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Die Kunst der Brautwerbung
Als Stanley McCormick an jenem ruhigen sonnenhellen Nachmittag des Sommers von 1903 über den Rasen vor dem Beverly Farms Resort Hotel in Beverly/Massachusetts schritt und Katherine Dexter ihn zum erstenmal in ihrem Erwachsenenleben sah, da war er nicht ganz im Lot. Er war den ganzen Tag gefahren, und zwar schnell, so schnell, als wäre ihm eine Horde schnatternder Dämonen mit scharfen Krallen auf den Fersen, die ihm ihre ledrigen schwarzen Schwingen um den Kopf fetzten und Verderben ins Ohr brüllten. Etwas hatte ihn an diesem Morgen beim Frühstück gepackt, eine Unruhe, ein Nervenstoß – es war, als würde ein Schalter in ihm umgelegt, und daraufhin stob sein ganzes Dasein, sein privates inneres Ich in einer furiosen Raserei davon wie ein verschrecktes Pferd oder ein führerloses Automobil. Deshalb hatte er auch seinen Chauffeur zurücklassen müssen, als sie bei einem Laden in Medford zum Tanken hielten; der gute Mann hatte keine Ahnung davon, bis er hinter dem Schuppen hervorkam, wo er seine Notdurft verrichtet hatte, und auf einmal den Wagen auf der Straße davonbrettern sah (es war nicht persönlich gemeint, und Stanley wünschte ihm alles Gute, wirklich, aber wenn der Schalter einmal umgelegt war, dann konnte er nichts dagegen tun), und nun lenkte Stanley den Mercedes-Roadster selbst, genau das gleiche Modell, das John Jacob Astor vor zwei Jahren beim Langstreckenrennen von New York nach Buffalo gefahren hatte, er donnerte Straßen entlang, die nicht viel besser als Kutschenwege waren, wo er Staubtornados, flatternde Hühner und entrüstet kläffende Hunde hinter sich ließ. Er hielt kein einziges Mal an, bis er nach Danvers kam, immer Vollgas, der Motor heulte, und er war atemlos von dem Adrenalinrausch, den ihm die Geschwindigkeit von über dreißig Kilometern pro Stunde bescherte.
In Danvers stieg er aus, er zitterte so stark, daß er Angst hatte, seine Beine könnten ihn nicht tragen, und schon scharte sich eine Menschenmenge zusammen, Farmer in Overalls mit ihren rotgesichtigen Frauen, Kinder auf flinken Beinen, ein Versicherungsvertreter und der Bankkassierer, der gerade Mittagspause hatte. Stanley versuchte ein Lächeln aufzusetzen – er wußte sehr wohl, was für einen Anblick er bot mit seinen eins dreiundneunzig und dem Aussehen eines Marsmenschen mit seiner Autofahrerbrille, der Lederkappe und dem schweißdurchtränkten Mantel voller Staub, Federn und toter Insekten –, nur die Gesichtsmuskeln wollten nicht mitspielen. Er hob matt die Hand zum Gruß oder zur Warnung oder zur Kapitulation, genau wußte er das gar nicht, und stolperte in ein Restaurant neben dem Friseurladen, in dessen Fenster ein Schild verkündete: HAARESCHNEIDEN & RASIEREN 1 VIERTELDOLLAR.
Drinnen war es kühl und dunkel, kiefernholzgetäfelte Wände, der süßliche Harzduft kämpfte mit den Küchendünsten: gekochte Würstchen, gebratene Zwiebeln, Rinderbrühe, in der Pfanne brutzelndes Schmalz. Stanley konnte zuerst gar nichts sehen, benommen vom Fahren und von der Sonne, und das Schwungrad in seinem Inneren, unterhalb des Brustbeins, drehte sich ungehemmt weiter, es war nicht sein Herz, es war etwas anderes, der umgelegte Schalter, er fuhr Vollgas, alles raste, raste vorwärts. Was er wollte? Ein Sandwich, sonst nichts. Und etwas zu trinken. Sodawasser. Eine Coca-Cola. Eine Kräuterlimo. Aber wieso war es so dunkel hier? Es dauerte einen Moment, alles sauste und wirbelte, obwohl er regungslos im Raum stand, von allen Gästen beobachtet, bis ihm klar wurde, daß er immer noch die Schutzbrille aufhatte. Und daß diese Brille mit einem schlierigen, undurchsichtigen Belag aus Straßendreck und toten Insekten verkrustet war, so daß der Tag zur Nacht, Freude zu Leid wurde und Furcht entstand, wo es nichts zu fürchten gab. Stanley hob die Schutzbrille an und schob sie sich auf die Stirn.
Und sah... eine Kellnerin. Sie stand dicht vor ihm, mit ihren weiblichen Formen, den hübschen, interessanten, fein geschnittenen weiblichen Gesichtszügen – und Augen, in denen eine Frage lag. »Möchten Sie zu Mittag essen, Sir?« sagte sie, und alle im Raum, die Leute an der Theke und an den dunklen Holztischen, harrten seiner Antwort.
Stanley: »Ja. Ja, das wäre gut. Mittagessen, ja.«
Die Kellnerin: »Darf ich Sie zu einem Tisch bringen?«
Stanley: »Ja. Gewiß. Natürlich. Genau das brauche ich jetzt. Einen Tisch.« Aber er rührte sich nicht.
Die Kellnerin: »Vielleicht möchten Sie sich erst ein bißchen saubermachen, im Waschraum?«
Stanley: »Wie bitte?«
Die Kellnerin (es entstand jetzt Unruhe an der Tür, da die Menge, die sich um den Mercedes geschart hatte, allmählich auseinanderging und in das Restaurant drängte, um bei einem Glas Wasser und ein paar Crackern einen eingehenden Blick auf die staubige Erscheinung in dem langen flatternden Mantel zu werfen): »Ich sagte, vielleicht möchten Sie sich saubermachen. Der Waschraum ist hinten im Gang, die erste Tür links.«
Und dann war Stanley wieder in Bewegung, das Schwungrad rotierte, den Gang entlang und in den Waschraum mit Toilette und Waschbecken, an der Wand ein Kalender vom letzten Jahr. Mit einer einzigen Geste zog er sich Lederkappe und Schutzbrille herunter, schüttelte den Mantel ab und fand einen Haken dafür an der Tür. Er stand über dem Klosett und erleichterte sich, dabei warf er den Kopf zurück und blickte empor zu dem trüben Fleck des von Tauben verdreckten Oberlichts, dessen Glas mit Hühnerdraht verstärkt war. Der Klang seines Urins auf dem Porzellan war ein höchst prosaisches Geräusch, ein Prasseln und Tröpfeln, das ihn zu der Sommerfrische in den Adirondacks zurückversetzte, wo er und Harold ihr Wasser an den Felsen abgeschlagen hatten, heimlich wie Irokesen auf dem Kriegspfad, und Mama hatte es nie gemerkt. Er sah alles vor sich: die Vorgebirge aus Granit, Blöcke von grauverwittertem Fels, geschichtet wie die Häute einer Zwiebel, die vor dem eisenfarbenen Wasser aufragenden Kiefern und seinen Fisch, dieses glitzernde, schillernde Ding, das er aus verborgenen Tiefen gezogen hatte, und der Führer sagte dazu, das sei die größte Seeforelle, die er je gesehen habe, und Stanley könne stolz darauf sein – und er war auch stolz.
Er beruhigte sich jetzt. Der Schalter ging wieder aus. Alles in Ordnung, nur die Nerven, sonst nichts. Er ließ das Wasser ins Becken laufen, und auch das tat gut, das Geräusch, der Geruch im Waschraum, und dann sah er in den Spiegel, doch da war nichts. Niemand. Kein Mensch. Kein Stanley Robert McCormick, Sohn von Cyrus Hall McCormick, dem Erfinder der mechanischen Mähmaschine. Nur die Wand hinter ihm und die Kabine mit dem Klosett darin. Es war ein Trick, so mußte es sein, ein Scherzspiegel, auf dem die Wand hinter ihm genau abgemalt war, geschützt von einer Scheibe Fensterglas. Er hob die Hand an das Glas und berührte es, und das war seltsam und erschreckend, denn er konnte es spüren, hart und real, und doch sah er dort nicht das Abbild seiner Hand.
Der Schalter. Er war immer noch aus, fest und entschlossen ausgeknipst, irgendwo weit weg in den Adirondacks und bei dem Bauch dieses Fisches, der Forelle, aber jetzt lag ein Finger darauf, und diesen Finger juckte es, ihn wieder einzuschalten, den Kreislauf von neuem zu beginnen, das Rasen und die Angst, die namenlos und formlos, doch dabei um nichts minder entsetzlich war. Er wandte sich abrupt vom Spiegel ab und zwang den Kopf nach unten, um die Dinge eines nach dem anderen in sich aufzunehmen und so die Welt wieder zurechtzurücken, wie ein Kind mit einem Satz Bauklötzen einen Würfel auf den anderen stapelt, bis sich mitten auf dem Teppich im Ballsaal eine feste Burg erhob, samt Türmen und Zinnen und allem Drum und Dran. Seine Schuhe, er starrte auf seine Schuhe. Die waren nicht schwarz. Sie waren braun, aber das Braun war Staub, Straßenstaub, und dieser Staub war da, weil er im Motorwagen über Land gefahren war – und er hatte das wegen seiner Nerven getan, um sie zu beruhigen, um sie zu entspannen und zu massieren wie überanstrengte Muskeln. Was hatte ihm doch Dr. Favill geraten? Eine Abwechslung von der Harvester Company, einen Urlaub sollte er sich gönnen. »Warum nicht etwas Stärkendes?« fragte er mit all seiner rhetorischen Inbrunst. »Eine Wanderung auf den Hebriden? Oder durch die Schweizer Alpen?« Na gut. Und da waren seine Hosenumschläge, genau, und die Ärmel seines Jacketts, sein Hemd, und das hier, das war seine Krawatte, lose baumelnd.
Er war bereit. Bereit zu allem. Und so blickte er jählings wieder in den Spiegel, gestählt und bereit, doch das war sein größter Fehler, denn nun wurde der Schalter sofort wieder angeknipst, und niemand konnte es verhindern: Da war er, dort im Spiegel, ganz deutlich, seine Hände mit dem Collegering, sein Anzug und die Schultern, die er verbarg, aber statt seines Kopfes, des Kopfes von Stanley Robert McCormick, Sohn von Cyrus Hall McCormick, dem Erfinder der mechanischen Mähmaschine, war da ein Hundekopf. Seine Augen waren die Augen des Hundes, und der Hund war er. Das versetzte ihm einen Schlag. Es warf ihn um. Ein Hund? Warum ein Hund? Er hatte Hunde immer gemocht – beim Anblick des Hundes im Spiegel dachte er an Digger, seinen Beagle –, dies aber war ein häßlicher Hund, ein lechzender, stinkender, geiler, unchristlicher, unerlöster, herumhurender, frauenvernichtender Boxerhund mit eingeschlagenem Gesicht und einer Zunge, die herabhing wie ein schlaffer roter Phallus, beschmiert mit dem weißen Zeug, das sein Speichel war...
Er war nun wieder draußen im Korridor, hinter ihm schloß sich die Tür mit einem Ächzen, Stimmengemurmel und die Gerüche und Geräusche der Küche lagen vor ihm, und seine Beine trugen ihn dorthin, er wollte etwas bestellen – ein Sandwich und eine Limonade –, aber würden sie Hunde bedienen? So, vom Korridor in den Schankraum, wo er reglos neben der Garderobe stehenblieb, all die glänzenden Gesichter und die verstohlenen Blicke wandten sich ihm zu, und...
Die Kellnerin (wieder da): »Darf ich Sie jetzt zu Ihrem Tisch bringen, Sir? Sir?«
Stanley: »Ich bin... ich denke nicht, daß ich... ich kann nicht... ich habe eigentlich gar keinen Hunger mehr, glaube ich...«
Die Kellnerin (erblassend, gequält, zurückweichend): »Ach, das macht gar nichts, keine Sorge. Passiert mir auch andauernd: eben noch wäre ich für ein Stück Kuchen um die halbe Welt gelaufen – am liebsten hab ich Zitronenbaiser –, und dann plötzlich hab ich das Gefühl, als hätt ich gerade eine ganze Kuh verdrückt und krieg keinen Bissen davon runter... Na schön. Also machen Sie’s gut.«
Der Schalter war umgelegt, und es steuerte ihn zur Tür hinaus, auf die Straße, vorbei an der Menge von Glotzern, Autonarren und barfüßigen Kindern, die jetzt im Sommer keine Schule hatten, und schon fuhr er wieder davon, er fuhr schnell, fuhr wie der Teufel, und ließ Boxerhunde, geflügelte Dämonen und frauliche Kellnerinnen schnaufend hinter sich zurück.
Was ihm an diesem Tag half, so paradox es klingen mag, war ein geplatzter Reifen. Pannen dieser Art waren so alltäglich wie Regengüsse zu jener Zeit, als die Straßen nicht gepflastert und Reifen schwer zu bekommen waren; Werkstätten, Mechaniker und Tankstellen gab es noch nicht, und jeder Kraftfahrer hatte selbstverständlich Wagenheber und Schraubenschlüssel, Luftpumpe, Flickzeug und Ersatzschläuche dabei, außerdem natürlich so viele Kanister mit Treibstoff und Öl, wie er befördern konnte. So auch Stanley. Normalerweise wäre er ausgestiegen und hätte sich ein wenig die Beine vertreten, während der Chauffeur den Reifen flickte und das Rad wieder montierte, doch diesmal war sein Fahrer in Medford und die Straße lag, so weit er in beide Richtungen sehen konnte, verlassen da. Und das Automobil würde nicht allzuweit kommen mit einem Loch im Reifen und einem geplatzten Schlauch.
Stanley kletterte aus dem Wagen. Es war der letzte Tag im August, ein träger, heißer, stiller Tag, kein Windhauch regte sich, dichte weiße Wolken ballten sich wie Fäuste entlang des Horizonts. Er roch das Gras, hektarweise Gras, eine unendliche Weite davon, Gras und Unkraut und üppige, protzige Sumachbüsche vor einem Wald aus Bäumen, so dicht und so verschieden, als wäre er im Amazonasbecken und nicht in Massachusetts. Bärenspinner stiegen aus dem Gestrüpp am Straßenrand auf, Grashüpfer pfählten sich auf Sonnenstrahlen, von der Wiese her glotzten Kühe blöd herüber. Ohne lange zu überlegen, streifte Stanley Mantel und Jackett ab, schob die Schutzbrille nach oben und bückte sich zum kalten, festen Griff des Wagenhebers, und schon stand der Schalter wieder auf Aus, so still und tot und losgelöst von der Stelle in seinem Innern, mit der er verbunden gewesen war, als hätte er gar nicht existiert, als wäre es ihm nie passiert, daß er zitternd und gehetzt in einen Waschraumspiegel sah und ein Hund ihn daraus anstarrte, in einem Restaurant, wo er vergeblich versucht hatte, etwas zu essen. Jede Erinnerung daran war weg, verschwunden, ausgelöscht. Er war ein Mann auf einer Landstraße, irgendwo liegengeblieben zwischen Dorf und Stadt, beim Wechseln eines Reifens.
Er machte sich die Hände schwarz, und der Straßendreck kroch in die Knie seiner Hose. Er hatte Schmiere auf dem Hemd. Der Schweiß troff ihm von der Nasenspitze und bildete Pfützen im Staub. Und er bekam einen Sonnenbrand, sein Gesicht wurde so rot, daß er aussah, als hätte man ihn mit Ohrfeigen ins Bewußtsein geholt, erneut in die Ohnmacht entgleiten lassen und dann nochmals geohrfeigt. Aber er schaffte es. Er wechselte den Reifen ohne Hilfe, Dank oder Ratschlag von irgendwem, und als er wieder auf das Trittbrett stieg und sich hinters Lenkrad setzte, da fühlte er sich, als könnte er jedes Problem lösen, jeder Gefahr trotzen, so zäh und unerschrocken wie Sitka Charley, wie der Malemute Kid, wie Jack London persönlich.
Diese Stimmung brachte ihn nach Beverly, ließ ihn dort aussteigen, um sich nach einem Hotelzimmer zu erkundigen und in der Gemischtwarenhandlung Kraftstoff zu kaufen, und trug ihn weiter quer über das vibrierende schimmernde Grün eines Croquet-Rasens und in Katherine Dexters wissenschaftlich geschultes Blickfeld. Er badete, wechselte die Kleider, kämmte sich und stutzte seinen Schnurrbart im Spiegel, und darin sah er sich naturgetreu reflektiert wie jeder andere Mensch, und er ging sogar so weit, dem eigenen Spiegelbild zuzuzwinkern. Dann begab er sich zum Abendessen hinunter, und noch nie im Leben war er so hungrig gewesen.
Der Speisesaal war lebendig, voller Urlauber, die vor ihrer Suppe und ihren Koteletts saßen, inmitten des gedämpften Klapperns von Tafelsilber und des zischelnden Raunens der Unterhaltung, sanft und beruhigend zugleich, und nachdem er kurz im Vestibül gewartet hatte, ließ sich Stanley vom Ober zu einem Tisch führen. Als der Kellner kam, fand Stanley, er könne sich zur Anregung ruhig ein Gläschen Wein gönnen – er fühlte sich aufgekratzt nach seiner wagemutigen Fahrt und dem Abenteuer mit dem Reifen, und dieses Gefühl wollte er bewahren. Beiläufig musterte er die anderen Gäste, ihre munteren Mienen, die geschäftigen Ellenbogen, die Freude, die jeder an den allerkleinsten Dingen zu haben schien, und er bemerkte Katherine nicht, zunächst jedenfalls nicht, und er überlegte sich, wie angenehm es doch war, in diesem Speisesaal weit weg von Boston zu sitzen, auf freier Wildbahn und ohne irgendwem verantwortlich zu sein, wie ein fahrender Ritter, falls Ritter im Motorwagen unterwegs waren. Dann kam der Wein, gut gekühlt in einem Kübel voll Eis, und der Kellner reichte ihm die Speisekarte.
Er fing an mit der Ochsenschwanzsuppe, gefolgt von Gurkenspießen, Oliven und gekochtem Heilbutt mit Eiersauce und Kartoffeln parisienne. Für den Hauptgang wählte er Hammelkeule in Kapernsauce, dazu Bratäpfel und Zwiebelringe, junge Erbsen und Tomatensalat mit Mayonnaise. Als Dessert nahm er zuerst einen Brotpudding in Cognacsauce, dann kostete er vom Roquefort und vom Edamer, dazu Obst und Gebäck, und als er von seinem café noir zufällig aufsah, erhaschte er den Blick einer jungen Frau, die auf der anderen Seite des Raumes inmitten einer Gruppe fröhlicher junger Leute saß.
Eigentlich erhaschte nicht er ihren Blick, nicht direkt – eher schon sie den seinen. Sie starrte ihn an, und weder zuckte sie zusammen noch sah sie beiseite, als er aufblickte und ihr Starren bemerkte. Normalerweise hätte er sich nicht viel daraus gemacht – höchstens wäre er erschrocken und hätte während der nächsten halben Stunde so getan, als studierte er das Muster seiner Nagelbetten –, aber er fühlte sich so gut wie noch nie, der Wein prickelte in seinen Adern, eroberte seine Augen und belebte sein Lächeln, und es war etwas merkwürdig Vertrautes an ihr, fast so, als würde er sie kennen... Und nach allem, was er an jenem Tag erlebt hatte, konnte er sich einfach nicht beherrschen. Sobald einer der Männer aus ihrer Gruppe vom Tisch aufstand und auf die Toilette ging, erhob sich Stanley unauffällig und folgte ihm. Die Spiegel vermeidend, wartete er ab, bis der Mann aus der Kabine trat und sich am Becken die Hände wusch, dann räusperte er sich, nannte seinen Namen und fragte, ob er wohl der jungen Dame in Blau vorgestellt werden könne.
Der Mann hieß Morris Johnston. Er war von durchschnittlicher Größe und Statur, er zog sich durchschnittlich an, auch Haar- und Augenfarbe waren in höchstem Maße durchschnittlich – das heißt, er war weder dicklich noch dünn, kein Angeber, aber auch kein rückständiger Tropf, und farblich überwog der Eindruck von Mausbraun. »Ah, Sie meinen Katherine?« antwortete er, keineswegs überrascht.
»Ja«, brachte Stanley hervor und zupfte an seinem Kragen, der sich plötzlich wie eine Garrotte um seinen Hals anfühlte. »Katherine«, probierte er den Namen aus. »Ich glaube, ich kenne sie. Wie heißt sie mit Familiennamen?«
Morris ließ ein Lächeln aufblitzen. »Dexter«, sagte er. »Aber Sie sind nicht aus Boston, oder?«
In diesem Moment kam alles wieder, von Monsieur Labontes gezwirbelten Schnurrbartspitzen bis zum Geruch nach Bohnerwachs auf den polierten Dielen der Tanzschule und dem Gefühl jenes zwölfjährigen Mädchens in seinen Armen, nichts als Kragenecken und Knochen und vorsichtig schlurfende Füße, dieses Mädchen namens Katherine Dexter, das nun reif und erwachsen war und im Raum nebenan saß, ganz in Blau gekleidet. »Nein«, sagte er und erinnerte sich an ihre feuchten Handflächen in jenem überheizten Saal, an die Nähe ihrer Körper, den Klang ihres Lachens an einem bestimmten Wintertag, als die Temperatur jäh gefallen war und der Schnee sanft herabschwebte wie die gerupften Federn eines seltenen himmlischen Geschöpfs, »ich kenne sie noch aus Chicago.«
Stanley war scheu, immer noch der verstohlene Junge, der sich gern verkroch, aber es war etwas an Katherine, das ihn dazu brachte, sich öffnen zu wollen, sein Innerstes nach außen zu kehren wie einen Handschuh oder eine Socke, nichts zu verbergen, alles zu erzählen, seine Ängste, Träume, Hoffnungen, Vorlieben, Theorien und fixen Ideen. Sie tauschten ihre Reminiszenzen an Chicago aus, und als sie das zweimal getan hatten, sich an alles doppelt erinnert und die Liste ihrer gemeinsamen Bekannten und Erlebnisse erschöpft hatten, da sah er den Glanz ihrer Augen schwächer werden – sie war müde? gelangweilt? hatte genug von Monsieur Labonte und der Prairie Avenue und Bumpy Swift? –, und er fühlte eine gräßliche Spannung in sich entstehen. Er mußte sie bei sich halten, er mußte einfach, selbst wenn das bedeutete, ihr Handgelenk zu berühren, das so lässig in seiner nackten Vollkommenheit auf dem Tisch vor ihm lag, es zu berühren und zu packen und sie an sich zu ziehen, obwohl ihm klar war, daß er das nie tun könnte, selbst wenn er noch tausend Jahre lang Abend für Abend neben ihr sitzen würde. Doch falls sie ihn verließe, falls sie mit Morris Johnston tanzte, gähnte und die Hand vor den Mund hielte und höflich um Entschuldigung bäte, weil sie sich den Abend zurückziehen oder auch nur auf die Toilette gehen wollte, würde er sterben. Sein Mund war voller Asche, sein Herz raste, und gerade als sie sich zu diesem anderen Burschen hinüberbeugte, diesem Butler Ames, ein Raunen auf den Lippen, spürte er einen Kloß in der Kehle und hörte sich gleich darauf heraussprudeln: »Haben Sie schon Unionismus und Sozialismus von Debs gelesen?«
Das war der Schlüssel, das Urprinzip, der Anfang von allem. So vieles wurde damit ins Rollen gebracht, der Brand des Daches, der Sturz von Turm und Tor, denn der Schlüssel paßte und ließ sich drehen, und von diesem Augenblick an warb er um sie mit den süßesten Ausdrücken aus den allertrockensten Texten über Reformen, die Besserung der Lage der Armen, die Umverteilung des Reichtums und die Verstaatlichung der Produktionsmittel zum Nutzen und Frommen des einfachen Arbeiters.
Am nächsten Morgen, gleich bei Tagesanbruch, stand er vor ihrer Tür und klopfte. Er mußte mit ihr sprechen, aber er wollte sie nicht stören, wollte ihr nicht den Schlaf rauben oder ihre Pläne durcheinanderbringen – immerhin hatten sie bis nach eins geredet –, deshalb klopfte er leise. Sehr leise. So leise, daß er das Geräusch selbst kaum wahrnahm. Es erfolgte keine Antwort, und er wußte, daß er es dabei belassen sollte, aber er mußte mit ihr sprechen – er hatte mit dieser Not die ganze Nacht durchwacht –, und er klopfte lauter. Und als auch dies keine Reaktion auslöste, begann er mit den Handballen auf die Tür einzutrommeln, und bald boxte er mit diesem stummen, sturen, geistlosen Stück Holz, links-rechts, links-rechts, und er veranstaltete dabei einen derartigen Radau, daß der Hausmeister mit dem Mop in der Hand angerannt kam, und eine alte Frau mit Häubchen steckte den Kopf zur Nachbartür heraus und geißelte ihn mit einem Blick, der ihn auf der Stelle verdorren ließ. »Psst!« zischte sie. »Gehen Sie sofort weg da. Sind Sie denn verrückt?«
Er ging geduckt davon, die Schultern zusammengesackt unter der Last seines Verbrechens, aber zehn Minuten später stand er erneut vor Katherines Tür und klopfte. Diesmal aber ertönte, sobald seine Knöchel das Holz berührten, ihre gedämpfte Stimme müde aus einer verborgenen Nische ihres Zimmers: »Wer ist da?«
»Ich bin’s, Stanley. Ich muß mit dir sprechen.«
»Wer?«
»Stanley. Von gestern abend.«
Eine Pause. »Ach, Stanley.« Wieder eine Pause. »Ja. Gut, gut. Ich muß mich aber erst anziehen.«
»Ist mir recht«, sagte er mit lauter Stimme, damit sie ihn durch all diese starre Zellulose und den leeren Raum ihres Wohnzimmers hören konnte, »ich wollte dir nämlich erzählen, was ich auf meiner Ranch in New Mexico geändert habe – da bin ich in den letzten zwei Jahren viel gewesen, weißt du, hab ein bißchen Cowboy gespielt in der guten Luft und der wildromantischen Landschaft dort, das solltest du mal sehen, wirklich, das solltest du –, aber was ich dir erzählen wollte: ich habe diese Ranch in Form einer Genossenschaft organisiert, so daß alle den gleichen Anteil am Gewinn haben, vom einfachsten Arbeiter bis zum einbeinigen mexikanischen Koch, wir sind alle gleich unter der Sonne des Westens, und vielleicht weißt du nicht, daß ich es war, der das Gewinnbeteiligungssystem in der Harvester Company eingeführt hat, gegen die Einwände meiner Brüder, und ich habe auch das Geld für den McCormick-Fabrikarbeiterclub aufgebracht...«
Doch die Tür ging auf, und da stand sie, Katherine, ein süßes, kleines Lächeln auf den Lippen, ihr Blick suchte den seinen, und sie trug ihr weißes Tenniskleid, ließ den Schläger lässig in der Hand baumeln. »Spielst du auch?« fragte sie.
»Ich... also, ja, ich – also, auf dem College, in Princeton, meine ich...«
»Einzel?«
»Sicher.«
»Und hast du was dagegen, vor dem Frühstück zu spielen, jetzt gleich? Denn wenn ja, dann sag’s ruhig.« Sie lächelte ihn an, als hätte er gerade ganz Asien erstanden und ihr als Geschenk zu Füßen gelegt. »Also spielst du mit mir?«
»Sicher.«
Aber es war eine Zwickmühle, eine echte Zwickmühle. Sie lastete auf ihm, als er in sein Zimmer eilte, um sich fürs Tennis umzuziehen, während sie vor der Tür wartete, und er sorgte sich immer noch deswegen, nachdem er durch Schlägerdrehen den Aufschlag gewonnen hatte und hinter der Grundlinie Position bezog. Mit einer Frau hatte er noch nie gespielt und kannte daher die erforderliche Etikette nicht: er wollte sie nicht überwältigen – das wäre nicht sehr gentlemanlike, ganz und gar nicht –, ihr aber auch nicht das Gefühl geben, daß er ihr zuliebe schwächer spielte. Jedenfalls versuchte er, seinen Aufschlag entsprechend zu mäßigen, schlug den ersten Ball mit etwa der halben normalen Geschwindigkeit und setzte ihn genau in die Mitte des Feldes, wo er schön gerade absprang. Sie überraschte ihn, indem sie mit voller Kraft zurückschlug, und seine Überraschung war offensichtlich: sein Return kam etwas spät, und er klatschte den Ball kraftlos ins Netz. Sie sah strahlend und wunderschön aus, hatte das Haar zu einem festen Knoten nach hinten frisiert und unter einen Strohhut gesteckt, den ein Band aus weißem Musselin unter dem Kinn festhielt. »Null-fünfzehn«, flötete sie.
»Tut mir leid«, rief er, »bin wohl etwas eingerostet, ich hatte in letzter Zeit soviel mit den Harvester-Geschäften zu tun, und mit der Ranch und tausend anderen Dingen, daß ich einfach nicht die Zeit gefunden habe, um...«
Der Ball war in der Luft, hoch über dem Bogen seines Schlägers, als wäre er von Leben beseelt, und er servierte erneut, diesmal wesentlich kraftvoller, und wieder schlug sie direkt zurück, ein gemeiner, plazierter Ball in die andere Ecke, den er gerade noch mit einer wild ausgreifenden Rückhand retournieren konnte, und bei dieser Anstrengung empfand er kurz einen Kitzel der Befriedigung, bis sie seinen Schlag am Netz abfing und mit einem ebenso effizienten wie eleganten Volley unhaltbar wegschoß. Er bewunderte das, ja wirklich, eine so sportliche und trainierte Frau, so behende – sie war wie eine Olympionikin, wie die Jägerin Diana mit Pfeil und Bogen, nur daß der Bogen in diesem Fall ein Tennisschläger war, und während er sich bückte, freute ihn seine Gelassenheit und Beherrschung, obwohl er sich natürlich irgendwann einmal würde durchsetzen müssen, Etikette oder nicht. »Null-dreißig«, rief sie.
Beim vierten Spiel lag er eins zu drei zurück und schwitzte dermaßen heftig, als wäre er in Kleidern schwimmen gegangen. Katherine dagegen war kaum etwas anzumerken, sie wirkte ebenso gepflegt und gleichmütig, wie sie vor einer Stunde aus ihrem Zimmer gekommen war. Offensichtlich war sie Meisterin darin, den Ball immer knapp außerhalb seiner Reichweite zu plazieren und ihn mit einem großen Repertoire von trickreichen Schlägen, Lobs, aggressiven Netzattacken und kraftvollem Grundlinienspiel von einem Ende des Platzes zum anderen zu treiben. Er strengte sich immer mehr an, knallte seine Aufschläge so heftig über den Platz, als bestünde das Ziel des Spiels darin, den Ball einen Meter tief im Rasen zu vergraben, und je mehr er sich anspannte, desto unkontrollierter wurden natürlich seine Schläge. Es unterlief ihm ein Doppelfehler, dann noch einer. Am Ende des ersten Satzes, den sie sechs-eins gewann, keuchte er wie – ja, wie ein Hund.
»Ist alles in Ordnung?« fragte sie. Sie stand am Netz, bereit zum Seitenwechsel. Sie zeigte keinerlei Anstrengung, keine einzige Schweißperle auf der Stirn, dabei war es ein schwüler Morgen, knapp dreißig Grad – wenn nicht heißer.
»Ach, nein, nein – ich... es ist nur – also, ich bewundere dein Spiel einfach. Du bist wirklich ziemlich gut.«
Sie setzte ein rätselhaftes Lächeln auf, sagte aber kein Wort.
Später, beim Frühstück auf der Terrasse, sank er in seinem Stuhl zusammen und schlug nach Mücken, während sie ihm alles über ihre Forschungsarbeit am M.I.T. erzählte, über das Kreislaufsystem von Schlangen und Kröten und ihre Hoffnungen auf die Frauenemanzipation. Wie dachte eigentlich er darüber? Fand er, daß Frauen das Wahlrecht haben sollten?
Aber natürlich fand er das – er gehörte doch zu den Gerechten und Progressiven, oder? Und das sagte er ihr auch, aber er führte es nicht weiter aus, unter anderem deshalb, weil er so erschöpft war – das viele Autofahren, seine zerrütteten Nerven, die durchwachte Nacht, drei Sätze Tennis –, aber auch weil er völlig gefesselt war von der Art, wie sich Katherines Lippen öffneten, schlossen und wieder öffneten und dabei ihre ebenmäßigen weißen Zähne und die lebhafte rosa Zungenspitze entblößten, gefesselt von ihren blitzenden Augen und den Fingerknöcheln, die in deklamatorischem Eifer auf die Tischplatte eintrommelten. Und da wurde ihm klar, in diesem mückengeplagten Augenblick, in dem der zuckersüße Duft von frischgemähtem Gras in der Luft lag, seine Melone warm und sein Spiegelei kalt wurde, daß er diese Lippen küssen, diese Zunge mit der eigenen berühren wollte, und mehr noch, viel mehr: er wollte sie, wollte sie ganz, bis hin zu und mitsamt dem unheilvollen Weiß, das sie in ihrer Mitte hatte. Katherine, er wollte Katherine. Er wollte sie heiraten, das war sein größter Wunsch, und dieses Wissen ereilte ihn in einem Moment der Offenbarung, der ihn erschauern ließ vor der Heftigkeit seiner Sehnsucht und der Nacktheit seines Verlangens.
»Hast du dich erkältet?« fragte sie und musterte ihn mit einem prüfenden Blick der eisblauen Augen.
»Nein«, sagte er.
»Und du ißt ja gar nichts – erzähl mir ja nicht, daß du nach diesem Spiel keinen Hunger hast.«
Dies war der Moment, in dem er ihr sein Gefühl hätte eingestehen sollen, der Moment für süßes Geflüster, verliebtes Geplänkel, der Moment, um zu sagen: Wie soll denn Essen meinen Hunger stillen, wenn ich deinen Anblick kosten darf? Aber er sagte es nicht, er konnte nicht, und er spielte eine Weile mit seiner Gabel herum, ehe er den Blick zu ihr hob. »Wenn die Massen genug auf ihren Tellern haben«, sagte er, »wenn die Mietskasernen abgerissen und an ihrer Statt anständige Wohnungen errichtet worden sind und wenn auf jedem Tisch eine Lammkeule mit Minzsauce liegt, dann werde ich essen.«
Zwei Tage später reiste Katherine ab. Ihre Ferien waren vorbei, das neue Semester fing an, ihre Doktorarbeit winkte. Ehe sie fuhr, schenkte sie ihm eine blaue Frackschleife und eine Schachtel Bonbons aus Ahornsirup in der Form von Eichhörnchen, Kaninchen und Scotchterriern, und er gab ihr ein Exemplar von Debs’ Pamphlet sowie eine Erstausgabe von Frank Norris’ Roman The Pit. Er bat sie zu bleiben, warf sich ihr zu Füßen, stieß lange Ansprachen über die Bedingungen in den Textilfabriken, die Arbeitersiedlungen und die Armut unter den Einwanderern hervor, doch von Liebe sprach er nie – das lag nicht in seiner Macht –, und sie mußte weg, das verstand er schon. Dennoch war er am Boden zerstört, und kaum hatte sie ihren Zug bestiegen, fuhr er ihr mit dem Mercedes nach Boston hinterher. Er packte hastig, ohne jene Unentschlossenheit, die ihn in den vergangenen Jahren behindert hatte, und er nahm Morris Johnston mit, sowohl als mitfühlenden Zuhörer, dem er seine Lobreden auf Katherine halten konnte, als auch zur Vorbeugung gegen eventuelle subversive Waschraumspiegel, die sich ihm wie Windmühlen in den Weg stellen mochten.
Nach der Ankunft stieg er in einem Hotel in der Nähe des Hauses von Katherines Mutter in der Commonwealth Avenue ab und begann seine Belagerung. Er schickte ihr täglich Blumen, ganze Gewächshäuser davon, und er sprach jeden Abend um Punkt sieben vor, mit schwitzenden Handflächen, pochendem Herzen, unsicherem Blick. Das Dienstmädchen begrüßte ihn mit sentimentalem Lächeln, und Mrs. Dexter, Katherines Mutter, plapperte beschwingt drauflos und fütterte ihn mit endlosen Portionen von Pralinen, Sandwiches, Obst, Nüssen und Getränken, während er verlegen im Salon saß und an Katherine dachte, die sich in den empyreischen Gefilden weiter oben ankleidete. Ob Mr. McCormick eigentlich zu schätzen wisse, wie klug ihre Tochter sei? fragte ihn Mrs. Dexter. Zu Anfang habe sie ja versucht, ihr diesen wissenschaftlichen Kram auszureden, Gott war ihr Zeuge, denn die Wissenschaft sei einfach kein Gebiet für Damen, jedenfalls sei es bis jetzt so gewesen, bis sich dann Katherine mit ihrem scharfen Verstand und der beharrlichen Art darauf gestürzt habe, und nun müsse sie selbst zugeben, daß ihre Tochter sie nicht hätte stolzer machen können – ob er wohl noch ein Stück Konfekt kosten wolle?
Und Katherine. Sie war empfänglich, sehr freundlich und ermutigend, sie war musterhaft, vor allem während seiner ersten Besuche, und das ließ ihn auf den Schwingen eines Hochgefühls dahingleiten, wie er es nie gekannt hatte, doch gegen Ende der Woche begann sie, sich wegen ihres Studiums zu entschuldigen, und so verbrachte er auf einmal mehr und mehr Zeit mit Mrs. Dexter, auf einem Knie die Teetasse, auf dem anderen einen Teller mit Sandwiches balancierend. Ihr Studium war wichtig, natürlich – sie war eine scharfsinnige, intellektuelle junge Frau, die acht Jahre lang auf dieses Examen hingearbeitet hatte –, trotzdem stürzte es ihn in eine Panik. Und wenn sie nun ihr Studium nur als Ausrede verwendete, um ihn abends rasch loszuwerden, damit sie um neun oder zehn noch einmal hinaushuschen und mit Butler Ames tändeln konnte, den er bereits zweimal auf der Schwelle ihres Hauses angetroffen hatte? Er war außer sich. Konnte nichts essen. Konnte nicht schlafen. Und er wagte nicht mehr, in den Spiegel zu blicken.
Doch am Freitag willigte sie ein, mit ihm zu Abend zu essen und ins Theater zu gehen, und er lud sie und ihre Mutter in den Speisesaal seines Hotels und danach zu einer höchst amüsanten Aufführung von The Importance of Being Earnest ein. Jedenfalls fand Stanley es amüsant, und Katherine schien sich auch zu vergnügen, sie lachte an den richtigen Stellen, aber er befürchtete, sie könnte es für zu leichtfertig halten, nicht genügend bedacht auf die drängenden Fragen der Zeit, und als sie wieder in ihrem Salon saßen, fing er mit Debs an, um diesen Mangel auszugleichen. »Weißt du, was ich bei Debs gelesen habe?« begann er, während Mrs. Dexter sich diskret zurückzog und das Mädchen ihnen einen Teller mit Mohnkeksen hinstellte, ehe es ebenfalls verschwand.
Katherine saß ihm gegenüber in einem Lehnsessel. Draußen regnete es, die Straßen glänzten, der Klang von Pferdehufen wurde in der beständig tropfenden Nachtluft verstärkt. Man hörte das Getrappel – klapp-klapp, klapp-klapp –, sonst nichts, nur das Rauschen des Regens und das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. »Nein«, seufzte sie, schob die Füße unter die Röcke und machte es sich im Sessel bequem. »Das weiß ich nicht.«
»›Die wenigen, denen die Maschinen gehören, benutzen sie nicht‹«, zitierte Stanley und beugte sich mit wissendem Blick vor. »›Den vielen, die sie benutzen, gehören sie nicht.‹ Verstehst du? Einfach, klar, brillant. Und die Konsequenz ist natürlich jene Ungleichheit, die du und ich tagtäglich sehen und verabscheuen, der aber, wie es scheint, die übrige Welt den Rücken kehrt. Er verlangt staatliche Gesetze, die gewährleisten, daß die Arbeiter gegen Berufsunfälle und Arbeitslosigkeit versichert sind, Altersvorsorgeprogramme und die Beschäftigung von Arbeitslosen durch den Staat – und bis die Arbeiter die Produktionsmittel übernehmen, fordert er eine Verringerung der Arbeitszeit in dem Maße, wie die Produktivität zunimmt...«
Offenbar hörte sie gar nicht zu. Sie rührte mit dem Löffel in der Teetasse, ihr Blick ging in eine vage Leere.
»Er sagt«, fuhr Stanley fort, »er sagt...«
»Stanley?«
»Ich – äh... ja?«
»Bitte versteh mich jetzt nicht falsch, aber sosehr ich dein Engagement für progressive Anliegen bewundere, ehrlich, das tue ich... sag, fragst du dich eigentlich nie, weshalb du so – nun, so besessen davon bist?«
»Ich? Besessen?«
Da lachte sie auf, und er wußte nicht, ob er mitlachen oder sich darüber ärgern sollte, denn sie hatte es vielleicht als Spitze gemeint, als winzigkleinen scharfen Stachel, der seine Haut ritzen sollte, um eine Wunde zu verursachen, die dann immer größer würde, bis sie so breit war, daß jeder Butler Ames dieser Welt mitten hindurchmarschieren konnte. Seine Miene verriet nichts. Er griff nach einem Mohnkeks und hob ihn halb zum Mund, bevor er es sich anders überlegte und ihn behutsam auf den Teller zurücklegte.
»Könnte es vielleicht eine Abwehrreaktion sein? Ich meine, weil du und ich soviel haben im Gegensatz zu den Armen?«
»Na ja, ich... Ja, natürlich. Mein Vater, weißt du, der ist schuld. Er wollte keine Gewerkschaft in seinem Werk, da waren die Haymarket-Krawalle und so, aber es ist nicht recht, überhaupt nicht. Mein Vater...«, sagte er, und dann merkte er, daß er seine Gedanken nicht weiter formulieren konnte, weil er plötzlich das Bild dieses reizbaren, herrischen alten Mannes vor sich hatte, mit seinem Spitzbart wie ein scharfes Rapier, der das ganze Haus mit seinem Gebrüll, seinem Mißmut und seiner lieblosen, erdrückenden, mächtigen Gegenwart erfüllte. »Mein Vater...« wiederholte er.
Katherine sprach ganz leise, so leise, daß er sich anstrengen mußte, um sie zu verstehen beim Lärm des Regens, dem Pferdegetrappel, dem Ticken der Uhr, das plötzlich anschwoll, bis es eine ganze Symphonie von Uhren war, die unisono die Zeit schlugen, die Stunden, die Minuten und Sekunden zählten, die ihm noch blieben, bis sie aufstand und ihn wieder heimschickte. »Ich weiß, daß es schwer ist«, sagte sie, »aber man muß auch vergessen können. Und so großartig die Reformbewegung sein mag, gibt es doch auch andere Dinge im Leben – Musik, Malerei, überhaupt die Kunst –, und wenn ein Mann und eine Frau allein sind, wenn sie miteinander so vertraulich sind wie du und ich jetzt, findest du nicht, daß es da noch bessere Gesprächsthemen gäbe?«
»Na ja, schon«, sagte er, aber er wußte nicht weiter.
Wieder ein Seufzer. »O Stanley, ich kenne mich bei dir wirklich nicht aus. Du bist sehr nett, aber ich glaube ehrlich, du mußt noch eine Menge über die Kunst der Brautwerbung lernen.« Damit erhob sie sich, das Dienstmädchen kam herein, und der Abend war vorüber.
Am nächsten Tag war er wieder da, unerschrocken und jederzeit bereit, einen Cyrano zu engagieren, um mit ihm seine Ansprachen zu proben, aber den Sozialismus bekam er einfach nicht aus dem Kopf. Am Nachmittag führte er Katherine und Mrs. Dexter ins Museum, und er sagte kluge Dinge über Tizian, Tintoretto und die flämischen Meister, er erzählte ihnen von seinen Erfahrungen als Schüler von Monsieur Julien in Paris, doch unweigerlich wandte er sich wieder dem Wohlfahrtsstaat und dem Reformismus zu, denn was war die Kunst letzten Endes, wenn nicht ein Spielzeug für reiche Leute? Katherine konnte an diesem Abend nicht mit ihm essen gehen – sie mußte sich für die Vorlesungen des nächsten Tages vorbereiten –, und so saß er versonnen bei einer langen, faden Mahlzeit, die er dreimal unterbrach, um seiner Mutter per Kabel von Katherine zu berichten, von ihrer Vollkommenheit, ihrer Intelligenz, ihrer Schönheit, und seine Mutter kabelte unverzüglich zurück: KRANK VOR SORGE UM DICH STOP SEIT EINER WOCHE KEINE NACHRICHT STOP HOECHST PFLICHTVERGESSEN VON DIR STOP KATHERINE WER? STOP DEINE DICH LIEBENDE MUTTER.
Danach – er konnte sich einfach nicht beherrschen; er hatte das Gefühl, er müsse platzen wie eine zerkochte Kartoffel, wenn er diese fahle Hotelzimmerwand auch nur eine Sekunde länger ansah – unternahm er einen Spaziergang zu Katherines Haus. Einen Spaziergang, sonst nichts. Zur Verdauung. Für seine Gesundheit. Kein Gedanke an Spitzelei oder daran, daß er zufällig Butler Ames und Konsorten auf ihrer Türschwelle antreffen oder Katherine dabei erwischen könnte, wie sie in Abendgarderobe in eine Kutsche stieg, nichts dergleichen. Es regnete wieder. Er hatte seinen Schirm vergessen, und der Zylinder drückte auf seinen Kopf wie ein bleiernes Gewicht, sein Mantel war an den Schultern völlig durchgeweicht, als er Katherines Häuserblock zum achtenmal umrundete. Und gerade als ihm bewußt wurde, wie die Nässe langsam seine Kleidung durchdrang, da kam er – rein zufällig – am Eingang von Mrs. Dexters gepflegtem, adretten schmalen Steinhaus in der Commonwealth Avenue Nummer 393 vorüber.
Katherine hatte sehr deutlich gesagt, sie habe keine Zeit für ihn, und das achtete er auch, doch, das tat er, er konnte sich aber dennoch nicht daran hindern, die Stufen hinaufzugehen und auf die Klingel zu drücken. Alles mögliche schoß ihm während der Pause zwischen dem Klingeln und dem Erscheinen des Dienstmädchens durch den Kopf – Visionen von Butler Ames mit seinen Glupschaugen und den schlaffen Händchen, wie er Katherine auf einer Schachtel Pralinen liebte, von Katherine mit neunzehn gesichtslosen Bewerbern vor dem Traualtar, von Katherine beim Tanzen, jetzt in diesem Moment, statt über einem Stapel wissenschaftlicher Texte voller Diagramme der inneren Anatomie von Eidechsen, Schildkröten und Schlangen zu brüten –, doch da kam schon das Mädchen mit ihrem rührseligen Lächeln, die Eingangshalle, und schon eilte ihm Mrs. Dexter entgegen und begrüßte ihn, als hätte sie ihn nicht sechs Stunden, sondern sechs Monate lang nicht mehr gesehen.
Sein Lohn dafür, daß er den Elementen getrotzt hatte, war ein Tête-à-tête mit Mrs. Dexter, das sich bis nach elf Uhr erstreckte (war es nicht erst fünf nach acht gewesen, als er kam?), dazu gut sechs Liter brühheißen Tee und der allgegenwärtige Teller mit Mohnkeksen und Sandwiches, die inzwischen labbrig und an den Rändern etwas unansehnlich waren. Mrs. Dexter gab Aussprüche von sich wie: »Wissen Sie, in letzter Zeit hat Katherine derartig viel Herrenbesuch, daß sie noch eine Lotterie wird abhalten müssen, wenn sie jemals heiraten will.« Und: »Dieser Butles Ames ist ein reizender Bursche, wirklich ganz reizend, meinen Sie nicht auch?« Und: »Habe ich Ihnen schon erzählt, wie Katherine ihr erstes Angorazicklein gesehen hat – sie war damals drei, oder war sie schon vier?« Immer höflich, saß Stanley steif wie ein Pfosten da, gab dann und wann einen zustimmenden Kehllaut von sich, sonst aber hatte er nicht viel zu sagen – weder über den Progressivismus noch über Butler Ames oder irgend etwas anderes.
Schließlich, um halb zwölf Uhr nachts, kam Katherine in einem Paar Pantoffeln ins Zimmer, ihre Mutter fuhr hoch, als wäre sie gebissen worden, und verschwand prompt. »Stanley!« sagte Katherine und streckte ihm die Hand entgegen, die er im Aufstehen ergriff, und dann machte sie ein paar mißbilligende Laute, als wäre er ein ungezogenes Kind oder ein junger Hund, der gerade auf den Teppich gepinkelt hatte. »Hatte ich nicht gesagt, daß ich dich heute abend nicht empfangen kann?« schalt sie ihn und schüttelte mahnend den Zeigefinger, und er hätte sich elend gefühlt, zutiefst verzweifelt, vom rostigen Schwert der Zurückweisung und Erniedrigung durchbohrt, wenn sie nicht dabei gelächelt hätte.
Jetzt. Jetzt ist der Moment gekommen, sagte er sich. »Ich – also – ich war gerade zufällig in der Gegend, und da dachte ich...«
Sie standen beide etwas verlegen vor dem Teetischchen und dem Teller mit den matschigen Sandwiches. Sie runzelte die Stirn. »Zufällig?«
Er lachte – ein nervöses Wiehern war es eigentlich –, und sie fiel in das Lachen ein, ihr Gesicht strahlte warm, und dann saßen sie irgendwie beide auf dem Sofa, Seite an Seite. »Na schön«, sagte er, »ich geb’s zu, ich konnte einfach nicht – also, du weißt schon, was ich meine. Ich hab’s nicht ausgehalten – nicht bei dir zu sein, meine ich.«
Und was sagte sie darauf? »Oh, Stanley« – oder etwas ähnliches. Aber sie lächelte immer noch, zeigte Zähne und Zahnfleisch, und der Glanz in ihren Augen war nicht mißzuverstehen: sie freute sich, daß er gekommen war. Das ließ ihn mutig, ja tollkühn werden, er brodelte in diesem Augenblick, bis er sich fühlte wie ein überkochender Topf, und jetzt war Debs nicht mehr nötig, sein Blick lag in dem ihren, seine Hände spannten und entspannten sich in seinem Schoß, als tasteten sie an einer glatten Felswand nach Halt, in seiner Kehle stieg der Geschmack nach schalem Tee auf. »Hör mal, Katherine«, sagte er, »ich wollte dir, äh, etwas sagen, ich meine, ich denke schon den ganzen Tag darüber nach, und ich, ich...«
Dieses Lächeln. Sie beugte sich vor und schob eines der Sandwiches herum, dann hob sie es zum Mund und biß ein Stück ab, trennte einen sauberen Halbkreis heraus. »Ja?«
»Also, laß mich – laß es mich so sagen. Was wäre, wenn ein Mann, ein junger Mann aus guter Familie und mit lauteren Absichten, aber in den Augen einer Frau nicht der Beachtung wert, also, einer hypothetischen Frau so ähnlich wie, äh, wie du... und er würde wirklich... aber er hätte noch nichts erreicht im Leben, er wäre einNichts, ein unnützes Leichtgewicht von einem hypothetischen Mann, nicht wert, dieser hypothetischen Frau auch nur den Rocksaum zu küssen, aber er, er...«
Sie begriff allmählich, worauf er hinsteuerte oder vielmehr hinstolperte, und sie bemühte sich um eine gefaßte Miene, aber das gelang ihr nicht – sie erinnerte frappierend an eine Frau, die in einer führerlosen Kutsche einem Zusammenprall entgegenrast, ihr Lächeln war verschwunden, die Hand mit dem Sandwich in der Bewegung erstarrt, in ihren Augen Schock und Angst, aber Stanley war entschlossen, er stürmte voran, und nichts konnte ihn aufhalten. »Stanley«, sagte sie, und die Stimme blieb ihr irgendwo tief in der Kehle stecken, »Stanley, es ist spät...«
Er achtete nicht darauf, hörte sie gar nicht. »Sieh mal, dieser Mann, dieser hypothetische Mann, steht so tief unter ihr, daß er niemals wagen würde, sich auch nur der leisesten Hoffnung hinzugeben, daß sie ihn, äh, also... heiraten würde, nehme ich an, aber falls er sie doch fragen sollte, dieser hypothetische, aber völlig wertlose Mann, der in seinem ganzen Leben noch nichts zustande gebracht hat, würde sie – würdest du... ich meine, unter den Umständen...«
Sie hatte eine tiefe Furche zwischen den Brauen, und weshalb war ihm das noch nie aufgefallen? Sie war jetzt nicht mehr verängstigt, sondern vielmehr ratlos – oder gequält. »Stanley, bittest du mich um das, worum ich glaube, daß du mich bittest?«
Er atmete tief ein. Sein Herz pochte wie eine Trommel. »Ich wollte nur, also, nur deine Meinung wissen, weil mir viel daran liegt, wirklich...«
»Bittest du mich, deine...«
Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Sämtliche Trommeln der Mohawk-Indianer donnerten in seinen Ohren. Ba-dumm-ba-dumm-ba-dumm-ba-dumm. »Ja.«
»Aber wir haben uns doch eben erst kennengelernt – du weißt ja nichts über mich. Du machst einen Scherz, oder? Sag mir, daß es ein Scherz ist, Stanley, sag es mir...«
Der Regen, die Uhr, das Hufgetrappel, die Trommeln. Er blickte auf, kummervoll wie ein geschlagener Hund. »Nein«, sagte er, »es ist kein Scherz.«