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Schlicht und einfach
Es war im Frühjahr 1916, als Dr. Brush den Platz von Dr. Hamilton übernahm. O’Kane erinnerte sich an den Tag nicht nur deshalb, weil er für Mr. McCormick und das ganze Unternehmen in Riven Rock viel bedeutete – es war nichts weniger als eine Wachablösung, und das nach so vielen Jahren –, sondern auch wegen des dichten Nebels, der an diesem Tag über dem Haus lag und sich nicht lichten wollte. Es war ein Nebel, der verwandelte, undurchdringlich und surreal umfing er alles wie die Kulisse für einen bösen Traum, so daß es O’Kane nicht gewundert hätte, wenn aus der Düsternis Geister und Kobolde hervorgetreten wären, darunter Rosaleen und ihr Vater und der schieläugige Junge, der ihn einmal mit der Nase in den Dreck gestoßen hatte, als er sechs Jahre alt war und sich vor allem und jedem fürchtete.
Er saß mit Mart und Mr. McCormick oben im Salon, es war kurz nach dem Lunch – und Mr. McCormick hatte sehr anständig gegessen, vielen Dank, hatte sich die Serviette ohne Widerstände in den Kragen stecken lassen und mit beachtlicher Geschicklichkeit Erbsen, Kartoffeln und Hackbraten aufgelöffelt –, als man Schritte auf der Treppe hörte. Alle drei blickten zugleich auf und sahen, wie ein gewaltiges, schnaufendes Meeressäugetier von Mann sich unter dem Gewicht der Zigarre, die zwischen seinen Zähnen klemmte, die Stufen hinaufquälte. O’Kanes erster Impuls war es, laut loszulachen, doch er bezwang sich. Es war zuviel, wirklich zuviel – der Mann glich dem letzten Präsidenten William Howard Taft einfach aufs Haar, bis hin zu dem Walroß-Schnurrbart und der Taillenweite von eins vierzig. Und nach Hamilton mit seinem Roosevelt-Kneifer meinte O’Kane, allmählich ein Muster zu erkennen: der nächste Arzt, so vermutete er, falls es denn einen nächsten geben würde, mußte demnach wie Woodrow Wilson aussehen, nur Haut und Knochen und mit säuerlichen Schulmeisterlippen. War das eine Art Schabernack, den sich Dr. Meyer da mit ihnen erlaubte – Dr. Adolph Meyer, der genau nach dem aussah, was er war, ein Kraut-Seelenklempner mit graugesträhntem Seelenklempnerbart und einem Sinn für Humor, der so tief in ihm verborgen lag, daß ihn nicht mal die Wiederkunft Christi an den Tag gelockt hätte?
»Mr. McCormick, nehme ich an?« rief der fette Kerl, als er den Treppenabsatz erreicht hatte und abwartend vor der Gittertür stand wie ein Handelsvertreter, der sich in der Gegend nicht auskannte. Er versuchte ein joviales Lächeln, aber die Zigarre, die ihm im Mundwinkel klemmte, verzerrte den Ausdruck zu seiner fleischigen Grimasse. »Und Mr. O’Kane? Dann wären Sie wohl Tompkins, ja?«
»Thompson«, gab Mart in einem Ton zurück, der nach Tod und Begräbnis klang, während Mr. McCormick verwirrt blinzelte – fremde Menschen war er nicht gewohnt, überhaupt nicht –, und O’Kane stand auf, um die Tür zu entriegeln und den neuen Psychiater einzulassen. Während er sich vom Stuhl erhob und die triste Weite dieses Kerkerzimmers durchquerte, das ihm vertraut war wie kein anderer Raum, das er so gut kannte wie ein Zuchthäusler seine Zelle, da spürte er unwillkürlich so etwas wie Hoffnung in sich aufwallen – oder vielleicht war es nur das Koffein von Sam Wahs starkem schwarzem Tee. Denn wer konnte wissen, ob nicht gerade dieser Mann, der da wie ein Berg vor der Tür stand, das Wunder der Verwandlung bei Mr. McCormick bewirken würde – von einem gestörten sexbesessenen Schizophrenen, der sich nicht einmal selbst die Schuhe binden konnte, in einen wohlwollenden, dankbaren Millionär, der bereitwillig all jene belohnte, die ihm in den Zeiten der Not beigestanden hatten?
»Wir hatten Sie schon früher erwartet«, sagte O’Kane, um etwas Konversation zu betreiben, bis er die drei separaten Schlüssel in ihre drei separaten Schlösser gesteckt und den rundlichen Erretter eingelassen hatte, so daß sie sich die Hände schütteln und einen ordentlichen Anfang machen konnten.
»Ja«, mümmelte Dr. Brush um seine Zigarre herum, »und wahrscheinlich ist Gilbert auch schon ganz aus dem Häuschen deswegen, aber wissen Sie, meine Verspätung hat schlicht und einfach den Grund, daß ich bei diesem hundsverdammten Nebel nicht mal die Tür des Hotels finden konnte, geschweige denn daß der verdammte Fahrer eine Chance hatte, die verdammte Straße hierher zu finden – und wo zum Teufel sind wir hier überhaupt? Mein Gott, die Provinz...«
Ursprünglich hätte er bereits vor zwei Jahren übernehmen sollen, und Hamilton hatte O’Kane und die Thompsons und alle anderen auf die Stabübergabe vorbereitet, aber angeblich hatte Katherine ihr Scheckbuch aufgeklappt und gesagt: »Wie kann ich Sie dazu bewegen, noch zu bleiben, Dr. Hamilton?« Und Hamilton, der seine Affenexperimente inzwischen für einen Artikel in einem elitären Wissenschaftsmagazin verwertet hatte und begierig darauf war, wieder in der weiten Welt der Sexualpsychopathologie herumzuschwirren, in der fast täglich neue Fortschritte erzielt wurden, hatte daraufhin, wie Nick erzählte, auf der Stelle eine Verdopplung seines Gehalts und außerdem einen neuen Wagen verlangt. »In Ordnung«, hatte Katherine gesagt und einen Scheck ausgestellt. Und so kam es, daß Dr. Brush sich verspätete. Nicht nur um ein paar Stunden, sondern um gut zwei Jahre.
Nachdem die Tür wieder zu und dreifach verschlossen war, wurde es etwas peinlich, als Brush gleich schnurstracks auf Mr. McCormick losmarschierte und einen ganzen Schwung fideler Begrüßungen und munterer Späßchen vom Stapel ließ, ohne im geringsten die offenkundigen Anzeichen zu bemerken, daß sich Mr. McCormick von ihm bedroht fühlte und knapp davor stand, in eine gewalttätige Episode abzugleiten, doch O’Kane ergriff den dicken Mann am Ellenbogen und lenkte seine Schritte zu einem Sessel am anderen Ende des Zimmers. »Hier drüben haben Sie es viel bequemer, Doktor«, sagte er so laut, daß ihn alle hören konnten. Und dann, ganz leise: »Sie müssen Mr. McCormick etwas Raum lassen, zumindest bis Sie und er miteinander besser vertraut sind – darauf legt er großen Wert. Wissen Sie, er ist dort nämlich nicht allein – seine Richter sitzen neben ihm, mit Perücken, Talaren, Hämmern und allem, auch wenn Sie und ich sie nicht sehen können.«
Der dicke Mann schien perplex. Er mußte um die Vierzig sein, obwohl das schwer zu sagen war, weil er soviel Fleisch mit sich herumschleppte, vor allem im Gesicht – jede Falte, jede Furche ging unter in einer allgemeinen Masse von Fettgewebe, so daß er aussah wie ein sehr wohlgenährtes, verhätscheltes Baby. »Aber ich dachte doch nur«, begann er, sah zu O’Kanes Hand hinunter, die sich um seinen Arm schloß, und ließ sich dann zu dem Sessel geleiten wie ein großer schwebender Zeppelin. »Ich dachte nur« – hier sah er wieder auf Mr. McCormick, der gerade seine Schrumpfnummer vollführte: mit hochgezogenen Schultern rutschte er so tief auf dem Stuhl hinunter, daß nur noch sein Kopf über der Tischdecke zu sehen war –, »wir sollten einander kennenlernen, und zwar so bald wie möglich, Mr. McCormick, schlicht und einfach aus dem Grund, daß wir in den nächsten Wochen und Monaten so viel kostbare Zeit zusammen verbringen werden, und obwohl ich, äh, wohl besser auf eine ordentliche Vorstellung durch Ihren guten Freund Dr. Hamilton hätte warten sollen, dachte ich doch, äh, schlicht und einfach aus dem Grund, daß...«
Hierauf begann Mr. McCormick zu sprechen, ohne jede Hemmung. »Dr. Hamilton gehört nicht zu meinen Freunden.«
Wie ein Jagdhund nahm Brush die Spur auf. »Ach? Und warum sagen Sie so etwas, Sir? Wie ich höre, ist er Ihnen doch nun schon viele Jahre lang ein guter Freund gewesen und hat sich sehr um Ihr Wohlergehen gesorgt, wie es auch Mr. O’Kane und Mr. Tompkins hier tun, und ich natürlich ebenfalls.«
Keine Antwort von Mr. McCormick, dessen Kinn auf der Tischplatte ruhte. O’Kane konnte den Ausdruck in seinen Augen deuten, und der verhieß nichts Gutes, ganz und gar nicht. »Nun denn, Dr. Brush«, warf er ein, wobei er in die Hände klatschte und sie kräftig rieb, »warum lassen Sie sich nicht ein wenig herumführen, solange wir auf Dr. Hamilton warten?«
Während Mart Mr. McCormick mit ein paar uralten Kartentricks unterhielt, die dieser schon eine halbe Million Mal gesehen hatte, führte O’Kane den Psychiater in das Schlafzimmer. »Allzuviel gibt’s hier nicht zu sehen«, entschuldigte er sich und deutete auf das Messingbett, das mitten im Raum am Boden verschraubt war. Alles übrige, bis hin zu den Gemälden und den Nägeln, an denen sie gehangen hatten, war entfernt worden. Es gab keine Vorhänge, keine Lampen. Hier und dort sah man an den Wänden verblaßte Vierecke, wo einmal ein Möbelstück gestanden hatte.
»Ja, recht spartanisch, nicht wahr?« bemerkte der Arzt und schwang seinen ungestümen Leib nach links, um den Kopf in das Badezimmer zu stecken, das nichts weiter enthielt als die Toilette, das Waschbecken, die Dusche und natürlich das unselige Fenster, ohne Jalousie, dafür wieder mit einem ordentlichen Gitter aus Eisenstäben.
»Früher hatten wir einen Teppich«, sagte O’Kane, »einen echten Perser, wirklich ein schönes Stück. Aber dann fanden wir heraus, daß Mr. McCormick ihn gegessen hat.«
»Gegessen?«
»Immer nachts, wenn niemand zusah. Irgendwie gelang es ihm, mit den Fingern ein Ende davon aufzudröseln, und dann zog er einzelne Fäden heraus und schluckte sie. Wir haben es in seinem Stuhl nachweisen können. Tja, und der Rest, die Möbel und Bilder und alles andere, davon hat er das meiste zerstört, als er das letztemal entkommen ist.«
Und dann gingen sie zurück in den Salon, wo sie verlegen herumstanden und auf Dr. Hamilton warteten, der seinerseits am Vormittag zwei Stunden lang auf den wegen des Nebels verspäteten Dr. Brush gewartet hatte. Inzwischen hatte sich Mr. McCormick auf das Sofa zurückgezogen, wo er sich selbst laut vorlas, in einer markerschütternden Kakophonie von Worten und Silben: »TARzan IST kein AFFE. Er ist NICHT wie sein VOLK. Seine LEbensWEIse ist NICHT wie die IHRE, und desHALB kehrt er zuRÜCK in die HÖHLE seiner EIGEnen LEUTE...«
O’Kane wollte dem neuen Arzt gerade vorschlagen, das Erdgeschoß zu besichtigen und anschließend nach Dr. Hamilton zu suchen, der höchstwahrscheinlich draußen im Eichenwäldchen war und die Demontage seiner Hominidenkolonie überwachte, als Dr. Brush sich abrupt von ihm abwandte und Mr. McCormick auf den Leib rückte, Schwaden von Zigarrenrauch hinter sich lassend, als wären es die Abgase seines inneren Motors. »Ganz ausgezeichnet, Mr. McCormick«, dröhnte er, »Sie lesen so wunderschön, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie therapeutisch ich selbst es finde, aus einem guten Buch laut vorzulesen, schlicht und einfach aus dem...«
Doch Dr. Brush bekam nie die Gelegenheit, seinen Sermon abzuschließen, denn in diesem Augenblick knallte Mr. McCormick das Buch zu und schleuderte es Brush entgegen, gleich darauf sprang er vom Sofa auf, packte den Arzt bei den Knien und riß ihn um. Das fliegende Buch streifte Brushs Kopf seitlich, und er konnte nur einen einzigen hastigen Schritt nach hinten tun, ehe Mr. McCormick ihn erwischte und er mit improvisierten Rückenschwimmbewegungen durch die Luft segelte, um krachend auf einem der Beistelltischchen zu landen, das dabei unglücklicherweise zu Bruch ging. O’Kane war noch im selben Moment zur Stelle, und es folgte das übliche Chaos – er zog an einem Ende von Mr. McCormicks drahtsteifem Körper, Mart an dem anderen –, Brush jedoch zeigte sich bei all seinem Leibesumfang erstaunlich behende. Ohne die fette lohbraune Perfecto je aus dem Griff seiner Kiefer zu verlieren, gelang es ihm, Mr. McCormick abzuschütteln, um ihn herumzugleiten und ihn dann mit der ganzen Macht seiner einhundertachtundvierzig Kilogramm niederzudrücken.
Mr. McCormick wand sich. Er fluchte, kratzte und biß, doch Dr. Brush verlagerte nur sein Gewicht, je nachdem, wie es die Krise erforderte, und geriet dabei nicht einmal außer Atem, bis Mr. McCormick schließlich gebändigt war. »Ha!« lachte Brush nach kurzer Pause, O’Kane und Mart standen benommen daneben, mit nutzlos herabhängenden Armen. »Kleiner Trick, den ich im Eastern Lunatic Hospital gelernt hab. Funktioniert immer. Sehen Sie, der Patient fühlt sich dabei nach einer Weile, als wäre er ein Vogelküken, das noch in seinem Ei sitzt, lange vor dem Ausschlüpfen, und da wird er ruhig, ganz ruhig, schlicht und einfach aus dem Grund, weil ich die Vogelmutter verkörpere, eine nährende Kraft, der man sich nicht versagen kann, und zwar schlicht und einfach aus dem Grund...«
»Einen Moment mal, Dr. Brush – ich möchte Sie nicht unterbrechen, aber ich glaube, also, ich fürchte, Sie tun Mr. McCormick weh«, warf O’Kane ein, beunruhigt von der Gesichtsfarbe seines Arbeitgebers, die von einem tiefen Lambruscorot zum blassesten, blutleersten Weiß wechselte.
Der dicke Arzt war unbeeindruckt. Er rollte die Zigarre im Mund herum, verlagerte die Hinterbacken ein Stück. »Ach, nein, nein, darum geht es ja, verstehen Sie nicht? Etwas Kompression. Das brauchen die alle.«
Später, als man sich allseits entschuldigt hatte und Mr. McCormick, der sehr zerknirscht war, seinen Nachmittagsschlaf hielt, hielt es O’Kane für klug, mit Dr. Brush die Suche nach Dr. Hamilton auf dem nebelverhangenen Grundstück zu beginnen. »Überhaupt nichts zu sehen, verdammt!« beklagte sich Brush und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, während O’Kane, dem das Gelände vertraut war, voranging. »Bestimmt schramme ich mir hier das Schienbein auf. Oder schlimmeres. Sind Sie sicher, daß er hier draußen ist?« Und dann, mit Stentorstimme: »Gilbert? Gilbert Hamilton! Wo steckst du bloß!«
Die Bäume ragten gespenstisch auf, weiß gerippt wie Masten voller zerschlissener Segel. Das Laub auf dem Pfad war feucht. Nichts regte sich, und man hörte keinen Ton, nicht einmal Vogelgezwitscher. O’Kane tastete sich vorwärts, und diesmal wies ihm auch kein Hominidengestank den Weg. Bis auf zwei waren die Paviane und die übrigen Affen an private Sammler verkauft oder an Zoos verschenkt worden – und Hamilton packte gerade seine Notizen und Geräte zusammen, um sie an die Ostküste zu seinem Mentor zu verfrachten, einem kleinwüchsigen Affennarren von Akademiker namens Robert Yerkes, der vor einem Jahr einige Zeit in Riven Rock verbracht hatte. Was Julius anging, so war er nach dem Vorfall im Potter Hotel unverzüglich entfernt und für einen Spottpreis an einen Wanderzirkus verkauft worden – auf Katherines Anweisung.
Es lag ein leichter Brandgeruch in der Luft und noch etwas anderes, etwas Penetrantes, und bald hörten sie das Knistern des Feuers, dann sahen sie auch die Flammen, ein brodelnder, lohender Feuerball, direkt vor ihnen am Rand des Eichenwalds. Zwei Silhouetten huschten vor dem Feuer hin und her und fütterten es mit Holzstücken. Sie kamen näher, der dicke Doktor stapfte, pausenlos vor sich hin fluchend, hinter ihm her. O’Kane erkannte Hamiltons koboldartige Gehilfen und rief dem kleineren von beiden, dem Mexikaner, zu: »He, Isidro, hast du Dr. Hamilton gesehen?« Und dann prahlte er mit einer der praktischen mexikanischen Wendungen, die er von den Leuten in Spanishtown aufgeschnappt hatte: »El Doctor Hamilton, dondy estos?«
Jetzt hatten sie das Feuer erreicht, und O’Kane sah, daß die beiden Männer die zerlegten Käfige verbrannten, samt Drahtgeflecht und allem. Lack zischte und schlug Blasen. Holz krachte. Flammenfinger leckten durch die Maschen, woben komplizierte Muster und sprangen hoch auf, um den Nebel zu vertreiben, an dessen Stelle sogleich der Qualm trat. Die Hitze war enorm, einhundert Öfen voll angeheizt, und sie wichen einen Schritt zurück; O’Kane sah diesen zwei hektischen Männern zu und hoffte, daß sie wußten, was sie taten – so ein Feuer konnte leicht außer Kontrolle geraten und den ganzen Besitz vernichten, die Obstgärten, die Hütten, die Pierce-Arrows und sogar Mr. McCormick. Isidro, der Mexikaner, blieb mit dem Arm voll Gerümpel stehen und überdachte die Frage nach Hamiltons Aufenthalt kurz, ehe er in Richtung der Stelle unter den Bäumen nickte, wo die Käfige bis zum Morgen noch gestanden hatten.
Sie trafen Dr. Hamilton vor einem Haufen von Dingen an, die er offenbar aufheben wollte: die Trichterkonstruktion mit den Türchen, etliche kleinere Käfige, ein gelochtes Brett, an dem er die Intelligenz der Affen getestet hatte. »Gil!« dröhnte Dr. Brush und wackelte durch den Nebel, um Hamiltons Hand zu ergreifen. »Bin etwas spät dran, ich weiß, aber der Grund dafür ist schlicht und einfach dieser verdammte Nebel, und ich hoffe, du siehst mir das nach, aber jetzt bin ich ja da – hab auch schon alle kennengelernt und bin richtig begierig drauf, hier anzufangen.«
»Nat«, sagte Hamilton, gab ihm eine Hand und schob mit der anderen seinen Kneifer zurecht. »Ja, wirklich, ein seltsames Wetter. Tut mir leid wegen der Umstände.«
»Ach was!« erwiderte Brush und wedelte mit seiner flossenartigen Hand. »Sind doch keine Umstände gewesen, schlicht und einfach aus dem Grund, daß ich jetzt hier bin und bleibe. Kalifornien. Gott schütze es. Aber was ist mit denen da – hast du noch Affen übrig?«
Er deutete auf einen kleinen Käfig, der auf dem psychologischen Trichter stand. In seinem Inneren sah O’Kane die beiden verbliebenen Hominiden, ein Rhesusaffenpaar, das der Doktor Jack und Jill nannte. Selbst für Affen waren es zwei Kümmerlinge, und obwohl sie gerade verschleppt wurden und hatten zusehen müssen, wie man ihre Gefährten abtransportiert hatte und ihre Heimat der letzten paar Jahre in Flammen aufging, besaßen sie immer noch die Energie zum Rammeln – was sie auch in diesem Moment taten, die schwärzlichen Lippen in erotischer Verzückung hochgezogen, der Käfig schwang rhythmisch in der beständigen Rein-raus-Bewegung des Affen, der auf dem anderen draufhockte, vermutlich war es Jack, aber das konnte man nie genau wissen. Soviel hatte O’Kane über Hominiden gelernt.
Hamilton wirkte etwas zerstreut. »Ja«, sagte er und sah die Affen an, »meine letzten zwei. Jack und Jill. Ich wollte sie eigentlich mitnehmen, aber jetzt weiß ich nicht mehr so recht. Der Zoo in Los Angeles ist voll damit – mit Rhesusaffen, meine ich –, da werd ich sie jedenfalls nicht los.«
Der dicke Brush hustete ein paarmal. Seine Zigarre war ausgegangen, aber er hielt sie immer noch mit den Zähnen fest, als wäre sie das Mundstück eines Atemschlauchs und er ein Schwammtaucher, der sich auf dem Boden des Ozeans dahintastete. »Warum läßt du sie nicht frei? Laß sie laufen. Schenk ihnen die Freiheit. Schlicht und einfach aus dem Grund, weil es Lebewesen sind wie du und ich und weil es grausam ist, sie so im Käfig zu halten – das Klima hier wird ihnen sicher behagen, da besteht kein Zweifel, schlicht und einfach aus dem Grund...«
»Ja, daran hab ich auch schon gedacht«, sagte Hamilton. »Stimmt’s, Edward?«
O’Kane besaß nicht die leiseste Ahnung, woran Hamilton gedacht oder nicht gedacht hatte, nickte aber dennoch.
»Und?« wollte Brush wissen. »Also was?«
Hamilton ließ sich Zeit, der Nebel senkte sich herab, die Flammen der Zerstörung knisterten und tosten in der Ferne. Er sah auf die kopulierenden Affen hinab. »Eines habe ich in meiner jahrelangen Forschung gelernt«, seufzte er, »nämlich daß das nichts als stinkende, hemmungslose kleine Dreckviecher sind. Sie freilassen?« Er blickte auf. »Das verdienen sie nicht.«
Etwa um diese Zeit überbrachte Giovannella O’Kane die Neuigkeit, daß sie schwanger sei. Sie hieß jetzt nicht mehr Giovannella Dimucci, sondern Giovannella Capolupo, denn auf Zureden ihres Vaters hin hatte sie geheiratet, einen kleinen buckligen Itaker mit einer durchgehenden schwarzen Augenbraue, die wie ein Mützenschirm quer über das obere Drittel seines Kopfes verlief. Guido hieß er, Guido Capolupo. Er hatte eine Schuhmacherei in einer kleinen Gasse in Spanishtown, mit einer winzigen beengten Wohnung darüber, was sehr praktisch für O’Kane war, der in einer keine fünf Minuten entfernten Pension wohnte.
Giovannella, schlank und schön, mit Augen wie Schokobohnen und züchtig an den Knöcheln übereinandergeschlagenen Beinen, wartete im Aufenthaltsraum der Pension auf ihn, unter den wachsamen Augen der Zimmerwirtin, Mrs. Fitzmaurice. Es war ein Samstag, zwei Uhr nachmittags, und er war gerade von seiner Halbtagsschicht in Riven Rock nach Hause gekommen und auf sein Bett niedergesunken wie eine Flunder, völlig gerädert nach einer langen Nacht, in der in Menhoffs Kneipe irgend jemandes Geburtstag gefeiert worden war, wessen Geburtstag hatte er vergessen. Er schloß die Augen. Aber im nächsten Moment ertönte ungeduldiges Klopfen an der Tür, und wer da? Mrs. Fitzmaurice. Und was wollte sie? Da sei eine junge Dame für ihn unten.
»Giov!« flötete er, ging über den Teppich und nahm ihre Hand, fühlte sich schon besser, natürlich konnte er sie hier in aller Öffentlichkeit nicht küssen, obwohl er es gern getan hätte, und auch den Blick ihrer Schokobohnenaugen konnte er nicht entziffern. »Was gibt’s denn?«
»Ich bin schwanger.«
Anfangs begriff er nicht ganz. Die Sonne stand fett in den Fenstern, die Straßen draußen lagen friedlich und einladend da, der ganze lange Samstagnachmittag dehnte sich gemächlich vor ihm aus. Da er ohnehin auf war, wollte er vorschlagen, vielleicht zu Menhoff zu spazieren und sich ein Schlückchen gegen den Kater zu genehmigen. Er blinzelte. Setzte ein Grinsen auf.
Auf einmal strahlte ihn Giovannella an. »Ich dachte, du würdest schimpfen, Eddie, ich bin so froh.« Sie drückte fest seine Hand, auch wenn Mrs. Fitzmaurice, die am Fenster geflissentlich ihre Geranien wässerte, ihnen zusah wie eine moralische Scharfrichterin, beim geringsten Anzeichen von Unschicklichkeit zum Einschreiten bereit.
O’Kane konnte nicht recht folgen. »Schimpfen? Weswegen?«
»Du bist der Vater, Eddie«, sagte sie leise wie ein Herzschlag. »Hast du nicht verstanden? Ich bin schwanger.«
Im nächsten Augenblick war er mit ihr zur Tür hinaus, und sie stapften die Straße entlang, andere Fußgänger sahen tunlichst beiseite, eine Straßenbahn fuhr klingelnd vorbei, ein Roadster parkte am Bordstein, dahinter eine Limousine und dahinter ein alter Reo. Sein Blut war in Wallung, seine Laune keineswegs nur schlecht. Er war tatsächlich wütend, natürlich war er das, doch er verspürte auch einen Hauch von irrwitzigem Hochgefühl. Klar war das Gör von ihm – ihr Mann, dieser Guido, wirkte wie hundertundzwölf, obwohl sie darauf beharrte, daß er erst sechsunddreißig war, und wie konnte sie mit einem Bürschchen, der so aussah, überhaupt ins Bett gehen, selbst wenn er ihr Mann war? Natürlich war das Kind von ihm – außer sie hatte mit jemand anders herumgetändelt, und wenn sie mit ihm fremdging, warum nicht auch mit einem anderen Kerl? Aber nein, es mußte von ihm sein, und es würde mit blonden Haaren und meergrünen Augen zur Welt kommen, das wußte er einfach, und Baldy Dimucci und dieser Guido würden an die Decke gehen vor Wut. Es würde eine Vendetta geben. Sizilianische Auftragsmörder. Sie würden in der Nacht durch ein Erdgeschoßfenster einbrechen, kurzen Prozeß mit Mrs. Fitzmaurice und dem alten Walter Hogan machen, der sein halbes Leben in einem Sessel neben der Vordertür vor sich hin schnarchte, und dann die Treppe hinaufschleichen, um ihm armem Sünder die Kehle durchzuschneiden.
Jemand drückte auf eine Fahrradhupe. Der Gemüsehändler – Wilson – trat hinter einem Stapel Zuckermelonen hervor und kippte einen Eimer Wasser in den Rinnstein. »Du mußt es wegmachen lassen«, sagte O’Kane.
Giovannella blieb wie angewurzelt stehen. Giovannella die Furie, Giovannella die Wahnsinnige. Alle Süße in ihren Augen verschmolz zu nichts. »Was hast du gesagt?« fragte sie. »Ich glaube, ich hör wohl nicht recht.«
Die Frau mit den dicken Knöcheln von der Weinhandlung Goux watschelte an ihnen vorbei, drei Kinder im Schlepptau. Ein Mann mit einem hechelnden Hund rempelte sie fast um. Überall waren Menschen, massenhaft schlenderten sie vor dem Potter umher, Frauen kauften Lebensmittel, Kinder mit Bällen und Reifen flitzten aus den Seitengassen. »Nicht hier, Giov«, sagte er und hätte sie am liebsten beim Arm genommen, um sie irgendwohin zu führen, wo es ruhig und ein bißchen abgeschieden war, aber das konnte er nicht, weil sie nicht mehr Giovannella Dimucci war – sie war Giovannella Capolupo, und er hatte kein Recht, sie zu berühren. Vor anderen Leuten jedenfalls nicht.
Plötzlich wandte sie sich ab von ihm, das Gesicht verzerrt und häßlich, und fiel in einen linkischen Trott, bei dem die Last der Röcke sie behinderte. Er wartete eine Minute, der unauffällige Eddie O’Kane, nur ein Passant beim Samstagnachmittagsspaziergang, ehe er die Verfolgung aufnahm. Als er sich in Bewegung setzte, war sie schon einen Block entfernt, schlenkerte immer noch ihre Röcke, ihr Kopf wackelte wie ein Spielzeug auf einer Sprungfeder, und die Leute blieben stehen, um ihr nachzustarren. O’Kane beschleunigte seine Schritte, aber nicht so sehr, daß er Aufmerksamkeit erregte.
Er holte sie vor Diehls Feinkostgeschäft ein, das vor allem Waren für die begüterte Klasse Montecitos auf Lager hatte – im Schaufenster geräucherter O’Mara-Schinken aus Irland, Gläser mit Currys und Chutneys aus Indien, Birnen in crème de menthe, kurz: ein Laden, der nichts mit O’Kane und mit dem er nichts zu schaffen hatte. Eine Reihe schicker Wagen parkte davor, darunter auch der von Mr. McCormick, und das hieß, daß Roscoe in der Nähe war und Sam Wah drinnen zwischen den Regalen herumschlich, wo er Ingwerwurzeln aus Kanton und kandierte Melonenkringel aus Kambodscha inspizierte. Giovannella stand mit dem Rücken zur Straße vor dem Schaufenster und starrte eine gekonnt gestapelte Pyramide aus Mandarinen an. Er sah ihr Spiegelbild im Glas, die vor lauter Gefühl angeschwollenen Lippen, die Augen wie offene Wunden, und er fühlte, wie etwas in seinem Innern nachgab. »Giovannella«, sagte er, »hör zu – können wir reden?«
Mit ganz leiser Stimme: »Ich will nicht mit dir reden, Eddie.«
Da tauchte Sam Wahs Gesicht im Fenster auf, mitten zwischen zwei rosabraunen Schinken, und Sam grinste sein Zahnlückengrinsen, und O’Kane winkte, und dann, egal, ob die ganze Welt ihnen zusah oder nicht, ergriff er Giovannella am Ellenbogen und führte sie in eine Gasse und dann auf die nächste Straße. Sie gingen schweigend dahin, aus dem Geschäftsviertel hinaus in ein Wohngebiet voll hübscher Häuser mit geräumigen Veranden und rosenbewachsenen Spalieren. Sie fanden einen Platz zum Sitzen auf den kniehohen Wurzeln eines riesigen australischen Feigenbaums, der sich auf einem unbebauten Grundstück ausbreitete wie zehn zusammengepfropfte Bäume. Niemand war in der Nähe. Er nahm ihre Hand, und sie warf ihm einen Seitenblick zu, in dem eine gewisse Versöhnlichkeit zu liegen schien, aber bei Giovannella konnte man nie wissen. Manchmal, wenn sie ihre sanfteste Miene aufgesetzt hatte, stand sie kurz vor dem Explodieren, und wenn sie explodierte, konnte sie alles mögliche anstellen: sich vor eine Straßenbahn werfen, aus dem Fenster springen, einem die Augen auskratzen.
»Tut mir leid«, sagte er. »Ich hab das nicht so gemeint, was ich vorhin gesagt habe.«
»Eddie«, sagte sie – Kapitulation, Verzeihung und Tadel, alles zusammen in zwei Silben und einem Ton, und dann umschlang sie ihn mit einer Kraft und Heftigkeit, die berauschend und erschreckend zugleich waren, sie küßte ihn, schob ihm ihre Zunge in den Mund, wieder und immer wieder, erdrückte ihn und riß an ihm, bis er schließlich die Hände gegen ihre Schultern stemmen und nach Luft schnappen mußte.
»Ich werde nicht zulassen, daß mein Sohn von einem Spaghettischuster aufgezogen wird, ist das klar?« verkündete er.
Das ließ sie nur noch fester zupacken. Sie war eine in der Brandung Ertrinkende und er der Rettungsschwimmer, der sie herauszog, ihre Nägel bohrten sich in ihn wie Krallen, jeder Muskel kämpfte darum, ihn hinabzuziehen, sie wollte ihn nicht freigeben, ließ ihn nicht Atem holen, kein neutrales Terrain, keine Auszeit gestattet, ihre Lippen waren seine, ebenso die Nase, die Augen und die Atemluft. »Ach ja?« sagte sie, und ihre Stimme klang bedrohlich. »Und was ist mit dem Sohn, den du schon hast – wer zieht den auf? Hä? Sag schon. Wer zieht ihn auf?«
Rosaleen zog ihn auf, und falls es in deren Leben einen Mann gab, so wußte er nichts davon. Er schickte ihr Geld, wenn er daran dachte, und sie sandte ihm Schweigen zurück. Keine Briefe, keine Photos, gar nichts. Doch wenn er sie sich vorstellte, und das tat er hie und da, wenn er allein war und ein Bier trank und eine kummervolle Melodie auf dem Grammophon spielte, dann stellte er sie sich allein und wartend vor, eine Photographie des gutaussehenden Eddie O’Kane an der Wand über ihrem Bett.
»Das geht dich nichts an«, sagte er.
Ein Windstoß fegte über den Boden, plötzlich klebten Papierschnitzel an den Wurzeln des Baumes, und die Äste über ihnen ächzten. Immer noch klammerte sie sich an ihn, ihr Atem war heiß auf seinem Gesicht, dazu der Geruch ihrer Haut, Seife und Parfum. »Du bist mein Mann, Eddie«, flüsterte sie, »du bist es für mich. Sei ein richtiger Mann. Bring mich woandershin, nach San Francisco, Los Angeles. Oder zurück nach Boston, das ist mir egal, ich gehe überallhin mit dir.«
»Hier ist mein Zuhause. Mr. McCormick...«
»Mr. McCormick. Erzähl mir bloß nichts über Mr. McCormick.« Sie stieß ihn von sich, ihre Augen waren geweitet und riesengroß, das lose Haar flatterte ihr um die Schultern. »Es ist nur eine Stellung, Eddie – du findest überall eine neue, ein großer starker Mann wie du, hier in Amerika geboren und mit einer guten Ausbildung. Wo ist denn dein Drei-Uhr-Glück, von dem du immer redest? Vertrau ihm. Vertrau mir.«
Aber in seinem Kopf war der Vorhang bereits gefallen. Das Stück war vorbei. »Du mußt es wegmachen lassen.«
»Niemals.«
»Ich erledige das. Ich hör mich um. Er – wie heißt er noch? –, er braucht es nie zu erfahren. Niemand erfährt es.«
Auf einmal, und er wußte nicht genau, wie es anfing, boxten sie miteinander. Oder sie boxte, und er versuchte eigentlich nur ihre Schläge abzufangen. Sie erhoben sich dabei mühsam auf die Knie, dann auf die Füße. Sie prügelte auf ihn ein, genau wie Rosaleen. »Ich hasse dich«, sprudelte sie heraus, keuchend und weit ausholend, ihre Stimme tödlich ruhig zwischen einem rasselnden Atemzug und dem nächsten. »Das ist Mord, wovon du da sprichst, du... dreckiger Hurensohn, Mord an... einer unschuldigen Seele... Wie kannst du auch nur... daran denken, du als... Katholik?«
Dann hörte sie auf zu schlagen und blieb stocksteif stehen, er aber behielt die Hände oben, für alle Fälle. Er blickte kurz in die Runde, um festzustellen, ob irgendwer zusah, doch das Grundstück lag verlassen da. Ihre Augen waren feucht. Tief in der Kehle machte sie ein Geräusch, und er dachte schon, sie würde gleich losheulen, aber sie warf nur in einer heftigen, leidenschaftlichen Geste den Kopf nach hinten und spuckte ihm aufs Hemd, ein glitzernder Klumpen aus italienischem Speichel, der wie ein Juwel an einer Schnur dort hängenblieb. »Hast du überhaupt keine Gefühle?« wollte sie wissen, und immer noch schrie sie nicht. »Du Stinker!« fauchte sie. »Du Schwein. Hast du denn kein Herz?«
Doch, das hatte er. Er hatte sehr wohl ein Herz, aber er war nicht bereit, mit ganz Sizilien einen Krieg anzufangen, und er würde den Teufel tun und zulassen, daß ein Kerl namens Guido Capolupo sein eigen Fleisch und Blut großzog, und deshalb ging er, sobald Giovannella ihm den Rücken gekehrt hatte und über das leere Grundstück in ihrem steifen, von den Röcken behinderten Trott davongehastet war, zu Menhoffs Kneipe, um herauszufinden, was sich da unternehmen ließ. Er hatte vor, erst mal ein Bier und einen Whiskey zu kippen, um das Pochen in seinem Kopf und das saure Brennen in seinem Bauch zu lindern – obwohl er das Zeug nicht brauchte, nicht richtig, nicht so wie sein Alter –, und dann vielleicht ein paar diskrete Erkundigungen einzuholen, sonst nichts.
Bei Menhoff ging es an diesem Nachmittag ziemlich lebhaft zu, und das half ihm, über den ersten Schock hinwegzukommen – er schüttelte ringsherum Hände, setzte ein fröhliches Gesicht auf, spielte sogar ein paar Runden Pool. Doch trotzdem war er in einer anderen Welt, ihm tat alles weh, von den knirschenden Backenzähnen bis zum Knochenmark, und wozu sollte er für das Billardqueue Kreide verwenden, wenn er es mit dem eigenen Zahnmehl einreiben konnte? Eigentlich hatte er ein Picknick am Strand mit einer Frau geplant, die er vergangene Woche auf einer Party getroffen hatte, aber jetzt war ihm klar, daß er das nicht durchziehen konnte, also rief er sie an und deckte sie mit einem Blizzard aus Versprechen und Lügen ein. Giovannella hatte ja recht – Abtreibung war eine Schweinerei und außerdem eine schlimme Sünde. Und er war schließlich noch Katholik, auch wenn er nicht mehr zur Messe ging, außer an Weihnachten und Ostern, aber er glaubte daran, daß Gott ihm zusah und ihn richtete und sogar verachtete, während er an der Theke saß und ein Bier zum Mund hob. Aber was war die Alternative? Er versuchte sich ein Leben in San Francisco vorzustellen, einer Stadt, die er nur von Ansichtskarten kannte, wo Giovannella dick werden würde, bis ihr Nabel hervorquoll, ihre Titten wie Ballons aussahen und ihre Beine jede Form verloren, und was dann? Ein Leben in Sünde. Mit einem Baby, das in den Augen der Kirche und auch der Gesellschaft ein Bastard wäre. Und dann noch ein Baby. Und noch eins.
Er war jetzt acht Jahre lang bei Mr. McCormick, länger als in der Bostoner Irrenanstalt und im McLean zusammengenommen, er verdiente gut, und einiges davon legte er auf der Bank an für den Tag, an dem er sich selbständig machen würde – ob das dann in Orangen oder in Öl wäre oder in einer dieser neuen Servicefirmen, die im Gefolge des Automobils entstanden waren, das wußte er noch nicht. Aber einstweilen wollte er Mr. McCormick nicht verlassen. Es war eine Frage der Loyalität – er wollte ihn gesund werden sehen, ja wirklich; in gewisser Weise hatte er sein Leben darauf gesetzt –, und selbst wenn Hamilton jetzt ging und dieser neue Mann, Brush, statt seiner kam, wußte O’Kane, daß er noch eine ganze Weile in Riven Rock bleiben würde. Er könnte die Sache einfach laufen lassen, ihr den Rücken kehren und den Schuster einen kleinen O’Kane aufziehen lassen, wie einer dieser Pechvögel, die der Kuckuck ausnutzt, indem er ihren Nestern einfach seine Eier unterschiebt, ohne daß sie es merken. Das könnte er. Aber es würde weh tun, und die Sache mit Rosaleen und Eddie jr. tat schon weh genug.
Er war bei der zweiten Runde – oder war’s schon die dritte? –, als Dolores Isringhausen hereinspaziert kam. Bei ihr war eine zweite Frau, beide mit Pelzstola und Glockenhut, Bubikopffrisur und einem Rock, der ihnen die Waden hinaufkroch, und hinter ihnen drängte eine lärmende Meute in die Kneipe. Sie stammte aus New York, diese Dolores, war mit einem reichen Kerl verheiratet, der an der italienischen Front den Pfadfinder spielte, und sie führte hier ein ziemlich flottes Leben. Niemand in Santa Barbara hatte so etwas wie sie schon gesehen. Sie rauchte, trank Jack-Rose-Cocktails und fuhr ihren eigenen Wagen, einen kleinen Maxwell-Flitzer mit Weißwandreifen, den sie von der Ostküste hatte herübertransportieren lassen. O’Kane war fasziniert von ihr. Er hatte sie ein paarmal in diversen Runden erlebt, und ihm gefiel ihr wissender Blick, ihre glitzernden kalten Augen und die Art, wie ihr Kleid eng an den Hüften anlag, immer etwas Seidiges, Tastbares, und nie diese gestärkten Büßerkutten, in denen die Hälfte aller Frauen der Stadt sich durch die Gegend schleppte, als wanderten sie von einem Begräbnis zum nächsten. Und sie schien auch nichts gegen Saloons zu haben.
»Hallo, Eddie«, sagte sie und ging geradewegs ans Ende der Theke auf ihn zu, die andere Frau zockelte ihr mit einem eingefrorenen Lächeln und einem nichtssagenden Kopfnicken zu diesem und jenem Gast hinterher. »Du siehst aber schwermütig aus. Was ist denn los? Es ist Samstag. Die Nacht winkt und lockt.«
Wie um sie Lügen zu strafen – bezüglich der Schwermut –, grinste er sie an, zeigte ihr die Zähne, das Grinsen eines Höhlenmenschen, der gerade ein Mastodon mit der Keule erschlagen hatte und es nun seiner geliebten Höhlenmenschenfrau zu Füßen legte, und dabei ließ er in seinem Jackett die Schultern spielen, um ihr zu zeigen, wie er ausgestattet war. Sein Blick erfaßte den ihren. »Ich habe nur auf dich gewartet, damit du mir den Tag versüßt.«
Ihre Augen hatten eine verrückte Farbe – fast konnte man sie violett nennen –, und er bemerkte, daß sie die oberen Lider auf ziemlich theatralische Art geschminkt hatte, um das noch zu betonen. Sie reagierte nicht auf seine Ouvertüre, nicht direkt jedenfalls. Sie senkte den Kopf, fischte aus ihrem mit schwarzen Perlen besetzten Retikül ein Zigarettenetui und sah ihn dann an. »Komm doch und setz dich zu uns rüber«, sagte sie und nickte in Richtung des Speisesaals, wo Cody Menhoff persönlich herumwieselte, um ihr einen Tisch herzurichten. »Du kannst mir mal Feuer geben.« Und dann rauschte sie durch den Raum, die andere Frau in ihrem Kielwasser, und auch der Rest der Gruppe strebte dem Tisch mit dem sauberen weißen Tuch zu, auf dem ein Teller mit Sandwiches und – in der Mitte – ein Jack-Rose-Cocktail in einem langstieligen Glas standen, wie ein Tribut an sie.
Die Gesellschaft bestand aus vier Männern (alles Waschlappen, von denen O’Kane zwei auf einmal hätte umschubsen können, mit einer Hand auf den Rücken gebunden) und drei Frauen, die herausgeputzt waren wie Pariser Straßendirnen – oder so, wie sich O’Kane Pariser Straßendirnen vorstellte. Wissen konnte er es nicht. Nicht genau. Im Gegensatz zu diesen feinen Pinkeln mit dem gepreßten Lächeln, den Zigarettenspitzen und dem Akzent aus dem Racquet-Club, war er noch nie in Paris gewesen. Nicht einmal in New York.
Mit Dolores und ihrer Freundin mit dem leeren Blick waren sie neun und mit O’Kane zu zehnt. Sie ließ ihn direkt neben sich Platz nehmen, und während sich die Unterhaltung vom Krieg in Europa über Rocklängen zu Klatsch über Leute entspann, die O’Kane nicht kannte, beugte sie sich dicht zu ihm heran, schenkte ihm einen Blick aus ihren lila Augen und raunte mit heiserer, modulationsloser Stimme: »Was ist mit dem Feuer, das du mir versprochen hast?«
O’Kane hielt ein Streichholz an ihre Zigarette, und der ganze Tisch steckte sich eine an, überall qualmte es, die Gläser waren schon wieder leer, der Kellner brachte eine zweite Runde, und alle tranken sie Jack-Rose-Cocktails (40 ml Apple Brandy, den Saft einer halben Limette, 1 Teelöffel Grenadinensaft, mit Eis in einem Shaker schütteln, dann in ein Cocktailglas abseihen).
»Was ist mit dir, Eddie«, schnurrte Dolores und hob das Kinn beim Ausatmen, die Lippen zu einem kleinen Schmollmund gespitzt, »rauchst du nicht?«
Er zuckte die Achseln. Grinste. Ließ den Blick seiner Augen geradezu in die ihren hineinstrahlen. »Ab und zu mal paff ich gern eine Zigarre zu einem Glas Whiskey, meistens spät in der Nacht. Aber für Zigaretten hab ich weniger übrig, normalerweise.«
»Ach, die hier werden dir schmecken. Probier mal eine.«
Und dann berührte sie mit der glühenden Spitze ihrer Zigarette die, die er sich aus ihrem mit Monogramm versehenen Etui genommen hatte, und sie war ihm dabei so nahe wie vor einer Stunde noch Giovannella, nur war das jetzt anders, es war nett, der Anfang des Tanzes und nicht das Ende. »Herrlich«, sagte er und stieß den Rauch aus. »So mild.«
Sie sah ihn an. »Das sollte sie auch sein. Die kommen von weit her, aus der Türkei.«
Sie redeten den ganzen Nachmittag und in den Abend hinein, und sie trank dabei Jack-Rose-Cocktails, als wären sie nicht stärker als Schafsmilch, und rauchte alle Zigaretten, die sie im Etui hatte. Und worüber redeten sie? Über das Leben. Santa Barbara. Mr. McCormick. Ihren Mann. Italien. Den Krieg. Musik. Mochte er Musik? Aber sicher, und als sie Arm in Arm hinausgingen, um in ihren Wagen zu klettern und zum Abendessen in Matteis Taverne zu fahren, ganz egal, was aus dem Rest ihrer Gesellschaft wurde, da drückte er sie sanft gegen die Motorhaube und sang ihr etwas vor, in dem leisen Trällerton, der ein weiteres Erbe seines Vaters war:
Ich schenk dir einen Fingerring
und deinen Fuß will ich liebkosen,
selbst Elefanten ich dir bring
du schönste aller Rosen!
Sie ließ sich von ihm küssen, ein köstlicher, träumerischer Kuß, der ihm Zeit gab, sich an sie zu gewöhnen, sie war größer als Giovannella, schlanker, und mit Lippen so straff wie Seile – und dann saßen sie im Wagen und atmeten schwer, alle beide. »Das war wunderschön, Eddie – das Lied, meine ich«, murmelte sie, ganz leise und heiser, »und der Kuß, der war auch nett«, und dann legte sie den Gang ein, und zum erstenmal saß er in einem Automobil mit einer Frau am Steuer, und er erzählte ihr, daß ihm seine Mutter dieses Lied beigebracht hatte, drüben an der Ostküste, daheim in Boston, wo er geboren war.
»Und das Küssen?«
Er nahm ihre Hand. Sie spielte ein Spiel, das er von allen Spielen am liebsten mochte. »Das haben mir hundert Mädchen beigebracht, aber keine war so hübsch wie du.«
Es war immer noch hell, und während der Wagen rasch zum San-Marcos-Paß hochbrauste und sich von dort in das fruchtbare Land des Santa Ynez Valley hinabschlängelte, sah O’Kane durchs Fenster auf die Welt hinaus, die in all ihrer schimmernden Unschuld dalag, für ihn ausgeschnitten wie auf einer Kinoleinwand, aber in Farbe, in lebendigen Farben. Jeder Busch entlang der Straße stand in lodernder Blütenpracht, das Laub der Bäume, die oberhalb der Windschutzscheibe dahinhuschten, war jedesmal von einer anderen Grünschattierung, und die Berge waren scharf voneinander abgegrenzt, wie mächtige, in Formen gegossene Blöcke aus Ahornsirup, genug Ahornsirup, um ganz China den Tee zu süßen. In ihm glomm der Whiskey und die Vorfreude auf das, was kommen würde, das war todsicher bei dieser Frau, allein gelassen von ihrem Ehemann, der an einem dieser Orte, die man aus der Zeitung kannte, vor irgendeinem Lagerfeuer hockte, und so lehnte er sich im Sitz zurück, horchte auf das Motorengeräusch, starrte auf die grandiose Weite der Natur hinaus, und offenbarte sich ihm in alldem etwa nicht das Antlitz Gottes, des Allgütigen Gottes und seines Sohnes, des Erlösers?
Aber sicher doch. Und es war kein grimmiger, anklagender Gott, der sich über ihm erheben würde, um Blitze zu schleudern, die Erde sich auftun zu lassen und seinen ewigen Finger der Verdammnis auf einen Kindermörder und Ehebrecher zu richten, der da eilig zum Genuß der nächsten sündigen Fleischeslust unterwegs war... nein, nein, überhaupt nicht. Der liebe Gott lächelte, ein Lächeln so breit wie ein Fluß, so groß wie ein Baum, und dieses Lächeln verlieh O’Kane das Gefühl, als wäre eine Lampe in ihm entzündet worden. Alles würde gut werden, da war er sicher. Natürlich war er voll wie eine Haubitze, und damit mochte wohl diese plötzliche Manifestation des Schöpfers und die Empfindung von Güte und Wohlbefinden zu tun haben, die ihn von einem Atemzug zum anderen erfaßt hatte... trotzdem, so war es nun einmal, und während er in den Sitz geschmiegt neben Dolores Isringhausen saß, Whiskey in den Adern, die schräge Sonne warm auf dem kantigen Kinn, dachte er, daß er vielleicht schon gestorben sei und nun seinen gerechten Lohn bekomme.
Es war früh am nächsten Morgen, nachdem sie sich in ihrem Schlafzimmer auf den Satinlaken zweimal geliebt hatten und das gedämpfte, geruhsame, von Zigaretten interpunktierte Raunen ihrer Unterhaltung langsam verebbt war, als er wieder an Giovannella dachte. Dolores lag neben ihm auf dem Rücken, hingestreckt wie eine von einer Klippe gefallene Puppe, ihre Brüste auf der Wölbung ihrer Rippen ausgebreitet, die Beine gespreizt. Sie rauchte, die Zigarette ragte von ihren Lippen steil empor und sandte einen Strom von Rauch senkrecht nach oben, und er strich geistesabwesend über das Haar zwischen ihren Beinen, entspannt wie ein Toter – bis auf diesen kräftiger werdenden Funken von Giovannella im Kopf.
»Dolores?« fragte er in die Stille hinein.
»Hm?«
»Kennst du irgendwelche Ärzte? Persönlich, meine ich.«
Und obwohl es bei Sonnenaufgang Sonntag war, der Tag des Herrn, und alle Gläubigen in ihre Kirchen und wieder hinaus trotteten, egal, ob es Katholiken, Protestanten oder ägyptische Hundeanbeter waren, war O’Kane unterwegs zu Giovannellas Haus, in der Tasche eine Karte aus weißem Karton, auf der Dolores Isringhausen ihm in ihrer elegant geschwungenen Mädchenpensionatshandschrift einen Namen samt Adresse notiert hatte, und als er dort war, wartete er hinter der Ecke, bis der Schuster ausgegangen war, um zu erledigen, was immer Schuster sonntags zu erledigen haben mochten. Dann sah er über die Schulter, schluckte sein Herzklopfen hinunter und stieg die durchgetretene Treppe vor dem Haus hinauf.
Giovannella wirkte überrascht. Weder hoffnungsfroh noch zornig, nur überrascht. »Du kannst heute nicht kommen, Eddie. Guido ist nur kurz ausgegangen – er kann jede Minute zurück sein.«
»Zum Teufel mit Guido«, sagte er, und dann war er in der Wohnung, zog die Tür hinter sich zu. Und was sah er dort als allererstes, an die Wand des Windfangs genagelt in all Seiner gekreuzigten Pein? Klar doch: da starrte ihm Christus ins Gesicht.
»Eddie. Du mußt wieder gehen. Du kannst nicht...«
»Ich hab was für dich«, sagte er und hielt ihr die Karte entgegen.
Ihre Miene war ausdruckslos. Er sah ihren konzentrierten Blick, die sich öffnenden Lippen, und da, die Zungenspitze kam hervor. Sie war keine, die viel las. »Cy... rose?... Brown«, stückelte sie zusammen, »eins-zwei eins-zwei Cha... pala Street. Emm, Punkt, Deh, Punkt.« Sie sah wieder auf. »M.D. Was heißt denn das?«
»Doktor«, sagte er und verlagerte das Gesicht auf die Fußballen, fühlte sich elend und schlecht, »M.D. ist ein Arzt. Du weißt wohl gar nichts?«
Das Begreifen begann in den Mundwinkeln und arbeitete sich dann durch die verkrampfte Kiefermuskulatur empor zu ihren Augen, und in diesen Augen lag kein liebevoller, herzlicher Blick, nicht an diesem Morgen, jetzt nicht mehr. Sie stieß einen Fluch aus, auf italienisch, und obwohl er die Feinheiten nicht nachempfinden konnte, verstand er sinngemäß durchaus. »Du Hurensohn«, sagte sie. »Du unverfrorener Hurensohn. Wieso bist du dir eigentlich so sicher, daß es von dir ist, hä?«
»Weil du’s mir gesagt hast. Weil du zu mir gekommen bist. Bei Guido spürst du doch überhaupt nichts, hast du mir das etwa nicht erzählt? Und daß seiner bloß so klein ist?«
»Er ist ein besserer Mann als du.«
»Von wegen.«
»Doch, das ist er. Und hast du dir nie überlegt, daß ich es vielleicht nur deinetwegen gesagt habe, damit du dich als großer Kerl fühlst, hä? Denn so war’s, du Hurensohn! Ich hab gelogen. Ich hab dich angelogen, Eddie. Guido hat ein Ding wie ein Pferd – was sagst du dazu? Und du wirst meinem Kind nichts tun – meinem Kind, nicht deinem. Niemals!«
Es war Rosaleen von vorne bis hinten, und ihm blieb ein knapper Moment der Verwunderung über die sich verschiebenden magnetischen Pole der Liebe, von Venus direkt zum Mars, ohne Zwischenstadium, kein Ort, wo man sich sammeln und zum Rückzug blasen konnte, und als sie mit dem Eisstichel auf ihn losging, der die ganze Zeit über unauffällig auf dem Eisschrank gelegen hatte, da wollte er sich nur schützen, und so sahen beide mit jenem Staunen, das sonst nur Zauberkünstler erwecken können, dabei zu, wie die blitzende Nadel aus Stahl seine geöffnete Handfläche glatt durchbohrte und auf der andere Seite herauskam, als gäbe es so etwas wie Fleisch und Blut gar nicht.
»Sie werden es mir wohl nachsehen, wenn ich Ihnen nicht die Hand schüttle«, sagte O’Kane, nickte Dr. Brush an der Tür zur Begrüßung zu und hielt die bandagierte Rechte entschuldigend in die Höhe. Mart kam hinter ihm herein, das Streichorchester spielte bereits eine Melodie, so leicht wie die Luft, und der große neue Raum war festlich und hell erleuchtet. »Ah, und Sie müssen Mrs. Brush sein«, sagte er, fühlte sich leutselig und jederzeit bereit, ein Lied anzustimmen,Witze zu reißen, ein Bierchen zu zwitschern oder auch ein, zwei Glas Punsch mit ordentlich Gin drin. Gerade wollte er sagen, er habe schon viel von ihr gehört, doch da wurde ihm klar, daß er nichts von ihr gehört hatte, kein Wort. Nach allem, was er von Mrs. Brush wußte, hätte sie eine Kannibalin von den Fidschi-Inseln mit einem Knochen in der Nase sein können, aber da war sie, stand neben ihrem Mann an der Tür, eine schmächtige, hagere Frau mit eckiger, schnabelartiger Nase und zwei stechenden schwarzen Augen, die nicht größer als die einer Krähe waren.
Sie griff nach seiner verbundenen Hand und zuckte zurück, als hätte sie sich an einem heißen Ofen verbrannt, faßte aber gleich wieder hin und dann noch einmal, ehe O’Kane ihr schließlich die linke Hand hinhielt und die bandagierte diskret hinter dem Rücken versteckte. Was nun folgte, war noch eigenartiger, denn der Vorgang wiederholte sich: sie griff nach seiner gesunden Hand und zuckte zurück, zweimal, dreimal, und als er in ihrem Gesicht nach einer Erklärung suchte, begrüßte ihn dort eine ganze Batterie von nervösen Tics und Grimassen – genug jedenfalls, um den unvergessenen Dr. Hamilton als blutigen Amateur dastehen zu lassen. Sie sagte etwas, das als lautes Quäken herauskam, dabei zuckte und zitterte und nickte sie die ganze Zeit, bis Dr. Brush eingriff.
»Gladys, ist gut«, donnerte er, während er massig in der Eingangshalle herumwirbelte und die Tür zuknallte. »Das sind die zwei Herren, von denen ich dir erzählt habe, Edward O’Kane – wir nennen ihn Eddie – und Mart Tomkins, äh, Thompson. Ja, Liebes, gut so, jetzt sag schön guten Tag...«
Mart, der mit seinem Dickschädel die Dinge immer etwas langsam einschätzte oder sich ihrer auch nur bewußt wurde, sah Mrs. Brush verdattert an und ergriff ihre Hand, die sie ihm sofort entriß und hinter dem Rücken verbarg. Mart schaute O’Kane an, und O’Kanes Blick sagte ihm alles, was er zu wissen brauchte: die Frau des Psychiaters war ein Fall für die Klapsmühle.
Und was hatte sie an? Etwas ganz Schlichtes und Altmodisches, graubraun wie eine Pferdedecke und bis zum Boden herabhängend, als schriebe man immer noch den Anfang des Jahrhunderts. Aber sie lächelte, zumindest schien es ein Lächeln zu sein, was da durch die frenetische Signalgebung aus Tics, Zuckungen und Fratzen drang, und das genügte O’Kane. Er lächelte zurück, bot ihr seinen Arm, den sie nach längerem Hin und Her und Her und Hin schließlich nahm, und geleitete sie die sechs Stufen hinauf in den großen Saal voller vertrauter und weniger vertrauter Gesichter.
Die Feier fand sowohl zu Ehren der Wachablösung durch Dr. Brush als auch zur Einweihung des neuen Theatergebäudes statt, das man errichtet hatte, damit sich Mr. McCormick bequem an Lichtspielen, Konzerten oder Theaterstücken ergötzen konnte. Es war ein Riesengebäude, etwa so groß wie drei normale Einfamilienhäuser, im Zentrum der gewaltige, zwei Etagen hohe Vorführsaal, mit Büros für Dr. Brush und den Grundstücksaufseher auf den Seiten und einem Schlafraum für Mr. McCormick im rückwärtigen Teil – falls er einmal beim Ansehen eines Films müde werden sollte. Alle fanden, daß er mehr Stimulation brauchte – die Doktoren Meyer, Hamilton und Brush ebenso wie Katherine und sogar die McCormicks in Chicago –, und zu diesem Zweck war das Theater erbaut worden. Es lag nur einen kurzen Spaziergang vom Haupthaus entfernt – keine zweihundert Meter –, und die Landschaftsarchitekten hatten entlang des Weges eine Sprinkleranlage hoch oben in den Bäumen installiert, so daß Mr. McCormick das beruhigende Murmeln eines sanften Regens hören konnte, auch wenn er bei schönem Wetter hinüberging, und war das nicht eine Stimulation sondergleichen: Regen auf Bestellung? Auch den Sicherheitsaspekt hatte man nicht vernachlässigt: alle Fenster waren zwischen den Doppelscheiben mit einem eleganten filigranen Gitter aus Schmiedeeisen verstärkt, das ein hübsches Rautenmuster ergab, und sämtliche Türen waren mit Dreifachschlössern versehen, von denen jedes einen eigenen Schlüssel benötigte.
Es war beeindruckend, wirklich beeindruckend, und dennoch mußte O’Kane unwillkürlich an die armen normalen Verrückten in der Irrenanstalt von Boston denken, die einfach zusammen in einen Käfig getrieben wurden, wo man ihnen die Scheißekruste mit Hochdruckschläuchen herunterspritzte. Aber die hießen eben nicht McCormick, nicht wahr? Und als feiner Herr war Mr. McCormick eben feine Dinge gewöhnt, und O’Kane als sein Pfleger befürwortete natürlich alles, was sich für ihn tun ließ, vor allem da Geld keine Rolle spielte. Stimulation? Sicher, er sollte soviel stimuliert werden, wie er nur aushielt – Hauptsache, das Ganze überreizte ihn nicht, stieß ihn nicht zurück in den langen dunklen Tunnel, an dessen Ende Zwangsernährung und Windeln lagen.
Jetzt aber war die gesamte Nachbarschaft im Saal versammelt, um Drinks und leichte Unterhaltung zu genießen sowie die Vorführung eines neuen Bronco-Billy-Films, gedreht in den FlyingA-Studios gleich nebenan in Santa Barbara, und als O’Kane den Raum betrat, die irre grinsende Mrs. Brush an seiner Seite, da fühlte er sich so quietschvergnügt wie als kleiner Junge zu Weihnachten. Nicks Frau hatte den Saal mit Papierschlangen dekoriert, über einen Tisch in der Ecke war ein großes Tuch gebreitet, darauf war eine Bar aufgebaut, und ein Bursche im Smoking stand dahinter und bediente. Und Luftballons, überall Luftballons. Das Orchester hatte etwas Fröhliches, Luftiges gespielt, als er hereinkam, jetzt aber wechselten sie zu etwas über, das man in den Fußsohlen spürte, und ein paar Leute standen auf und tanzten. Er reichte Mrs. Brush an einen großen Mann mit glänzendem Kahlkopf weiter, der plötzlich zu seiner Rechten auftauchte – Dr. Ogilvie, nominell Mr. McCormicks Zahnarzt –, und ging auf die Bar zu.
Er bestellte einen Highball, und während der Barkeeper ihn mixte, warf er einen Blick über die Schulter und sah Katherine keine drei Meter weit weg stehen, sie lachte gerade über etwas, das die Frau neben ihr sagte. Sie sah gut aus, verdammt gut, ganz in Grün und mit einem kleinen grünen Hut, der auf ihrem Haar saß wie ein Vogelnest. Er würde natürlich nicht mit ihr reden, außer es war unbedingt nötig, deshalb wandte er sich wieder der Bar zu, ehe sie seinen Blick bemerkte. Da bahnten sich Dr. Brush und Mart einen Weg zu ihm, der Arzt war leicht gerötet und gut gelaunt und hielt Mart gerade einen Vortrag darüber, warum etwas schlicht und einfach war, wie es war. »Eddie!« rief er, und schon schlang sich ein mächtiger Arm um O’Kanes Schulter, ein Arm so schwer wie eine Pythonschlange, und O’Kane roch die Fahne des Doktors. »Und, sorgt man hier gut für Sie?«
»Ja, klar.« O’Kane hob sein Glas zum Mund, den Whiskeyduft stechend in der Nase, und tat so, als wäre er ein Perlentaucher.
»Ihr Jungs seid schwer in Ordnung«, dröhnte Brush und quetschte Marts Schulter mit dem anderen Arm, drückte auf ihnen herum wie auf preisgekrönten Räucherschinken. »Hören Sie zu, Eddie. Ich will Ihnen das mal sagen, schlicht und einfach aus dem Grund, weil Gladys findet, daß Sie ein Goldstück sind. Und da stimme ich ihr zu.«
O’Kane sah Mart an. Der hielt sich an einem Drink fest, er wirkte schwerfällig und benommen. Für ihn mußte es ziemlich ungewohnt sein, aus seiner Mönchszelle im Hauptgebäude in so etwas hineinzugeraten.
»Hören Sie mal. Ganz unter uns, weil wir Freunde sind und, äh, gemeinsame Angestellte von Mr. McCormick. Also, Ihnen ist vielleicht aufgefallen, daß meine Frau ein bißchen, wie soll ich sagen – erregbar ist? Keine Sorge. Sie war früher mal Patientin. Meine Patientin, um genau zu sein. Eine gescheite Frau, wirklich ein kluger Kopf...«
O’Kane, dem im Griff des Arztes langsam ungemütlich wurde, sah zu Mrs. Brush hinüber, die immer noch bei dem Zahnarzt stand, ihr Gesicht pausenlos durch alle Permutationen jagte, und am Ende jeder Sequenz entblößte sie die Vorderzähne wie ein Kaninchen. Besonders gescheit wirkte sie nicht. Statt dessen erinnerte sie ihn verdächtig an einige der Verrückten, die er im McLean gesehen hatte.
»Sie leidet am Tourette-Syndrom«, erklärte der Arzt. »Das ist keine Form des Irreseins, keineswegs, nur eine Schwäche. Eine moralische Schwäche, eigentlich. Und wir arbeiten daran, das tun wir. Sehen Sie, ihr Verstand rast ihrem Körper weit voraus, wie ein Automobil bei voll durchgetretenem Gashebel im Leerlauf, und das verursacht ihr alle möglichen Peinlichkeiten, schlicht und einfach aus dem Grund, daß sie es einfach nicht beherrschen kann... aber in Wirklichkeit ist sie nicht verrückter als Sie oder ich, nicht im Inneren, und ich, äh, ich war Ihnen wirklich dankbar, als Sie ihr da vorhin den Arm gereicht haben, Eddie, das war nobel von Ihnen.«
In diesem Augenblick betrat Dolores Isringhausen den Saal, begleitet von ihrer Freundin mit dem nichtssagenden Lächeln und zwei Männern mit bleistiftdünnen Schnurrbärtchen und vor Pomade glänzenden Haaren. Oder nein, sie betrat ihn nicht – sie tänzelte herein, schwang ihre korsettlosen Hüften von einer Seite zur anderen wie eine Bauchtänzerin, und sie schaffte es, daß jede Frau im Raum, selbst Katherine, aussah wie die Nachrichten von gestern. Drei Jahre später würde sich jede Frau in Amerika so anziehen wie sie – oder es zumindest versuchen –, nur natürliche Linien, lange Beine, jungenhafte Figur, mit einem Hut wie ein Eichelnapf und stark geschminkten Augen, jetzt aber hatten sie die Bühne ganz für sich allein, sie und ihre Freundin. O’Kane war elektrisiert – damit hatte er nicht gerechnet –, und zwei Gefühle überfluteten jetzt sein System mit Drüsensekretionen, die ihn ebenso zucken ließen wie Mrs. Brush: Lust und Eifersucht. Wer waren diese Männer, von denen einer die Hand an ihrem Ellenbogen hatte?
Im nächsten Moment durchquerte er den überfüllten Saal, ganz Montecito war anwesend, samt Juwelen, Pelzmänteln und Krawatten, und keiner sorgte sich darüber, daß der angebliche Gastgeber dieser Party im Hauptgebäude eingesperrt saß, in seinem Zimmer mit den Eisengittern am Fenster, nicht im geringsten, und eigentlich war es ein kleines Wunder, daß er selbst überhaupt hier war. Natürlich, den Film hatte er schon am Nachmittag mit Mart und Mr. McCormick gesehen, trotzdem mußte er sagen, daß es von Katherine – und Brush, nahm er an – anständig war, zu diesem Fest auch die Pfleger einzuladen. Heute abend waren Millionäre und Industriekapitäne hier, und er stand hautnah neben ihnen, und nicht als irgendein Stiefelknecht oder Tellerwäscher – er war außer Dienst, ein Gast wie jeder andere. Das war schon etwas, und er wußte und genoß es, und er nahm sich vor, die allerbesten Manieren an den Tag zu legen, der lächelnde Eddie O’Kane, immer zur Stelle mit einem Händedruck und einer witzigen Bemerkung.
Er erreichte Dolores am Buffet, auf dem sich die guten Sachen aus Diehls Feinkostladen nur so türmten, und zwei von Diehls besten Leuten standen schick herausgeputzt hinter dem Tisch, um sie zu servieren. Sie hatte bereits einen Jack-Rose-Cocktail in der Hand, um die sich ein langer schwarzer Samthandschuh schmiegte wie eine zweite Haut, und sie lachte über etwas, was eines der schnurrbärtigen kleinen Wiesel gesagt hatte, dabei warf sie den Kopf zurück und legte die feingeäderte, küssenswerte weiße Kehle für jedermann frei. Es war drei Tage her, daß er sie auf die Art kennengelernt hatte, die am meisten galt, die Art, die zählte, und seither hatte er nichts mehr von ihr gesehen oder gehört – ihre Telephonnummer wußte er nicht, und er hatte kein Auto, um zu ihrem Haus zu fahren und herumzuschnüffeln. Aber das war ihm egal. Was er ihr gegenüber empfand, war keineswegs Liebe, nur ein gesunder, kräftiger Appetit auf einen Nachschlag, und allzu erpicht wollte er auch nicht erscheinen. Lässig, das war seine Art, lässig und locker.
Trotzdem, als er jetzt zusah, wie sie lachte und der Kerl ihre Hand ergriff, um seinen Witz noch zu unterstreichen – was war daran bloß so lustig? –, stellten sich ihm unwillkürlich die Nackenhaare auf, obwohl er wußte, er sollte es lassen, dies war absolut nicht der richtige Ort dafür, und er hatte nicht mehr Anrecht auf sie als ein halbes Dutzend anderer Burschen, zu denen nicht zuletzt auch ihr Mann gehörte. »Dolores«, sagte er mit leicht belegter Stimme, »wie ich sehe, hast du es auch zu unserer kleinen Feier geschafft.«
Das Gesicht, das sie ihm zuwandte, war wie eine Maske. In seiner Hand pulsierte es. Würde sie ihn schneiden, einfach so? War die Gesellschaft zu begütert für ihn? War er gut genug im Bett für sie, aber nicht hier unter all den feinen Pinkeln und Kapitalisten? »Eddie«, sagte sie leise und kehlig, beinahe tonlos, »wie nett, dich wiederzusehen.«
Er legte mit einer kleinen Rede über Mr. McCormick los, daß dieser leider indisponiert sei und bedauerlicherweise nicht zu seiner eigenen Party kommen könne. Er betonte seine Rolle als Mr. McCormicks Vertrauter und plusterte sich auf, als wäre er selbst der Gastgeber, dem all dies gehörte, bis ihn der schnurrbärtige Kerl unterbrach. »Sind Sie ein Freund von Stanley?« fragte er. »Ich kenne ihn noch aus Princeton.«
»Also, ich...« stammelte O’Kane und spürte, wie er im Boden versank, ins Trudeln kam, den Grund unter den Füßen verlor, was hatte er sich bloß dabei gedacht?
Dolores rettete ihn. »Meine Güte, Eddie!« rief sie in die Pause hinein. »Was ist mit deiner Hand passiert?«
Dankbar hielt er sie in die Höhe, der weiße Wickelverband wurde plötzlich zum Mittelpunkt der ganzen Party, und erfand eine komplizierte Geschichte, wonach er Mr. McCormick vor einem wahnsinnigen Avocadobauern hatte schützen müssen, der ihnen bei einer Spazierfahrt die Überquerung seines Grundstücks verweigern wollte, dabei fuchtelte er dem Schnurrbart mit der Hand im Gesicht herum, wie um ihn zum Widerspruch herauszufordern. Und er fühlte sich auf einmal hervorragend, es kümmerte ihn nicht, was der Kerl dachte, wer er war oder wieviel Geld er besaß: Dolores war auf seiner Seite, was wohl heißen mußte, daß auch sie einen Nachschlag wollte. Und zwar von ihm, dem gutaussehenden Eddie O’Kane, nicht von dieser halben Portion mit dem Bleistiftbärtchen und dem schicken Anzug.
»Was für ein Jammer«, sagte sie, »das mit deiner Hand, meine ich.« Und dann stellte sie den Mann mit dem Schnurrbart vor: »Das ist mein Schwager, Jim – Toms Bruder. Er ist eine Woche bei uns zu Besuch, und er kommt gerade zurück aus Italien, wo er Tom getroffen hat...«
Und schon wechselte die Unterhaltung zu den Neuigkeiten vom Krieg in Europa und all den amerikanischen Freiwilligen dort drüben, jemand bemerkte, daß die USA sicherlich über kurz oder lang auch mit hineingezogen würden, und O’Kane, den das Thema langweilte, entschuldigte sich und ging sein Glas nachfüllen, da er meinte, Dolores werde ihn schon finden, wenn sie wollte. Mart stand immer noch an der Bar, er debattierte mit einem älteren Mann, dem die Backen zu beiden Seiten der Nase herunterhingen wie rote Wärmflaschen, über die Red Sox. »Dieser Ruth ist ein verteufelt guter Werfer«, sagte der Alte gerade und hob ein Glas an die Lippen, »und wenn Leonard und Mays ihre Form halten, dann zweifle ich keine Minute daran, daß wir dieses Jahr wieder in der World Series mitspielen.«
»Aber wir haben keinen guten Mann am Schlagmal«, sagte Mart. »Sind doch alle ein Haufen Weiber – nach dem, was ich so lese.«
»Na, das ist einerseits ein ungewöhnlicher Standpunkt, mein Sohn, doch andererseits haben Sie recht. Aber wir haben genug gute Leute – und dieser Gardner am dritten Mal ist eine Wucht, echt ein Gewinn...«
O’Kane glitt wieder davon, einen frischen Drink in der Hand, zu Dolores sah er nicht einmal hinüber – die hatte er jetzt so sicher wie noch jedes Mädchen und jede Frau in seinem Leben –, er hoffte nur, daß Katherine bald gehen würde, damit er sich ein bißchen lockerer geben konnte. Aber nur ein bißchen, schärfte er sich ein und hörte in Gedanken die Stimme seiner Mutter: Setz deine Manieren und dein hübsches Lächeln ein, Eddie, und diesen Kopf, den der Herrgott dir zwischen die Schultern gesetzt hat, dann wirst du’s im Leben so weit bringen, wie du willst. Er hatte vor, ein wenig umherzustreifen, ein paar Leute kennenzulernen. Vielleicht schnappte er ja den einen oder anderen Ratschlag über den Orangenanbau auf oder hörte etwas von einem Grundstück mit einer dieser Ölquellen darauf oder jedenfalls mit Öl im Boden darunter, und woran merkte man überhaupt, daß es Öl gab?
In diesem Moment legte das Orchester mit einer Hawaiinummer los, der steife alte Mr. Eldred legte seine Geige weg, griff nach einer Ukulele, klein wie ein Spielzeug, und schrammelte drauflos, als wäre er in Honolulu geboren. Alle waren überrascht und grölten herum und klatschten in die Hände, als sich aus dieser rhythmisch schrubbenden rechten Hand irgendwie der »Song of the Islands« herausschälte, und der Rest des Orchesters tänzelte dem Lied leichtfüßig hinterher. O’Kane hatte gerade bei einer Gruppe von korrekt gekleideten Männern gestanden, die eine hitzige Diskussion über die Vorteile eines Geschäfts führten, bei dem es um Millimeter und Zentimeter von irgend etwas ging, und wollte einen günstigen Moment abwarten, um sich einzumischen und nach ihrer Meinung zu den Grundstücksangeboten in Goleta zu fragen, jetzt aber drehten sie sich wie ein Mann dem Orchester zu und fingen an, im Takt zur Ukulele zu klatschen.
O’Kane begriff diesen Hawaiifimmel nicht recht – die Musik war in seinen Ohren so fad wie gekochter Reis, kein Vergleich mit den zuckenden Synkopen von Ragtime oder Jazz, so etwas sollten sie hier spielen, wieso nahm Eldred nicht eine Trompete zur Hand, wenn er schon ein Instrument halten mußte? Nein, das einzig Gute an Hawaii war der Hula-Hula, getanzt von einem halbnackten, braunhäutigen Mädchen im Baströckchen, und davon hatte er einmal eine gehörig aufreizende Vorführung gesehen, als er eines Abends nach Los Angeles gefahren war, mit Mart und Roscoe, der sich einen den Pierce-Arrows ausgeliehen hatte, ohne daß es jemand gemerkt hatte. »Bei uns sehen Sie eine echte Insulanerin, direkt aus Hawaii!« hatte der Ausrufer vor der Bude gebrüllt. »Ein echter hawaiianischer Hula-Hula, getanzt ohne Zuhilfenahme der Füße!« Das war ein Schauspiel gewesen und alle zehn Cents wert, die es gekostet hatte.
Aber das hier war eine Farce. Unweigerlich sprang nun eine ganze Reihe von angetüterten Männern und breitärschigen Frauen auf und schwang sich obszön durch den Saal, sie machten sich zum Narren und bereiteten jedem Gespräch – dem nützlichen und dem potentiell nützlichen Gespräch – ein abruptes Ende. Und natürlich, schon tanzten sie alle, Eldred spielte jetzt »On the Beach at Waikiki«, O’Kane bestellte noch einen Drink und sah, gedeckt von Marts Schädel, skeptisch zu, während der alte Red-Sox-Anhänger vor dem Orchester stand und mit seinen Hängebacken wackelte wie eines dieser massigen Buckelrinder in Indien. O’Kane war es egal. Er amüsierte sich trotzdem prima, es war eine Abwechslung, und die Eisprinzessin würde bald genug davon haben und in ihr Hotel zurückfahren, da war er sich sicher, und dann könnte er diese schnurrbärtigen Wichte abwimmeln und sich von Dolores Isringhausen im Auto zu ihr nach Hause bringen lassen, wo sie mit ihm tun durfte, was sie wollte.
Das war eine erfreuliche Aussicht, und er lehnte sich an die Bar zurück und spürte den Whiskey durch seine Adern strömen, ließ den Blick gelassen über die Menge schweifen, und nein, er würde nicht zu Dolores hinübersehen, noch nicht, und zu Katherine auch nicht. Seine Knochen wurden weich, die Beine waren wie tot, und er fühlte sich gut, besser als gut, als plötzlich eine gewaltige schimmernde Fleischkugel am Rand seines Gesichtsfeldes auftauchte, eine große, zupackende Hand ergriff seinen Arm und zerrte ihn in Richtung des Orchesters. Es war Brush. Dr. Brush. Er trug einen Bastrock und eine dieser Blumengirlanden auf der nackten Schwabbelbrust, und er zog an der einen Hand Mrs. Brush, an der anderen O’Kane hinter sich her, und dem Vorwärtsdrang dieses mächtigen Fleischbergs in Bewegung ließ sich nichts entgegensetzen. »Kamehameha!« rief Brush und wackelte mit den Hüften. »Yakahula, hickydula!«
O’Kane fühlte, wie er rot wurde. Er kämpfte wie ein Fisch an der Angel, und dann sah er Dolores’ Gesicht mitten in der Menge auftauchen, ihr aufblitzendes satirisches Grinsen, er knallte gegen irgendwen – den Zahnarzt, oder?–, ein Glas kippte um, dann noch eins. Endlich konnte er sich von dem Arzt losreißen und blieb in dem wogenden Menschengewirr stocksteif stehen, alle lachten, kreischten vor Vergnügen, und Brush stürmte weiter in all seiner hängebrüstigen Pracht, bis er direkt vor dem Orchester stand und alle Blicke im ganzen Haus auf ihn gerichtet waren.
Eldred schrammelte weiter, bis ihm fast die Hand abfiel, die Musiker fingen Feuer, Dr. Brush legte schlotternd einen Shimmy hin, schleuderte seinen wabbelnden Körper in alle denkbaren Richtungen, während seine arme zappelnde Frau die ganze Palette ihrer Zuckungen und Tics durchspielte und mit ihm Schritt zu halten versuchte. Und da hatte O’Kane eine Offenbarung, seine Hoffnungen schwanden dahin wie die eines Sterbenden: dieser Brush würde Mr. McCormick garantiert nicht erretten oder ein Wunder wirken, nie im Leben würde der auch nur an der Oberfläche seiner Krankheit kratzen – schlicht und einfach aus dem Grund, daß er selbst von Natur aus ein Idiot war.