Prangins
Das Château der Dexters stand auf einem
Hügel über dem Genfer See, in Prangins, nahe dem Ort Nyon. Es war
ein türmchengeschmücktes steineres Bauwerk mit etwa zwanzig
Zimmern, umgeben von Obstgärten und einem angelegten Park und mit
einer breiten, ausladenden Rasenzunge davor, die sich bis zum
Seeufer erstreckte, wo Josephine zwei Ruderboote und eine
Dreizehn-Meter-Yacht liegen hatte. Niemand wußte genau, wie alt das
Schloß war, aber Teile davon stammten angeblich aus den Zeiten der
Kreuzfahrer, und seitdem war es von immer neuen Generationen edler
und weniger edler Bewohner ausgebaut und befestigt worden. Voltaire
hatte einmal hier gelebt, und 1815 war das Schloß von Napoleons
Bruder Joseph Bonaparte bezogen worden, der einen Geheimtunnel im
Keller benutzt hatte, um eines Nachts zu verschwinden, als seine
Anwesenheit für zu viele Menschen zum Problem wurde. Das Grundstück
war von einer gewaltigen Mauer mit hohen vergitterten Torbögen
umgeben, und als Katherine ihre Verlobung mit Stanley löste, floh
sie über den Atlantik und schloß diese Tore hinter sich.
Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Zeit, um ihre
Nerven zu beruhigen – einmal ohne Rücksicht auf Stanleys Nerven. Er
hatte diese Vase auf sie werfen wollen, das hatte er, bis zum
letzten Moment. Er hätte sie für den Rest ihres Lebens entstellen,
ja er hätte sie töten können – und warum? Womit verdiente sie das?
Vielleicht hatte sie die Geduld verloren und ihn etwas schroff
behandelt, aber nur weil er so zwanghaft und trübsinnig war, aus
jeder Mücke einen Elefanten machte, sich vor ihrer Berührung
fürchtete und davor, was zwischen ihnen geschehen konnte, weil er
Angst vor der Liebe hatte. Das alles konnte sie verstehen und
verzeihen, aber Gewalttätigkeit war unentschuldbar, undenkbar, und
das wahrhaft Schlimme daran war, was sie über Stanleys finsterste
Seelenabgründe aussagte.
An ihrem ersten Tag in Prangins schlief sie die
ganze Zeit, und als Madame Fleury, die Haushälterin, ihr
betroffenes Gesicht zur Tür hereinsteckte, um zu fragen, ob Madame
etwas essen wollte, schickte Katherine sie wieder weg. Bei Einbruch
der Dämmerung überlegte sie, ob sie aufstehen sollte, aber sie tat
es nicht – sie blieb einfach in den Kissen versunken liegen und
hielt sich völlig still. Sie sah zu, wie die Dunkelheit in den
Ecken gerann und den Boden eroberte, dann schlief sie wieder ein,
die Nacht war eine schwarze, schweigsame Leere, kein Wind, kein
Gemurmel vom See. Am Morgen erwachte sie bei Vogelgezwitscher und
dem wechselnden Licht, das auf dem Wasser spielte, dem fließenden,
wäßrigen Licht ihrer Mädchenzeit, als sie auf den See
hinausgerudert war, bis sie das Ufer nicht mehr hatte sehen können,
und in den ersten dreißig Sekunden dachte sie überhaupt nicht an
Stanley. Sie war in Prangins, geschützt von hohen Mauern, von
Toren, sicher und geborgen, hatte nichts zu tun außer zu lesen,
spazierenzugehen, zu rudern, und alle Zeit der Welt dafür – war das
nicht herrlich? Auf einmal bekam sie Hunger, und ihr wurde klar,
daß sie nichts gegessen hatte, seit sie mit dem Zug aus Paris
angekommen war, ihr Magen hatte gestreikt, revoltiert, jetzt aber
knurrte er ganz friedlich und normal. Sie läutete nach der
Haushälterin und ließ sich das Frühstück bringen, ein deftiges
Frühstück mit gekochten Eiern, Käse und hauchdünn geschnittenem
Schwarzwälder Schinken, dazu ofenwarme Brötchen und frische Sahne
für den Kaffee, und sie aß alles in einer Art Traumzustand, am
Fenster sitzend und auf den See hinausstarrend.
Sie zwang sich zum Ankleiden und zur Begrüßung
der Dienstboten, von denen sie die meisten fast ein Jahr lang nicht
mehr gesehen hatte, dann ging sie zum See hinunter und machte eines
der Ruderboote klar. Von den Bergen herab wehte ein leichter Wind
mit einem Duft von Schnee darin, aber die Sonne war warm, und
Katherine genoß das Gefühl der Riemen in ihrer Hand, die Gischt,
das Schaukeln des Bootes, und jeder Ruderschlag brachte sie weiter
weg von den Kompliziertheiten ihres Lebens, von Stanley und
Hochzeitskleidern und Säcken mit Arborio-Reis – und von dem
erregenden Gedanken an Babys, auch davon. Was hatte er da über die
lärmende Menge und das geistlose Tuten der Schiffssirene hinweg
gebrüllt? Ich kann Kinder bekommen!
Das war süß. Wirklich. Und sie wollte ja ein
Baby, nicht nur für Stanley und ihre Mutter und um das Andenken
ihres Vaters und aller Dexters vor ihm zu ehren, sondern auch aus
einem höchst persönlichen, egoistischen Grund: es war ihr Recht und
ihr Wunsch als Frau. Als selbständige, unabhängige Frau.
Neunundzwanzig Jahre lang hatte sie Verstand und Körper entfaltet,
und wozu? Um ihre Wahl zu treffen, ihre freie Wahl, ohne Rücksicht
auf Konventionen, Erwartungen oder die Anforderungen der
Männerwelt, um zu heiraten oder es sein zu lassen, ein Kind zu
bekommen oder nicht, am Institut Biologie zu studieren oder den
Mount Everest zu bezwingen, und sie hatte Stanley gewählt, ihn und
keinen anderen. Den strammen, scheuen Stanley, Stanley den
Künstler, Stanley den Sportler, Stanley den Mann. Er war ihr
biologisches Schicksal, ihr Mann, ihr Partner, und sie würden sich
im Dunkeln vereinigen, und er würde sie schwängern – so sollte es
sein, das war es, was sie wollte. Daran dachte sie, während sie
sich in die Riemen legte, und sie fühlte ihr Blut schneller
pulsieren, sie kostete das Straffen und Entspannen ihrer Schulter-
und Rückenmuskeln aus, und sie sah sich in einem weißen Nachthemd
in einer Wiese aus weißen Blumen stehen, schwanger und schimmernd
wie die Rosenhagmadonna. Es war beängstigend, es war höhere Gewalt
– schön und berauschend, aber auch beängstigend.
Aber Stanley war in Chicago, wo er hingehörte
und wo er bleiben sollte, bis er sich wieder im Griff hatte. Sie
war liebevoll mit ihm umgegangen – er müsse verstehen, daß sie eine
Zeitlang allein sein wolle, und auch wenn die Verlobung offiziell
abgesagt sei, auch wenn sie den Ring zurückgegeben und die Aufträge
an Lieferanten, Floristen und so weiter gekündigt habe, bestehe
dennoch Hoffnung, er müsse ihr nur etwas Zeit lassen. Liebevoll,
aber bestimmt. Sie sagte ihm nicht, wann sie abfuhr oder wohin die
Reise ging, sondern nur, daß er nicht versuchen solle, ihr zu
folgen, auf keinen Fall. Das müsse er respektieren. Wenn er das
tat, und wenn sich seine Einstellung besserte, wenn seine Nerven
sich wieder beruhigten und auch sie Gelegenheit gehabt hatte, zu
sich zu kommen, dann gab es vielleicht, vielleicht doch noch eine
Hoffnung für sie.
Zu Mittag – nach der Stellung der Sonne in den
Wolken über ihr schätzte sie, daß es Mittag war – bekam sie erneut
Hunger, was sie als gutes Zeichen empfand. Sie hatte nichts
mitgenommen, nicht einmal einen Apfel oder eine Birne, und sie ließ
sich eine Zeitlang treiben, ließ sich von den Wellen wiegen, ließ
den Geruch des Windes und des Wassers mit ihren Sinnen spielen, bis
der Hunger zu körperlichem Schmerz wurde, und dann hielt sie auf
ein Gasthaus am Genfer Ufer zu, in dessen riesigem Speisesaal sie
bei einer Zeitung und einer Kanne Tee zu Mittag aß, während ein
peinlich korrekter Kellner mit Schnauzbart um sie
herumscharwenzelte. Sie aß eine Suppe, einen Salat, die gebratene
Ente mit Kartoffeln und Gemüse und ließ sich viel Zeit mit dem
Dessert, las Absatz für Absatz in der vor ihr ausgebreiteten
Zeitung und hob zwischendurch den Kopf, um verträumt über den See
zu blicken. Als sie endlich mit Hilfe eines übertrieben
hilfsbereiten Concierge und des stirnrunzelnden Kellners in ihr
Ruderboot zurückkletterte (Wollte Madame nicht lieber ein Taxi
nehmen? Einer der Pagen könnte das Boot am nächsten Morgen
retournieren – »Cela ne pose pas de
problème«), hatte sich der Himmel wie eine Faust
zusammengeballt, und ein feines Nieseln hing in der Luft. Sie
dankte ihnen für ihre Besorgnis, aber eigentlich, so sagte sie,
habe sie Lust auf etwas Bewegung nach dem Essen. Kopfschüttelnd und
protestierend hielt der Concierge einen Schirm über ihr
aufgespannt, während sie es sich auf der Ruderbank bequem machte,
und sah ihr ungläubig nach, als sie sich behende abstieß und den
Bug in den sanft dahinwallenden Bauch des Nebels richtete. Die
Sicht war schlecht, und eventuell hätte ihr wirklich Gefahr
gedroht, doch sie hielt sich nahe dem Ufer und ruderte immer
weiter, bis ihr nicht mehr bewußt war, daß sie ruderte, bis das
Universum nur noch aus ihren Armen, dem Boot und dem See
bestand.
Zwei Wochen vergingen. Sie traf keinen
Menschen. Sie schwamm, ging spazieren oder ruderte, las
französische Romane, half der Köchin beim Planen des Menüs und nahm
sogar die Stickerei wieder auf, die ihre Mutter im letzten Herbst
liegengelassen hatte, und sie langweilte sich nicht, keineswegs,
sondern wurde mit jedem Tag gesünder, ruhiger und gefaßter. Dann
saß sie eines Morgens beim Frühstück, in eine Erzählung von
Maupassant versunken – die über die dickliche kleine Dirne in der
Kutsche voller scheinheiliger Passagiere –, als Madame Fleury sie
davon unterrichtete, daß ein Mann am Tor sei, der sie sprechen
wolle.
»Ein Mann?«
»Oui, Madame. Er
behauptet, Sie zu kennen. Und er weigert sich zu gehen.«
Und was war das, dieser winzige Funke?
Hoffnung, Angst, Ärger: es konnte doch nicht sein. »Hat er Ihnen
eine Karte gegeben? Seinen Namen gesagt?«
Die Haushälterin war eine schlichte, kantige
Frau von Mitte Vierzig, geschult darin, jeden Ausdruck aus ihrem
Gesicht zu verbannen, jeden Anflug von Emotion in ihrer Stimme zu
unterdrücken; das Haus konnte in Flammen stehen, sie würde
weiterhin ruhig an die Tür klopfen, um zu fragen, ob Madame noch
etwas brauche. Ihre Mundwinkel zogen sich kaum merkbar um die Worte
zusammen: »Das lehnte er ab, Madame. Aber wir haben ihm das Tor
nicht geöffnet, und Jean-Claude behält ihn im Auge.«
Katherine stellte die Teetasse ab. Ihr Herz
schlug rascher. »Ja, ist er aus dem Dorf? Ist er Handelsreisender,
Adliger, Ziegenhirte?«
Die Haushälterin zuckte dazu die Achseln, und
es war ein gallisches Achselzucken, gerade so respektvoll wie
notwendig, während es ihr zugleich gelang, nicht nur Ungeduld,
sondern auch eine tiefe Enttäuschung über die Frage zu vermitteln.
Sie schürzte die Lippen. »Jean-Claude sagt, er hat einen
Motorwagen.«
Und dann sprang sie vom Tisch auf, keine Zeit
zum Nachdenken, keine Zeit, um ihre Frisur zu richten, nach einem
Hut zu greifen oder sich darum zu kümmern, was sie anhatte, jagte
die Steinstufen hinab auf die kreisrunde Einfahrt, ihre Schritte
ungelenk auf dem Kies, bis zum Tor war es weit – atemlos, aber
immer noch sicher, daß es falscher Alarm war, irgendein
Oxford-Student auf seiner großen Europatour, der sich nach
Geschichte oder Architektur des Schlosses erkundigen wollte, ein
Automobilenthusiast mit einem mechanischen Problem, ein Freund
ihrer Mutter, ein aufdringlicher Bursche aus dem Ort... aber sie
irrte sich. Denn es war Stanley, da stand Stanley am Tor wie eine
Erscheinung, die soeben dem Erdboden entstiegen war und Form
angenommen hatte. Seine Hände packten die Gitterstäbe, wie um sich
aufrecht zu halten, seine Schultern hingen herab, den Kopf hielt er
reuevoll gesenkt.
»Stanley!« rief sie aus und wollte sich
zwingen, nicht loszulaufen, bemühte sich um Gelassenheit und
Haltung, doch nach kurzer Zeit spürte sie ihre Füße nicht mehr und
rannte wider Willen. Er war erstarrt, wie angeschmiedet an die
Stäbe – er rührte sich nicht, hob weder den Kopf noch sah er sie
an. Jean-Claude, der Torwärter, musterte sie befremdet und schien
bereit, jederzeit loszustürzen und zu verhindern, was immer
passieren mochte.
Jetzt war sie da, am Tor, ihre Hände
umklammerten die seinen, und sie sah durch das Gitter in sein
leidendes Gesicht. Wieder sprach sie seinen Namen aus: »Stanley.«
Und dann wußte sie nichts mehr zu sagen, aber er blickte sie immer
noch nicht an, ließ den Kopf hängen, zog die Schultern ein, das
Haar hing ihm in die Augen, er wirkte unterwürfig, der Prügelknabe,
der sich seine Schläge abholen kam. In diesem Moment blieb alles
stehen, die Erde gepfählt auf ihrer Achse, die Sonne hielt in ihrem
Lauf inne, der Wind ließ nach, Jean-Claudes Gesicht war reglos wie
eine Photographie, bis es ihr endlich dämmerte und sie wußte, was
zu sagen war, und es war beinahe, als spräche sie mit der Stimme
ihrer Mutter oder der von Miss Hershey, in deren Klassenzimmer sie
vor vielen Jahren gesessen und gemeinsam mit den anderen naiven
heiratsfähigen Mädchen aus der Bostoner Back Bay Französisch,
Anstand und Benimm sowie die feineren Aspekte der Etikette erlernt
hatte: »Wie nett, daß du gekommen bist.«
Die Hochzeit war im September, und weil
sie in Europa stattfand, kurzfristig angekündigt und überstürzt
organisiert, fielen die amerikanischen Zeitungen geradezu darüber
her: MCCORMICK-TRAUUNG UNTER VIER AUGEN,
BOSTONER GESELLSCHAFTSDAME HEIRATET MÄHMASCHINEN-ERBEN IN SCHWEIZER
UNTERSCHLUPF, GEHEIMSTUFE EINS BEI
MCCORMICK-DEXTER-HOCHZEIT. Es gab zwei Zeremonien – eine
zivile Trauung auf dem Genfer Standesamt und eine private Feier in
Prangins, geleitet von einem französischen Geistlichen unbestimmter
Konfession, von dem Nettie den Verdacht hatte, er sei Unitarier
oder gar Universalist. Sie hatte ihre Passage gebucht, sobald
Stanleys Telegramm mit dem Hochzeitstermin eintraf, und sie setzte
sich von Anfang an für eine kirchliche Trauung am Geburtsort des
Kalvinismus ein – alles andere wäre Sakrileg, alles andere würde
sie tief verletzen, als risse man ihr das Herz heraus und trampelte
darauf herum –, aber es war Katherines Hochzeit, Katherines Schloß,
und Katherine hatte jetzt die Macht über Stanley, und egal wie
glühend Nettie kämpfte, bis zum letzten Moment, da dieser näselnde
Franzosentrottel die beiden zu Mann und Frau erklärte, ihr Kampf
war zum Scheitern verurteilt. Stanley hatte seine Wahl getroffen,
seinen Sprung getan, von einem schaurigen Abgrund zum nächsten, und
sie konnte nichts dagegen unternehmen.
Sie schloß einen unsicheren Frieden mit
Josephine, die sich wenigstens wie eine Dame benahm und mit den
Skulpturen und Gärten von Prangins beachtlich guten Geschmack
bewies, doch ihrer Tochter würde sie nie vergeben, dieser
Wissenschaftlerin, dieser ruchlosen kleinen Schlampe, die ihr den
letzten und jüngsten Sohn geraubt hatte, und während dieser
Franzosenkerl intonierte: »Je vous déclare
maintenant mari et femme«, stand sie hinter Stanley und
zischelte: »Gottlos, gottlos ist das.« Gott sei Dank hatte sie
Cyrus jr. mitgebracht, auf den sie sich stützen konnte, sonst wäre
sie womöglich ohnmächtig geworden (weder Anita noch Harold
würdigten die Zeremonie mit ihrer Gegenwart, denn so mußte man es
wohl betrachten, auch wenn Anita ihr Kind zu pflegen hatte und in
Harolds Fall, nun, irgend jemand mußte schließlich zu Hause bleiben
und sich um die Firma kümmern). Sie weinte dennoch, wie es Mütter
bei solchen Anlässen eben tun, aber ihre Tränen waren von ganz
anderer Qualität als Josephines, die auf beiden Empfängen – falls
dieser Begriff dafür überhaupt angebracht war – wie eine verstörte
Dreijährige herumwimmerte, nein, Nettie weinte Tränen der Wut und
des Hasses. Hätte sie Katherine erschlagen können, so wie sie in
ihrem Gaston-Modellkleid voller Perlen und Spitzen vor ihr stand,
mit diesem lächerlichen aufgeblasenen Pfannkuchen von Hut, den sie
auf dem Kopf trug und mit dem sie fast ebenso groß wie Stanley
wirkte, wenn man alles zusammennahm – Absätze, die aufgesteckte
Frisur, Hut und Schleier –, sie hätte es getan, so helfe ihr Gott,
sie hätte es getan.
Und wie fühlte sich die Braut? Katherine war
selig. Mehr als selig – sie war überschwenglich, sie triumphierte,
die Schlacht war vorüber, die Zitadelle genommen, und sie war
huldvoll in ihrem Sieg. Und verliebt war sie auch, hatte sie doch
dieselbe Kluft wie Stanley übersprungen, und jetzt gab es keine
Bangigkeit mehr, keine Angst vor dem freien Fall und dem Absturz:
er war ihr Mann und sie seine Frau. Sie war zufrieden. Ohne
Abstriche. Sie war sich so sicher wie noch nie im Leben. Was alles
geklärt, was ihre letzten verbleibenden Zweifel verscheucht hatte,
das war Stanley selbst, der sich ihr an jenem Sommermorgen vor dem
Tor zu ihrem Schloß zu Füßen geworfen hatte.
Er war so zerknirscht und bemitleidenswert,
bleich wie ein Leichnam, zwei Wochen schlafloser Nächte starrten
sie aus seinen Augen an, und jede Faser seines Körpers sehnte sich
nach ihr. Er konnte sich nicht verteidigen oder auch nur erklären,
wie und warum er gekommen war und was seine Anwesenheit für sie
beide zu bedeuten hatte – er war von seinen Gefühlen überwältigt,
das war es, ganz einfach. Er liebte sie. Konnte nicht ohne sie
sein. Und sie brauchte es ihn nicht sagen zu hören oder in einem
parfümierten Brief zu lesen, denn sie sah es in seinen Augen, auf
seinem Gesicht und in seiner Haltung, aus der hoffnungslose,
bußfertige Verzweiflung sprach: sie hatte ihm verboten zu kommen,
und er war ihr ungehorsam geworden. Das schmolz ihr auf der Stelle
das Herz, und sie ließ ihn eintreten, fütterte ihn mit Bonbons und
madeleines, führte ihn durch das Schloß,
zeigte ihm alle zwanzig Zimmer, und dabei schwebte sie auf den
Fußballen, als wäre sie leichter als Luft und würde gleich abheben,
und dann waren sie auf dem See und ruderten, und sie wußte, daß sie
nichts auf der Welt mehr brauchte als Stanley an ihrer Seite.
Ja, und nun waren sie verheiratet, wogegen
niemand mehr etwas unternehmen konnte, weder Nettie noch die
widerwärtige kleine Ratte von Rechtsanwalt – Foville oder Favril
oder wie immer er heiß – noch diese wandelnde Bohnenstange namens
Cyrus, steif und förmlich, über seine Internatsmanieren geradezu
stolpernd, aber dabei dennoch taktlos wie ein Schuhputzer. Doch was
bedeutete das schon? Sie hatte ja nicht die Familie McCormick
geheiratet, sondern Stanley, und jetzt konnte der Rest ihres Lebens
beginnen. Atemlos und leicht gerötet von dem Champagner, den sie
getrunken hatte, wartete sie, bis die Feier zu Ende ging, ihre
Mutter die Gäste in die Empfangshalle hinausgeleitete und Stanley
grinsend und etwas blaß neben ihr stand. Alle Gäste übernachteten
in Genf, auch Josephine – »Ich möchte, daß ihr das Haus für euch
habt, Liebes«, hatte sie gesagt, »nur du und Stanley und das
Personal« –, und am nächsten Morgen würden sie in die Flitterwochen
aufbrechen, zuerst einen Monat lang nach Paris zum Einkaufen, zur
Besichtigung der Galerien und zum Besuch von Cartier & Fils und
Tervisier & Dautant, und es würde gewiß ein Fest werden, auch
wenn Nettie darauf bestanden hatte mitzukommen – und Josephine
auch. Katherine lachte das intime, trällernde Lachen einer Braut,
als sie darüber nachdachte, ob sich zwei Schwiegermütter auf einer
Hochzeitsreise irgendwie gegenseitig aufheben würden.
Sie ergriff Stanley bei der Hand, als die Gäste
– es waren nur etwa fünfzig eingeladen, der allerinnerste Kreis –
sich langsam verabschiedeten. Es war der 15. September 1904, halb
neun Uhr abends, und der Tag hing in Fetzen über dem See, während
die Halle erfüllt war von fröhlichem Gelächter und Glückwünschen
und dem rauschhaften Gefühl all dessen, was geschehen war, und
dessen, was noch kommen sollte. Stanleys Finger schlangen sich um
die ihren. Ihr Negligé – elfenbeinweiß mit einer Bordüre aus
vanilleeisfarbener Brüsseler Spitze, Stanleys Lieblingsfarbe – war
auf dem großen Himmelbett in der Bonaparte-Suite im Obergeschoß für
sie zurechtgelegt. »Gute Nacht«, sagte sie zu einem Gast nach dem
anderen, »gute Nacht und vielen herzlichen Dank«, während Stanley
etwas steif neben ihr stand, den rechten Arm zum Händeschütteln
ausgestreckt, grinsend wie ein kleines Kind, wie ein Verliebter,
wie ein Hindu in Ekstase, und er maß jedes seiner Worte genau ab,
während die Vorfreude ihm geradezu in den Fingerspitzen prickelte.
Sie konnte es spüren. Das konnte sie.
Und dann folgte das große Abenteuer des
Zubettgehens, das Hinausschicken der Dienstboten, die getrennten
Ankleideräume und Badezimmer, die schüchtern lächelnden Mienen, die
zärtlichen Worte, das Bett selbst. Katherine ließ sich Zeit,
bürstete lange ihr Haar, krank vor Freude, eine
neunundzwanzigjährige Jungfrau kurz vor der Befreiung. Sie rieb
sich Lotionen ins Gesicht und in die Hände, betupfte sich hinter
den Ohren mit Parfum, und als sie ihren Morgenrock neben dem
Brautkleid über das Sofa breitete und die Unterwäsche ablegte,
spürte sie, wie ein Schauder sie durchfuhr, der wie nichts war, das
sie je erlebt hatte, eiskalt und fiebrig heiß zugleich, das Blut
explodierte in ihren Adern wie Schießpulver. Dann das Nachthemd.
Sie hob die Arme, auf einmal atemlos, und ließ die Seide an sich
herabfließen wie Wasser. Zwanzig Minuten waren vergangen, seit sie
Stanley an der Tür zu seinem Ankleideraum den Arm gedrückt und ein
Küßchen auf die Wange gehaucht hatte. Die Stunde war
gekommen.
Sie huschte barfuß ins Schlafzimmer, die warme
Umhüllung der Seide strich ihr über Brüste und Hüften und wallte
sanft um ihren Unterleib. Zwei zeremonielle Kerzen brannten zu
beiden Seiten des Bettes – eine Idee ihrer Mutter –, und überall
waren Blumen, ein ganzer Dschungel von Blumen, ihr Duft hing so
dick wie Wachs in der Luft. Vor Aufregung konnte sie kaum atmen,
und war das dort Stanley? Da, unter dem Laken – der Schatten auf
dem Bett? Nein, er war es nicht, und ihre Finger erkannten, was die
Augen nicht hatten sehen können: das Bett war leer. Das Zimmer war
leer. Und Stanleys Tür geschlossen. »Stanley?« rief sie, und als
keine Antwort erfolgte, versuchte sie es noch einmal, etwas lauter
jetzt, und da wurde ihr klar, daß sie aus Leibeskräften schreien
konnte, wenn sie wollte, denn es war niemand da, der sie hören
würde, nicht einmal das Personal. Das verschaffte ihr ein
eigenartiges Gefühl. Es war ein kühnes, lüsternes Gefühl, es war
das Gefühl einer Ehefrau. »Stanley?«
Kein Geräusch.
Sie probierte die Türklinke: seine Tür war
versperrt. Sie klopfte und rief nochmals: »Stanley?«
Diesmal ertönte aus der Tiefe des Zimmers
dahinter eine gedämpfte Antwort, ein bestätigendes Knurren, aber so
gepreßt und fern, als käme es aus Bonapartes Geheimtunnel weit
unten im Bauch des Schlosses. »Ich bin bereit«, sagte sie, die
Lippen an die Tür gedrückt. »Ich bin bereit für dich.«
Wieder ein Knurren, etwas näher jetzt, und
Geräusche von Bewegung, gefolgt von einer tiefen, lastenden Stille.
Was war nur los? Es dauerte einen Augenblick, dann trat ein Lächeln
auf ihre Lippen. Er war schüchtern, sonst nichts, schüchtern wie
ein kleines Mädchen, war das nicht süß? Sie wollte keinen Butler
Ames oder Dr. Casaubon, um in die Wonnen des Ehelebens initiiert zu
werden, sie wollte es so, sie wollte Stanley, der darin Anfänger
war genau wie sie, der es langsam angehen und ihr so gestatten
würde, alle Freuden des Eros gemeinsam zu erforschen und zu
entdecken, partnerschaftlich, ehelich, und ohne daß eine Schar von
Geliebten und Huren und lustigen Witwen ihr dabei über die Schulter
sah. Na schön. Sie würde ihm Zeit lassen. »Ich warte im Bett auf
dich«, flüsterte sie. »Soll ich die Kerzen löschen?«
Und nun erklang seine Stimme, dicht vor ihr,
gleich auf der anderen Seite der Tür: »Nein, es ist – ja, ja, tu
das, und ich werde – ich komme gleich, muß nur noch ein paar Dinge,
ja, natürlich...«
Sie huschte ins Bett zurück, ihr Atem
verlangsamte sich vom Galopp zum leichten Trott, und beugte sich
vor, um die Hand erst hinter die eine, dann die andere Kerze zu
halten und mit leisem Hauch den Raum in Dunkel zu tauchen. Die
Bettlaken hießen sie willkommen, die Nacht war mild, die Sterne
schienen in das Fenster, das auf den See hinausging, deshalb zog
sie die Vorhänge weit auf, damit wenigstens das Sternenlicht
Kompaßpunkte zur Orientierung bieten konnte. Sie legte ihr Haar auf
dem Kissen aus und lag wartend auf dem Rücken. Woran dachte sie? An
alles. An alles, was ihr in ihrem bisherigen Leben widerfahren war,
und sie sah jedes Gesicht, jedes Ereignis, hörte jedes Wort noch
einmal, und die Sterne zogen weiter, und immer noch blieb Stanleys
Tür verschlossen. Wieviel Zeit war verstrichen? War sie
eingeschlafen? Sie stand aus dem Bett auf, der Teppich war ein
Kontinent zu ihren Füßen, und jetzt das kalte steinerne Meer des
Fußbodens, bis sie wieder an der Tür stand, und diesmal kam kein
Flüstern über ihre Lippen, nichts, kein Wort. Die Klinke gab dem
Druck ihrer Finger mit einem Klicken nach, und sie schwang die Tür
auf.
Von dem Sekretär in der hintersten Ecke des
Zimmers starrte ihr, bleich wie der Mond, Stanleys erschrockenes
Gesicht entgegen. Er saß auf einem harten Stuhl, über die
Schreibtischplatte gebeugt und in einem Gewirr von Papieren,
Kuverts, Schreibfedern und Bleistiften versunken. Er brachte kein
Lächeln zustande.
»Stanley, was in aller Welt tust du da?« fragte
sie aus einer Verwunderung heraus, die an Benommenheit grenzte, und
weshalb fühlte sie sich auf einmal so nackt und verletzlich? Ihr
Negligé lag genau an den falschen Körperstellen eng an, und der
verschreckte Blick ihres Mannes erfaßte gerade das Bild, das sie
bot. In diesem Moment fiel ihr die Uhr auf dem Kaminsims auf, ein
antikes Stück aus geschnitztem Holz und mit einem Schweizer
Uhrwerk, das die vollen Stunden mit dumpfem Schnarren statt mit
einer Glocke schlug. Nun staunte sie noch mehr. »Es ist fast vier
Uhr früh«, sagte sie, und in ihrem Tonfall lagen Verärgerung, die
Ungeduld einer Ehefrau, Fassungslosigkeit, ja Entsetzen.
»Ich, also«, fing er an, und sie sah, daß er
immer noch den Smoking mit den langen Schößen trug, sein Zylinder
lag nachlässig auf dem Schreibtisch vor ihm, »... weißt du, die
Arbeit, die Korrespondenz, solche Sachen eben. Ich bin immer noch
der Rechnungsprüfer der Harvester Company,
auch wenn man es kaum glauben möchte, und ich – nun, und dann sind
da all diese Dankschreiben, weil uns so viele Menschen... und
Harold, ich mußte auch noch Harold schreiben und ihm von heute
erzählen. Von uns, meine ich.«
Sie war wie vom Donner gerührt. »Aber Stanley,
mein Liebster, es ist unsere Hochzeitsnacht...«
Das Licht der Lampe, die er auf den
Schreibtisch gestellt hatte, zerteilte sein Gesicht. Er drehte sich
von ihr weg, um etwas auf ein Blatt Papier zu kritzeln, und er war
steif und unnahbar, die Feder kratzte auf dem Papier, bis die
Spitze abbrach und er gereizt nach einer neuen griff. Es dauerte
eine Weile, bis ihr klar wurde, daß er nicht antworten würde.
»Liebling, Stanley«, sagte sie, »kann das nicht
warten? Wenigstens bis morgen früh?« Sie ging durch den Raum und
legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er reagierte nicht, zuckte
nicht einmal, sondern schrieb einfach weiter und schirmte dabei das
Papier mit der Hand ab. »Stanley, komm doch, sei vernünftig«, sagte
sie mit leiser, lockender Stimme und streichelte das Haar in seinem
Nacken.
Nun wandte er sich um und sah sie an, wobei er
beide Hände über das Papier auf der Schreibtischplatte hielt, so
daß sie nicht sehen konnte, was er schrieb, und was sollte das –
Geheimnisse? Geheimnisse in ihrer Hochzeitsnacht? »Ich, ich...«
begann er und ließ die Worte verklingen. Er schien wie im
Halbschlaf, wie betäubt oder hypnotisiert.
Sie ließ ihre Hand über seine Schultern
gleiten. »Komm doch«, murmelte sie, »es ist Zeit zum Zubettgehen.
Mit mir. Mit mir, Stanley.«
»Ja«, sagte er und schaute mit einem starren,
wachsamen Auge zu ihr auf, »ja – ich, ich weiß, und ich will ja
auch, ja, aber sieh mal, wenn du mich nur noch eine Minute hier,
äh... weiterschreiben läßt, dann kann ich... also...«
Was sollte sie sagen? Sie war schockiert und
verletzt. Dies war ihre Hochzeitsnacht, der Augenblick, auf den sie
sich ihr ganzes Leben gefreut hatte, nicht wahr? Was stimmte nicht?
Lag es an ihr? Wies er sie zurück? Hatte er es sich anders
überlegt? Sie wußte, daß er schüchtern war, gewiß, und das war ein
Zug an ihm, der ihn liebenswert machte, dies aber übertraf jede ihr
vorstellbare Bescheidenheit und Zurückhaltung – er hatte sich nicht
einmal umgezogen. Es war, als hätte er es auch nicht vor, als wäre
diese Nacht von allen Nächten ihres kommenden Lebens für ihn nicht
etwas Besonderes, als hätte sie nicht all die unermeßlich langsam
dahintröpfelnden Stunden im Nebenzimmer auf ihn gewartet. Und dann
dämmerte es ihr, begann sie allmählich zu begreifen, während sie
seine angespannten Schultern massierte und er den Blick von ihr
abwandte und seinen Brief zudeckte: Er hatte Angst vor ihr. Angst
vor der eigenen Frau. Angst vor dem Bett, dem Ehebett, der
komplizierten Mechanik der Liebe. Er litt, das konnte sie sehen, er
litt an seiner Liebe zu ihr, und das ließ sie erweichen.
»Na gut«, sagte sie schließlich, beugte sich
vor, um ihn auf den Scheitel zu küssen, und überlegte, was sie
sagen, wie sie es ausdrücken, wie weit sie gehen sollte. »Obwohl
ich nicht recht verstehe, wie du in einem solchen Moment ans
Geschäft und an deine Korrespondenz denken kannst.«
Er sah sie nicht an. Sie spürte, wie er sich
unter ihrer auf seiner Schulter ruhenden Hand anspannte.
»Na gut«, sagte sie und seufzte, »wenn es sein
muß, wenn dein Geschäft dir soviel bedeutet, aber versprich mir,
daß du in einer Minute ins Bett kommst, ja? Nur eine Minute, gut?«
Sie beugte das Gesicht zu seinem hinunter, das Licht der Lampe war
grell und hart, er aber wandte den Kopf ab und gab das abgerungene
Versprechen der Schreibtischplatte.
»Ja«, sagte er, »versprochen.«
Am Morgen wechselte sie selbst die
Bettwäsche, noch bevor das Zimmermädchen ihre Nase ins Zimmer
stecken konnte – es gab keine blutigen Laken hochzuhalten, keine
Fahne der Jungfräulichkeit, nicht einmal den sauberen, gesunden
Abdruck zweier ineinandergekuschelter Leiber. Sie knüllte die
Wäsche zusammen und stopfte sie in den Kamin über eine Lage
Kiefern- und Eichenholz, wo sie in einem schnellen, wilden Feuer
aufging, ehe sie zu einem Haufen Asche zerfiel. Stanley war an
seinem Schreibtisch eingeschlafen, und er schlief noch immer, als
sie um acht Uhr in einem schweren, düsteren Licht erwachte, das
sich wie ein dunkler Fleck über den See ausbreitete, bis der Himmel
wieder so schwarz war wie kurz vor dem Morgengrauen, als sie
erstmals aufgewacht war. Gegen neun begann es zu regnen.
Katherine lag ausgestreckt auf der nackten
Matratze und starrte zwischen den Bettvorhängen auf den Regen
hinaus, der gegen die Fensterscheiben peitschte, und wagte nicht,
sich zu rühren. Sie hatte Hunger, unglaublichen Hunger – am Tag
zuvor hatte sie wegen der Aufregung kaum etwas gegessen –, aber sie
fürchtete sich ebenso davor, nach Essen zu klingeln, weil es dann
jeder gewußt hätte, Dienstboten waren ja berüchtigt für ihre
Schwatzhaftigkeit, allen voran die Frankoschweizer, die sich im
Schloß bewegten, als wären sie von einer Kaiserin ausgeliehen, und
denen nichts entging. Aber was sollte sie tun? Bald würde ihre
Mutter eintreffen, alle möglichen Fragen in den Augen, und dann
würde Stanleys Mutter folgen, gerade rechtzeitig für einen leichten
Imbiß, bevor die ganze pompöse Entourage sich in den Zug nach Paris
und dort ins Hotel Elysée Palace begab.
Endlich, als die Uhr im Nebenzimmer mit leisem,
wiederholtem Schnarren zehn schlug, ging sie auf Zehenspitzen zur
Tür und spähte hinein. Stanley schlief noch, den Kopf auf die
verschränkten Arme gelegt, einen Korb voll zerknülltem Papier neben
sich. Er schnarchte mit einem rasselnden Pfeifen, das die um ihn
verstreuten Blätter zum Leben erweckte, und dabei wurde ihr bewußt,
daß sie keinen Mann mehr schnarchen gehört hatte, seit ihr Vater
gestorben war – er pflegte nach dem Essen in der Bibliothek stets
einzunicken, die Zeitung rutschte ihm vom Schoß, und neben ihm
wurde eine Tasse heiße Malzmilch kalt. Sie fand die Szene auf
seltsame Art rührend, wie Stanley auf der Platte des Sekretärs
schnarchte, die Wange an den Tisch geschmiegt, während seine Lippen
flatterten und seine langen Wimpern sich wie die einer Puppe
ineinander verzahnten, aber sie mußte ihn dennoch aufwecken – die
Dienstboten durften ihn auf keinen Fall so sehen.
Sie dachte daran, ihn zu rütteln, und in
gedehntem Flüsterton beim Namen zu nennen – »Stanley, Stanley, wach
auf!« –, wie sie es vermutlich noch zehntausendmal am Morgen tun
würde, aber als sie dann im Zimmer war und sich tatsächlich seiner
hingestreckten, schlafenden Gestalt näherte, brachte sie es nicht
übers Herz. Und warum nicht? Weil es ihm peinlich sein würde, er
wäre beschämt und bei einer Lüge ertappt, und sie wollte seinen
Gesichtsausdruck dabei nicht sehen, den Schmerz und die Verwirrung
in seinen Augen, seine Verlegenheit – sie wollte es nicht sein, die
ihn an das nutzlose Negligé und das leere Bett erinnerte. Deshalb
wählte sie den einfachen Ausweg: sie kehrte zur Tür zurück und warf
sie dreimal hintereinander krachend zu, ehe sie aus dem
Schlafzimmer in die Halle huschte und zum Frühstück nach unten
ging.
Dort wurde so manche Stirn gerunzelt. Das
Personal schlich herum wie in einem Bestattungsinstitut, Madame
Fleury erstickte fast, so sehr hielt sie den Atem an, und ihre
Miene troff vor Anteilnahme. Und wo, so fragte man sich, war denn
der Herr des Hauses, der Patriarch und Meister der Entjungferung?
Der schlafe noch. Man habe ihn nicht zu stören. Natürlich bot diese
Enthüllung Grund für weiteres Stirnrunzeln. Katherine ignorierte
es. Sie ließ sich das Frühstück bringen, sah in den Regen hinaus
und aß, einen kleinen Happen nach dem anderen.
Stanley tauchte gegen Mittag auf und wirkte
durcheinander. Er hatte gebadet und trug einen anthrazitfarbenen
Anzug mit steifem, förmlichem Kragen samt Krawatte. Katherine, die
sich bereits für die Eisenbahnfahrt nach Paris umgezogen hatte, saß
am Fenster mit einem Buch, das zu lesen sie vorgab. »Ach so«, sagte
Stanley und steckte den Kopf zur Tür herein wie ein Kind, das einen
Schabernack spielt, »hier, äh, bist du also. Ich, nun...« Dann war
er im Zimmer, groß und würdevoll, die Schultern zurückgeworfen, und
bei sich hatte er etwas – ein sauber gefaltetes Stück Papier –, das
ständig von einer Hand in die andere wechselte. Er wippte auf den
Fersen. Schmatzte. Öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schien ihn
aber nicht ganz um die gewünschten Worte formen zu können.
»Guten Morgen«, sagte Katherine. »Oder sollte
ich lieber sagen: ›Guten Tag‹?«
Darauf wußte er offenbar keine Antwort. Er
stand einfach nur da, gleich an der Tür, und musterte sie aus
zusammengekniffenen Augen.
»Hast du gut geschlafen?« Sie wollte nicht
spitz klingen, wollte ihn nicht provozieren, aber es ließ sich
nicht gänzlich verhindern. Sie war wütend. Das war sie. Und
gedemütigt.
»Ich – also... ich, es tut mir leid, ich, du
weißt ja – die Arbeit... und dann, ehe ich mich’s versah...« Dabei
warf er in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände in die Luft, und
das gefaltete Papier machte die Bewegung mit.
Katherine spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht
schoß. Er stand da wie ein Holzklotz, wie ein Bauerntrottel, mit
herabbaumelnden Händen, an seinem Kinn prangte ein Klecks
Rasierschaum. »Und?« fragte sie. »Bekomme ich keinen Kuß?« Und sie
wollte noch hinzufügen: »Wenigstens das«, hielt sich aber
zurück.
Auf einmal setzte er sich in Bewegung, schritt
durch den großen, höhlenartigen steinernen Saal mit den
verblichenen Wandteppichen und der Galerie von langen schmalen
Fenstern, die auf das graue Nichts des Genfer Sees hinausgingen,
doch er wirkte nicht zärtlich, überhaupt nicht – er wirkte
entschlossen, pflichtbewußt, beinahe martialisch. Er beugte sich
ungelenk zu ihr hinab, als sie ihm das Kinn entgegenhob und die
Lippen vorschob, und ebenso ungelenk küßte er sie – auf die Wange,
das war alles. Sie erhob sich aus dem Sessel, um ihn in die Arme zu
nehmen, er aber trat einen Schritt zurück, jeder Zentimeter seines
Leibes zuckte und zappelte, und was kam jetzt? Er hielt ihr das
Stück Papier hin, einen ordentlich gefalteten Bogen Briefpapier mit
dem eingeprägten Monogramm der McCormicks in der Ecke.
»Katherine«, begann er, »ich wollte – gestern
abend, ich... hier.« Er nötigte ihr das Blatt auf, sein Lächeln war
schmal und verkrampft, aber er weidete sich an ihrem Anblick. »Na
los«, sagte er. »Mach auf. Lies es.«
Sie entfaltete das Papier und hielt es ins
Licht, stand am Morgen nach ihrer Hochzeitsnacht neben ihm, der
Regen prasselte gegen die Scheiben, die Dienstboten lauerten in den
Korridoren. Es war ein Testament. Ein paar Zeilen, datiert und
signiert, sonst nichts.
Ich, Stanley Robert McCormick, im Vollbesitz
meiner geistigen Kräfte, vermache hiermit im Falle meines Todes
mein gesamtes Vermögen einschließlich der Kapitalanlagen und
Immobilien in toto meiner Frau, Katherine
Dexter McCormick.
Sie wußte nicht, was sie sagen sollte.
Es war so unerwartet, so seltsam – und auch so morbid. Hatte er
gestern etwa das geschrieben? Hatte er das vor ihr zu verbergen
versucht? »Stanley«, murmelte sie, und ihr versagte die Stimme,
»das hättest du nicht tun müssen – wir haben doch noch soviel Zeit
zum Nachdenken über diese Dinge, so viele Jahre...«
Er strahlte, bleckte sämtliche Zähne, und seine
Augen leuchteten wie Hundert-Watt-Birnen. »Es sollte eine
Überraschung sein«, sagte er. »Das habe ich – gestern abend – es
war gar nichts Geschäftliches, nicht alles, weißt du, weil... weil
ich, na ja, ich habe an dich gedacht...«
Und nun mußte sie nichts mehr sagen, und er
ebensowenig. Sie schlang die Arme um ihn, drückte sich an ihn, ein
Fleisch, sie hob ihm das Gesicht entgegen und fand seine Lippen.
Und so standen sie da, in genau dieser Pose, beim ersten Kuß ihres
Ehelebens und alle beide durchflutet von jeder erdenklichen
sentimentalen Empfindung, als Katherines Mutter in einer Wolke aus
Federn, Parfum und flotter, gebieterischer Energie zur Tür
hereinrauschte, dicht gefolgt von Stanleys Mutter. »Nun seht euch
das an«, krähte Josephine, »seht euch nur die zwei Turteltäubchen
an!«