Drei Uhr nachmittags
Als O’Kane die vier Männer in der
Seitenstraße hinter Menhoffs Kneipe stehen sah, dachte er sich
zunächst gar nichts – dort standen immer Leute, hockten im Dunkeln
herum und verbreiteten Halbwahrheiten und glatte Lügen, während sie
eine Flasche mit dem Fusel kreisen ließen, den Cody schwarz
verhökerte. Er war nicht einmal besonders überrascht, unter ihnen
Giovannellas Vater Baldy Dimucci zu erkennen und ihren Bruder
Pietro, das Würstchen, mit dem er vor einem halben Leben die kleine
Meinungsverschiedenheit auf der Einfahrt von Riven Rock ausgetragen
hatte. Pietro war inzwischen Mitte Vierzig, und es war immer noch
nicht viel mehr an ihm dran als vor zwanzig Jahren – er war mager
wie ein Huhn, nicht so dunkel wie Giovannella, aber mit denselben
glänzenden Haaren und unermeßlich tiefen Augen. O’Kane war ihm
während all der Jahre oft über den Weg gelaufen – auf der State
Street, in Montecito, vor dem Haus der Dimuccis, wenn es regnete
und Roscoe Giovannella im Wagen heimbrachte, bevor er ihn und Mart
in die Stadt fuhr – und obwohl er nicht hätte sagen können, daß er
den Mann mochte, bestand zwischen ihnen keinerlei Feindschaft,
nicht daß er gewußt hätte. Normalerweise wechselten sie ein paar
Worte, meist von der Art Hallo-Wie-geht’s?-Danke-gut, und gingen
ihren Geschäften nach. Doch hier stand er, in der dunklen Gasse mit
seinem Vater und zwei anderen Kerlen, kräftigen Kerlen, wie O’Kane
nun sah, zwei stämmigen Kerlen, die jeder einen Axtstiel in der
großen, verschwitzten Hand hielten.
O’Kane hatte mit dem Filmvorführer aus Granada
gesoffen, die ganze Nacht hatte er durchgesoffen, und seine kleine
Auseinandersetzung mit Giovannella war so lange her – über ein Jahr
inzwischen –, daß er sie völlig vergessen hatte. Bis jetzt
jedenfalls. »Hallo, Baldy«, sagte er, aber seine Beine brachten
nicht recht den Willen auf, ihn an dieser kleinen
Itaker-Schwatzrunde vorbeizuführen. »Schöner Abend«, setzte er
unsicher hinzu.
Baldy war jetzt ein alter Mann mit Schmerbauch
und einem Saum aus weißem Haar, das ihm vom Schädel abstand wie ein
Strahlenkranz aus Federn. »Du bist schlechter Mann, Eddie«, sagte
er. »Du bist sehr schlechter Mann.«
O’Kane wollte es abstreiten, wollte scherzen
und witzeln und dem Alten das Haar vom Kopf herunterschwatzen, aber
er war betrunken und wußte, was ihm bevorstand. Er wußte es, aber
irgendwie konnte er nicht die Energie aufbringen, sich davor zu
fürchten.
»Du hast meine Tochter weh getan, Eddie, und du
wirst dafür jetzt bezahlen.«
In diesem Moment traten die beiden Schläger mit
den Axtstielen vor und begannen, auf den kraftlosen, schwankenden
Baum einzuschlagen, der Eddie O’Kane war. Er ging nach den ersten
Hieben zu Boden, und dort blieb er liegen, schützte den Kopf mit
den Armen, auch als das harte Eichenholz seine Rippen, seine Knie
und die harte kleine Knochenfaust an der Basis seiner Wirbelsäule
traf. Als letztes erinnerte er sich an Pietros Flüche und an den
weichen, feuchten Kuß von Speichel auf seiner Wange.
Er erwachte am Ende seines ersten Tages
im Krankenhaus, zum Geruch nach warmem Essen, dem Geratter eines
Rollwagens, auf der Zimmerdecke das tanzende Licht der Sonne, die
gerade unterging. Auf dem Tisch neben ihm standen Blumen – sie
stammten, wie er bald erfuhr, von Katherine, der Eisprinzessin,
persönlich –, und er war in einem Zimmer mit zwei Betten. Er
verspürte wenig Neugier zu erfahren, wer in dem anderen lag – sein
Kopf schmerzte zu sehr –, aber später, als die Flut der Schwestern
verebbt war, sah er, daß es ein Kind war, ein kleiner Junge, am
ganzen Körper einbandagiert wie Tut-ench-amun und mit einem Bein in
Gips, das an einem Haken über dem Bett aufgehängt war. Und da
begann O’Kane, Vermutungen über das Ausmaß der Schäden am eigenen
Leib anzustellen, und er fuhr sich widerwillig mit der Hand – der
linken Hand, denn die rechte war fest an den Brustkorb geschnürt –
die eine Seite des Rippenbogens hinab und dann die andere wieder
hinauf. Er fühlte sich beengt und eingequetscht, so als könnte er
kaum Luft holen und sich die Lungen füllen, und da wußte er, daß
auch er vollkommen einbandagiert war, und er überdachte das auf
vage, distanzierte Weise – die Rippen, sie hatten ihm wohl die
Rippen gebrochen –, und dann rannte er im Traum durch die Straßen
des North End, in der Hand das Täschchen einer Dame und eine Horde
von Menschen, die ihm nachjagten, und war da nicht Mr. McCormick
unter ihnen?
Als er am nächsten Morgen erwachte, stand ein
Arzt an seinem Bett, jedenfalls sah er aus wie ein Arzt, mit weißem
Mantel, Schreibblock und Standardlächeln. »Wie fühlen Sie
sich?«
»Ziemlich durcheinandergerührt«, brachte O’Kane
heraus und versuchte den Kopf zu heben, was aber nicht ging. »Wie
drei Eier in der Pfanne.«
»Könnte schlimmer sein.« Das Lächeln des Arztes
war von schauriger Beschwingtheit. »Sie werden wieder gehen können
– in drei bis sechs Monaten –, aber Sie dürften wohl für den Rest
Ihres Lebens leicht hinken. Ihre rechte Kniescheibe ist
zerschmettert, unmittelbar darüber haben Sie einen winzigen Haarriß
im Oberschenkelknochen, außerdem eine offene Fraktur der Tibia –
des Schienbeins. Dann haben sie rechts drei Rippenbrüche, eine
Handgelenksfraktur – ebenfalls rechts –, und ach ja, wie Sie
bemerkt haben werden, ist Ihr Arm in Gips. Die rechte Ulna ist
gebrochen – Ihr Ellenbogen.« Er hielt inne. »Haben Sie irgendeine
Erinnerung an den Vorfall? Daran, wer die Angreifer waren, zum
Beispiel? Die Polizei möchte wissen, ob Sie eine Beschreibung geben
können.«
O’Kane sah in das starre Lächeln und versuchte
selbst eins, es wurde jedoch nur ein mattes, flüchtiges Grinsen.
»Nein«, sagte er, »ich erinnere mich an gar nichts.«
Am nächsten Tag rollten sie sein Bett zur Tür
hinaus und den langen Korridor entlang ins Aufnahmezimmer: Mr.
McCormick war am Telephon. »Hallo? Ed-Eddie? Sind Sie in – geht es
Ihnen gut?«
»Sicher«, sagte O’Kane. »Ich werde schon bald
wieder herumhüpfen.«
Mr. McCormicks Stimme klang schrill und
aufgeregt, sie blieb an den Konsonanten hängen und verschliff die
Vokale. »Ich w-wünschte, ich wäre dabeigewesen, bei Ihnen, um – um
zu kämpfen, meine ich. Ich hätte denen eine verpaßt, daß sie noch
lange daran denken würden, das wissen Sie...«
O’Kane fühlte sich elend und zerbrochen, er war
gestraft worden für seine Sünden, bemühte sich aber dennoch, ihn zu
beschwichtigen – schließlich war das seine Aufgabe. »Das weiß ich.
Aber machen Sie sich keine Sorgen, gar keine Sorgen.«
Pause. Dann Mr. McCormicks Stimme, fast
unhörbar leise und gepreßt: »Sie kommen doch zurück, Eddie? Zurück
zu m-mir und Mart?«
Was sollte er sagen? Natürlich würde er
zurückkommen, wie ein Sträfling jedesmal zu seiner Eisenkette
zurückkehrt, wenn er den Fuß vom Boden zu heben versucht. Es war
traurig, und noch trauriger war es, sich das einzugestehen, aber
Mr. McCormick war sein Leben. »Klar«, sagte er, »ich komme
zurück.«
Am dritten Tag tauchte Giovannella auf. Er
döste gerade ein wenig, genoß das Hin- und Hergleiten zwischen
Schlafen und Wachen, während die Mutter des Jungen im Nachbarbett
mit beruhigender, leiser, einschmeichelnder Stimme aus einem
Kinderbuch vorlas: »Um elf Uhr hatte Pu immer gerne einen Happen zu
essen, deshalb freute er sich, als Kaninchen Tassen und Teller auf
den Tisch stellte...«
»Eddie?«
Die Geschichte stockte kurz, ein winziges
Steinchen hatte sich in den Pfad dieser weichen, vorwärtsdrängenden
Stimme gelegt, dann nahm sie den Faden wieder auf: »... und als es
fragte: ›Willst du lieber Honig oder süße Sahne aufs Brot?‹, da
wurde er so aufgeregt, daß er ›beides‹ sagte...«
»Eddie?«
Er öffnete die Augen. Da war die Zimmerdecke,
genau wo er sie vorhin gesehen hatte, dann ein Aufblitzen der
blonden, über die Schulter gekämmten Mähne der Mutter des Jungen,
und schließlich: Giovannella. Ihr Gesicht schwebte über ihm, sie
blickte besorgt drein, ihre Haarspitzen waren ihm so nahe, daß er
das Shampoo riechen konnte, das sie am Morgen benutzt hatte. Er
lächelte, eines der Lächeln, für das seine Mutter keinen Namen
hatte, weil es spontan und aufrichtig war: Wie konnte er
Giovannella etwas vorwerfen? Sie hatte ihn provoziert, das stimmte,
aber er hatte nicht das Recht gehabt, sie zu schlagen, niemals, und
er hatte es schon seit Jahren verdient, seine Schuld war immer mehr
angewachsen.
»Ich hab mit meinem Vater gesprochen«, sagte
sie, und er betrachtete ihre Augen und ihre unberingten Finger, als
sie sich das Haar hinter die Ohren steckte. Es war Januar 1929, und
sie war achtunddreißig Jahre alt, vollbusig in einer weißen Bluse
und einem gelben Pullover darüber, ihr Gesicht wurde mit jedem Tag
runder, und sie bekam ein kleines Doppelkinn. »Es wird eine kleine
Hochzeit werden, nur die Dimuccis und die Fiocollas, und vielleicht
Mart, Pat und Nick, wenn du willst – aber in der Kirche, in Weiß
und mit Reisstreuen und allem was dazugehört.«
Er wußte nichts zu sagen, aber er spürte es,
spürte das tiefe Sehnen in seinem Inneren, unter den sechzig Metern
Verbandsmull, dem Klebeband, dem steinharten Gips und der Haut, die
so zart und nachgiebig war wie... wie die einer Braut. Oder
vielmehr: die eines Bräutigams. Er würde Giovannella heiraten, als
Ehebrecher und Bigamist, und so seine beiden noch lebenden Kinder
legitimieren: Guido mit den breiten Schultern der O’Kanes und
Edwina mit den grünen Augen in ihrem süßen Vanillegesicht, und das
war es, worauf er sein ganzes Leben lang gewartet hatte: sein
Drei-Uhr-Glück. Es war nicht Geld oder ein Orangenhain oder eine
Flotte von Automobilen, sondern diese Frau, die sich in einem
Augenblick der Gnade und Intensität über ihn beugte, und die
Kinder, die hinter den Kulissen warteten. In Ordnung. Gut so. Er
war bereit. Er versuchte zu nicken und zuckte vor Schmerz.
Giovannella lächelte ihn jetzt an, zeigte ihm
ihre kräftigen weißen Zähne, die üppigen Lippen, die feinen
Härchen, die sich über ihre Schläfe bis hinab zu dem Grübchen am
Unterkiefer zogen. »Sobald du wieder gehen kannst, natürlich«,
sagte sie, und ihre Stimme klang mindestens ebenso honigsüß und
beruhigend und einlullend wie die der Mutter auf dem Stuhl daneben.
»Wir unternehmen gar nichts, ehe du nicht wieder gehen kannst.
Okay, Eddie?« Er fühlte den sanften Druck ihrer Hand auf seinem
Arm.
»Okay«, sagte er.
Die Hochzeit war im April, an einem
schönen blaugeschliffenen Tag, an dem jede Blume der Schöpfung
rings herum erblühte, und nach der Zeremonie in der Kirche von Our
Lady of the Sorrows kletterten O’Kane und Giovannella mit Guido und
Edwina und den Dimuccis und Fiocollas und der Hälfte aller
Italiener von Santa Barbara (Italiener,
nicht Spaghettis, sie waren definitiv keine Spaghettis mehr) in die
Automobile der McCormicks und fuhren nach Riven Rock, wo eine Feier
auf dem Rasen stattfand. Mr. McCormick sah ihnen aus den breiten
vergitterten Fenstern seines Zimmers zu. Sie hatten gehofft, er
könnte sich unter die Gäste mischen, aber Kempf war dagegen gewesen
– nach dem Vorfall mit Katherine (gar nicht zu reden von der
Geschichte mit der Dame vom Fach, von der Kempf Gott sei Dank nie
erfahren hatte) war Mr. McCormick wieder von den Frauen isoliert
worden. Mit Ausnahme von Schwester Gleason, und auch die schlug
einen weiten Bogen um ihn, anfangs jedenfalls.
Dennoch war es ein richtiges Fest, die
Dimucci-Mädchen, ihre Mutter und Tanten hatten genug Essen gekocht,
daß jeder Gast zweimal hätte satt werden können und dazu noch alle
Millionäre Kaliforniens samt ihren ausgemergelten Rennpferden,
falls diese die Klugheit besessen hätten, zu erscheinen und einen
Glückwunsch auf das wahre Paar des Jahres auszubringen. O’Kane kam
auf seinen Krücken recht gut voran, und jedermann sagte ihm, er
sähe so gut aus wie ein Engel des Herrgotts, und Giovannella füllte
ihr Satinkleid auf eine Weise, wie es keiner dieser dürren
Backfische je gekonnt hätte. Nach der Feier, nach den
Trinksprüchen, den gnocchi und dem
controfiletto di manzo, dem palombaccio allo spiedo, den millefoglie und einer Hochzeitstorte, die so groß
wie Klein-Guido war, brachte Roscoe O’Kane und Giovannella nach San
Luis Obispo, für drei Tage Flitterwochen in einem blau-weiß
geschindelten Gasthaus am Meer. Und danach kehrte O’Kane, schon
wieder recht gut zu Fuß und mit seinen Geschlechtsorganen in einem
fortgeschrittenen Zustand der Entspannung, zu seiner Arbeit nach
Riven Rock zurück.
Mr. McCormick war froh, ihn wiederzusehen. Sehr
froh. Geradezu ekstatisch. Kaum tauchte O’Kane im Flur vor dem
oberen Salon auf, die Krücken seitlich weggestreckt wie
Stützpfeiler, sprang Mr. McCormick vom Sofa auf und stürmte auf ihn
zu. »Eddie, Eddie, Eddie!« rief er. »Ich wußte, daß Sie
wiederkommen, ich wußte es!« Die Schlüssel drehten sich im Schloß,
Mart lauerte neben Mr. McCormick, Schwester Gleason war eine
stirnrunzelnde Gestalt im Hintergrund. »Klar bin ich
wiedergekommen«, sagte O’Kane, und er war gerührt, aufrichtig
gerührt, ja wirklich. »Nur weil ich geheiratet habe, werde ich Sie
doch nicht im Stich lassen. Schließlich stecken wir in dieser Sache
beide drin, was? Bis Sie wieder gesund sind, ja?«
Mr. McCormick sagte darauf nichts. Er stand an
der Tür und wartete geduldig, bis O’Kane fertig war mit seinen
Schlüsseln und Krücken und den Armen, die sich stark verkrampften,
weil sie zwei Dinge zugleich tun mußten; Mr. McCormick hielt etwas
in der Hand, irgendeine Trophäe aus Bronze, in die etwas
eingraviert war. Es sah aus wie ein Posthorn mit zwei Glocken
daran.
»Und was soll das sein?« fragte O’Kane und
schlängelte sich durch die Tür, von Mart gesichert.
Mr. McCormick grinste ihn breit an, faulige
Zähne, weggetretener Blick, wie immer. »D-Der erste Preis in einer
Orchideen-schau. Für – für unser Cymbidium, das
Riven-Rock-Cymbidium. Mr. Hull hat für mich eingereicht, und
Kath-Katherine sagte, es war ein Riesenerfolg. Sie, sie...«
Doch das war alles. Der Rest der Geschichte,
wie immer sie weitergehen mochte, war in seinem Inneren
verschlossen und konnte nicht heraus. Normalerweise hätte O’Kane
ihn ermuntert, so wie Kempf das oft tat, aber er trat seit
dreieinhalb Monaten zum erstenmal wieder durch diese Tür, Schwester
Gleason musterte ihn aus ihren Fischaugen, und er kannte sie noch
überhaupt nicht, deshalb hatte er keine rechte Lust dazu. Statt
dessen hinkte er an seinem Arbeitgeber vorbei, er konnte das rechte
Bein bereits ganz gut belasten, benutzte die Krücken nur bei jedem
zweiten Schritt, und setzte sich an den Tisch. Mr. McCormick stand
bereits vor dem Bücherregal und machte einen Platz für die Trophäe
zwischen den acht übrigen frei, die er in den vergangenen Jahren
gewonnen hatte. Er brauchte eine Zeitlang dafür, alles genau
zurechtzurücken, und an seiner Haltung, dem Winkel seiner Schultern
und daran, wie er den Kopf einzog und vor sich hin murmelte, sah
O’Kane, daß ihm höchstwahrscheinlich seine Richter zusahen und das
Arrangement kommentierten.
Schwester Gleason, die O’Kane beim Hereinkommen
mit knappem Kopfnicken begrüßt hatte, ging zwischen ihnen hindurch
und zog eine kleine Schau ab, indem sie die Sofakissen
aufschüttelte und Mr. McCormicks Zeitung glattstrich und faltete.
Sie war eine grobknochige, fischgesichtige Fast-Vettel um die
Fünfzig und so geschlechtslos, wie eine Frau nur sein konnte – das
heißt knapp vor dem Hermaphroditismus. Kempf hatte sich gedacht,
daß Mr. McCormick eher geneigt wäre, sie zu akzeptieren als
jemanden wie die arme Wie-hieß-sie-noch-gleich am McLean, die mit
dem Medaillon zwischen den Brüsten – oder wenn nicht zu
akzeptieren, so doch von sexuellen Anzüglichkeiten jeder Art
Abstand zu nehmen. O’Kane hatte gehört, daß sie eine gute
Krankenschwester war, die sich von niemandem etwas bieten ließ –
sie hatte jahrelang im Battle-Creek-Sanatorium gearbeitet und dort
mit Schlauch und Klistierspritze hantiert, bevor sie ans Saint
Elizabeth’s gekommen war – und bislang hatte Mr. McCormick ihre
Gegenwart durchaus geduldet.
Nach ungefähr zwanzig Minuten, in denen niemand
ein Wort sprach, schien Mr. McCormick endlich zufrieden mit der
Aufstellung seiner Preise und setzte sich gegenüber von O’Kane an
den Tisch. O’Kane hatte eine Zeitschrift vor sich aufgeschlagen,
las aber nicht wirklich darin, sondern blätterte die Seiten durch,
als wären sie gar nicht bedruckt. Er blickte auf und lächelte. Mr.
McCormick erwiderte das Lächeln nicht. Er wirkte ungewöhnlich
angespannt, und sein Gesicht nahm immer wieder einen anderen
Ausdruck an, als würden unsichtbare Finger aus allen Richtungen an
der Haut zerren. »Sie sehen gut aus«, sagte O’Kane
mechanisch.
»Fühl mich aber nicht gut.«
»Ist irgend etwas los? Möchten Sie davon
erzählen?«
Mr. McCormick wich seinem Blick aus.
Hier schaltete sich Schwester Gleason ein,
engstehende Augen, die Lippen fischartig vorgestülpt: »Er ist in
letzter Zeit etwas verstört, wegen der Ärzte.«
O’Kane runzelte fragend die Stirn.
»Sie wissen doch«, sagte sie, »für den Prozeß
und so. Und ich versteh den armen Mann, wo diese Doktoren einer
nach dem anderen den Kopf hereinstecken und ihn untersuchen, so daß
er seit zwei Wochen keine Ruhe mehr findet.«
O’Kane sah zu Mart hinüber, aber Mart, der in
sich zusammengesunken war wie ein grätenloses Vieh, das vom Meer
angespült war, hatte dem nichts hinzuzufügen.
»Die, die...« sagte Mr. McCormick auf einmal,
dessen Gesicht immer noch Gymnastikübungen vollführte, als könnten
sich die Muskeln unter der Haut nicht auf eine angemessene Reaktion
einigen, »die wollen mir Riven Rock wegnehmen, vor Gericht,
Kath-Katherine und, und...«
»Nein, nein, Mr. McCormick«, schalt ihn
Schwester Gleason, schob ihren massigen Körper neben ihn und
stützte sich mit einem stumpfartigen Arm auf dem Tisch ab, »niemand
will Ihnen Riven Rock nehmen, darum geht es gar nicht...«
Mr. McCormick sah sie nicht einmal an. »Maul
halten, Fotze«, schnarrte er.
Daraufhin explodierte Schwester Gleason, aber
nur ganz kurz, wie eine Silvesterrakete, die nicht richtig vom
Stock loskommt. »Solche Ausdrücke will ich nicht hören, das sage
ich Ihnen«, fauchte sie und rückte ihm noch näher, aber Mr.
McCormick stand auf und warf dabei seinen Stuhl um, worauf sie mit
gerötetem, düsterem Gesicht zurückwich. O’Kane erhob sich
ebenfalls, trotz seines schlimmen Knies, und ergriff seinen
Arbeitgeber beim Handgelenk; einen Augenblick lang erstarrten sie
beide, sahen erst einander in die Augen, dann hinunter zu der
eingreifenden Hand auf dem bebenden Arm. O’Kane ließ los. Mr.
McCormick hob seinen Stuhl wieder auf und setzte sich, nach kurzem
Widerstreben, erneut hin. »Ist schon in Ordnung«, sagte O’Kane,
aber das war es sichtlich nicht.
Am Nachmittag, kurz nachdem Mr. McCormick von
seinem Verdauungsschläfchen aufwachte, erschien ein Trio von
Ärzten. O’Kane merkte sich ihre Namen nicht, sie waren auch egal –
da war der Hagere, der Dickliche und der mit der bandagierten Nase.
Dr. Kempf war nicht dabei, da diese Ärzte Mr. McCormick
untersuchten, um Katherines Behauptung zu bekräftigen, wonach die
Psychoanalyse allein nicht die richtige Therapie sei, ja sogar
einen schädlichen Einfluß auf ihn habe. An anderen Tagen kamen
andere Ärzte und examinierten ihn im Sinne von Cyrus und Anita, die
Kempf behalten wollten – sehen Sie nur die gewaltigen Fortschritte,
jetzt gab es sogar Frauen in seiner nächsten Umgebung, und ihr
Bruder war so gesund und vernünftig wie eh und je, oder beinahe
jedenfalls – und gerne ihr Zwei-zu-eins-Übergewicht im
Vormundschaftsrat bewahrt hätten. Diese Ärzte jedoch kamen für
Katherine, und sie versammelten sich feierlich im oberen Salon, um
Mr. McCormick vor seinem Schlafzimmer zu erwarten.
Ob sie etwas trinken wollten? erkundigte sich
Schwester Gleason mit fischiger Bemühtheit. Tee? Kaffee? Eine
Limonade? Sie brauche nur danach zu läuten, kein Problem.
Sie wollten nichts.
Als Mart Mr. McCormick in den großen Raum
führte, spürte O’Kane auf Anhieb, daß dieses Gespräch nicht viel
bringen würde. Mr. McCormick war in eine lebhafte Debatte mit
seinen Richtern vertieft, als er zur Tür hereinkam, und sein
Gesicht wechselte immer noch ständig den Ausdruck.
Der hagere Doktor: »Guten Tag, Mr. McCormick.
Mein Name ist Dr. Owen, und dies sind Dr. Barker und Dr. Williams.
Wir kommen, um ein wenig mit Ihnen zu plaudern, wenn es Ihnen recht
ist.«
Wie zu erwarten war, antwortete Mr. McCormick
nicht, aber seine Miene sprach Bände für O’Kane. Er postierte sich
auf der Armlehne des Sofas, auf eine Krücke gestützt, bereit, beim
ersten Anzeichen von Ärger loszustürzen.
Der hagere Doktor (indem er sich auf einen der
drei Klappstühle niederließ, die man in Erwartung dieses Besuchs
aufgestellt hatte, was seine Kollegen ihm nachtaten): »Schöner Tag
heute, nicht wahr?«
Mr. McCormick: »Blast, Wind’, und sprengt die
Backen!«
Die Ärzte tauschten einen Blick. Der mit der
bandagierten Nase reckte den Hals und spähte aus dem Fenster, wie
um sicherzugehen, daß die Sonne noch da war und schien.
Mr. McCormick: »Vo-Von den eigenen Töchtern
verraten.«
Der bandagierte Doktor: »Wer?«
Mr. McCormick: »Lear.«
Der dickliche Doktor: »Lier?«
Mr. McCormick: »Name vom König.«
Der hagere Doktor: »Aha, ich verstehe.
Natürlich. König Lear. Denken Sie, äh, demnach viel über
Shakespeare nach, Mr. McCormick – dann sind Sie wohl ein Freund der
Literatur?«
Mr. McCormick (wild grimassierend):
»Kath-Katherine...«
Der hagere Doktor: »Katherine?«
Der bandagierte Doktor: »Seine Frau.«
Der hagere Doktor (sich verwirrt mit zwei
hageren Fingern am Kinn zupfend): »Ihre Frau liest
Shakespeare?«
Mr. McCormick antwortete darauf nicht, und
obwohl er aufmerksam war, seine Gesichtsmuskeln spielen ließ und
mit den langen Fingern auf den Kuppen seiner Knie trommelte, hatte
er auch auf ihre nachfolgenden Erkundigungen nur wenig zu sagen,
die sein Wissen über den Peloponnesischen Krieg, die
Unabhängigkeitserklärung, amerikanisches Bankgebaren, den
Mechanismus der Mähmaschine und seine Gefühle gegenüber Dr. Kempf,
Frauen und Zahnärzten, bis hin zu seiner Fähigkeit betrafen,
diverse prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens
wiederzuerkennen, sowohl namentlich als auch auf Photos: Babe Ruth,
Al Capone, Calvin Coolidge, Sacco und Vanzetti. Falls das ein Test
war – und O’Kane wußte, daß es einer war –, dann fiel Mr. McCormick
mit Pauken und Trompeten durch. Nur ein einziges Mal rang er sich
zu so etwas wie klarem Verstand durch, das war gegen Ende, als die
ehrwürdigen Doctores ihre Notizblöcke vollgeschrieben hatten und
anfingen, einander verstohlene Blicke aus den Augenwinkeln
zuzuwerfen. Der hagere Doktor erwähnte den Namen »Riven Rock«,
worauf Mr. McCormick hellhörig wurde und aufsah.
Der hagere Doktor: »Möchten Sie uns gern von
Ihrem Haus erzählen, Mr. McCormick, von Riven Rock? Woher stammt
eigentlich der Name?«
Mr. McCormick (erst ganz Sonnenschein, dann
zunehmend bewölkt): »Ich – tja – der Name kommt von einem Stein,
wissen Sie, und ich – also, meine Mutter, sie... ja, und dann kam
ich und hab ihn gesehen, und er war, also, er war...«
Es entstand eine lange Pause, in der sich alle
drei Ärzte vorbeugten, der Tag zur Neige ging, Mart leise auf dem
Sofa schnarchte, Schwester Gleason schweigend die Topfplanzen
abstaubte, und schließlich sagte Mr. McCormick, und er grinste
dabei breit und gewinnend von einem Ohr zum anderen, doch noch
etwas: »Keine Ahnung mehr«, sagte er.
Als Familienvater war O’Kane nicht
gerade auf Anhieb ein Erfolg. Seine Erfahrungen mit Kindern waren
spärlich und kummervoll, zutiefst kummervoll, und er hatte sich an
die friedliche, sterile Atmosphäre in der Pension von Mrs.
Fitzmaurice gewöhnt (die nach dem Erdbeben wieder aufgebaut worden
war und genauso wie vorher aussah, wenn nicht noch mehr), an die
Flüsterkneipen und daran, im Imbiß oder gar nichts zu essen, wenn
er keine Lust dazu hatte, und überhaupt zu tun, was er wollte – und
wann er wollte. Jetzt aber, im Frühling und zu Anfang des Sommers,
lebte er auf einmal mitten in dem Olivenöl pressenden, Knoblauch
kauenden, Valpollicella saufenden Tohuwabohu des Dimucci-Haushalts,
wo es von barfüßigen, kreischenden Kindern, Hunden, Schweinen,
Hühnern und Italienern nur so wimmelte. Baldy hatte früher eine der
Hütten für Marta und ihren Mann eingerichtet, und als die beiden
ihre eigene Wohnung in der Milpas Street bezogen, ließ er den noch
etwas wackligen O’Kane sich mit seiner neuen Familie vorübergehend
dort einquartieren. »Nur so lange«, sagte er, »bis Eddie wieder auf
den Beinen ist«, und in seiner Stimme schwang kein bißchen Ironie
mit.
Edwina feierte im Juni ihren neunten
Geburtstag, und Guido würde im Oktober vierzehn werden – beide
waren zu alt, um sich von irgendwelchen Tricks überlisten zu
lassen, mit denen O’Kane sich einzuschmeicheln versuchte, obwohl
sie die Süßigkeiten, Spielsachen, Puppen und Taschenmesser, die er
ihnen aufnötigte, nur allzugern annahmen. Er war nicht ihr Vater,
nicht in ihren Augen – ihr Vater war Guido Capolupo, und der war
tot und im Himmel wie die Heiligen. Mit Giovannella war es anders.
Er hatte das größte aller Opfer für sie gebracht, hatte ihr seinen
Leib und seine Seele gegeben – mal abgesehen davon, daß er zum
Bigamisten wurde –, und deshalb kam sie jede Nacht an seinen Altar.
Anfangs, als er noch nicht ohne Krücken gehen konnte, tupfte sie
ihn im Bett mit einem nassen Schwamm ab, fütterte ihn, damit er bei
Kräften blieb, wobei sie jeden verschütteten Tropfen Suppe oder
Sauce liebevoll mit einer sorgfältig gefalteten Serviette abtupfte,
und als es ihm besser ging, verbrachte sie Stunden damit, seine
verspannten Muskeln zu massieren oder die Haut rings um den Rand
des Gipsverbands niederzudrücken und sanft in die Öffnung
hineinzublasen, um den Juckreiz zu lindern. In der Liebe gab sie
sich ihm mit besitzergreifender Heftigkeit hin, und wenn sie fertig
waren und schwitzend und keuchend dalagen, setzte sie sich oft
rittlings auf ihn und fuhr ihm immer wieder mit den Händen durchs
Haar. »Jetzt bist du mein, Eddie«, sagte sie dann, die Lippen
geschwollen und gerötet von allem, was sie getan hatten, »ganz und
gar mein.«
Er konnte nicht sagen, daß er den Dimuccis
vergab (nicht direkt – er war kein Pazifist und hätte Pietro lieber
zertrampelt als ihn noch einmal angesehen), aber er akzeptierte,
daß die Sache irgendwo auch ihre Richtigkeit hatte, und er war
zufrieden, zumindest glaubte er das. Doch als er wieder arbeitete
und seine Zwölfstundenschichten in Riven Rock ableistete, befreit
vom Chaos des Dimucci-Reichs und den pausenlosen Forderungen der
Kinder – lies mir eine Geschichte vor; mach das
wieder ganz; du magst mich nicht, das weiß ich; du bist sowieso
nicht mein richtiger Vater –, da wurde ihm bald klar, daß die
Zeit zum Umziehen gekommen war. Als erstes brauchte er ein Auto.
Bis dahin war er immer morgens von Baldy in Riven Rock abgesetzt
und abends von Roscoe nach Hause gefahren worden, und das war gut
so – nein, es war unerträglich –, und nun durchforstete er die
Kleinanzeigen, bis er einen zehn Jahre alten Maxwell fand, genau
wie den, den Dolores Isringhausen damals gefahren hatte, nur älter,
langsamer und lauter, der Lebensfunken in seinem schmierefeuchten
automobilen Herzen fast erloschen. Aber Roscoe half ihm, den Wagen
wieder hinzukriegen, brachte den Motor auf Vordermann und fuhr mit
ihm zur State Street, wo er in einen Satz neuer Reifen
investierte.
Zwei Wochen später mietete er mit Giovannella
ein Haus in Summerland, ein Stück östlich von Montecito, und es war
weder zu ihren Eltern noch nach Riven Rock weit zu fahren. Es war
ein einstöckiger Bau, dessen niedriges Dach sich ein Stück über die
vordere Veranda schob, bis zu den zwei Palmen, die zu beiden Seiten
des Hauses wie Fahnenmasten aus der Erde aufragten. Von der
äußersten rechten Ecke der Veranda konnte man den Ozean sehen, und
das beste war, daß es einen privaten Zitrusobstgarten hatte: drei
Pampelmusen, zwei Apfelsinen und eine Limette. O’Kane stellte sich
auf die Straße davor und machte sechs Photographien des Hauses –
Totalaufnahmen ohne einen Menschen im Bild – um sie seiner Mutter
nach Hause zu schicken.
Er war fit genug, um Giovannella über die
Schwelle zu tragen und einen ganzen Nachmittag, einen Abend und
eine Nacht lang Mann und Frau mit ihr zu spielen, während die
Kinder ihren Großeltern das Leben schwermachten und die Pelikane
durch den Ausschnitt des Himmels segelten, den das
Schlafzimmerfenster freiließ; als der alte Mann von nebenan seine
Rosen goß, lud sie das Geräusch des Wassersprengers ein, in die
traumlose Umarmung des Schlafes hinüberzugleiten. Am späten
Vormittag des nächsten Tages setzte Baldy die Kinder ab,
Giovannella machte bruschetta und
Spaghetti, das Haus wurde wieder kleiner und geräuschvoller, bis
O’Kane den Wunsch verspürte, ein wenig Auto zu fahren – »Sorg dich
nicht um mich, in ein paar Stunden bin ich wieder da« –, und so
fuhr er am Sonntagnachmittag, seinem freien Tag, nach Riven Rock,
um mit Roscoe in der neuerbauten Garage über dies und jenes zu
plaudern.
»Was für einen Eindruck macht er auf dich«,
fragte Roscoe, während er mit einem Rehlederlappen den vorderen
Kotflügel von einem der neuen Pierce Arrows wienerte. »Also, wie
ich das sehe, regt er sich jeden Tag mehr auf wegen dieser
Gerichtsverhandlung, dabei gibt’s noch nicht mal einen Termin
dafür, soweit ich weiß.«
»Eigentlich wird das ja gar keine Verhandlung
im engeren Sinne. Keine Geschworenen oder so etwas, nur ein
Richter. Nach dem, was mir Kempf erzählt hat, jedenfalls.«
»Was macht das schon? Es geht doch darum, daß
Mr. McCormick glaubt, sie will ihm alles wegnehmen, und deshalb ist
er auch so fahrig in letzter Zeit – genau wie vor vielen Jahren,
als wir ihn auf Ausflugsfahrten mitgenommen haben und er immer
dachte, jeder zweite Baum würde auf den Wagen fallen. Und weißt du,
was er neulich abends gemacht hat? Er kam mit Nick und Pat hier in
die Garage – warum sie ihn überhaupt rausgelassen haben, ist mir
ein Rätsel –, und hat stundenlang am Rücksitz herumgebastelt, weil
der ihm nicht bequem genug war... Hier, sieh mal, schau dir selbst
an, was er getan hat.« Der Lack der Wagentür erfaßte das Licht und
entließ es wieder, und da sah er Mr. McCormicks Schöpfung: der Sitz
war aus dem Rahmen genommen und sorgfältig mit fünfzehn bis zwanzig
Kissen aufgepolstert worden, die von diversen Sofas des Haupthauses
stammten.
»Aber das hat sie ja längst getan«, sagte
O’Kane, während er sich in den Wagen hineinbeugte, »er weiß es nur
nicht.«
»Was? Wovon redest du da?« Roscoe drückte den
nassen Lappen über dem Eimer aus, die Sonne, die durch die
offenstehenden Türen fiel, malte zwei lange weiße Rechtecke auf den
Betonfußboden.
»Ja, ziemliches Durcheinander da drin«, sagte
O’Kane und richtete sich auf, »aber richtig schlimm ist es nicht –
wenigstens hat er nicht die ganze Polsterung zerfetzt wie
letztesmal.« Er kniff die Krone seines Hutes zurecht und fuhr mit
dem spuckefeuchten Finger den Falz der Krempe nach. »Ich rede von
Katherine, von Mrs. McCormick. Es gehört doch sowieso längst alles
ihr – seit damals, seit 1909, als sie ihn hat entmündigen
lassen.«
Roscoe wandte sich wieder dem Wagen zu, das
weiche feuchte Leder saugte die Wasserperlen auf, als er damit über
den Kotflügel strich. »Aber was will sie dann jetzt? Abgesehen von
Kempfs Kopf auf einem Silbertablett, was ich übrigens für eine
himmelschreiende Schande halte, wirklich...«
O’Kane überdachte das und betrachtete den
Chauffeur, die ruckartigen Bewgungen seiner hurtigen Ellenbogen,
die schmale Schiebermütze über den feuerroten Segelohren, den weit
über die Motorhaube gereckten Oberkörper, gespiegelt in der Glorie
des auf Hochglanz polierten blauschwarzen Stahls. »Ihn«, sagte er
nach einer Weile. »Ihn will sie.«
Roscoe stützte eine Hand auf, ließ die andere
regelmäßig kreisen und sah über die Schulter. »Kempf?«
»Nein, nicht Kempf – ihren Mann.«
»Pfff«, machte Roscoe und rieb jetzt fest,
legte all sein Gewicht in das kreisende Tuch. »Wieso besorgt sie
sich dann nicht einfach einen Schoßhund?«
Das Jahr verrann, der Sommer war mild
und versöhnlich, dann kam der Herbst und verstrich sich wie
Margarine über die gerippte See bis weit hinaus zu den weich
zerfließenden Inseln. An einem regnerischen Donnerstagnachmittag
gegen Ende November zog O’Kane ein sauberes Hemd und seinen besten
Anzug an und ging zum Bezirksgericht, um seine Aussage zu machen
und sich von Katherines Anwalt – Mr. Baker – einem scharfen
Kreuzverhör über Mr. McCormicks Zustand unterziehen zu lassen,
langsam und schmerzhaft war die Befragung. Ist es Ihrer Meinung
nach, Mr. O’Kane, zu irgendwelchen Verbesserungen gekommen während
des doch sehr langen Zeitraums Ihrer Dienste – es wergen ja nun
bald zweiundzwanzig Jahre, oder? – und hat Dr. Kempf dieses und
jenes getan? Der Anwalt der McCormicks – Mr. Lawler – schien sich
über O’Kanes Schultern drapieren zu wollen wie ein warmer Pullover
an einem kühlen Abend. Ist es denn nicht eine Tatsache, Mr. O’Kane?
Und: War es nicht so? Und: Würden Sie nicht auch sagen, daß es Mr.
McCormick entscheidend besser ging, was ja auch sein Umgang mit
weiblichen Wesen bewies – bis hin zur Anstellung einer
Krankenschwester? Und hatten nicht alle früheren Ärzte die
Behandlung von Mr. McCormick immer nur unter dem rein verwahrenden
Aspekt gesehen – und mithin so gut wie nichts erzielt?
Insgesamt riefen sie achtzehn Ärzte in den
Zeugenstand, auch Dr. Meyer, Dr. Brush, Dr. Hamilton (sein Haar war
jetzt grau und seine Augen rotierten völlig unkontrolliert in den
Höhlen), dazu die meisten Seelenklempner und Pulsmesser, die im
Lauf der letzten anderthalb Jahre durchs Haus getrampelt waren,
außerdem befragten sie Dr. Kempf und Mr. Cyrus McCormick, Mr.
Harold und Mrs. Anita McCormick Blaine, Schwester Gleason, Nick und
Pat und Mart und zum Schluß sogar die Eisprinzessin und Mrs.
Roessing. Zwei Tage davon erlebte O’Kane persönlich mit, weil er
seine Aussage zwischen Donnerstag nachmittag und Freitag vormittag
aufteilen mußte, anschließend bahnte er sich jedesmal einen Weg
durch die Reporter im Gang des Gerichtsgebäudes und fuhr wieder
zurück nach Riven Rock und zu Mr. McCormick.
Die Verhandlung ging schon in die zweite Woche,
als O’Kane eines Morgens auf dem Tisch in der Eingangshalle von
Riven Rock ein Brief erwartete. Auf dem Kuvert fand sich in
säuberlicher Maschinenschrift seine Adresse – EDWARD JAMES O’KANE, RIVEN ROCK,
MONTECITO/KALIFORNIEN –, und in der oberen linken Ecke, in
erhabenen schwarzen Lettern, stand Jim Isringhausens Name, über dem
Schriftzug ISRINGHAUSEN & CLAUSEN:
AKTIEN, ANLEIHEN UND IMMOBILIEN. Mr. McCormick schlief noch,
aber Nick und Pat wollten bestimmt langsam nach Hause – und da
heute Mart vor Gericht aussagte, würde O’Kane mit Schwester Gleason
allein sein –, deshalb steckte O’Kane den Brief ein und wartete,
bis die Thompson-Brüder gegangen waren und Mr. McCormick
aufgestanden und damit beschäftigt war, sein Toilettenpapier immer
wieder neu zu falten, ehe er den Briefumschlag aufriß.
Darin lag ein Scheck, ausgestellt von der Chase
Bank in New York. Er lautete auf seinen Namen, Edward James O’Kane,
und den Betrag von 3500 Dollar. Mit einer Büroklammer war eine
Nachricht daran befestigt, und O’Kane bemerkte, daß seine Hand
zitterte, als er den Bogen Briefpapier aufschlug und zu lesen
begann:
24. November 1929
Lieber Eddie!
Hiermit übersende ich Dir einen Scheck über
$3500, das ist Dein Anteil am Verkaufserlös unseres Grundstücks in
Goleta. Die Orangenbäume sind zwar nie so recht gediehen, wie wir
es uns erhofft hatten, aber meine Partner und ich konnten das Land
kürzlich an einen Bauunternehmer veräußern, und das immerhin mit
einem kleinen Profit.
Aber Eddie, ich möchte Dir sagen, das
bißchen Gewinn ist nichts im Vergleich zu dem, was sich mit Aktien
und Anleihen verdienen läßt. Den Gruselgeschichten in den Zeitungen
von Männern, die aus dem Fenster springen usw., solltest Du keine
Beachtung schenken, denn die wirklich großen Aktien, die »Blue
Chips«, sind noch nie eine bessere Anlage gewesen als jetzt.
American Can, Anaconda Copper, Montgomery Ward, United Carbide and
Carbon, Westinghouse E. & M. – bei diesen Titeln wird der Kurs
im nächsten Kaufrausch unweigerlich durch die Zimmerdecke gehen,
und glaube mir: die Hausse ist nicht tot, noch lange nicht.
Damit Du es ganz bequem hast, lege ich Dir
einen bereits adressierten vorfrankierten Umschlag bei. Leg einfach
diesen Scheck hinein und sende ihn mir wieder zurück, dann
garantiere ich Dir, daß ich die $500 Profit in sechs Monaten
verdreifache, oder mein Name ist nicht mehr
Jim Isringhausen
O’Kane brauchte eine Minute, um nach
Luft zu schnappen. Da war er verheiratet und Vater, mit Eigenheim
und Auto, und nun das, das Drei-Uhr-Glück des grinsenden Eddie
O’Kane war ihm endlich wieder hold, und wie! Was würde Giovannella
wohl nicht alles tun, um diesen Scheck in die Hände zu bekommen –
dreitausendfünfhundert Dollar, und
fünfhundert davon der pure Profit, mit nichts weiter verdient als
Däumchendrehen. Und was war Marts Anteil davon, für den Hunderter,
den er investiert hatte? Das wären so etwa, was? siebzehn Dollar?
Keine Frage, daß er sie ihm auch sofort geben würde, direkt aus der
eigenen Tasche, außer... nun, außer er investierte sie gleich
wieder neu für ihn, es würde ja niemand merken. Keiner wußte von
diesem Scheck außer ihm, und hier war schon der Umschlag, um ihn
wieder hineinzustecken und schnurstracks zurückzuschicken und bis
zum Juni einen weiteren Tausender Gewinn zu machen. Garantiert.
Hatte Jim Isringhausen ihn nicht auch beim erstenmal gut
beraten?
In diesem Augenblick, als O’Kane immer noch
staunend den Brief mit den Händen glattstrich und sich seine
Zukunft als Wall-Street-Magnat ausmalte, kam Mr. McCormick aus dem
Badezimmer in den Salon marschiert, nackt wie am Tag seiner
Erschaffung. Aber er war nicht nur einfach nackt, er war nackt und
erigiert, und er steuerte auf Schwester Gleason zu, die trotz ihrer
rigorosen Asexualität, technisch zumindest, eine Frau war. Seit dem
Tag, an dem sie zur Tür hereingekommen war, hatte O’Kane etwas in
der Art erwartet, und obwohl sie hart war, diese Gleason, hart wie
Nägel, bezweifelte er doch, daß sie gegen Mr. McCormick irgend
etwas ausrichten konnte, daher stopfte er sich Brief und Scheck
hastig in die Brusttasche und sprang auf, um dazwischenzugehen.
»Mr. McCormick!« rief er, um ihn abzulenken. »Sie haben vergessen,
sich anzuziehen.«
O’Kane hatte sich längst von seinen
Verletzungen erholt, aber das Knie war immer noch ein wenig lädiert
und widerspenstig, und er hinkte tatsächlich spürbar, so wie es der
Arzt vorhergesagt hatte, sein rechtes Bein immer einen halben
Schritt hinter dem linken. Bei Regen tat es weh, und manchmal auch
dann, wenn es nicht regnete, und es strengte ihn ziemlich an, mit
Mr. McCormick gleichauf zu bleiben, wenn ihr Morgenspaziergang zum
Geländelauf wurde. Trotzdem war er einigermaßen in Form für einen
sechsundvierzigjährigen früheren Sportler und konnte deshalb Mr.
McCormick gerade noch bremsen, als er Schwester Gleason neben dem
Sofa mit weit ausgestreckten Armen gegen das Gitterfenster gedrängt
hatte. O’Kane fiel ihn behende von hinten an und nahm ihn in den
Schwitzkasten, während Schwester Gleason das steife rote Glied mit
Zischlauten zu verscheuchen suchte, als hätte es ein Eigenleben –
was es ja offenbar auch hatte.
Augenblicklich fuhr Mr. McCormick der Wahnsinn
in die Schultern, und er entführte O’Kane auf einen wilden Ritt
quer durch das Zimmer, einen vierbeinigen Jig, bei dem Möbelstücke
flogen und Mr. McCormick in tiefen, wiehernden Schnaufern die Luft
durch die Nasenlöcher einsog. »Nein, nein, nein, nein!« schrie er,
sein üblicher Refrain, und versuchte O’Kane von seinem Rücken
abzuschütteln und den Kopf weit genug zu drehen, um ihn in den
Unterarm zu beißen. Zwei, drei Minuten wirbelten sie so alle beide
keuchend im Kreis, O’Kane stieß gepreßte Bitten und Ermahnungen
hervor, von der Wand her beobachtete sie Schwester Gleason, bis sie
schließlich beide auf das Sofa fielen, O’Kane gab seinen Würgegriff
nicht auf, und Mr. McCormicks Ständer ragte senkrecht in die Höhe.
In diesem Augenblick griff Schwester Gleason ein, ihr Gesicht brach
wie ein Granitfelsen über sie herein, und sie wandte einen uralten
Krankenschwesterntrick an, der in mehrmaligem Schnippen mit Daumen
und Zeigefinger bestand, worauf Mr. McCormicks Erektion wie eine
verdorrte Blume einschrumpelte.
Niemand war verletzt, nichts zerbrochen, was
nicht zu reparieren wäre, und da Mr. McCormick auf einmal ganz
schlaff und lammfromm war und versprach, sich zu benehmen, ließ ihn
O’Kane los.Und das war’s, damit war die Sache erledigt. Mit
gesenktem Kopf und unter gemurmelten Entschuldigungen schleppte er
sich, den einen Fuß nachziehend, ins Schlafzimmer, und kurz darauf
stand O’Kane auf und folgte ihm, um ihm beim Anziehen zu
helfen.
Der Vorfall wurde nicht mehr weiter erwähnt,
und Mr. McCormick aß halbwegs vernünftig das Frühstück, das
Giovannella hinaufschicken ließ, aber etwas nagte an ihm, das war
deutlich zu sehen. Er murmelte ständig vor sich hin, irgend etwas
über Dr. Kempf, gab aber auf O’Kanes Nachfragen keine Antwort, und
nach dem Frühstück begann er, im Zimmer auf und ab zu gehen, den
Kopf zu schütteln und mit den Armen zu fuchteln, als versuchte er
sich ein unsichtbares Kleidungsstück über den Kopf zu ziehen.
Ungefähr eine Stunde lang ging das so, dann setzte er sich zu
O’Kane aufs Sofa, mit heftig bewegtem Mienenspiel. »Ed-Eddie«,
sagte er, »ich – ich möchte gerne... weil sie mir doch Riven Rock
wegnehmen und Doktor – Doktor Kempf auch, ich...« Hier unterbrach
er sich, sah O’Kane scharf in die Augen und senkte die Stimme.
»Eddie«, sagte er, und sein Stottern war vollkommen verschwunden,
»ich will hier raus. Lassen Sie mich hier raus. Mit Ihrem
Schlüssel. Bitte. Mit Ihrem Schlüssel.«
O’Kane hatte noch einmal in seinem Brief
gelesen, wie elektrisiert von seinem Inhalt – bestimmt würde der
Börsenmarkt sich wieder erholen, ganz bestimmt –, und er hatte
gerade das Antwortkuvert mit dem Scheck darin zugeklebt, als sein
Arbeitgeber mit dem Umhergehen aufhörte und sich neben ihn setzte.
Zwei Millionäre saßen nebeneinander – oder ein Millionär und ein
potentieller Millionär, denn mit Jim Isringhausen gab es keine
Grenze nach oben. »Sie wissen, daß ich das nicht machen kann, Mr.
McCormick«, sagte O’Kane.
»A-Aber Dr. Kempf ist, ist nicht hier, ich
meine – heute nicht. W-Weil...«
»Weil er in Urlaub ist. Das hat er Ihnen letzte
Woche erklärt. Daran erinnern Sie sich doch, oder?« In Wahrheit war
Kempf vollauf mit der Verhandlung beschäftigt, wo er sich selbst
und Sigmund Freud vor einem Saal voller Rechtsanwälte, Reporter und
McCormicks verteidigte, aber er hatte strikteste Order erteilt, daß
Mr. McCormick nichts davon erfahren durfte. Jeden Tag durchforstete
Nick die Morgenzeitungen mit einer Schere und entfernte jeden
Hinweis auf das, was im Gerichtsgebäude von Santa Barbara
vorging.
»Er-Erzählen Sie keinen Scheiß, Eddie. Ich bin
nicht verrückt und ich – ich bin auch nicht blöd. Ich weiß, was –
ich weiß, was los ist. Also lassen Sie mich raus. Für einen
Ausflug, meine ich, nur für einen Ausflug. Ich – ich bin nervös,
Eddie, und Sie wissen doch, wie Ausfahrten mich immer beruhigen.
Bitte?«
Und an diesem Punkt ließ O’Kane sein
Urteilsvermögen im Stich. Sie waren zuwenig Personal, also wären
bei einem Ausflug nur Roscoe vorne dabei, und er selbst mit Mr.
McCormick und Schwester Gleason hinten, und das barg ein gewisses
Risiko, vor allem in Anbetracht von Mr. McCormicks Laune an diesem
Morgen. Aber es wäre angenehm, mal rauszukommen, es war ein
lastender, schwüler Tag, der mit irgend etwas schwanger ging – mit
Regen vermutlich, noch mehr Regen –, und sie könnten sich ein paar
Sandwiches besorgen, dazu vielleicht einen kleinen Schluck aus
einem Fläschchen, um die Zukunft seiner dreitausendfünfhundert Eier
zu feiern, die er dann auch gleich in den Briefkasten werfen
konnte, denn solange sie in seiner Tasche verschimmelten, nutzten
sie ihm kein bißchen. Kempf war nicht da. Mart war nicht da. Und
die Eisprinzessin war nicht einmal in der Nähe.
O’Kane grinste ihn fröhlich an. »Sicher, klar
doch«, sagte er. »Warum nicht? Unternehmen wir einen
Ausflug.«
Als sie zum Tor hinausfuhren, regnete es, die
Berge waren nichts als ein Gerücht in einem Himmel, der an den
Baumwipfeln anfing, alles glitzerte heroisch, und die Fahrbahn war
eine nasse schwarze Zunge, die an der nächsten Straße leckte und
dann an der Straße danach. Mr. McCormick saß zwischen O’Kane und
Schwester Gleason, mit leuchtenden Augen und leicht
zusammengepreßten Lippen, in einem gelben Regencape, die Kapuze
über den Kopf gezogen. Schwester Gleason sagte kein Wort – ihr
gefiel die Sache nicht, kein bißchen –, aber für Roscoe, der allein
vorn saß, war es ein völlig normaler Vorgang. Und jetzt fiel der
Regen, fette feuchte Tropfen, die auf der Motorhaube des Wagens
platzten und die Fenster hinabrannen wie die Tränen des Himmels, so
hätte es O’Kanes Mutter gesagt, wie die Tränen des Himmels.
Sie kauften Limonade und ein paar Sandwiches in
einem Drugstore in der Stadt – Roscoe erledigte die Formalitäten,
während O’Kane und Schwester Gleason im Auto warteten, steif zu
beiden Seiten ihres Arbeitgebers sitzend, aber Teufel auch, dachte
O’Kane, immer noch besser, ihn spazierenzufahren, als ihn den
ganzen Tag in diesem Salon einzusperren, zumal in seinem jetzigen
Zustand, so erregt und durcheinander – wenn hier einer verrückt
war, dann Kempf, und zwar, weil er sich einredete, daß Mr.
McCormick nicht genau begriff, was los war. Sie aßen im Wagen, bei
beschlagenen Fenstern, Mr. McCormick arbeitete sich durch zwei
Thunfischbrötchen und anderthalb Flaschen Ginger-ale, O’Kane
wickelte sein eigenes Sandwich aus – Roastbeef mit
Rettichmayonnaise –, und zwar möglichst laut und unter dem Rascheln
des Wachspapiers, um so zu verbergen, daß er sein Ginger-ale
heimlich mit einem ordentlichen Schuß aus der Flasche aufbesserte,
die ihm Roscoe besorgt hatte.
Das Mittagessen schien ihre Laune zu bessern,
und sie fuhren eine Zeitlang in Richtung Osten nach Ojai, dann
bogen sie wieder auf die Küstenstraße, der Regen ließ kurz nach und
wurde dann wieder stärker, ehe er in ein feines Nieseln überging.
»Fa-Fahren wir beim B-Biltmore vorbei«, sagte Mr. McCormick, und
dann: »Da vorne links, Roscoe«, und Roscoe gehorchte ihm, weil Mr.
McCormick der Chef war. Irgendwie.
Das Biltmore lag am Channel Drive, gleich bei
der Olive Mill Road, und es war vor zwei Jahren erbaut worden, um
dem Geschmack der reisenden Industriebarone zu entsprechen, nachdem
das Potter abgebrannt und das New Arlington durch das Erdbeben
ebenfalls zerstört worden war. Es war ein Spitzenhotel mit
einhundertfünfundsiebzig Luxuszimmern, Ballsaal, Speisesaal,
Tennisplätzen und allem Drumherum – und direkt am Strand gelegen,
zum Schwimmen im Meer oder zum genüßlichen, müßigen Faulenzen im
pudrig feinen Sand. Mr. McCormick war natürlich noch nie drin
gewesen, er hatte nicht einmal das Gelände betreten, aber er ließ
sich oft langsam daran vorbeifahren, um einen Blick auf die
Menschen zu werfen, die durch die Portale des Biltmore gingen,
einschließlich der Frauen – insbesondere auf die Frauen. Und das
war auch in Ordnung so, solange er nicht auszusteigen versuchte,
aber an diesem speziellen Tag wurde ihnen der Weg von dem
durchfahrenden Zug nach Los Angeles versperrt, die Schranken waren
geschlossen, der Regen stob als feiner Dunst vorbei und schimmerte
auf den Bäumen, Kakteen und spitzblättrigen exotischen Sträuchern,
acht weitere Autos standen vor ihnen. Der Zug ratterte und
quietschte, kreischende Bremsen, die Illusion langsam
rückwärtsdrehender, in der Schwebe der Zeit gefangener Räder.
In diesem Moment sah O’Kane den Briefkasten,
gleich über die Straße, keine zwanzig Schritt entfernt. »Dauert nur
eine Minute«, sagte er, tastete nach dem Kuvert in seiner Tasche,
und dann war er draußen auf der glänzenden Fahrbahn und roch den
satten, feuchten, aufdringlichen Duft der auf dem Asphalt
zerquetschten Eukalyptuskapseln. Er überquerte die Straße, warf den
Brief in den Kasten ein und hatte sich gerade umgedreht, um zum
Auto zurückzusprinten, als er den Hund sah, hellbraun mit einem
weißen Fleck auf der Brust, zitternd und naß, der den
schwarzglänzenden Karbunkel seiner Schnauze in den Fensterschlitz
schob – und da streckte sich Mr. McCormicks Hand hinaus, die
letzten Reste Thunfischsalat und Roggenbrot senkten sich in das
gierige rosa Maul des Hundes. Auch das war in Ordnung, kein
Problem, keine Eile, selbst das Donnern des Zuges war etwas zum
Innehalten und Nachdenken an diesem milden, nassen, bedeckten
Nachmittag, an dem sie dem Käfig Riven Rock entflohen waren, wo man
sich die halbe Zeit über fragen mußte, wer eigentlich der Gefangene
und wer der Wärter war.
Sicher. Dann aber sah O’Kane, wie der Hund auf
einmal abrupt zurückwich, als die Tür jäh aufgerissen wurde. Mr.
McCormicks linker Schuh stand plötzlich auf dem Asphalt, dann auch
der rechte, seine Hosenbeine mit der Bügelfalte, die Tür war jetzt
weit offen und Mr. McCormick befand sich halb drin und halb
draußen, er wandte sich kurz zurück, um mit den Fäusten auf den
Schemen der ungestüm klammernden Schwester Gleason einzuschlagen.
O’Kane rannte auf den Wagen zu, aber er kam zu spät, Mr. McCormick
war bereits auf der Straße, in den Augen ein wilder Blick, sein Hut
lag auf dem Boden wie ein totes Tier, und die gelbe Pelerine
flatterte hinter ihm her. Er lief in vollem Tempo, rannte in seinem
spastischen, geduckten Galopp davon, den O’Kane so gut kannte, mit
fliegenden Ellenbogen, der Kopf zwischen den Schultern aufragend
wie ein nachträglicher Einfall, aber was wollte er nur – den Hund?
Ja, den Hund, der hektisch vor ihm davonlief, in Richtung des
Zuges, zu diesem funkelnden Stahlgerät aus scheinbar
rückwärtsdrehenden Rädern und mechanischem Donner, und er rief:
»Komm, Hundchen, komm, komm, Wuffi, komm zu mir!«
O’Kane gab alles, was er hatte, keine Zeit zum
Nachdenken über Gefahren oder Konsequenzen, sein einziges Ziel war
dieser schlaksige, wahnsinnige, gekrümmte Kerl, den er den größten
Teil seines eigenen Lebens über hierhin oder dorthin verfolgt
hatte, er war mit ihm vermählt, gegen ihn abgehärtet und an ihn
gekettet, doch sein Knie machte nicht mit. Mr. McCormick rannte mit
voller Kraft, schlug Haken und Finten und schnappte nach dem Hund,
jetzt war er an den wartenden Wagen vorbei, glotzende Gesichter,
ein Mann mit Zigarre, eine Frau mit Hut, jetzt erreichte er die
Schranke – und dann, ohne zu zögern, ein schlichtes Beugen des
Rückens, und anderthalb Herzschläge später war er darunter
durch.
Der Tod des Hundes war unvermeidlich. Als
hellbrauner Streifen schoß er durch eine Lücke der mahlenden Räder,
die Waggons schaukelten, es war der langsamste Zug der Welt, und
dies war der letzte Augenblick im Leben des Hundes, man hörte kein
anderes Geräusch als das Kreischen der Räder, und als O’Kane bei
Mr. McCormick ankam, war dieser von seiner bekümmerten, leidenden
Miene bis zur Hüfte der gelben Regenpelerine mit einem langen
Streifen Blut überzogen.
»Eddie«, sagte er, aber er riß seinen Arm weg,
als O’Kane danach zu fassen versuchte, und der Zug fuhr immer noch
vorbei, laut wie das Ende der Welt. »Eddie, ich möchte sterben«,
sagte er. »Eddie, laß mich sterben.«
An diesen Moment sollte sich O’Kane für den
Rest seines Lebens erinnern – jenes Lebens, das er damit verbringen
würde, mit Mr. Stanley Robert McCormick gemeinsam zu atmen, zu
essen und auf dem Sofa zu sitzen, eines Lebens, in dem er nicht das
Fünkchen einer Wahl besaß, denn er ließ Mr. McCormick, der schon
blutüberströmt, schon frei war, nicht unter den ratternden Rädern
sterben, sondern packte ihn mit den Armen und preßte ihn mit einer
Kraft an sich, die keine Macht der Welt je hätte bezwingen
können.