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In Anwesenheit
von Damen
»Nein, vielversprechend würde ich es nicht nennen«, sagte O’Kane. »Nicht direkt. Aber es ist ein Anfang, und ich finde, das ist Kempfs Verdienst.« Er saß im oberen Salon, die Tür war gesichert, ein Feuer knisterte gemütlich im Marmorkamin, sein Arbeitgeber schlummerte im Land der Träume, und er fühlte sich aufgeschlossen und großzügig, erfüllt von Festtagslaune – ganz zu schweigen vom Rum –, und was den glupschäugigen Dr. Kempf anging, so war er zwar anfangs skeptisch gewesen, doch jetzt war er bekehrt. Mr. McCormick hatte im Lauf der letzten anderthalb Jahre enorme Fortschritte gemacht, und der Vorfall vom Nachmittag auf der Einfahrt war nichts weiter als ein kleiner Rückschlag, da war er sicher. Die Thompson-Brüder, Nick und Pat, deren Schicht vor einer Stunde angefangen hatte, waren von Kempfs Konzept nicht überzeugt. Sie glaubten nicht daran. Nicht im geringsten.
»Was ich so höre, von Mart jedenfalls, war das Ganze doch eine Farce«, knurrte Nick mit seiner ausgebrannten Stimme, die klang, als würde man die letzten Reste aus einer Bratpfanne kratzen, scharf und metallisch. »Er ist einfach zur Tür rausgerannt, konnte ihr nicht mal ins Gesicht sehen. Und Roscoe sagte, er hätte sogar versucht, ins Auto zu gelangen, gütiger Gott.«
Pat stieß einen leisen Pfiff aus. »Stellt euch vor, der sitzt am Lenkrad! Wer könnte den noch aufhalten – die gesamte Polizei von Santa Barbara? Die Army? Die Navy? Mann, die müßten ihm die Marineinfanterie hinterherschicken!«
Es war kurz vor Weihnachten, das Haus war geschmückt und aufgeputzt für die Feiertage – dieses Jahr hatte sich Mr. McCormick besonders auf die Dekorationen fixiert –, und O’Kane war noch etwas länger geblieben, um ein bis zwei Täßchen Weihnachtspunsch mit seinen Kollegen zu leeren (er würde mit dem Trinken aufhören, endgültig und unwiderruflich, am Tag nach Neujahr). Außerdem saß er ohnehin zeitweilig fest, weil Roscoe unterwegs war, umMrs. McCormick und Mrs. Roessing irgendwo herumzufahren.
Nick hing in einem weichgepolsterten Sessel vor dem Kamin, die Füße auf eine Ottomane hochgelegt, die Hände auf dem Bauch gefaltet. So wie Pat – und in geringerem Maße auch Mart – hatte er in den Jahren Fett zugelegt, stetig und unerbittlich, aber das Komische war, daß sie alle drei letztlich ein mysteriöses körperliches Gleichgewicht erreicht hatten, ihre Körper waren so schwer geworden wie ihre Köpfe, wie bei alten Krokodilen. »Ich weiß nicht, ob vielversprechend oder verhängnisvoll das richtige Wort ist – für mich ist das nur die gleiche alte Geschichte, mit oder ohne Kempf.«
O’Kane zuckte die Schultern. Er sah sich um, auf die Girlanden und Puffmaisketten, die Mistelzweige und die endlos sich wiederholenden Weihnachts- und Schneemänner, die wie Spinnweben von der Decke hingen. »Immerhin hat er sie nicht attackiert.«
Pat schnaubte und vergrub die Nase in seinem Drink – einem echten Drink, von O’Kane auf gute amerikanische Art persönlich in der Küche zusammengemixt und heiß gemacht, während Giovannella sich mit dem Teig für das Brot vom nächsten Tag plagte und das Spülmädchen, das man eingestellt hatte, um ihr zur Hand zu gehen und das weibliche Kontingent im Haus zu verstärken, eine Jazzmelodie summte und dabei mit einem feuchten Lappen über das Geschirr fuhr. O’Kane hatte einen Toddy zubereitet, nach einem Rezept seines Vaters – so ziemlich das einzige, was er von ihm je gelernt hatte, bis auf den linken Haken vielleicht und den anschließenden schnellen rechten Cross. Zitronen,Orangen, Zucker, eine Stange Zimt, kochendes Wasser und das, was momentan gerade als Rum durchging. Er hatte den richtigen Geruch, und er wärmte einen auf, andererseits ließ sich darüber streiten, wieviel Extrawärme man brauchte, wenn es am zwölften Dezember drei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit draußen noch knapp zwanzig Grad hatte.
O’Kane spürte den Rum wie Blei in den Adern – er wußte nicht genau, wieviel er inzwischen intus hatte, aber sicherlich schon mehr als vier Drinks – und wollte sich lieber etwas hinsetzen. Nick und Pat schienen damit zufrieden zu sein, ins Feuer zu starren, aber da das Thema von Mr. McCormicks erster Begegnung mit seiner Frau nun einmal angesprochen war, wollte O’Kane auch eine Zeitlang dabei bleiben. »Es wird täglich besser werden«, sagte er. »Morgen und übermorgen und am Tag danach. Keine Telephongespräche mehr – sie ist für morgen zum Mittagessen eingeplant, und sie und Dr. Kempf haben beide vor, es unten im Speisesaal einzunehmen, mit Mr. McCormick an ihrer Seite.«
»Das will ich erst sehen«, sagte Nick.
»Ich auch«, warf Pat ein.
»Kempf sagt, daß sie diesmal hierbleiben wird. Auf unbestimmte Zeit.«
Nick seufzte, bückte sich nach seiner Tasse auf dem Boden und nahm einen langen, versonnenen Schluck. »Die gibt nie auf, diese Frau, was? Da wartet sie zwanzig Jahre lang auf ihn, und dann rennt er glatt an ihr vorbei wie ein fliehendes Pferd. Merkt sie denn nicht, daß es hoffnungslos ist?«
»Sie sieht alt aus«, sagte Pat. »Wie eine kleine alte Lady. Wie eine Witwe. Aber die sie da mitgebracht hat, diese Mrs. Russ oder wie die heißt, das ist eine ziemlich knackige Braut, was?«
»Ich weiß nicht«, sagte O’Kane. »Man darf die Hoffnung nicht fahrenlassen. Alles kann passieren. Bei Leuten wie Mr. McCormick hat’s auch schon wundersameHeilungen gegeben – ich hab so was selbst gesehen. Und überlegt mal, was man heute mit Drüsenextrakten bei diesen Schilddrüsen-Überfunktionen schaffen kann.«
Von den Thompson-Brüdern kam kein Kommentar. Sie schlürften ihre Drinks, die Augen tief im Kopf versunken. Sie konnten sich die Wahrscheinlichkeit selbst ausrechnen.
»Seht doch mal, wie weit es Mr. McCormick gebracht hat – er stand doch kurz vor der Kippe ins Nichts, bevor Kempf gekommen ist, das wißt ihr genau. Und jetzt erwacht er wieder zum Leben mit dieser Redekur, ja wirklich – das sehe ich allein an seiner Haltung, sein Gang ist viel besser geworden, und er stottert kaum noch.«
»Ja, ja«, sagte Nick, »aber ins Bett pinkelt er immer noch.«
»Kempf sagt, er braucht Frauen um sich, und vielleicht hat er recht, oder? Alles andere haben wir probiert, von Affen über die Fixierung im Bett bis zu dem kolossalen Fettarsch von Brush – wißt ihr noch, wie der ihn gleich am ersten Tag auf dem Boden zerquetscht hat? ›Etwas Kompression ist alles, was die brauchen‹, hat er das nicht gesagt?« O’Kane mußte bei der Erinnerung unwillkürlich lachen. »Oder vielleicht wart ihr Jungs da gerade nicht da – oder doch?«
»Scheiß drauf.« Nick setzte sich in seinem Sessel auf und drehte den Kopf, um O’Kane entnervt anzusehen.
»Wie? Er ist jetzt eben älter – etwas gesetzter. Klar kann er mit Frauen zusammensein – sollte er auch. Solange er dabei überwacht wird.«
»Sagen wir das nicht – wir alle – schon seit Jahren? Und wir kriegen nicht die Hälfte von dem gezahlt, was die Münze in Washington jeden Monat druckt«, knurrte Nick, und seine Stimme kratzte den Pfannenboden aus. »Ich meine immer noch, man bräuchte nur einmal die Woche in eine dieser Fuselkneipen auf der De la Guerra oder Ortega Street zu gehen und ihm irgendein williges kleines Ding abzuschleppen, an dem könnte er dann seine Triebe abreagieren wie jeder normale Mann. Es ist nur der Saft, der ihm das Hirn verklebt.« Und er lachte, ein fettes, sattes, animalisches Lachen, und O’Kane wäre am liebsten aufgestanden und hätte ihm ein paarmal ins Gesicht geschlagen, Frohsinn hin oder her.
»Na, wichsen tut er oft genug, oder?« meinte Pat und rollte seine Tasse in den Händen; er stand jetzt neben dem Feuer, einen Ellenbogen auf den mit Stechpalmenzweigen bestreuten Kaminsims gestützt, das Gesicht vom Alkohol gerötet. »Die Berichte von dir und Mart lese ich ja nicht, aber ich würde sagen, allein in unserer Schicht ist er vier-, fünfmal die Woche dabei – und der Herr steh uns bei, wenn wir nicht jedes zerknüllte Taschentuch für Dr. Kempf aufschreiben, der meiner Meinung nach selber halb pervers ist.«
O’Kane hörte ihm nicht zu. Er stellte es sich vor – Mr. McCormick zusammen mit einer Frau –, und ob sie wohl zusehen dürften. Er müßte natürlich irgendwie fixiert werden, und die Frau sollte ihr Geschäft verstehen – und Syphilis oder den Tripper dürfte sie auch nicht haben, danke sehr, sonst würden sie alle ihren Job verlieren.
»Ich glaube, das sind Lesben«, sagte Nick.
»Wer?«
»Na, dein Liebling Katherine und diese, wie heißt sie noch, Mrs. Russ. Weißt schon, Eddie, Mösenschlecker.«
Na, sicher. Er vermutete dasselbe, ganz am Rande seiner Überlegungen, aber er wollte Nicks Bemerkung nicht mit einer Antwort würdigen. Und was war schon dabei, wenn sie es war? Es war immerhin besser, als sich mit einem anderen Mann einzulassen – das wäre Ehebruch gewesen –, und sie mußte ja noch einen Drang haben, auch wenn sie älter wurde und sich allmählich zum Prototyp der alten Jungfer entwickelte, in ihren unansehnlichen langen Röcken und den viel zu großen Hüten... aber was hätte er darum gegeben, sie zu berühren, als sie noch jünger war, und dabei dachte er an den Tag in Hamiltons Büro, als sie den Kopf gesenkt und die Tränen hatte fließen lassen. Und warum hatte sie damals geweint? Weil sie ihren Mann nicht sehen durfte. Tja, jetzt durfte sie, nur war es inzwischen zu spät.
Er erhob sich aus dem Sessel, das Feuer flackerte auf Nicks breitem Gesicht und seinen Händen und blinzelte metallisch vom Christbaumschmuck zurück. »Noch irgendwer ein Gläschen?«
Unten in der Küche war Giovannella immer noch mit dem Teig beschäftigt – genug Teig für Itakerbrote und heiße Muffins für alle zweiundzwanzig Angestellten, die zweimal am Tag aßen, und dazu noch ein bißchen was extra, das sie nebenbei verkaufte und vielleicht zu ihren Eltern nach Hause mitnahm. Und ihren Kindern. Niemals die Kinder vergessen. Sie waren ihr Schild und ihre Rüstung, ihr alleiniger Daseinszweck auf dieser Erde und der Grund dafür, daß sie hier in der Weite der McCormickschen Küche einen leichenblassen Teigklumpen bearbeitete. Und wie sie ihn bearbeitete: sie trommelte mit beiden Fäusten darauf ein, als hätte sie ihn gerade bewußtlos geschlagen und wollte ihn jetzt vollends erledigen.
O’Kane schob sich in die Küche. Seit ihrer Wiederannäherung anläßlich des Erdbebens vor zwei Jahren hatte sie seine Gegenwart in der Küche geduldet, aber er wußte nie, wann sie wieder auf ihn losgehen würde, und nicht nur verbal, sondern mit jedem beliebigen Werkzeug, stumpf oder scharf, das ihr gerade in die Hände fiel, denn ihre gemeinsame Geschichte brodelte und blubberte immer noch im Schmortopf ihres auf ewig nachtragenden Bauernhirns – von der Zeit, da er sie als siebzehnjährige Jungfrau verführt hatte, bis zu diesem Morgen, diesem Nachmittag und diesem Abend. Wenn Mr. McCormick Probleme mit den Frauen hatte, nun, er, Eddie O’Kane, hatte auch welche, und sie begannen und endeten hier, hier in dieser Küche.
»Immer noch am Saufen?« sagte sie und hieb auf den Teig ein. Das Küchenmädchen, eine Zwanzigjährige mit fliehendem Kinn und einer pickligen Nase, aber auch mit Formen und Rundungen, die das mehr als wettmachten, klatschte mit dem Scheuerlappen herum. Es war Feierabend. In der Küche duftete es noch nach dem Abendessen, Schweinebraten mit Rosmarin, sämiger Sauce, Kartoffelbrei und grünen Bohnen und zum Nachtisch heiße Apfeltaschen.
»Es ist Weihnachten«, antwortete er.
Sie sah von ihrem Teig hoch, schlug nur die Augen auf, und diese Augen waren zwei kleine, vordosierte Giftportionen. »Bei dir ist immer Weihnachten.«
Er näherte sich langsam dem Hackbrett, wo er das kleingeschnittene Obst und die Flasche stehengelassen hatte, immer auf der Hut vor plötzlichen Bewegungen. Giovannella war nicht seine Frau – obwohl er nachgegeben und sie in umständlichen Worten darum gebeten hatte, damals am Tag der Tomatensauce, in einem breiten Bett in dem verlassenen, immer noch nachbebenden Haus –, aber sie nörgelte und meckerte an ihm herum, als wäre sie’s. Und das war seltsam, völlig unerklärlich, denn nichts anderes hatte sie doch die ganze Zeit über gewollt – daß er sie heiratete –, und als der Tag kam, als sie miteinander im Bett lagen und ihre alte süße Lust wiederentdeckten, da stieß sie ihn zurück. »Nein, Eddie«, hatte sie gesagt, während das Haus rings herum ächzte, die Dunkelheit wie ein Gewächs über sie kroch, ein Hund gequält irgendwo in einer fernen Ruine heulte. »Ich kann dich nicht heiraten – du bist schon verheiratet, erinnerst du dich? Hast du mir das nicht erzählt? Und außerdem könnte ich ja wohl nicht von dir, einem Mann wie dir, erwarten, daß er die Kinder eines anderen großzieht, oder?«
»Nur einen kleinen noch«, sagte er jetzt. »Für die gute Laune. Möchtest du auch einen?«
Nichts, nicht einmal ein Seitenblick.
»Wie steht’s mit dir, Mary? Willst du einen Schluck?«
»Raus aus meiner Küche«, sagte Giovannella. Ihre Stimme klang leise und gefährlich, das Blut war ihr in die Ohren gestiegen, in ihre wunderschönen milchkaffeebraunen Ohren mit den schwarzen Strähnen dahinter und den derben Löchern im Fleisch für die Zigeunerohrringe, die sie manchmal trug. Er liebte diese Ohrringe. Er liebte diese Ohren. Und er fühlte sich sentimental und benebelt, war voller Zärtlichkeit für die ganze Welt und alles Lebendige darin, und für sie, besonders für sie, für Giovannella.
Sie trat ein Stück zurück vom Knetbrett und griff nach dem ersten Ding, das ihr ins Auge fiel – ein Mehlsieb mit abblätternder grüner Farbe über dem nackten Blech und einer feinen Schicht aus weißem Staub.
»Was?« protestierte O’Kane. »Komm schon, Giov. Nur ein kleiner Drink. Wird doch niemand weh tun.«
»Raus. Aus. Meiner. Küche«, skandierte sie und hob das Sieb bedrohlich.
»Du tust, als wäre ich ein Verbrecher.«
»Bist du auch«, sagte sie, und wieder hatte sie diesen Unterton, so als ob sie gleich losheulen oder schreien würde. »Du bist ein Verbrecher. Schlimmer – ein egoistisches, stinkendes großes Arschgesicht von Mann!«
Er ignorierte sie, schnitt Zitronen, preßte Orangen aus, mit geschäftigen Ellenbogen, das Messer in der Hand. Auf einmal wurde er wütend, seine großmütige, allumfassende Stimmung verpuffte wie heiße Luft. Was glaubte sie eigentlich, wer sie war? Er hatte sich in diesem Haus frei bewegt, als sie noch ein Kind in der Küche ihrer Mutter war. »Und außerdem«, sagte er über die Schulter, »wollen Nick und Pat auch was trinken. Die warten oben auf mich – und damit du’s bloß weißt, ich sitze hier fest heute abend. Willst du etwa, daß ich wie ein Narr aussehe, wenn ich mit leeren Händen zurückkomme?«
Er hätte noch weitergeredet, hätte sich zu echter rhetorischer Inbrunst gesteigert, wenn nicht auf einmal das Mehlsieb von seinem Hinterkopf abgeprallt wäre, und da ging sie auch schon mit einem Holzlöffel von der Größe eines Maurerwerkzeugs auf ihn los, italienische Flüche auf den Lippen.
Das Blechsieb hatte ihn am Kopf verletzt, und er blutete, da war er sicher, und obwohl er sich absolut nichts vorzuwerfen oder zu bereuen hatte, nur ein wenig Festtagslaune verbreiten wollte und noch nicht einmal richtig betrunken war, packte er sie unwillkürlich beim Handgelenk, dem rechten Handgelenk, nur um sich zu schützen. Die Linke war wieder eine andere Sache. Er hatte ihre Hand mit dem Löffel abgefangen, aber sie entwand sich ihm, als tanzten sie beide eine Tarantella, alles wirbelte herum, und sie schnappte sich eine große hölzerne Gerätschaft, die wie eine Keule aussah, und schon war es ihr gelungen, ihm über die Schulter zwei bösartige Schläge auf den linken Unterarm zu versetzen, und warum, warum tat sie das eigentlich?
Er hatte immer ein schlechtes Gefühl, wenn er eine Frau schlagen mußte – wie ein Hund fühlte er sich, wirklich –, aber wenn sie ihm so direkt kam (weswegen überhaupt?), dann mußte er mit ihr auch direkt werden. Ein Topf fiel scheppernd zu Boden. Mary huschte hinaus, die Hand vor den Mund geschlagen. Sie tanzten vom Herd weg, seine Finger hielten immer noch ihr Handgelenk umschlungen, die Keule wirbelte, durch zusammengekniffene Lippen preßte sie den Atem in kurzen, häßlichen Stößen heraus – pfh-pfh-pfh –, und er hatte es langsam satt, hatte genug von der Sinnlosigkeit und ihren barometerhaften Launen, von der Art, wie sie ihn ständig behandelte, und er schlug zu. Nur einmal. Aber es lag genügend Kraft dahinter, daß sie, als er gleichzeitig ihren Arm losließ, rückwärts gegen das Knetbrett flog, man hörte ein scharfes, anklagendes Knacken, als würde ein Stock entzweigebrochen, alles segelte in die helle Leere der Küche, und der bleiche, ausgebreitete Leichnam des Teigs landete ohne viel Umstände auf dem Fußboden.
Es gab kein Nachspiel. Gar nichts. Keine Entschuldigungen, keine Vorwürfe, keine Wiederaufnahme des Kampfes oder vergossene Tränen. Denn in diesem Moment – Giovannella war geohrfeigt, der Teig war ruiniert, O’Kane halb betrunken, vor Wut fluchend und aufgeplustert zu seiner vollen Breite und Größe – ertönte plötzlich ein durchdringender Schrei, der sie beide erstarren ließ: »Mama!« O’Kane sah zu der offenen Tür hin, und da stand der kleine Guido, elf Jahre alt und schon ziemlich breit in den Schultern, und was war das in seinen Augen, neben all dem Entsetzen, Schrecken und Zorn? Drei Uhr. Drei Uhr nachmittags.
Das Mittagessen war ein Erfolg, da waren sich alle einig. O’Kane blieb im Speisezimmer bei Katherine, Dr. Kempf und Mrs. Roessing sitzen, während Mart Mr. McCormick zu seinem Verdauungsschläfchen nach oben geleitete, und das Gefühl der Erleichterung und des gegenseitigen Schulterklopfens war geradezu greifbar. Es war, als hätten sie miteinander einen Krieg durchgestanden, zumindest eine Schlacht, und nun saßen sie hier, alle unverletzt und ohne Verluste. »Na, Katherine, Jane, hab ich’s nicht gesagt?« krähte Kempf und verrührte ein Stück Zucker in dem schwarzen Sud seines Kaffees.
O’Kane stand an der Tür postiert, die Hände in den Taschen. Eigentlich hatte er auch gehen wollen, zusammen mit Mart und Mr. McCormick, als ihm Dr. Kempf ein Zeichen mit den Augen gab. Er kannte seine Rolle. Moralische Unterstützung. Der Pfleger immer zur Seite.
Katherine strahlte. Sie schürzte vergnügt die Lippen und nippte an ihrem Kaffee, als wäre er eine Infusion aus frischem Blut und neuem Leben. »Es war so wundervoll, wirklich. Stanley war so... so richtig wieder der alte.«
Und was war so wundervoll? Daß sie zum erstenmal seit 1906 gemeinsam mit ihrem Mann gegessen hatte, ohne daß er sie angegriffen, ihr die Suppe über den Kopf geschüttet oder sich aus dem Fenster davongemacht hatte? Kleine Siege, dachte O’Kane. Aber es war ein Anfang, ein Schritt nach dem anderen, genau wie damals, als sie ihm erneut das Gehen hatten beibringen müssen. Es war passiert. Es war Tatsache.
»Was hast du für einen Eindruck gehabt, Jane?«
Mrs. Roessing war etwa Mitte Vierzig, nach O’Kanes Schätzung, aber mit ihrem Make-up, den Kleidern und dem hellrot ondulierten Haar wirkte sie zehn Jahre jünger. Sie warf Katherine einen Blick zu, ganz Augen und Zähne. »Tja, ich kann mich nicht gerade als Expertin bezeichnen, weil ich Stanley früher nicht kannte, aber seine neue Persönlichkeit, jedenfalls die, die er uns hier gezeigt hat, ist wirklich reizend, meinen Sie nicht auch, Dr. Kempf?«
Der Arzt richtete sich auf – gepflegte, etwas gedunsene blasse kleine Hände, das aufgemalte Haar und die glänzende Schädelplatte. Er war ein Marionettenspieler, ein Bauchredner, der verrückte Wissenschaftler, der seine Kreatur vorgeführt hatte, der dämonische Svengali mit seiner Trilby. »Das finde ich auch«, sagte er mit blitzendem Lächeln. »Reizend.«
Auch O’Kane hatte es erstaunt, vor allem nach der Darbietung vom Nachmittag zuvor – Mr. McCormick war ein Ausbund an guten Manieren gewesen, ganz der Mann, mit dem O’Kane seinerzeit im McLean Hospital Golf gespielt hatte: herzlich, höflich, weder von Dämonen noch Richtern heimgesucht. Er war bereits auf gewesen, als O’Kane eintraf, ein Lächeln und einen Scherz auf den Lippen, und er war sehr präzise und effizient beim Duschen – weder kauerte er auf den Kacheln, um seine Zehen einzeln einzuseifen, noch rubbelte er sich mit dem Handtuch wund. Und er pfiff, tatsächlich, er pfiff in der Dusche, wie ein Mann auf dem Weg zur Arbeit, »Beautiful Dreamer« hallte von den Wänden wider, gleich danach eine schwungvolle Version von »Yes, We Have No Bananas«. Beim Frühstück legte er perfektes Benehmen und gute Laune an den Tag, witzelte über den zähen Schinken (der eigentlich gar nicht zäh war, wenn man Messer und Gabel zur Hand hatte, was bei ihm nicht der Fall war, und er registrierte das Absurde seiner Lage auf die ihm eigene gewiefte Art) und verspottete Mart wegen seines Schmerbauchs (»Übrigens, Mart, ist das eigentlich ein Rettungsring da unter deinem Jackett?«).
Nach dem Frühstück unternahm er einen Spaziergang zum Theatergebäude und zurück, dann zweimal rund ums Haus, und er ging völlig normal, achtete nicht auf die Spalten zwischen den Steinplatten und zog auch das Bein kaum noch nach. Dann folgte seine tägliche Zweistundensitzung mit Dr. Kempf, aus der er oft sehr aufgebracht und erregt herauskam, mal sprachlos, mal mit Tränen in den Augen oder voller Wut, aber heute nicht. Heute war er vollkommen gefaßt, ja er lächelte sogar.
Sie saß in der großen Eingangshalle, ganz in Grau gekleidet, und O’Kane bemerkte, daß sie viel Zeit und Überlegung auf ihre Erscheinung verwendet hatte – sie sah gut aus, sehr gut, besser als am Vortag oder sogar letztes Jahr. Mrs. Roessing war ein schon etwas älterer Backfisch in Ultramarinblau, mit einem silbernen Turban auf dem Kopf, ihre attraktiven, wohlgeformten Beine lagen bis zu den Oberschenkeln frei und steckten in weißen Seidenstrümpfen, die man ihr am liebsten heruntergeleckt hätte. O’Kane stand daneben wie ein Möbelstück.
»Katherine«, sagte Mr. McCormick mit fröhlicher, gedämpfter Stimme, ging direkt auf sie zu, ergriff ihre Hand und neigte sich herab, um sie zu küssen, samt Handschuh. Und dann, mit einem so breiten Grinsen, daß es schien, als platze ihm gleich das Gesicht, wandte er sich Mrs. Roessing zu. »Und das muß, das muß...« – hier kam er kurz durcheinander, das war verständlich, zwanzig Jahre und dann diese Beine, und O’Kane machte sich auf das Schlimmste gefaßt – »Jane«, sagte er schließlich, als ob ihm damit die Luft ausginge. Überraschenderweise ergriff er auch ihre Hand zum Kuß, wie ein Schauspieler im Film.
Butters nahm die Umhänge der Damen, Mart schob sich hinter einer Statue hervor, und nach ein paar belanglosen Kommentaren zum Wetter – Wieviel Glück du doch hast, Stanley, mit diesem himmlischen Klima jahraus, jahrein, du solltest mal sehen, was für ein Wetter jetzt in Philadelphia ist, Schnee bis, na ja, Schnee bis hierhin – schlenderte die Gruppe ins Speisezimmer hinüber. Der Tisch bot bequem Platz für achtzehn Personen, aber Butters hatte Mary angewiesen, an einem Ende vier Gedecke aufzulegen, Mr. McCormick sollte am Kopfende sitzen, da er ja der Gastgeber war, seine Frau zu seiner Rechten, Dr. Kempf zu seiner Linken, und Mrs. Roessing zur Linken des Doktors. Mart und O’Kane sollten über alles wachen und ihnen beim Essen zusehen.
Unerläßlich für all das war Giovannella, die in der Küche fuhrwerkte, den linken Arm in einer Schlinge – nein, gebrochen war er nicht, nur verstaucht –, in den Augen ein brütender Zorn, während Mary und einer der Hausburschen herumwuselten wie verstörte Kaninchen. O’Kane hatte ihr Blumen und eine Schachtel Pralinen mitgebracht, er war um halb neun Uhr morgens wahrhaftig auf Händen und Knien zur Küchentür hereingekrochen, um Verzeihung von ihr zu erbitten, aber sie redete nicht mit ihm, sah ihn nicht einmal an, und das war’s dann, einstweilen jedenfalls. Butters übernahm das Servieren am Tisch, und man begann mit Kaviar, dicken grauen Kaviarkörnern von den Stören der Wolga, aufgehäuft in kleinen Glasschüsselchen, die graziös zwischen den großen Tellern aus gelbem Arezzo-Porzellan plaziert waren, und mit Wein, richtigem Wein, eingeschenkt aus einer enigmatischen grünen Flasche.
Es gab Suppe – Minestrone, eine von Giovannellas Spezialitäten –, gefolgt von Blätterteigpastetchen à la financière aus Diehls Feinkostladen, einem Salat und einer italienischen Hauptspeise, alles sehr europäisch. Mr. McCormicks Kalbfleisch war in der Küche vorgeschnitten worden, damit er nicht in Verlegenheit kam wegen der sechs Silberlöffel, die in unterschiedlichen Größen bei seinem Gedeck lagen, und O’Kane sollte ausdrücklich darauf achten, daß er nicht nach Messer und Gabel von einem seiner Tischnachbarn griff. Man plauderte. Aß. Nippte am Wein. Von seinem Platz an der Wand sah ihnen O’Kane zu, und er spürte, wie seine Speicheldrüsen prickelten und es in seinem Magen gewaltig rumorte – in solchen Momenten haßte er seinen Job am meisten, denn hier fühlte er seinen Rang, als ein Dienstbote in einem wahren Ozean von Dienstboten.
Mrs. Roessing äußerte sich lobend über den Garten – war Stanley tatsächlich weitgehend bei dessen Planung beteiligt gewesen, wie sie gehört hatte?
Dr. Kempf: »Ja, Stanley, nur zu.«
Mr. McCormick: »Ich, nun, ich... ja.«
Mrs. Roessing (die beim Vorbeugen den Schmuck an ihrem Hals zur Schau stellte): »Das ist wirklich ein Talent, die Landschaftsgestaltung meine ich – ich wünschte, ich hätte das auch. Wirklich, mein Grundstück in Philadelphia geht langsam vor die Hunde, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Katherine: »Stanley war immer sehr gut in diesen Dingen – beim Zeichnen, auch in Architektur. Nicht wahr, Stanley?«
Dr. Kempf: »Ist schon gut. Nur los doch.«
Mr. McCormick: »Meine Mutter... die hat das auch immer gesagt, aber sie wollte nicht, daß... Und ich ha-habe es in Paris gelernt, das Zeichnen meine ich, bei Monsieur Julien. In seinem Atelier.«
Dr. Kempf (erklärungshalber): »Dieser Julien war recht prominent um die Jahrhundertwende, praktisch der Doyen der Pariser Kunstszene – und Stanley hat unter seiner Anleitung etliche wirklich einmalige Skizzen angefertigt, stimmt’s, Stanley?«
Mr. McCormick: »Ich, also... ja. Mit Bleistift und auch in Kohle. Den Pont-Neuf habe ich neuf mal gezeichnet. Aber keine Akte, nein, niemals Akte. Und was halten Sie davon, Mrs., Mrs. Jane?«
Mrs. Roessing: »Phantastisch. Einfach phantastisch.«
So war es zwei Stunden lang weitergegangen, während ein Gang auf den nächsten folgte, bis zu den Desserts, dem Obst und nun, zum Abschluß und ohne Mr. McCormick, zum Kaffee. »Also, wie schätzen Sie die Lage ein, Dr. Kempf?« fragte Katherine mit einem Mal, und dabei ging eine große Kälte von ihr aus, die Eisprinzessin zeigte ihr wahres Gesicht. »Können wir noch mehr von diesem Selbstbewußtsein und klaren Verstand erwarten? Oder ist das nur eine Art Trick, auf den Sie Stanley abgerichtet haben – wie ein Hund, der durch einen Reifen springen kann?«
Kempf stellte seine Tasse ab, senkte den Kopf, rieb sich die Augen und warf O’Kane einen raschen Blick zu, alles innerhalb einer Sekunde. »Es stimmt, ich habe vorher mit ihm gesprochen. Gestern abend hatte er Angst vor Ihnen, Angst davor, daß Sie ihn nicht erkennen würden – oder nicht mehr lieben. Wir haben das heute früh diskutiert und uns darauf geeinigt, daß es keinen Grund für ihn gibt, sich vor ihnen zu fürchten, daß Sie seine Frau sind und ihn immer lieben werden. Sehen Sie, es geht darum, ihn neu zu erziehen, ihn wieder einzugliedern, ihn in soziale Situationen zu bringen, vor allem in Gesellschaft von Frauen, das ist wesentlich. Ja, ich denke sogar daran, eine Pflegerin anzustellen.«
Das überraschte O’Kane. Frauen? Ja, gut, aber eine Pflegerin? Oben? Mit ihm eingesperrt?
Katherine sagte nichts dazu. Das Gespenst einer Pflegerin schwebte eine Zeitlang in der Luft, knapp davor, feste Formen anzunehmen, dann löste es sich wieder auf. Mrs. Roessing bat um die Sahne. Kempf sah so aus, als wollte er etwas sagen, hielt aber den Mund.
»Und was ist mit seinen Zähnen?« entfuhr es Katherine plötzlich. Sie sah zu Mrs. Roessing. »Und seinem Körpergeruch?«
»Er hat doch heute früh geduscht, nicht wahr, Eddie?« fragte Kempf und schwang auf dem Stuhl zu O’Kane herum.
»Jawohl, das hat er, und auch sehr gründlich. Er duscht jeden Tag, ohne Ausnahme.«
»Seine Zähne sind allerdings ein anderes Problem«, sagte Kempf, »und ihr Zustand bereitet uns allen Kummer, aber wie Sie ja wissen, hegt Ihr Mann eine Abneigung gegen Zahnärzte, und es ist schwierig...«
»Körper und Geist«, sagte Katherine. »Mens sana in corpore sano.«
»Alles zu seiner Zeit«, entgegnete der Arzt. »Körper und Geist sind eine Einheit, wie Sie richtig sagen, und indem ich den Geist behandle, behandle ich auch den Körper. Warten Sie es ab. In dem Maße, wie sich sein Geist von den Barrieren befreit, werden sich auch seine Zähne spontan bessern. Und dann, wenn es weiterhin nötig ist, einen Zahnarzt zu konsultieren, werden wir eben einen kommen lassen – sobald er sich genug erholt hat –, genau wie wir heute Sie beide haben kommen lassen.« Er hielt einen Moment inne und sah in seine Tasse. »Sie sollten über Stanleys Auftreten heute dankbar sein, Katherine – und ich hoffe, Sie rechnen es mir ein wenig an.«
»Aber darum geht es ja – es war ein Auftritt. Ich möchte meinen Mann gesund und munter sehen, und ich habe das Warten langsam satt. Andererseits halte ich die Psychoanalyse nicht für das Non- plusultra – wie Sie sehr gut wissen. Ich habe mich mit Dr. Roy Hoskins von der Harvard University beraten, der bei Patienten wie Stanley großartige Erfolge mit der Korrektur von Drüsenanomalien erzielt hat, und ich sehe keinerlei Grund, weshalb er nicht herkommen und meinen Mann untersuchen sollte, um festzustellen, ob es nicht auch für sein Problem eine somatische Lösung gibt. Immerhin werden Sie kaum bestreiten, daß Stanley gewisse Anzeichen einer Schilddrüsenüberfunktion erkennen läßt – seine Körpergröße, die unverhältnismäßige Länge seiner Finger und sonstigen Gliedmaßen, die mir, nachdem ich ihn heute gesehen habe, gewachsen zu sein scheinen, und zwar deutlich, und ich denke wirklich...«
Kempf schnitt ihr mit ungeduldiger Gebärde das Wort ab. »Diese Meinung teile ich nicht im geringsten. Die Psychoanalyse hat ihn so weit gebracht, daß er in Gegenwart von Damen am Tisch sitzen und sich als Gentleman benehmen kann, und die Psychoanalyse wird ihn heilen – falls man hier überhaupt von Heilung sprechen kann. Er ist kein Fall von Hyperthyreose, und eine Behandlung mit Drüsenextrakten würde keinerlei Erfolg zeitigen, das versichere ich Ihnen.«
Die Eisprinzessin ließ nicht locker. »Aber ein Versuch würde doch nichts schaden, oder? Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie es wenigstens in Erwägung...«
»Tut mir leid, Katherine«, sagte Kempf, hob die Tasse zum Mund und fixierte sie mit nachdenklichem Blick. »Ich verstehe zwar, was Sie sagen wollen, und ich bin auch bereit, mit Ausnahme von Hexerei alles auszuprobieren, was den Zustand Ihres Mannes bessern könnte, aber glauben Sie mir, der analytische Ansatz ist einfach der beste, und solange ich die Verantwortung trage, müssen Sie diese Entscheidung mir überlassen. Seine Genesung schreitet voran. Das Ergebnis haben Sie heute gesehen.«
Katherine beugte sich vor, beide Ellenbogen bohrten sich in das Tischtuch, bis es Falten warf. »Ja«, sagte sie beißend, »und gestern habe ich es auch gesehen.«
»Immerhin sehen Sie ihn überhaupt«, schoß Kempf zurück. »Ist das nicht etwas?«
»Ja, ja, das schon, Doktor... Edward«, sagte sie. »Aber ich erwarte noch mehr, viel mehr. Und ich habe vor, so lange hier in Santa Barbara zu bleiben, bis die Gesundheit meines Mannes wiederhergestellt ist – sowohl geistig wie körperlich. Das ist meine Mission, nichts anderes.« Sie sah zur Bestätigung Mrs. Roessing an, und Mrs. Roessing, aus deren hübschem Schmollmund Rauch quoll, zwinkerte ihr zu.
»Und noch etwas«, fuhr Katherine fort, sehr lebhaft jetzt und nie zufrieden, niemals, »ich möchte Sie daran erinnern, daß ich es bin, die hier die endgültigen Entscheidungen trifft. Sämtliche.«
Katherine hielt Wort. Jeden Tag um ein Uhr mittags, über die Weihnachtszeit ins neue Jahr hinein und weiter bis zum milden, windigen Ende des Winters und dem Herannahen des Frühlings, der genau so war wie die vorangegangenen Jahreszeiten, Winter, Herbst und Sommer, erschienen sie und Mrs. Roessing zum Mittagessen mit Mr. McCormick, nach dem sie manchmal lange blieben, bis fünf oder sechs Uhr: man spielte Karten, las sich laut etwas vor oder saß einfach nur da, in eine dicke Wolke aus Schweigen gehüllt. O’Kane war die ganze Zeit dabei, und Mart ebenso. Mr. McCormicks Genesung war dramatisch, jeden Tag machte er weitere Fortschritte, dennoch war er weiterhin gefährlich und unberechenbar, immer noch eine Bedrohung für seine Gäste und sich selbst, und sobald er sich verabschiedet hatte – stets unter vielen Verbeugungen und Kratzfüßen und Küßchen auf die dargebotenen Hände der Damen in einem Drama von kriecherischer Selbstverleugnung, bei dem O’Kane schon vom Zusehen übel wurde –, eskortierten ihn seine Pfleger nach oben zu den vergitterten Fenstern und der eisernen Tür.
Er hatte immer noch seine schlechten Tage, an denen er mit feuchten Augen und zusammengekniffenen Lippen aus Kempfs Behandlungszimmer im Theatergebäude kam, und dann versuchte er oft, davonzulaufen oder seinen Ärger an einem unschuldigen Busch auszulassen, den die Gärtner seit Jahren aufmerksam gepflegt und gestutzt hatten. Einmal, als O’Kane ihm einen sanften Stups in Richtung des Hauses versetzte, weil er vom Weg abgeschweift war, bückte er sich, lockerte eine der Steinplatten und jagte ihn und Mart damit über den Rasen, den Stein wie eine Waffe über den Kopf erhoben. Ein andermal trat er Mart ohne den geringsten Anlaß mit dem Knie in den Unterleib und boxte O’Kane so heftig aufs Ohr, daß es noch tagelang summte und sang, wie eine schlechte Telephonverbindung. »Warum haben Sie das getan, Mr. McCormick?« schimpfte O’Kane und hielt sich den Kopf, während Mart, bis in die Haarwurzeln erbleicht, ungelenk zwischen den Lorbeerbäumchen niedersank, mitten auf den Bau einer Taschenratte. »W-Weil«, stammelte Mr. McCormick, dessen Gesicht angespannt war wie eine geballte Faust, »weil ich – ich hasse es, ich hasse...« Er beendete den Satz nie. Jedenfalls nicht an diesem Tag.
Trotzdem besserte sich sein Zustand beträchtlich, und der Umgang mit Frauen – sie zu sehen, ihr Parfum zu riechen, ihre Hände knapp und flüchtig mit den Lippen zu kosen – schien wahrlich Wunder auf ihn zu wirken. Katherine begann, gelegentlich Mr. McCormicks zwanzigjährige Nichte Muriel mitzubringen, und auf Dr. Kempfs Anregung unternahmen sie ab und zu Ausflüge. Anfangs beschränkten sie sich auf das Grundstück, veranstalteten Picknicks auf den Indianergründen oder genossen die Aussicht von den höhergelegenen Gebieten des Terrains, bald aber wurden – natürlich immer unter Aufsicht von Kempf, O’Kane und Mart – sogar Strandpartys organisiert. Katherine mietete eine Cabaña an einem der herrlichen, nach Süden ausgerichteten Badestrände von Carpinteria, wo sich die Wellen in sanftem Gleichmaß brachen, und man konnte auf ihnen reiten wie ein Delphin, das Wasser war warm wie ein Bad. Mr. McCormick sah komisch aus in seinem Schwimmkostüm, wenn er, blaß wie ein Schwede, behutsam durch den Seetang auf die unstete Brandungslinie zuwatschelte und wie ein Schuljunge davonrannte, sobald das Wasser seine Zehen umspülte. Komisch, aber gesund. Während O’Kane auf dem Badetuch saß, Mr. McCormick immer gut im Blick und auch die beiden Männer, die für den Tag angeheuert waren, um in einem Ruderboot knapp jenseits der hohen Wellen dem finsteren Fall der Fälle vorzubeugen, empfand er es geradezu als niederschmetternd, daß Mr. McCormick in all den Jahren, die er hier in diesem Paradies auf Erden lebte, kein einziges Mal den Ozean berührt hatte, und der Ozean auch nicht ihn.
Es war eine gute, eine glückliche Zeit. Eine Zeit der Hoffnung: Jeder, sogar Nick, spürte langsam, daß sich etwas Außergewöhnliches zutrug, und alle hatten beinahe ein wenig Angst, darüber zu sprechen, um es nicht zu verschreien. Mr. McCormick erlebte wieder die wirkliche Welt, er trat aus seinem Käfig heraus, integrierte sich in die umfassenderen Abläufe des Lebens, Teilchen für Teilchen, und für seine Pfleger verhieß das – vielleicht, möglicherweise, irgendwann – das Ende ihrer Strapazen und eine Belohnung. Und wer wußte schon, ob es nicht vielleicht eine ansehnliche Belohnung werden würde, eine fette Abfindung, Zinsen für jeden Schlag, jeden Tritt und jedes dreckige Bettlaken während der vielen schwerfälligen Jahre.
Aber es sollte nicht sein. Mochte sich Mr. McCormicks Leben während dieses erstaunlichen Sommers auch auf wundersame Weise aufgeblättert und immer mehr geöffnet haben, so als gäbe es keine Grenzen mehr für ihn, keine Richter, weder Angst noch Verzweiflung, weder Selbsthaß noch den schieren, reinen Wahnsinn, so kam doch ein Tag im September – und O’Kane konnte ihn genau bestimmen –, an dem die Dinge sich wieder um ihn schlossen. Es fing am Strand an. Ein ganz gewöhnlicher Tag, die Sonne hoch und grell, Mr. McCormick bestens gelaunt, der Ozean wogte und wogte bis hinaus zu den Inseln, die von einem feinen silbernen Nebelband umhüllt waren. Man hielt ein mittägliches Picknick ab. In der Cabaña. Die kleine Muriel war dabei, Tochter einer Rockefeller und eines McCormick, mit braungebrannten Beinen und goldblondem Haar, Katherine und Mrs. Roessing waren auch da, letztere in einem kühnen Badeanzug ohne Röckchen. Alles schien prächtig, bis Mr. McCormick, der bis zur Hüfte in der Brandung stand, mit O’Kane an der einen und Mart an der anderen Seite, plötzlich derart gellend aufschrie, daß man unwillkürlich an Mord in einer finsteren Gasse dachte, an aufgeschlitzte Kehlen, Bajonettstiche in den Bauch. Er kreischte los und hüpfte auf einem Bein, bis er das Gleichgewicht verlor und kopfüber ins Wasser und auf den feuchten Sand stürzte, die Brandung war unbarmherzig, und O’Kane und Mart mußten ihn an den Armen aus dem Wasser ziehen.
Was war los? Was war geschehen? Fehlte ihm etwas? War er verletzt? Kempf, Katherine, Muriel, Mrs. Roessing, Mart, O’Kane und sogar die beiden Männer, die das Boot gerudert hatten, scharten sich um ihn, und Mr. McCormick umklammerte seinen Fuß und schrie herum. »Die Richter!« jammerte er. »Ich wußte, sie würden mich kriegen, ich wußte es!« Das Haar hing ihm in die Augen, sein verzerrtes Gesicht war klatschnaß, man sah in seine dunkle Kehle und die schartigen Krater seiner faulenden Zähne, der Sand wie ein härenes Hemd auf seiner Gänsehaut. Später fanden sie den Grund für seine Erregung – er war durchaus verständlich und real: ein Stachelrochen hatte ihn erwischt –, aber damit war Schluß mit dem Schwimmen im Meer und mit dem Strand.
Es war auch das Ende von Mr. McCormicks positiver Phase, denn über Nacht wurde er wieder mißtrauisch und paranoid, und kein noch so geduldiges Argumentieren – Stachelrochen lebten im Ozean und hatten nichts gegen ihn persönlich, es war ein Unfall gewesen, so etwas passierte eben – überzeugte ihn davon, daß diese Episode nicht als Bestrafung für ihn zu interpretieren sei. Und letzten Endes schien er für das, was da geschehen war, die Frauen und deren Anwesenheit verantwortlich zu machen. Wären sie nicht gewesen, wäre er ja gar nicht an den Strand gegangen – hatten sie etwa vor, ihn zu töten, ja? War Katherine hinter seinem Geld her? Würden sie ihn gern tot sehen? Am nächsten Tag weigerte er sich, zum Essen zu gehen, obwohl Katherine und Mrs. Roessing im Speisezimmer auf ihn warteten; O’Kane und Mart waren bereit, ihn die Treppe hinunterzuschleifen, aber Kempf schüttelte den Kopf. Er sollte erst wieder Frauen sehen, wenn er es wollte. Zu seinen eigenen Bedingungen. Geben wir ihm Zeit, sagte Kempf.
Zwei Tage vergingen. Drei. Eine Woche. Und immer noch lehnte es Mr. McCormick ab, diese Stufen hinabzugehen, und als er eines Nachmittags irgendwie davon hörte, daß Katherine zu ihm heraufkommen wollte, bekam er einen richtigen Anfall, komplett mit zerschlagenen Möbeln, irrem Gebrabbel und Schaum vor den Lippen. Katherine wurde langsam ungeduldig und fuhr Kempf an, in O’Kanes Gegenwart, sie drohte ihm und zeterte los, als wäre sie selbst tobsüchtig geworden: sie habe sich daran gewöhnt, ihren Mann zu sehen, und zwar täglich, doch nun sei sie wieder von ihm getrennt. Das sei unerträglich. Es werde Kempf seinen Kopf kosten – oder zumindest seine Stelle, die ganzen zehntausend Dollar im Monat.
In dieser Phase, genau Ende September, beschlossen die Pfleger, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. »Es ist eine Schande, verdammt«, sagte Nick eines Abends, als sowohl O’Kane und Mart einmal länger im Haus blieben, weil Roscoe anderweitig zu tun hatte und erst gegen neun zurück sein würde. Sie waren einer Meinung: Mr. McCormick hatte es so weit hinauf geschafft, aber nun glitt er wieder in Spiralen hinab, zwei volle Umdrehungen pro Tag, und niemand konnte die Richtung umkehren. »Was ist mit der Sache, die wir damals beredet haben, letztes Jahr um die Weihnachtszeit, du weißt schon, Eddie?« fragte Nick. »Daß er mal eine Frau haben sollte, meine ich. Wenn seine Frau es ihm nicht besorgen kann, dann sollte es eben eine – wie nennen wir sie? – Konsiliarschwester tun. Stimmt’s?«
O’Kane wurde die Aufgabe übertragen, wegen seines Rufs als Frauenheld – ein Ruf, der dank Giovannella, Klein Guido, Edwina und dem Alkohol seit längerem etwas verblaßt war, aber das tat nichts. Er ging gleich am nächsten Abend nach Spanishtown – dort hatte sich viel verändert, das Viertel saß verkleinert und eingezwängt zwischen den großen neuen Bauten, die man im Gefolge des Erdbebens hochgezogen hatte – und fragte in ein paar der Bars von früher herum, die er kannte. Es waren alles illegale Schuppen, Flüsterkneipen, man mußte dreimal anklopfen und ein Codewort nennen – »Clara Bow«, »Big Bill« oder »Dixieland« –, aber jeder, der irgendwen kannte, kam ohne viel Fragen hinein. In der dritten Kneipe, in der er es versuchte, fand er sie, in einem engen Kellerraum, der so rammelvoll mit Menschen, Lärm und Rauch war, daß man kaum atmen, geschweige denn seinen Schnaps trinken konnte, oder was immer sie dort unter der Theke verkauften. O’Kane genehmigte sich trotzdem ein paar Drinks, dabei lag er halb auf der Bar, als wäre es ein Bett, ein Kissen, Giovannella mit hochgezogenem Kleid und einem Lächeln auf den Lippen, und als er sich umdrehte, da sah er sie.
Sie saß allein an einem Tisch in der Mitte des Raums, rings um sie tanzten und torkelten die Leute, aber niemand sah sie auch nur zweimal an. Sie hatte eine verhärmte, zornige Miene aufgesetzt, schlechte Erfahrungen und noch schlechtere Aussichten, und sie hielt eine Zigarette so fest, als wollte sie sie erdrosseln. Mit einem Grinsen ging Eddie auf sie zu, der Zuhälter der McCormicks. »Hallo«, sagte er. »Was dagegen, wenn ich mich dazu setze?«
Sie funkelte ihn an.
Er nahm Platz.
»Drink gefällig?« bot er an. Die Musik war wild – Klarinette, Klavier und Schlagzeug –, die Leute tanzten Shimmy und Charleston, der Tisch bebte von ihrem Gestampfe und dem Lärm.
Ihr Mund wurde weich. Sie hatte ihn stark angespannt, als könnte er ihr aus dem Gesicht fallen und am Boden zerschellen, wenn sie nicht das vorsichtigste Mädchen der Welt war. Sie konnte nicht älter als zwanzig sein. »Klar«, sagte sie, und ihre Lippen formten sich zu etwas, das sie wahrscheinlich für ein Lächeln hielt.
Sie einigten sich auf einen Preis – es war eine heikle, sehr heikle Situation, denn den ganzen Weg die Treppe hinauf, zur Tür hinaus und in die große blauschwarze Pierce-Arrow-Limousine hinein dachte sie, daß sie mit ihm, Eddie O’Kane, ins Bett gehen sollte – und als er ihr irgendwo zwischen dem Salt Pond und der Hot Springs Road die Lage genauer schilderte, fing sie an, sich zu sträuben, auch wegen des Autos und seines luxuriösen Interieurs und wegen Roscoe, der mit seiner Schiebermütze vorne saß, und O’Kane mußte den Preis glatt verdoppeln, damit sie den Mund hielt. Halb ein Uhr früh, der Nachtwächter am eisernen Eingangstor, das Haus ein massiver Klotz, als wäre ein Stück Himmel mit einem gezackten Messer herausgetrennt und mit Chinatusche geschwärzt worden. Oben brannte allerdings noch Licht, wo Nick und Pat auf glühenden Kohlen saßen. »Der wird mir doch nichts tun, oder?«
»Nein«, beruhigte O’Kane sie, »nein, er tut dir nichts. Außerdem haben wir ihn ja sowieso fixiert.«
Ihre Stimme klang so dünn und verängstigt, daß ihm richtig schlecht wurde und er die Aktion beinahe abgeblasen hätte. »Fixiert?«
O’Kane wußte nicht, was er sagen sollte. Er führte sie die breite Treppe hinauf und öffnete ihr selbst die Gittertür, ihr schmaler kalter Ellenbogen bebte im Griff seiner Hand, und sie bemühte sich, tapfer zu sein, wollte die Sache hinter sich bringen, das sah er deutlich. »Du lieber Gott«, flüsterte sie und wandte den Kopf, um die Eisengitter näher zu betrachten, als sie an die Tür kamen, und O’Kane brauchte eine ewige Minute lang, bis er die drei Schlüssel in ihren drei Schlössern umgedreht hatte. Und dann tauchten Nick und Pat auf, die sie mit Blicken durchbohrten, sie zögerte kurz an der Schlafzimmertür und bei dem Gedanken, was sie dahinter erwartete, die vergitterten Fenster, das mit dem Boden verschraubte Bett, und darin Mr. Stanley Robert McCormick, der Mähmaschinen-Erbe, auf dem Rücken liegend, Hand- und Fußgelenke doppelt fest an die Bettpfosten gebunden. »Gib mir mein Geld besser gleich«, sagte sie, die Pupillen auf Stecknadelgröße verengt, ihr Mund ein häßliches Loch in der Mitte des Gesichts. »Also her damit.«
Nick und Pat sahen beide zu, stumme Zeugen in dem verdunkelten Zimmer, kein Licht bis auf den Schein der Sterne und des Mondes – schließlich war das auch ihre Pflicht –, aber O’Kane brachte es nicht übers Herz. Er sollte vor Vergnügen und guter Laune in die Luft springen und sich über Mr. McCormicks Glück freuen, immerhin war das jedem Mann Bedürfnis, Genuß und Vorrecht zugleich – Sex, einfach mal Sex –, doch statt dessen ging er auf die Veranda hinaus und hängte den Kopf in einen Regenablauf an der Ecke, um alles herauszuwürgen, was er an diesem Abend getrunken hatte, und der Geschmack, voller Galle, war bitter und nachhaltig, ein scharfes, unstillbares Brennen auf den Lippen und der Zunge, das nach dem Kuß der Verzweiflung schmeckte.
Kempf war perplex. »Ich versteh das nicht«, sagte er, erhob sich vom Schreibtisch und ging im Zimmer auf und ab, während O’Kane auf einem Stuhl saß, der so hart und unbequem war, daß er für den Zeugenstand des Bezirksgerichts hätte entworfen sein können. »Wir haben so gute Fortschritte gemacht, und jetzt: gar nichts. Pfft! Ich werfe ihm die üblichen Schreckgespenster hin – seine Eltern, seine Frau, das Erlebnis in Paris –, und er reagiert nicht einmal darauf. Sogar die freie Assoziation geht total ins Leere: Ich sage ›Boxer‹, aber er starrt mich nur an. Er sagt nichts als: ›ein-Schlitz, ein-Schlitz‹, wieder und wieder.« Kempf verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schüttelte den Kopf, ein gewandter, schmalschultriger Mann mit den schimmernden Augen und der adretten Frisur eines Leinwandidols. »Ich dachte, das hätten wir hinter uns.«
O’Kane antwortete ihm nicht. Der Arzt sprach im Grunde mit sich selbst, was er fast jeden Nachmittag nach seinen Sitzungen mit Mr. McCormick tat; O’Kane gab dabei eher eine Art Resonanzboden ab. Er verhielt sich sehr still, atmete kaum, ließ aber seine Blicke durch den Raum schweifen. Die Ausstattung hatte sich seit den Zeiten von Hamilton und Brush nicht wesentlich geändert, außer daß Hamiltons neurologische Modelle und die hawaiianischen Impressionen von Brush nicht mehr da waren, ersetzt durch die großformatige Reproduktion eines Gemäldes, das an der Wand von Dr. Freuds Behandlungszimmer in Wien prangte – jedenfalls behauptete das Kempf. »Une Leçon clinique à la Salpêtrière« lautete eine Tafel daneben, und das Bild zeigte einen weißhaarigen Arzt – vermutlich Dr. Charcot –, der eine junge Hysterikerin um die Hüfte gefaßt hielt, während zwanzig bärtige Studenten ihm zusahen und eine Schwester bereitstand, um die Frau aufzufangen, sollte sie fallen. Die Patientin trug eine tief ausgeschnittene Bluse, die ihr über die Schultern gerutscht war, und obwohl sie aufrecht stand, schien sie bewußtlos – entweder das, oder sie täuschte es vor. Die Bedeutung all dessen entging O’Kane, außer daß die Frau verdammt gut aussah und daß Charcot sie offenbar in seiner Gewalt hatte. Worin lag also die Anziehungskraft für Kempf – Wunscherfüllung?
»Das mit dem Rochen war wirklich Pech«, sinnierte Kempf im Auf- und Abgehen, »ein verteufeltes Pech, das ist keine Frage. Aber ich dachte, Stanley würde darüber hinwegkommen, so langsam, doch jetzt ist er wieder vollkommen blockiert, so zugänglich oder ansprechbar wie ein Stein. Irgend etwas hat das ausgelöst, gar keine Frage – und Ihnen fällt auch nichts ein, was ihn bedrücken könnte, Eddie?«
O’Kane, stocksteif, bewegte nur die Lippen: »Nein, ich wüßte nichts.«
»Komisch«, sagte Kempf, der jetzt vor O’Kanes Stuhl stehenblieb. Er sah auf ihn hinunter, runzelte die Stirn und blinzelte, bis seine kreisrunden Augen nichts als schmale Schlitze waren. »Wirklich seltsam. Und gestern abend ist nichts Besonderes passiert? Während Sie hier waren – oder danach? Wovon Sie vielleicht erfahren haben, meine ich?«
»Nein, nichts.«
Der Arzt vollführte eine Bewegung mit der Hand, als wollte er etwas aus der Luft schnappen. »Ich dachte nur, daß Ihnen Nick oder Pat eventuell...«
»Nein. Sie haben mir kein Wort gesagt.«
»Also, irgend etwas ist passiert. Ich bin mir sicher. Er will es mir nicht sagen, aber ich bekomme es heraus. Warten Sie nur ab. Ich hoffe bloß, daß es nicht...«
»Was?«
Kempf seuzte auf. »Ich hoffe, es macht nicht die Fortschritte zunichte, die wir mit Mrs. McCormick und den anderen Frauen erzielt haben – übrigens habe ich die neue Schwester schon eingestellt. Mrs. Gleason. Sie hat im Saint Elizabeth’s unter mir gearbeitet.«
Jetzt stammelte O’Kane, genau wie Mr. McCormick: »Ich-ich glaube nicht – also, ich habe ja nichts zu sagen, aber ist es wirklich ratsam, eine Frau dazuzunehmen – ich meine, in dieser Situation? Wo er gerade so gestört wirkt? Wegen des Stachelrochens, meine ich.«
Kempfs Gesicht öffnete sich wie ein Buch, nur daß es ein unlesbares Buch war – ein psychologischer Fachtext, geschrieben auf deutsch. »Aber ja doch«, sagte er, »natürlich. Darum geht es doch. Ihm zu zeigen, daß Frauen sich nicht von Ihnen und mir unterscheiden, also von Männern, daß sie ein ebenso organischer Bestandteil des Lebens sind wie Bäume, Blumen, Taschenratten und Psychologen. Je mehr Frauen wir ihm vorstellen, desto eher...«
Er wurde von einem Klopfen unterbrochen. Die Tür ging halb auf, und das gerötete, nervöse Gesicht von Butters erschien in der Öffnung. »Mrs. McCormick möchte Sie sprechen. Und Mrs. Roessing.«
Im selben Moment kam Katherine ins Zimmer marschiert, ihre Absätze peinigten die Dielenbretter; Mrs. Roessing folgte ihr etwas gemächlicher nach. »Ich halte es nicht mehr aus«, verkündete sie und sprach dabei Dr. Kempf an, der nicht mehr auf und ab ging, sondern vor seinem Druck stand, in genau derselben Pose wie Charcot. »Offen gesagt, Dr. Kempf, mir ist ganz egal, was Sie davon halten, aber Jane und ich sind gekommen, um meinen Mann zum Essen auszuführen – zu einem richtigen Mittagessen in unserem Hotel.«
Der Arzt wurde bleich. Er sah aus wie Rudolph Valentino im Angesicht des Stiers in König der Toreros – ohne den Schnurrbart und das überschüssige Haar natürlich. »Das kann ich nicht gestatten«, sagte er. »Nicht heute.«
Katherine war zutiefst aufgebracht, ganz die erzürnte Dame aus dem feinen Boston, zwischen ihren hochgezogenen Brauen bildete sich ein Krater, und ihre Blicke legten ihre Umgebung in Asche. Sie würde sich nicht abweisen lassen, diesmal nicht – O’Kane sah das deutlich, und er begann sich äußerst ungemütlich zu fühlen. »Was Sie gestatten oder nicht, ist völlig unerheblich, Edward«, sagte sie, »weil ich Sie hier mit einem Fingerschnippen rauswerfen werde, wenn Sie weiter so störrisch...«
»Die anderen Vormünder werden dazu vielleicht auch noch etwas zu sagen haben.«
»Hast du das gehört?« schnauzte Katherine und wollte sich mit einem Blick von Mrs. Roessing Unterstützung holen; zu ihrer Ehre schien diese allerdings nur peinlich berührt. »Unverschämt wird der Mann auch noch. Ich sehe Cyrus und Anita demnächst vor Gericht – und Sie gleich mit. Es wird höchste Zeit, daß ich die alleinige Vormundschaft über meinen Mann bekomme, und dabei waren wir schon so weit, mit unseren herrlichen Strandpartys und, und« – sie stockte, ihre Stimme wurde zum Kloß in der Kehle – »und mit Muriel und allem, ich will einfach nicht, daß das alles wieder kaputt ist, ich lasse das nicht zu.« Sie sah blitzartig zu O’Kane hinüber, wie um zu prüfen, ob er etwa Protest einlegen würde, und er senkte den Blick.
»Na gut, Jane«, sagte sie dann, jetzt wieder forsch und geschäftsmäßig, »dann holen wir Stanley jetzt ab.«
Kempf zögerte kurz und bedachte O’Kane mit einem säuerlichen Blick, während die beiden Frauen zur Tür hinausstapften und den Weg zum Haupthaus nahmen, breitschultrig und mit wippenden Hüten wie bei einem Regimentsaufmarsch, dann sagte er: »Kommen Sie, Eddie, wir gehen ihnen besser nach und sorgen dafür, daß Mart ihnen die Tür nicht aufmacht – und wenn er es doch tut, na, dann hab ich keine Schuld.«
Sie waren keine zwei Minuten hinter den Frauen, doch als sie das Haus erreichten, aus dessen weit geöffneter Tür von irgendwo tief im Inneren der zarte, kühle Duft nach Zitronenöl und Möbelpolitur wehte, standen Katherine und Mrs. Roessing bereits oben im Flur, und Katherine verlangte in schrillem Ton, Mart solle ihr die Tür öffnen. Mr. McCormick saß in diesem Augenblick über den Tisch im oberen Salon gebeugt, schaukelte vor und zurück und stieß immer wieder sein Mantra hervor – ein-Schlitz –, während er gewissenhaft eine fortlaufende Linie quer durch die Mitte von über hundert Blättern des besten handgeschöpften, faserverstärkten Skizzenpapiers zeichnete, auf Vorder- und Rückseite. Er war noch in Pyjama und Morgenmantel, da er es am Morgen abgelehnt hatte, sich anzukleiden, ein Akt der Insubordination, den Kempf ihm angesichts seines hochgradig verwirrten Zustandes nachgesehen hatte. O’Kane kam gerade oben an und registrierte zunächst nur heilloses Durcheinander, aber später klärte ihn Mart über die Einzelheiten auf.
Im selben Moment, da die Frauen auf dem Treppenabsatz auftauchten, nahm Mr. McCormick ruckartig Haltung an. Er hörte auf mit dem Geschaukel und Gemurmel und warf den Bleistift weg. »Mart!« befahl Katherine. »Öffnen Sie mir sofort diese Tür. Jane und ich wollen mit Mr. McCormick anständig mittagessen gehen.«
Da Kempf und O’Kane nicht anwesend waren, reagierte Mart sehr langsam, in ihm brodelte ein klassischer Loyalitätskonflikt – er wußte genau, daß Mr. McCormick außer sich war, er wußte auch, was am Abend zuvor geschehen war und was es bedeutete, und er wußte mit Bestimmtheit, daß ein Öffnen der Tür nur Ärger bringen konnte. Andererseits war Mrs. McCormick die höchste Autorität im Haus: Präsidentin, Kongreß und Oberster Gerichtshof von Riven Rock in einer Person. »Ich komme«, sagte er, obwohl sie durch das Gitter deutlich sehen konnte, daß er nicht kam, daß er Ausflüchte machte, in seinen Taschen nach dem Schlüssel zu suchen vorgab, und sie wurde ungeduldig, begann an den Gitterstäben zu rütteln. So stand sie in ihren maßgeschneiderten Kleidern, mit dem kleinen Hut auf dem Kopf, die schmalen, behandschuhten Finger um die unnachgiebigen Eisenstäbe geschlungen und heftig daran rüttelnd, als wäre sie es, die eingesperrt wäre, und ihr Ehemann liefe frei herum.
Beim Rasseln der Gittertür, beim Anblick der Finger seiner Frau und ihrer weißen Kehle, des zornigen Fältchens über ihrer Nasenwurzel, ihres stechenden Blicks und des schiefen Hütchens erwachte Mr. McCormick plötzlich zum Leben. In zwei Sätzen war er an der Tür, und obwohl sie instinktiv zurückzuckte, Mrs. Roessing aufschrie und Mart schwerfällig von seinem Stuhl aufstand, bekam er Katherine zu fassen. Mr. McCormick hielt sie an beiden Handgelenken fest, da war die lodernde, ruhelose, übernatürliche Kraft, die er besaß, seine faulenden Zähne und der starke Körpergeruch, und er zog sie an sich, es war genau wie damals mit Sam Wah, dann langte er mit einer Hand an ihre Kehle, krallte sich dort fest wie eine Stahlklammer, zwang ihren Kopf nach hinten, dabei wieherte er vor Erregung: »Ein Kuß! Ein Kuß!«
O’Kane gelang es schließlich, seinen Griff zu brechen, doch dann war er dort an Katherines Stelle gefangen. Mr. McCormick stand da wie angewurzelt und krallte sich jetzt an seinen Handgelenken fest, während Katherine von der Tür zurückwankte, ein entsetzter Ausdruck auf dem blutleeren Gesicht. Mrs. Roessing nahm sie in die Arme, und Dr. Kempfs Stimme überschlug sich vor Aufregung: »Sehen Sie? Sehen Sie, was passiert, wenn Sie sich einmischen?«
Darauf sahen sie alle – O’Kane und Mart, Mrs. Roessing, Kempf und sogar der ungestüm zerrende und keuchende Mr. McCormick – auf Katherine, in Erwartung einer Antwort. Sie klammerte sich an Jane Roessing, ihr Hut war verrutscht und die Finger ihres Mannes hatten rote Flecken auf ihrem kreideweißen Hals hinterlassen. »Dafür mache ich Sie verantwortlich«, sagte sie schließlich drohend und voller Trotz. Sie funkelte Kempf an, als wollte sie ihn auf der Stelle einäschern. »Sie entfremden mich der Zuneigung meines Mannes, sonst erreichen Sie gar nichts mit Ihrer, Ihrer großartigen Psychoanalyse – und das wollen die McCormicks ja wohl auch, nicht wahr? Nicht wahr?«
Kempf bewahrte die Ruhe. Mr. McCormick ließ O’Kanes Handgelenke los und zog die Arme durch das Gitter zurück – er wirkte auf einmal ratlos und verwirrt, so als wäre er an der falschen Haltestelle aus der Straßenbahn gestiegen. Mrs. Roessing rückte Katherines schiefen Hut zurecht und murmelte ihr etwas zu, dann marschierten die beiden Frauen die Treppe hinunter, ein Rückzug der Hüte.
»Wissen Sie, was dieser Frau fehlt?« fragte Kempf, sobald sie außer Hörweite waren. Mr. McCormick starrte mit großen Augen durch das Gitter. Mart hielt sich hilflos im Hintergrund, etwas unschlüssig, ob er ihren Arbeitgeber in den Schwitzkasten nehmen sollte, um ihn am Bett zu fixieren, oder ob er das nicht besser bleiben lassen und sich wieder in seine persönliche Kuhle in den Sofakissen zurücklehnen sollte, die er im Lauf der verdummenden Monate und erstickenden Jahre geschaffen hatte.
»Nein«, antwortete O’Kane, und er war begierig es zu erfahren, höchst begierig sogar, »nein, was fehlt ihr denn?«
»Ich weiß, was ich ihr verschreiben würde, keine Frage – es ist ein Rezept von Freud persönlich.« Kempf zupfte sich an den Ärmeln und wischte sich dann mit einem Fingerschnippen über das Jackett, wie um sich von den Rückständen des soeben Vorgefallenen zu befreien. »Können Sie Latein, Eddie?«
»Ich war mal Ministrant.«
»Gut. Dann werden Sie daran Gefallen finden. Freud sagte es einmal über eine Hysterikerin, deren Ehemann« – hier senkte er die Stimme, so daß Mr. McCormick ihn nicht hören konnte – »impotent war. Und ich würde sagen, es trifft haargenau auf Mrs. McCormick zu.«
»Ja?«
Der Arzt sprach noch etwas leiser. »›Penis normalis, dosim repetatur.‹«