gabe schüttelte den Kopf.

Lou dachte nach. »Von mir erfährt keiner ein Wort.«

»Danke.«

»Hausen Sie schon die ganze Woche hier unten?«

Gabe nickte.

»Ist ziemlich kalt hier drin.«

»Ja, die Heizung geht aus, wenn alle weg sind.«

»Ich kann Ihnen ein paar Decken besorgen oder vielleicht ein … äh … ein Heizgerät, wenn Sie möchten«, sagte Lou und fühlte sich wie ein Idiot, kaum dass die Worte aus seinem Mund waren.

»Ja, danke, das wäre schön. Nehmen Sie doch Platz.« Gabe zeigte auf eine Kiste, die auf dem untersten Regalbord stand. »Bitte.«

Lou krempelte die Ärmel auf, bevor er die Kiste zu sich heranzog, denn er wollte sich nicht den Anzug schmutzig machen. Dann ließ er sich langsam darauf nieder.

»Möchten Sie einen Kaffee? Leider hab ich nur schwarzen, die Maschine für den Latte funktioniert nicht.«

»Nein danke, ich wollte mir eigentlich nur eine Packung Kopfschmerztabletten aus der Apotheke holen«, erwiderte Lou ernst, denn Gabes Anspielung war ihm in seiner Verwirrung völlig entgangen. »Vielen Dank, dass Sie mich gestern heimgefahren haben.«

»Gern geschehen.«

»Sie sind gut mit dem Porsche zurechtgekommen.« Lou sah Gabe fragend an. »Haben Sie vielleicht doch schon mal einen gefahren?«

»Na klar, ich hab einen hinterm Haus stehen«, antwortete Gabe und verdrehte die Augen.

»Ja, stimmt. Entschuldigung … Woher wussten Sie eigentlich, wo ich wohne?«

»Das hab ich geraten«, antwortete Gabe sarkastisch und schenkte sich einen Kaffee ein. »Ihr Haus war das einzige in der Straße mit einem geschmacklosen Tor. Der Vogel obendrauf! Also wirklich – ein Vogel?« Er schaute Lou an, als würde sich schon bei der Vorstellung eines metallenen Vogels ein schlechter Geruch im Raum ausbreiten, was ohne die Duftkerzen vielleicht sogar der Fall gewesen wäre.

»Das ist ein Adler«, verteidigte sich Lou. »Wissen Sie, letzte Nacht war … « Er hatte den Impuls, sich zu rechtfertigen oder sein Verhalten zumindest zu erklären, aber dann {185 }überlegte er es sich anders, denn er war nicht in Stimmung, für irgendetwas Rede und Antwort zu stehen, schon gar nicht vor diesem Gabe, der in einem Abstellraum im Keller auf dem Boden schlief und sich trotzdem erdreistete, auf ihn herabzuschauen. »Warum haben Sie Ruth gesagt, sie soll mich bis zehn schlafen lassen?«

Gabe fixierte ihn mit seinen blauen Augen, und obwohl Lou ein sechsstelliges Jahreseinkommen und ein Haus für mehrere Millionen in einem der besten Stadtteile von Dublin sein Eigen nannte, während Gabe praktisch gar nichts besaß, fühlte Lou sich ihm schon wieder unterlegen. Und so, als würde er beurteilt.

»Ich dachte, Sie könnten ein bisschen Ruhe brauchen«, antwortete Gabe.

»Was gibt Ihnen das Recht, das zu entscheiden?«

Gabe antwortete nicht, sondern lächelte einfach nur.

»Was ist denn so komisch?«

»Sie mögen mich nicht besonders, stimmt’s, Lou?«

Tja, das war direkt. Treffend, kein langes Herumgerede, und so etwas wusste Lou immer zu schätzen.

»Ich würde nicht sagen, dass ich Sie nicht mag«, entgegnete er.

»Meine Anwesenheit in diesem Gebäude beunruhigt Sie?«, vermutete Gabe.

»Beunruhigt mich? Nein. Sie können schlafen, wo Sie mögen. Das stört mich nicht.«

»Nein, das meine ich nicht. Bin ich eine Bedrohung für Sie, Lou?«

Lou warf den Kopf zurück und lachte. Natürlich wusste er, dass das Lachen übertrieben und unecht wirkte, aber das war ihm in diesem Augenblick egal. Und es hatte den gewünschten Erfolg, füllte den Raum, hallte durch die {186 }kleine Betonzelle mit den offenen Leitungen an der Decke, so dass sich Lous pure Anwesenheit größer anhörte als der Platz, den Gabe zur Verfügung hatte. »Ob Sie mich einschüchtern? Na ja, lassen Sie mich überlegen … « Mit einer ausladenden Geste deutete er auf das Kellerkabuff. »Muss ich wirklich mehr dazu sagen?«, antwortete er pompös.

»Oh, verstehe«, sagte Gabe mit einem breiten Grinsen, als hätte er gerade die Millionenfrage in einem Quiz richtig beantwortet. »Ich besitze weniger Dinge als Sie. Ich hatte ganz vergessen, dass das für Sie so wichtig ist.« Dann lachte er leise und knackte mit den Fingergelenken. Lou fühlte sich plötzlich sehr dumm.

»Nein, materielle Dinge sind gar nicht besonders wichtig für mich«, verteidigte er sich schwach. »Ich spende für mehrere Hilfsorganisationen und gebe dauernd irgendwelche Sachen her.«

»Ja«, bestätigte Gabe mit einem feierlichen Nicken. »Sogar Ihr Wort.«

»Was meinen Sie denn jetzt damit?«

»Sie versprechen irgendwas, ohne die Absicht zu haben, Ihr Versprechen zu halten.« Mit raschen Bewegungen stand Gabe auf und fing an, in einer Schuhschachtel auf dem zweiten Bord zu wühlen. »Macht Ihr Kopf Ihnen immer noch zu schaffen?«

Lou nickte und rieb sich müde die Augen.

»Hier.« Gabe hörte auf zu wühlen und hielt einen kleinen Pillenbehälter in die Höhe. »Sie fragen sich doch immer, wie ich von einem Ort zum anderen komme? Dann probieren Sie mal eine von denen hier.« Er warf Lou das Döschen zu.

Lou betrachtete es eingehend. Es hatte kein Etikett.

»Was sind das für Tabletten?«

»Ein bisschen Zauberei«, lachte Gabe. »Wenn man sie schluckt, sieht man plötzlich alles ganz klar.«

»Ich nehme keine Drogen«, sagte Lou bestimmt und legte die Pillen aufs Fußende des Schlafsacks.

»Das sind doch keine Drogen«, entgegnete Gabe und verdrehte die Augen.

»Was denn dann?«

»Ich kann es Ihnen nicht genau erklären, ich bin ja kein Apotheker, ich weiß nur, dass sie wirken. Nehmen Sie sie einfach.«

»Nein, danke«, beharrte Lou, stand auf und wandte sich zum Gehen.

»Die würden Ihnen aber wirklich helfen, Lou.«

»Wer sagt denn, dass ich Hilfe brauche?« Lou drehte sich um. »Wissen Sie was, Gabe, Sie haben vorhin vermutet, dass ich Sie nicht mag. Aber das stimmt nicht, Sie stören mich überhaupt nicht. Ich bin ein vielbeschäftigter Mensch, und was Sie machen, kümmert mich wenig, aber genau das ist es, was mir an Ihnen nicht gefällt – herablassende Bemerkungen wie die jetzt. Mir geht es gut, vielen Dank. Mein Leben ist vollkommen okay. Ich habe Kopfschmerzen, weiter nichts. Alles klar?«

Gabe nickte einfach nur, während Lou sich abwandte und zur Tür ging.

Doch da sagte Gabe: »Leute wie Sie sind –«

Lou wirbelte zu ihm herum. »Leute wie ich sind was, Gabe?«, blaffte er los, bevor Gabe seinen Satz vollenden konnte, bei jedem Wort ein wenig lauter. »Leute wie ich sind wie? Arbeiten sie vielleicht viel? Sorgen sie für ihre Familie? Sitzen sie nicht den ganzen Tag auf dem Arsch und warten, dass jemand vorbeikommt und ihnen etwas schenkt? Leute wie ich helfen Leuten wie Ihnen, geben {188 }euch Jobs, auch wenn es nicht einfach ist, und machen euer Leben besser … «

Hätte Lou das Ende von Gabes Satz abgewartet, hätte er gewusst, dass Gabe auf etwas ganz anderes hinauswollte. Gabe meinte Leute, die auf Konkurrenz aus waren – wie Lou. Ehrgeizige Leute, die nur Augen hatten für den Gewinn, nicht aber für die Aufgabe, die vor ihnen lag. Leute, die aus den falschen Gründen die Besten sein wollten und denen fast jedes Mittel recht war, um an die Spitze zu gelangen. Doch egal, ob man der Beste, der Schlechteste oder einfach nur Mittelmaß war, es lief am Ende immer aufs Gleiche hinaus – es war alles nur ein Zustand. Wichtig war, wie ein Mensch sich in diesem Zustand fühlte und warum er sich dort befand.

Gabe wollte Lou erklären, dass Menschen wie er sich ständig umschauten, um zu kontrollieren, was die anderen taten. Dass Menschen wie er sich unablässig mit anderen verglichen, dass sie um jeden Preis etwas Größeres erreichen, besser sein wollten. Und der Grund, warum Gabe Lou Suffern etwas über Menschen wie Lou Suffern erzählen wollte, war der, dass er ihn warnen wollte. Weil Menschen, die sich dauernd umschauen, dazu neigen, Dinge nicht zu sehen und einfach umzurennen.

Der Weg wird so viel einfacher, wenn Menschen aufhören, darauf zu schielen, was die anderen tun, und sich stattdessen auf sich selbst konzentrieren. Lou konnte es sich ungefähr an dieser Stelle seiner Geschichte nicht wirklich leisten, Dinge umzurennen. Denn dann wäre das Ende ruiniert gewesen – das Ende, zu dem wir noch kommen werden. O ja, Lou hatte eine Menge zu tun.

Aber er blieb nicht, um sich anzuhören, was Gabe ihm zu sagen hatte. Stattdessen verließ er die Rumpelkammer – {189 }Gabes Zimmer – mit einem Kopfschütteln, empört darüber, was dieser Mann sich wieder einmal herausgenommen hatte, und ging den Korridor mit dem flackernden Neonlicht, das die Umgebung abwechselnd hell und dunkel erscheinen ließ, wieder hinunter. Er fand den Ausgang und rannte die Treppe hinauf ins Erdgeschoss.

Dort war es sofort cremefarben und warm, und Lou befand sich wieder in dem Bereich, in dem er sich sicher fühlte. Der Sicherheitsmann blickte von seinem Schreibtisch auf, als Lou aus dem Notausgang kam, und runzelte die Stirn.

»Mit den Aufzügen stimmt irgendwas nicht«, rief Lou ihm zu. Jetzt blieb ihm keine Zeit mehr, zur Apotheke zu laufen und rechtzeitig zur Konferenz wieder oben in seinem Büro zu sein, sondern er musste wohl oder übel gleich wieder hinauf, egal, wie lädiert er aussah, egal, wie krank er sich fühlte, mit heißem, matschigem Kopf und Gabes lächerlichem Geschwätz in den Ohren.

»Davon wusste ich gar nichts.« Der Sicherheitsmann eilte herbei und drückte auf den Rufknopf. Der leuchtete augenblicklich auf, und die Tür öffnete sich.

Der Mann sah Lou seltsam an.

»Oh. Na dann. Danke.« Lou stieg in den Aufzug und drückte auf den vierzehnten Stock. Allein in der Kabine, lehnte er den Kopf an den Spiegel, schloss die Augen und träumte, zu Hause im Bett zu sein, zusammen mit Ruth, die sich gemütlich an ihn kuschelte, einen Arm und ein Bein um ihn geschlungen, wie sie es im Schlaf immer tat – beziehungsweise getan hatte.

Als der Aufzugston im vierzehnten Stock erklang und die Tür sich öffnete, machte Lou die Augen wieder auf, fuhr heftig zusammen und stieß einen Schrei aus.

Direkt vor ihm stand Gabe im Korridor, mit ernstem Gesicht und so dicht, dass ihre Nasen sich fast berührten, als die Tür aufging. Er klapperte mit dem Pillendöschen, das er Lou vorhin angeboten hatte.

»Scheiße! Gabe!«

»Die haben Sie vergessen.«

»Die hab ich nicht vergessen, ich wollte sie nicht.«

»Aber sie helfen gegen Ihre Kopfschmerzen.«

Lou nahm Gabe die Tabletten aus der Hand und stopfte sie in seine Hosentasche.

»Viel Vergnügen«, sagte Gabe und lächelte zufrieden.

»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich mit Drogen nichts am Hut habe.« Lou sprach leise, obwohl er wusste, dass er mit Gabe allein war.

»Und ich hab Ihnen gesagt, dass das keine Drogen sind. Sondern ein pflanzliches Heilmittel.«

»Ein Heilmittel wofür genau?«

»Für Ihre Probleme, und von denen haben Sie eine ganze Menge. Ich glaube, ich habe sie vor kurzem für Sie aufgelistet.«

»Und das von einem, der in einem Kellerraum auf dem Boden schläft«, zischte Lou. »Wie wäre es, wenn Sie selber mal eine Pille schlucken und sich daranmachen, Ihr eigenes Leben auf die Reihe zu kriegen? Oder waren es vielleicht genau diese Pillen, die Sie in diese unangenehme Lage gebracht haben? Wissen Sie was – ich hab die Nase voll davon, dass Sie ständig Urteile über mich fällen, Gabe, wo ich hier oben bin und Sie dort unten im Keller.«

Gabes Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck an, und augenblicklich bekam Lou ein schlechtes Gewissen. »Sorry«, seufzte er.

Aber Gabe nickte einfach nur.

Da sein Kopf immer schlimmer dröhnte, betrachtete Lou die Tabletten nun doch etwas genauer. »Aus welchem Grund sollte ich Ihnen vertrauen?«

»Betrachten Sie es einfach als Geschenk«, wiederholte Gabe den Satz, den Lou ihm erst vor ein paar Tagen gesagt hatte.

Zusammen mit dem Geschenk bekam Lou Suffern eine heftige Gänsehaut.