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Ein Schlitz reicht aus
Wie sich herausstellte, war Dr. Brush keiner, der den Status quo ins Wanken brachte, selbst wenn das in seiner Macht gestanden hätte, was nicht der Fall war. O’Kane mochte ihn recht gern – er war ein herzlicher Mensch, immer zum Lachen aufgelegt, ein großer, körperlicher Mann, der Essen und Trinken genoß und nicht andauernd so tat, als wäre er besser als jeder andere auf der Welt, der nicht zufällig Millionär oder Irrenarzt war –, aber er respektierte ihn nicht so, wie er Dr. Hamilton respektiert hatte. Bei all seinem Herumgetue mit den Affen, seinen Allüren und seiner steifen Förmlichkeit war Hamilton doch immerhin ein erstklassiger Psychiater, einer der besten im Land, und Mr. McCormicks Zustand hatte sich unter seiner Betreuung tatsächlich gebessert, wenn auch immer wieder Rückschläge aufgetreten waren. Nicht daß Brush keine erstklassigen Referenzen hätte, abgesehen davon, daß ihn Dr. Meyer persönlich auserwählt hatte, aber er war eben einfach zu, nun ja, zu drollig, um auf lange Sicht etwas aus sich zu machen, und das verhieß nichts Gutes für Mr. McCormick. Hamilton hatte aus Riven Rock herausgeholt, was er haben wollte, und sich dann verabschiedet: Brush dagegen schien es zu reichen, wie eine fette Boje in dem seichten Tümpel dieses speziellen psychologischen Entwicklungsgebiets zu schaukeln.
Angefangen hatte er recht energisch, sehr darauf erpicht, einen guten Eindruck zu erwecken, so wie jedermann in einer neuen Stellung, besonders da er wußte, daß er einerseits der Eisprinzessin verantwortlich war und andererseits Dr. Meyer, dem humorlosesten Menschen der Welt. Im Prinzip setzte er Dr. Hamiltons Reglement fort, das den Aktivitäten von Mr. McCormick eine strenge Zeiteinteilung auferlegte, von der Weckzeit über die Dauer seines Duschbads bis zur genauen Stunde, an der er sich abends zurückzuziehen hatte, doch da er der neue Boss war, konnte er es sich nicht nehmen lassen, ein paar kleine Dinge zu verändern. Am Anfang jedenfalls. Nur am Anfang.
Als erstes begann er damit, und in O’Kanes Augen war das ganz ohne Frage ein Fehler, es bei Mr. McCormick mit der Redekur zu probieren. In jener Zeit – es war der Spätsommer 1916 – galt die Redekur noch eher als Kuriosität, eine Art besseres Gesellschaftsspiel für die Reichen und Müßigen, so wie die Traumdeutung oder die Hypnose, und erst wenige Psychiater hatten den Gedanken Dr. Freuds aufgegriffen, sie auf ihre schwer gestörten Patienten anzuwenden. Wie die meisten Menschen war O’Kane höchst skeptisch – wie konnte man einen Tobsüchtigen allein durch Reden davon abbringen, den eigenen Urin zu trinken oder seine gelähmte Großmutter hundertmal mit einer Cocktailgabel zu traktieren? –, und Dr. Hamilton hatte, obwohl er Freuds Theorien guthieß und jederzeit bereit war, O’Kane und die Thompsons beim geringsten Anlaß über so absurdes Zeug wie frühkindliche Sexualität oder mütterliche Lust aufzuklären, hatte Mr. McCormick nie der Redekur unterzogen. Er hielt es für klüger, dem Patienten ein reglementiertes Programm aufzuerlegen, mit guter, gesunder Ernährung, ausreichend körperlicher Ertüchtigung und intellektueller Stimulation, und ansonsten der Natur ihren Lauf zu lassen. Brush aber war neu in diesem Job, und er wollte sich behaupten.
O’Kane und Mart erlebten die erste Sitzung mit. Es war ein sonniger Vormittag, herrliches Wetter, die Morgennebel hatten sich verzogen, der Sommer lag in voller Pracht da, und Mr. McCormick genoß nach dem Frühstück die frische Luft auf der Sonnenveranda. Die Veranda grenzte direkt an den oberen Salon, war von zweieinhalb Meter hohen Mauern umgeben, auf Augenhöhe öffneten sich Gitterfenster, und die zu einer Sitzgruppe arrangierten Korbmöbel waren durch die italienischen Fliesen hindurch im Beton festgedübelt. Die Tür zur Sonnenveranda war immer verriegelt, wenn sie nicht genutzt wurde, und das Mobiliar mit Bedacht so aufgestellt, daß Mr. McCormick möglichst nicht an eine Mauer gelangen konnte, um darüberzuhechten. Es wäre ein Sprung über zwei Etagen in die Büsche hinab, und selbst für einen Mann von Mr. McCormicks Behendigkeit konnte ein solcher Sturz tödlich sein.
Mr. McCormick hatte gut gefrühstückt an diesem Tag – zwei Eier mit gebratenem Speck, ein Muffin und eine Schüssel Cornflakes mit Zucker und Sahne –, und er schien in besonders guter Stimmung zu sein, in Vorfreude auf einen neuen Kinofilm, den Roscoe am Abend zuvor aus Hollywood mitgebracht hatte. Es war ein Film mit Lillian Gish, und Mr. McCormick, der keine Frauen in Fleisch und Blut sehen durfte, genoß die Gelegenheit außerordentlich, diese Wesen auf der schimmernden flachen Leinwand des Lichtspieltheaters zum Leben erwachen zu sehen. Mehr als einmal mußte er daran gehindert werden, sein Geschlechtsteil zu entblößen, wenn im Film Pearl White an einem Felsvorsprung baumelte oder Mary Pickford den Rock lüpfte, um vom Trittbrett eines Automobils zu steigen, dennoch meinten die Ärzte, die von den Filmen gebotene geistige Anregung sei wichtiger als kleine Unannehmlichkeiten, wie sie die Abbildung weiblicher Wesen – ob in Not oder sonstwie – mit sich bringe. O’Kane war da nicht so sicher. Schließlich war er es, der mitten in der Vorführung beim flackernden Licht dem heftig keuchenden Mr. McCormick das Glied wieder in der Hose verstauen mußte, was für Mr. McCormick nur demütigend sein konnte – und für O’Kane war es auch keine reine Freude. Nein, ständig diese geschminkten Frauen mit den Wimpern klimpern und ihre Dekolletés und alles übrige in die Kamera schwenken zu sehen, das mußte den armen Mann ja nur noch mehr quälen. Jeder wäre verrückt geworden in seiner Lage, und des öfteren fragte sich O’Kane, ob sie nicht einmal im Monat eine Prostituierte engagieren sollten, damit Mr. McCormick – der freilich fachgerecht gefesselt sein müßte – seinen natürlichen Trieben frönen konnte wie jeder andere Mann, aber das wäre wohl keine psychologische Vorgehensweise gewesen, oder?
Jedenfalls tauchte Dr. Brush an diesem Morgen auf, nachdem O’Kane und Mart Mr. McCormick auf die Sonnenveranda hinausgebracht hatten, und er schien entschlossen, die Redekur einmal auszuprobieren. »Mr. McCormick!« Noch während er durch die Tür polterte, posaunte er fröhlich und leutselig einen Gruß hinaus: »Und wie fühlen Sie sich an diesem wunderschönen Tag?«
Mr. McCormick saß in einem Korbsessel, die Füße auf das Korbsofa gelegt, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, und starrte in den wolkenlosen Himmel. Wie immer war er gekleidet, als wäre er auf dem Weg zu seinem Büro in der Mähmaschinenfabrik: grauer Sommeranzug mit Weste, steifer Kragen und Krawatte. Weder reagierte er auf die Begrüßung, noch nahm er die Anwesenheit des Arztes anderweitig zur Kenntnis.
Unbeeindruckt stampfte Dr. Brush über die Fliesen, baute sich unmittelbar hinter Mr. McCormick auf und beugte sich dann vor, womit er den massigen, schwitzenden Zeppelin seines Gesichts in Mr. McCormicks Gesichtsfeld manövrierte.
»Also wirklich«, dröhnte Dr. Brush. »Haben Sie nicht ein Riesenglück, daß hier das liebe lange Jahr hindurch so ein Prachtwetter ist? Besonders angenehm muß das im Winter sein, schlicht und einfach aus dem Grund, daß man Eis und Schnee ganz vergessen kann, aber auch im Sommer – können Sie sich vorstellen, wie die Leute drüben an der Ostküste unter der schwülen Hitze leiden... und hier ist es immer herrlich. Was meinen Sie, wie warm es ist, Mr. McCormick – einundzwanzig Grad? Zweiundzwanzig vielleicht? Na?«
Keine Antwort.
»Allerdings«, schloß der Doktor mit einem gekünstelten Seufzer, »Sie haben wirklich Glück.«
In diesem Moment sprach Mr. McCormick zum erstenmal, seit sie ihn auf die Veranda hinausgebracht hatten. Er hielt immer noch den Kopf nach hinten gelegt und sah Dr. Brush auf dem Kopf stehend vor sich, was ein seltsames Bild sein mußte, obwohl es ihn nicht zu stören schien. »Glück?« fragte er mit einem kaum hörbaren Krächzton. »Ich-ich habe ebenso viel Glück wie ein Hund.«
»Ein Hund?« Jetzt geriet der Doktor in einen Zustand höchster Erregung, er flitzte mit hektischen Schritten seiner zu kleinen Füße auf der Veranda herum, bis er sich schließlich in den Sessel gegenüber von Mr. McCormick quetschte. »Und warum sagen Sie das, Mr. McCormick? Ein Hund? Wirklich. Wie ungewöhnlich.«
Mart, der an der Wand gleich links von der Tür lehnte, ließ laut seine Knöchel knacken. O’Kane war im Schatten am anderen Ende der Veranda auf und ab gegangen, blieb jetzt aber stehen, suchte eine bequeme Stelle in der Ecke und lehnte sich an, um zuzuhören. Mr. McCormick starrte immer noch zum Himmel empor und sagte nichts.
»Ein Hund?« wiederholte Dr. Brush. »Habe ich Sie da recht verstanden, Mr. McCormick? Sie sagten doch, ›wie ein Hund‹, oder?«
Immer noch nichts.
»Denn wenn Sie das gesagt haben, und ich bin überzeugt, daß ich nichts an den Ohren habe – oder vielleicht doch, ha! sollte sie besser mal untersuchen lassen –, also wenn Sie ›wie ein Hund‹ gesagt haben, dann wäre ich äußerst neugierig, warum Sie sich so fühlen, schlicht und einfach aus dem Grund, daß es ein höchst außergewöhnlicher Vergleich ist, und ich bin sicher, daß auch Mr. Thompson und Mr. O’Kane an Ihrem Gedankengang interessiert sind. Stimmt’s, Männer?«
Mart grunzte, und es war schwer zu entscheiden, ob es ein zustimmendes oder ablehnendes Grunzen war.
O’Kane nickte kurz. »Ja«, sagte er, »sicher doch.«
»Haben Sie gehört, Mr. McCormick? Auch Ihre Freunde möchten gerne wissen, was Sie zu diesem Thema zu sagen haben. Ja? Mr. McCormick?«
Und immer noch nichts. O’Kane überlegte, ob Mr. McCormick die Frage überhaupt gehört hatte oder ob sein Verstand bereits wieder eingeschlossen war, unzugänglich wie ein Nagetier, das sich tief in seinem Bau verkrochen hatte. Wenigstens wurde er nicht gewalttätig. Noch nicht jedenfalls.
Der Arzt zog eine Zigarre aus der Innentasche seiner Jacke und nahm sich die Zeit, sie anzuzünden. Er zog daran, stieß eine Rauchwolke aus und musterte den Patienten mit scharfsinnigem Blick, der jedoch an Mr. McCormick leider verschwendet war, da dieser weiter zum Himmel hinaufstarrte, als wäre er Percival Lowell und forschte nach Anzeichen von Leben auf dem Mars. »Vielleicht fühlen Sie sich hier eingesperrt, ist das so, Mr. McCormick?« begann Dr. Brush. »Wollen Sie das damit ausdrücken – daß Sie lieber mehr Freiheiten hätten? Dafür ließe sich durchaus sorgen – mehr Ausfahrten, mehr Spaziergänge außerhalb des Grundstücks, wenn Sie das gerne möchten. Möchten Sie das? Haben Sie es so gemeint?«
Nach einer Pause von mindestens fünf oder sechs Minuten änderte Dr. Brush seine Strategie. »Erzählen Sie mir von Ihrem Vater, Mr. McCormick«, sagte er, wobei er sich vorbeugte und zu Mr. McCormicks langem blassen Hals und der Unterseite seines Kinns sprach. »Das war ein großer Mann, wie ich höre... Haben Sie ihn sehr geliebt?«
Eine Möwe kreiste über ihnen. Es war sehr still. Irgendwo weiter unten, in Richtung der Hütten, sang jemand auf italienisch, ein monotoner Klang, der wie ein Pendel hin und her schwang.
»Haben Sie... haben Sie je das Gefühl gehabt, ihn zu hassen? Oder einen Groll gegen ihn gehegt? Vielleicht hat er Sie, als Sie ein kleiner Junge waren, oft bestraft oder womöglich gar geschlagen – ist so etwas jemals passiert?«
O’Kane wurde sich des Laufs der Sonne bewußt, da der scharf umrissene schräge Schatten neben ihm unerbittlich näher kroch. Er versuchte, die Worte des Liedes zu hören, obwohl er sie ohnehin nicht verstehen würde, und bemühte sich, nicht an Giovannella zu denken. Mr. McCormick, der ein Meister der Reglosigkeit war – er hätte ein ideales Modell für einen Bildhauer abgegeben –, rührte sich nicht. Er schien nicht einmal zu atmen.
»So«, sagte der Doktor nach einer Weile, stand umständlich auf, paffte an seiner Zigarre und begann wieder auf und ab zu gehen, von Fliese zu Fliese. »Soso.« Er stellte sich wieder hinter Mr. McCormick und schob sein Gesicht erneut in dessen Gesichtsfeld. »Und Ihre Mutter«, setzte er fort, »was ist sie für eine Frau?«
Der zweite Ansatz, den Dr. Brush versuchte, hatte mit gewissen kleineren Verfeinerungen des täglichen Ablaufs zu tun, die er der Effizienz halber vornahm. Anfangen wollte er mit Mr. McCormicks Duschgewohnheiten. »Eddie«, nahm er O’Kane eines Abends nach Schichtende beiseite, »wissen Sie, ich habe über Mr. McCormicks Tagesablauf nachgedacht und wie er seine Ressourcen dabei verschwendet, und schlicht und einfach aus diesem Grund finde ich, wir könnten die Dinge etwas rationeller gestalten. Ihn ein bißchen aufrütteln, wissen Sie. Es ist doch immer dasselbe, tagaus, tagein. Der gute Mann muß sich ja längst zu Tode langweilen.«
O’Kane, der trotz des Wechsels an der Spitze Oberpfleger geblieben war und außerdem eine Gehaltserhöhung von fünf Dollar pro Woche erhalten hatte, seit Dr. Brush da war, hielt es für zweckmäßig, sich betroffen zu zeigen, auch wenn er an dem bestehenden Ablauf überhaupt nichts auszusetzen fand. Es war nicht der Zeitplan, der Mr. McCormick einschränkte, auch nicht ein Mangel an geistiger Anregung – sondern der Mangel an Frauen. Der sollte sich ein paarmal flachlegen lassen, dann würde man ja sehen, was geschah – viel schlimmer als jetzt konnte es sowieso nicht werden. Er sah Brush mit unschuldiger Miene an. »Und woran dachten Sie?«
»Nun, ich habe mir eine Sache mal näher angesehen, und zwar das Duschen«, sagte der Arzt. Sie standen am Eingang zum oberen Salon; Mr. McCormick lag im Bett, Nick und Pat hatten gerade die Schicht begonnen. »›Sieben bis acht Uhr morgens: Duschbad.‹ Klingt das nicht etwas übertrieben? Selbst im Interesse von Sauberkeit und Hygiene? Ich selbst zum Beispiel verbringe nie länger als fünf Minuten in der Dusche, und ha! Sie werden wohl zugeben, daß es bei mir eine ganze Menge mehr zu waschen gibt als bei Mr. McCormick. Jedenfalls dachte ich mir, daß wir diese Zeit zurückschrauben könnten – schön langsam natürlich –, bis er am Ende nur noch fünf bis zehn Minuten lang duscht, und die gewonnene Zeit können wir dann für seine Genesung und völlige Heilung nutzen...«
O’Kane zuckte die Achseln. »Sicher, gut möglich. Aber beim Duschen ist Mr. McCormick ziemlich stur, das ist eine seiner Lieblingsobsessionen, und es könnte schwierig werden, ihm das zu...«
»Ach was.« Der Arzt winkte ab. »Überlassen Sie das nur mir – Obsessionen sind mein Geschäft.«
Und so kam es, daß am nächsten Morgen, gerade als O’Kane und Mart Mr. McCormick in die Dusche geführt hatten, Dr. Brush auftauchte – barfuß und hünenhaft in einer langen, wallenden Regenpelerine von der Größe eines Zwei-Mann-Zelts. »Guten Morgen, guten Morgen!« dröhnte er, und der lärmende Ruf hallte in der schmalen Kabine der gefliesten Dusche wider, als wären es Hunderte von Stimmen. »Kümmern Sie sich nicht um mich, Mr. McCormick«, schrie er, während die bleichen, fleischigen Zehen auf den nassen Kacheln klatschten und das Wasser schon von seinem Umhang perlte. »Ich bin nur im Interesse der Effizienz hier, um ihr Duschbad zu beobachten, schlicht und einfach aus dem – also, sehen Sie in mir einen dieser Wirtschaftlichkeitsexperten, die Industrielle wie Sie immer wieder einsetzen, um die Produktionsabläufe zu verbessern und zu beschleunigen... Machen Sie nur weiter, lassen Sie sich nicht stören...«
Mr. McCormick saß nackt auf dem Boden unter einem der drei Duschköpfe und seifte sich heftig mit einem frischen Stück Palmolive-Seife die Brust ein. Anfangs wirkte er beunruhigt und machte sogar eine Geste, als wollte er seinen Schambereich verdecken, überlegte es sich dann aber offenbar anders, wandte sich von dem Arzt ab und seifte sich weiter ein.
»Also, ich dachte mir«, fuhr der Doktor fort, im aufsteigenden Dampf und dem Wasser, das gegen die Wände prasselte und ihm im Aufspritzen die Beine naß machte, »wir werden damit anfangen, unsere Duschzeit ein wenig zu verkürzen – auf vielleicht, na, wie wär’s mit einer Viertelstunde, Mr. McCormick? Sehen Sie, und ich bin sicher, Sie werden mir da beipflichten, das ist doch eine mehr als vernünftige Zeitspanne, um sich gründlich zu reinigen, schlicht und einfach aus dem Grund, daß der menschliche Körper nur mit einer begrenzten Menge Schmutz behaftet sein kann, besonders wenn man täglich duscht, meinen Sie nicht auch?«
O’Kane stand in der Tür zum Badezimmer, seiner Standardposition, von wo er Mr. McCormick in der Dusche beobachten konnte, ohne ihn allzusehr zu bedrängen, und Mart war draußen im Zimmer, wo er Mr. McCormicks Frühstückstisch deckte. Zwar war die Dusche ziemlich groß – sie hätte mindestens drei Personen Platz geboten –, trotzdem hatte O’Kane das unangenehme Gefühl, daß der Doktor ein unnötiges Risiko einging. Es ließ sich nicht sagen, wie Mr. McCormick diese Invasion seiner Privatsphäre auslegen würde, Effizienz hin oder her, und falls er durchdrehte, so bestand bei den glatten Fliesen und dem stetig fließenden Wasser immer die Möglichkeit eines bösen Sturzes. Ihm gefiel die Situation kein bißchen, und er hatte die pessimistische Vision, wie er sich ins Gemenge warf und wieder einmal einen Anzug ruinierte.
Doch Mr. McCormick überraschte ihn. Er wirkte nicht sonderlich erregt – jedenfalls bemerkte O’Kane nichts davon. Er hielt dem Eindringling nur die weiße Fläche seines Rückens zugewandt und seifte sich um so kräftiger ein, je länger der Doktor dahinplapperte und das Wasser in einer Kaskade aus stahlharten glitzernden Nadeln herabfiel. So ging es eine Zeitlang weiter, bis O’Kane auf ein Zeichen von Brush Mart herbeirief, der in die Dusche trat, um den Wasserhahn abzudrehen.
Im nächsten Moment versiegte der Strahl der Brause. Mr. McCormick warf einen gehetzten Blick über die Schulter auf den Arzt, dann auf O’Kane – jetzt geht’s los, dachte O’Kane und spannte sich an –, doch der Patient tat nichts weiter als auf dem nassen Boden ein Stück weit zu rutschen, so daß er zu den Armaturen hinauflangen konnte. Er drehte mehrmals an den Griffen und bewegte sich dann in einem schiebenden Krebsgang zuerst nach links, dann nach rechts, um es bei den beiden anderen Brausen zu probieren. Er brauchte recht lange dafür, und als er sich schließlich überzeugt hatte, daß das Wasser tatsächlich versiegt war, rutschte er genau zu der Stelle zurück, an der er vor der Störung gesessen hatte und fuhr fort, sich einzuseifen, als wäre nichts geschehen.
Dr. Brush wiederum sagte dabei Sachen wie »Also gut, Mr. McCormick, sehr schön, dann hören wir jetzt mal langsam auf, nicht wahr?« und »Ist das nicht viel besser so? Finden Sie nicht? Optimistisch grinsend erhob er sich über der zusammengesunkenen Gestalt ihres Arbeitgebers, seine Zehen krallten sich wie Finger in den Boden, die gelbe Pelerine tropfte, die kurzen Haare in seinem Nacken kräuselten sich in der Feuchtigkeit wie Entenfedern. Aber Mr. McCormick achtete nicht auf ihn, sondern drückte seinen ganzen Widerwillen dadurch aus, daß er sich mit dem kleiner werdenden Seifenstück bearbeitete wie mit einer Flagellantenpeitsche, und als es verbraucht war, griff er nach einem neuen.
»Nun gut«, vertraute Dr. Brush später an diesem Tag O’Kane an, »das ist ein Machtkampf, und wir werden ja sehen, wie weit der Patient zu gehen bereit ist, ehe er begreift, welchen Vorteil es hat, sich effizienter zu verhalten.«
Am nächsten Morgen war der Arzt zurück; diesmal lag nur ein einziges Stück Seife in der Schale, und das Duschen wurde bereits nach zehn Minuten abgebrochen. Wieder ließ Dr. Brush alle möglichen zuversichtlichen Bemerkungen über das Einsparen von Zeit und Energie und den Wert der Disziplin vom Stapel, doch Mr. McCormick wich um keinen Deut von seiner Routine ab. Nachdem die Brause abgedreht war, seifte er sich noch eine volle Stunde lang ein und erschien zum Frühstück mit grünlich-weißen Palmolive-Schlieren an den Wangen und der Stirn, wie ein Indianerhäuptling auf dem Kriegspfad. Am Tag darauf wurde das Duschen auf fünf Minuten verkürzt und nur Seifenpulver hingestellt, aber Mr. McCormick machte beharrlich weiter, genau wie O’Kane es erwartet hatte. Als das Wasser aus war, rieb sich Mr. McCormick am ganzen Leib mit dem körnigen Pulver ein, bis es sich zu einem gelblichen Schaum auflöste, der dann auf seiner Haut härtete wie eine Glasur.
Die Krise kam am vierten Tag.
Dr. Brush verfügte diesmal, gar keine Seife auszuhändigen. Er erschien jovial und energiegeladen wie gewöhnlich und räsonierte mit Mr. McCormick wie mit einem Kind – oder zumindest wie mit einem Imbezilen in der Irrenanstalt. »Aber begreifen Sie denn nicht«, sagte er, die Stimme verflacht und verzerrt vom Prasseln des Wassers, bis der Hahn nach fünf Minuten auf sein Zeichen hin zugedreht wurde, »daß Sie höchst unvernünftig handeln, Mr. McCormick – oder nicht unvernünftig, sondern ineffizient? Meinen Sie denn, Sie könnten Ihre Mähmaschinenfabrik mit so einem Zeitplan laufen lassen, häh? Selbstverständlich bekommen Sie Ihre Seife sofort zurück, sobald Sie, nun ja, wieder anfangen... also, schlicht und einfach aus dem...«
Mr. McCormick duschte ohne Seife und schien sie auch gar nicht zu vermissen, oberflächlich betrachtet jedenfalls nicht; er saß gut anderthalb Stunden lang unter den trockenen Brauseköpfen, und als er aufstand, griff er nach dem Handtuch, obwohl er längst trocken war. Egal. Er benutzte dieses Handtuch wie ein Büßer seine Geißel und schlug damit aus allen Richtungen auf seinen Körper ein, bis die Haut so aufgeschürft war, daß sie zu bluten begann und er mit Gewalt davon abgehalten werden mußte. Am nächsten Morgen versuchte er nicht einmal, die Dusche aufzudrehen, sondern griff gleich nach dem Handtuch, als wäre er schon naß, und rieb sich damit wie wild an all den aufgescheuerten Stellen, bis sie wieder zu bluten anfingen, und erst nach einem Handgemenge, bei dem er mit den vereinten Kräften von O’Kane, Mart und Dr. Brush überwältigt werden mußte, ließ er davon ab.
Und so ging es eine Woche lang weiter, bis Mr. McCormick vom Scheitel bis zur Sohle eine wandelnde Schorfnarbe war und Dr. Brush seine fixe Idee von der Effizienz endlich fallenließ. Tatsächlich gab er von da an überhaupt jeden Versuch auf, sich in Mr. McCormicks Angelegenheiten einzumischen, weder mit Änderungen seines Zeitplans noch durch therapeutische Gespräche, und während des einen Jahres, ehe er zum Militärdienst berufen wurde, um die am Schützengrabenkoller leidenden Veteranen der Westfront zu behandeln, schien er es vollends zufrieden, einfach nur – dahinzugleiten.
O’Kane für sein Teil war damit einverstanden, er hatte seine eigenen Probleme. Als der Herbst von 1916 in den Winter von 1917 ausblutete und der Krieg immer näher rückte, schienen sich seine Scharmützel mit Rosaleen und Giovannella zu verschärfen, bis er unter schwachen Rückzugsgefechten das Feld räumen mußte. Mit Rosaleen wurde der Kampf wenigstens per Post und über eine Distanz von rund fünftausend Kilometern ausgefochten. Er hatte seit zwei Jahren nichts von ihr gehört, und dann verlangte sie plötzlich Geld von ihm:die Briefe prasselten nur so auf ihn nieder in einem Wirbelsturm von Forderungen, Klagen und Drohungen. Und was wollte sie? Sie wollte Schuhe für Eddie jr., der angeblich das »genaue ebenbilt von sein Fater« und bald neun Jahre alt war, außerdem einen neuen Sonntagsanzug für den Kleinen, damit er recht hübsch aussähe bei ihrer Hochzeit mit Homer Quammen, und ob er sich wohl noch an Homer erinnerte? Übrigens habe sie die Scheidung eingereicht, und sie fand, er schulde ihr dafür was und solle auch keine Sekunde lang glauben, daß ihre zweite Ehe ihn etwa von seiner Verpflichtung befreie, für Eddie jr. zu sorgen, vor allem da Homer »arm wiene Kürchenmauss« sei.
Er schickte ihr das Geld, vierzig Dollar alles in allem, obwohl es ihn wurmte, weil er jeden Cent für ein Grundstücksgeschäft sparte, an dem ihn Dolores Isringhausens Schwager beteiligen wollte, und er bekam dafür nie ein Dankeschön, ein auf Wiedersehen oder sonst etwas. Es folgten aber keine weiteren Briefe, also nahm er an, sie habe das Geld gekriegt, und bis er wieder von ihr hörte, hatte er die Sache längst vergessen. Das war im Dezember, um Weihnachten herum – er erinnerte sich daran, weil Katherine in der Stadt war, sie lud im oberen Salon Berge von Geschenken und Kränzen, Popcorngirlanden und so weiter ab und brachte Brush und Stribling, den Grundstücksverwalter, ordentlich auf Trab –, und O’Kane kam gerade von seiner Schicht nach Hause, wo er Mrs. Fitzmaurice ein Sandwich abschwatzen und danach auf einen Drink in Menhoffs Kneipe gehen wollte, als er den verschmierten Briefumschlag auf dem Tisch im Flur liegen sah. Er erkannte Rosaleens verkrampfte untermenschliche Krakelschrift – Wohlgeb. Edw. O’Kane c/o Mrs. Morris Fitzmaurice, 196 State Street, Santa Barbara, Kalifornien – und schob sich den Brief in die Brusttasche.
Später, als er bei Menhoff an einem Tisch saß und seine Jacke nach einem Streichholz durchstöberte, um dem Mädchen aus dem Billigkaufhaus Feuer zu geben, entdeckte er ihn wieder. Er zündete ihr die Zigarette an – sie hieß Daisy, und ihre Brüste ließen ihn fast wahnsinnig werden, so daß er aus lauter Liebe zu ihnen am liebsten gestorben wäre –, dann entschuldigte er sich und ging auf die Toilette, wo er vor dem Pissoir stehend den Brief aufriß und damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlug. In dem Kuvert steckte eine Photographie, sonst nichts, keine Zeile. Er hielt sie mit der freien Hand ins Licht. Das Bild war verschwommen und ziemlich unscharf, so als hätte sich die Welt in dem Moment zwischen dem Drücken des Auslösers und dem Fixieren der Aufnahme ein Stück verschoben, und es zeigte einen schlaksigen Jungen in kurzen Hosen, neuen Schuhen, Jackett und Schlips, tapfer lächelnd vor einem Hintergrund kahler Bäume und einer ebenfalls entlaubten Hecke. O’Kane sah genauer hin. Kniff die Augen zusammen. Wendete die glatte Oberfläche, um das Licht einzufangen. Und sah das Gesicht seines Sohnes, das ihm aus dem verwackelten Photo entgegenstrahlte, Eddie jr., sein eigen Fleisch und Blut, und dieses Gesicht würde er überall wiedererkennen.
Sicher. Sicher würde er das.
Dort am Pissoir verlor er jedes Zeitgefühl, starrte nur in das strahlende Gesicht auf diesem Bild und fühlte sich dabei so schlecht, wie er sich noch nie gefühlt hatte, schlecht und schäbig, wertloser als jeder Vagabund vor einer Mülltonne. Seine Eltern kannten den eigenen Enkelsohn nicht einmal, seine Schwestern nicht ihren Neffen. Niemand kannte ihn, niemand außer Rosaleen – und Homer Quammen. Gott, wie weh das tat. Sie hätte ihm ebensogut eine Bombe per Post schicken können, ihn mit Schrapnell beschießen, seine Haut zerfetzen. Er dachte, er müsse weinen, dachte wirklich, er würde gleich in sich zusammensinken und zum erstenmal weinen, seit er selbst ein Kind gewesen war, den säuerlichen Gestank der Pisse in der Nase, Schimmel in den Ablaufrinnen, die Luft so schwer und braun wie Senfgas, das über Schützengräben wallte, doch dann hörte er das blecherne Klimpern des Pianos aus dem Schankraum und kam wieder zu sich. Daisy saß dort draußen, Daisy in der Blüte ihrer Jugend, die darauf wartete, von ihm gepflückt zu werden.
Na gut. Also dann. Er schüttelte ab, knöpfte zu und drückte die Spülung. Und dann, es war beinahe so, als litte er wie die arme Mrs. Brush an einem nervösen Tic, fühlte er, wie sich seine rechte Hand zusammenballte, und das Photo lag zerknüllt in dem Pissoir neben dem bekrakelten Umschlag. Danach bekam er keine Briefe mehr. Hörte auch nie wieder ein Wort von Scheidung.
Mit Giovannella war es anders. Und schlimmer. Wesentlich schlimmer. Sie hatte sich ihm widersetzt, natürlich hatte sie das, und nachdem sie den glatten roten Stichel wieder aus seiner Handfläche gezogen hatte und sie beide stumme Zeugen des Phänomens geworden waren, wie sein Blut hervorquoll und die weiße Fläche bedeckte, auf der eben noch kein Blut gewesen war, da sagte sie nichts dazu, kein Tut mir leid oder Entschuldige oder Hab ich dir weh getan? Nein, sie zerriß einfach den Zettel mit dem Namen von Dolores Isringhausens Arzt darauf und schleuderte ihm die Fetzen ins Gesicht, und er umklammerte seine verletzte Hand, er fluchte jetzt, verfluchte sie mit jedem Schmähwort, das ihm einfiel, und Gott im Himmel, wie sehr diese Hand schmerzte. »Du Hure!« schrie er. »Schlampe! Du verdammte Spaghettischlampe!« Sie aber stand starr vor ihm, ihr Gesicht war wie aus Eisen, und sie hielt diesen glitzernden stählernen Stachel in der geballten Faust, bis er sicher war, daß sie ihm die Nadel gleich mitten ins Herz treiben würde, und da wich er rückwärts zur Tür hinaus und die wacklige Treppe hinab, wobei er weiter mechanisch Flüche ausstieß und dachte, daß er jetzt selbst einen Arzt brauchte – und das ausgerechnet an einem Sonntag.
Sie wollte ihn danach nicht wiedersehen. Er aber wollte sie, wollte sie so dringend wie noch nie etwas in seinem Leben, und nicht zum Kämpfen und Streiten wegen Ehemännern oder Babys oder San Francisco und dergleichen, sondern um sie zu lieben, sie nackt auszuziehen, auf dem Bett flachzulegen, in den Armen zu halten und sie zu lieben, bis sie keine Luft mehr bekam. Doch sie verschmähte ihn. Er kroch zu der Wohnung über dem Schuhmacherladen hinauf, und sie knallte ihm die Tür ins Gesicht; er paßte sie auf der Straße ab, wenn sie zum Markt ging, und sie stolzierte an ihm vorüber, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Als er sie am Ellenbogen packte – »Bitte, Giovannella«, flehte er, »hör mich an, hör mich nur eine Minute lang an« –, da riß sie sich los und stapfte davon, mit ihren schnellen, ausgreifenden Schritten, die Schultern so steif und kompakt, als wären sie mit Draht zusammengebunden.
Wirklich quälend für ihn aber war, daß er zusehen mußte, wie sie runder wurde, Tag für Tag, Woche für Woche. Jeden Sonntagnachmittag spazierte sie die Straßen auf und ab, am Arm von Guido, diesem wunderlichen Italienerzwerg, der sogar mit Stiefeln keine sechsundvierzig Kilo wog, und dabei schlenderte sie jedesmal am vorderen Fenster seiner Pension sowie an sämtlichen Saloons von Spanishtown vorbei – und an Cody Menhoffs Kneipe auch, für alle Fälle. Anfangs sah man noch nichts, niemand sah es, weil das Baby erst so groß wie eine abgehäutete Ratte war, noch gar kein echtes Baby, nicht mal richtig menschlich war es, doch gegen Ende Juni merkte man es recht deutlich, und Mitte Juli konnte man meinen, sie schmuggelte Melonen unter dem Rock. Er ging ihr manchmal nach, halb betrunken und mit sich ringend, und beobachtete, wie die Leute stehenblieben, um ihr zu gratulieren, die Männer lächelten väterlich, die Frauen streckten die Hände aus, um den geschwollenen Talisman ihres Bauches zu tätscheln, und die ganze Zeit stand Guido der Schuster grinsend und in seinem einfältigen Stolz rot angelaufen daneben. O’Kane fühlte sich ausgeschlossen. Er war böse. Er war zornig.
Das Baby wurde Ende Oktober geboren. O’Kane hörte es von Baldy Dimucci, der Zigarren verteilte, als wäre er selbst der stolze Vater, und kein Wort fiel mehr wegen der Sache vor acht Jahren – und auch neueren Vorkommnissen. Oder war da doch ein Groll? Als er eines sonnenwarmen Nachmittags kurz vor Halloween zum Mittagessen hinunterging, war der alte Dimucci zu ihm in die Küche gekommen. O’Kane hatte am Morgen seinen Lieferwagen in der Einfahrt gesehen (keine Eselskarren mehr für Baldy: er war wohlhabend geworden, Besitzer einer gutgehenden Gärtnerei und eines nagelneuen Ford-Lasters) und sich darüber gewundert, den Zusammenhang zu Giovannella und ihrem Baby aber nicht hergestellt, bis Baldy durch die Küchentür trat, etwas unsicher auf den Beinen und nach Rotwein und Zigarrenrauch riechend. »He, Eddie«, sagte er, während Sam Wah mürrisch am Herd stand und O’Kane seine Suppe löffelte, »hast du schon gute Nachricht gehört?«
»Gute Nachricht? Nein, was denn für eine?«
Der alte Baldy kam auf ihn zu, das Gesicht von wilden Furchen durchzogen, die Augen leuchtend vom Wein, auf den Lippen ein breites Knoblauchfressergrinsen. »Giovannella«, sagte er, und er war gar nicht so betrunken, wie er wirkte, »Giovannella und mein Schwiegersohn, sie haben Baby gekriegt.«
O’Kane blinzelte nur. Er fragte nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, ob es blonde Haare hatte oder ob eines seiner grünen irischen Augen mit einer haselnußbraunen Glücksuhr verziert war, denn all das wußte er bereits, und von diesem Wissen wurde ihm übel und schwindlig, als zöge man ihm den Boden unter den Füßen weg. Daher sagte er gar nichts, entbot keine Gratulationen oder guten Wünsche für die junge Mutter – er blinzelte nur.
»Hier«, sagte Baldy, der in seinem besten Anzug vor ihm stand, das Hemd vom Wein befleckt, »nimm dir eine Zigarre.«
O’Kane ging nach der Arbeit direkt zu ihrer Wohnung, wagte sich aber nicht hinauf, weil dort oben ein gewaltiges rotweinseliges, akkordeonbeschwingtes, pastakochendes Itaker-Tohuwabohu herrschte und überall auf den Treppenstufen lärmende und lachende Menschen saßen. Und als es ihm zwei Tage später gelang, sich hinaufzuschleichen, öffnete ihm nicht Giovannella die Tür, sondern eine große, wuchtige Statue von Frau, die mit ihr zwar die Nase und die Augen, aber sonst nichts gemein hatte. Das war ihre Mutter, kein Zweifel. Sie sagte etwas auf italienisch, und er versuchte, an ihr vorbei in das vertraute Zimmer zu spähen, doch sie füllte das ganze Bild aus und wiederholte, was immer sie gerade gesagt hatte, als sie ihn mit offenstehendem Mund auf dem Treppenabsatz erblickte. »Giovannella«, sagte er, das einzige italienische Wort, das er kannte, aber die Frau ließ sich davon nicht beeindrucken. Eine bebende, blaugeäderte mütterliche Hand fuhr zu dem Kreuz an ihrem Hals, als wollte sie ein schleichendes Unheil abwehren, während die andere die Tür gepackt hielt, um ihm den Weg hinein zu versperren, und in dem Augenblick, bevor sie ihm die Tür mit einer Wucht ins Gesicht knallte, die den morschen Treppenaufbau bis in seine verfaulten Stützpfeiler erzittern ließ, hörte er das Baby weinen, ein einziger, gellender Schrei, der ihm wie eine Anklage in den Ohren klang.
Als er endlich doch einen Blick auf Giovannellas Baby erhaschte – auf seinen Sohn, seinen zweiten Sohn, und er ein Fremder für beide –, da war es an dem Tag, als Dolores Isringhausen aus New York zurückkehrte, um ihre Villa für den Winter zu beziehen. Es war ein Samstag, und als er von seiner Schicht heimkehrte, wartete im Flur der Pension von Mrs. Fitzmaurice ein Brief auf ihn. Das fliederfarbene Kuvert duftete nach ihrem Parfum und war nur mit einem schlichten »Eddie« beschrieben. Er riß es unverzüglich auf, mitten im Gang und vor dem alten Walter Hogan, der ihn aus blutunterlaufenen Augen beobachtete. »Bin gestern abend eingetroffen«, las er, »und ich langweile mich jetzt schon. Ruf mich an.« Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, mit ihrem Namen zu unterzeichnen.
Er rief sie an, und ihre Stimme schnurrte in seinem Innern, bis es sich anfühlte, als wären ihm an sämtlichen Nervenenden feine Härchen gewachsen, und er stellte sie sich vor, wie er sie zuletzt gesehen hatte, in einem japanischen Kimono mit nichts darunter. »Hier Eddie«, sagte er, und sie packte ihn sofort mit ihrem katzenkralligen Flüsterton: »Warum rufst du erst jetzt an?« Sie verabredeten sich zum Abendessen, und er ärgerte sich, weil er keinen Wagen besaß, in dem er sie herumfahren konnte. Er mochte es nicht, wenn sie fuhr – es war irgendwie nicht richtig. Davon bekam er immer ein komisches Gefühl, so als wäre er nur ein halber Mann, ein Krüppel oder so, und er wollte nicht, daß irgend jemand ihn sah, wie ein Trottel auf dem Beifahrersitz hockend und eine Frau am Steuer. Tatsache aber war, daß er kein Automobil nötig hatte, nicht wenn ihn Roscoe sechs Tage die Woche nach Riven Rock und wieder zurück kutschierte und in Santa Barbara alles zu Fuß oder per Straßenbahn zu sieben Cent die Fahrt erreichbar war. Er sparte sein Geld lieber, weil er nicht vorhatte, sein Leben lang als Pfleger zu arbeiten, und so ein Wagen kostete nur Geld, wenn man den Preis fürs Benzin, die Reifen und Reparaturen bedachte, und wie oft hatte er Roscoe bis zu den Ohren schwarz von Schmiere gesehen? Heute abend aber könnte er wirklich einen Wagen gebrauchen – irgendwas, sogar eine dieser Tin Lizzies von Ford, bei denen man sich den Arm abkurbeln mußte –, um bei Dolores’ Haus vorzufahren und ein paarmal auf die Hupe zu drücken, und er fühlte sich billig und schäbig und wollte gerade zu Menhoff gehen, um sich ein wenig aufzumöbeln.
Da sah er Giovannella. Sie stand vor dem Gemüseladen auf der anderen Straßenseite, beugte sich vor, um die Tomaten zu begutachten, und neben ihr, in einem Kinderwagen von der Farbe eines Fledermausflügels, war das Baby. Guido war nirgends zu sehen. O’Kane blickte in beide Richtungen und über die Schulter, um sicherzugehen, daß ihn niemand beobachtete, dann überquerte er die Straße und stellte sich neben sie, nur ein Gesicht in der Menge, und er drückte tatsächlich am Obst herum wie eine wählerische Hausfrau, während er in den Kinderwagen spähte und die winzigen Gesichtszüge musterte, eingeschrumpelt wie eine vertrocknete Pfütze, die fest geschlossenen Augen, ein rüschiges blaues Häubchen über die unsichtbaren Augenbrauen gezogen. Aber die Haut – die feisten, geballten Fäuste, das schrumplige Gesicht – hatte dieselbe Farbe wie Giovannella, war Giovannella pur und unverfälscht, Zimt auf Toast, sizilianischer Lehm. Oder Erde. Sizilianische Erde.
Giovannella hatte ihn jetzt bemerkt, sie blickte von ihren Tomaten auf, die Wilson, der dickarmige Gemüsehändler, auf seiner silbernen, schaufelartigen Waage für sie abwog, und starrte ihn aus ihren höllenschwarzen Augen an. Sie zog die Mundwinkel nahezu unmerklich nach oben. »Er ist wunderschön, mein Kleiner, stimmt’s, Eddie?«
O’Kane sah zu Wilson, und Wilson wußte es, jeder wußte es. Außer vielleicht Guido. »Ja«, sagte er, »sicher«, und er fühlte sich vollkommen benebelt, so als wäre er beim Zahnarzt gewesen und hätte das betäubende Gas so tief eingeatmet, daß sein Verstand dahinschwand.
Oho, und jetzt grinste sie wirklich, der Mund ging weit auseinander, ihre Zähne blitzten weiß auf in der Sonne. »Und weißt du, wie wir ihn genannt haben, Eddie? Na?«
Er hatte keine Ahnung. Er sah wieder zu Wilson, und Wilson sah beiseite.
»›Guido‹, Eddie. Wir haben ihn ›Guido‹ genannt. Nach seinem Vater.«
Und wie fühlte er sich da? Erleichtert? Dankbar? Froh, daß er nicht noch ein weiteres Kind gezeugt hatte, dem er als Vater ein Fremder blieb? Nein. Er fühlte sich verraten. Er verspürte Wut. Eifersucht, heiß und elektrisierend, als wäre ein Draht in seinem Inneren gespannt, von seinem Schwanz zum Gehirn, und die Stromstärke voll aufgedreht. Wilson verschwand hinter seinen Melonen und Kürbissen. Eine Frau in einem Filzhut, dessen Schwarz zu Grau verblichen war, beugte sich über die Radieschen und ging dann den Gang entlang in die kühle Tiefe des Ladens. Er sah Giovannella scharf an. »Was sagst du da?«
Das Baby hätte ebensogut aus Holz geschnitzt sein können – es lag still in seinem Wagen, in sich versunken. Giovannella schob sich die braune Papiertüte mit den Tomaten unter den Arm und musterte ihn kaltblütig. »Du bist ein toller Hecht, was, Eddie? Immer so selbstsicher – stimmt’s? Der große Hengst und Frauenheld.« Sie biß sich auf die Lippe und blickte sich rasch um, ob irgend jemand sie belauschte. Er war verwirrt, trieb hilflos auf hoher See, die Sonne warf Schatten quer über die Straße, und der Gehsteig schimmerte, als wäre er regennaß. Was wollte sie nur von ihm? Was war das Problem?
Und dann, als läge es mitten auf der Bühne und hätte nur auf ein Stichwort gewartet, erwachte das Baby und schlug die Augen auf – und da war es, alle Welt konnte es sehen, das Grün der Bucht von Dingle und das haselnußbraune Drei-Uhr-Glück darin.
Tja, und das vermieste ihm den restlichen Tag, durchkreuzte alles, ließ ihn in einen Trübsinn versinken, der sich allenfalls mit Whiskey beheben ließ. Kaum hatte der Junge die Augen geöffnet, war sie natürlich auf und davon, die Räder des Kinderwagens drehten sich wie die einer Lokomotive, und der erste leise Schrei nach dem Aufwachen steigerte sich zu einem kindlichen Wutausbruch, doch da bog sie schon um die Ecke und eilte die De la Guerra Street entlang, bis die weißen Steinsäulen der First Security Bank sie verschluckten. Er verfolgte sie nicht. Laß sie nur gehen, dachte er, laß sie ihre Spielchen spielen, und hätte sie nicht eine prachtvolle Gehilfin von Savonarola abgegeben, ein glühendes Eisen in der Hand? Diese Schlampe. Oh, diese Schlampe.
Seine Hand zitterte unter dem Gewicht des ersten Whiskeys, er saß an einem Tisch in der Ecke, starrte aus dem Fenster und sah zu, wie die Tauben von der Straße aufflogen und sich wieder niederließen, bis er sie alle einzeln kannte, an Gang und Farbe unterscheiden, Männchen und Weibchen, die Alten und die Jungen auseinanderhalten konnte. Diese flatternden, fruchtbaren Viecher waren wie ein geistloses gefiedertes Symbol seines eigenen zwecklosen Lebens, instinktiv stiegen sie vor jedem vorbeifahrenden Wagen auf und sanken hinter ihm wieder herab, gedankenlos stolzierten, pickten und fickten sie. Er dachte an Giovannella und Rosaleen, an Eddie jr. und den kleinen Guido – Guido, ausgerechnet! – und fragte sich, was er falsch gemacht hatte. Und wie. Er war kein Biologe wie Katherine, aber er wußte, wenn der männliche Vertreter einer Spezies – genauer gesagt, Eddie O’Kane – seinem weiblichen Gegenstück oft genug sein Ding hineinsteckte, ganz egal, welche Zeit im Monat gerade war oder welche Vorkehrungen man traf, dann würde sie irgendwann anschwellen und immer weiter anschwellen, bis es wieder ein greinendes kleines Gör mehr auf der Welt gab.
Aber er bremste sich noch rechtzeitig. Das hier war kein gewöhnliches Gör, das war kein schwarzäugiges kleines Schusterkind, sondern Guido O’Kane, sein Sohn, und er mußte die Verantwortung für ihn übernehmen. Aber wie? Giovannella jeden Monat etwas Geld für ihn zuschieben und den heimlichen Onkel spielen? Dem Schuster des Nachts in einer dunklen Gasse auflauern, sie zur Witwe und dann schnurstracks zu seiner Frau machen, was er ja wohl von Anfang an hätte tun sollen? Allerdings – hier ertönte eine kalte Quengelstimme in seinem Hinterkopf, die Stimme der Eisprinzessin, die ihm im Salon eine Gardinenpredigt hielt – war er ja bereits verheiratet, oder?
All das ging ihm durch den Kopf, als der kleine Maxwell-Zweisitzer mit den Weißwandreifen und den ausdrucksstarken Bremsen vorfuhr, was die Tauben in wildem Durcheinander aufflattern ließ. Er sah Dolores Isringhausen am Steuer sitzen, mit perlenbesetzten Handschuhen, sah sie den Kopf nach hinten werfen und den glasigen kalten Blick in ihren Augen. Sie stieg nicht aus. Kam nicht herein. Tippte nur auf die Hupe, als ob sie einen Lakaien herbeirief, irgendeinen Negerbock, der sich nachts ins Herrenhaus schlich und es ihr besorgte, wenn der Herr nicht da war – für wen hielt sie ihn denn? Er rührte keinen Muskel. Hob das Glas an den Mund, trank einen langen, langsamen Schluck, als hätte er alle Zeit der Welt, und dabei sah er ihr unverwandt in die Augen. Er wollte ihr bedeuten, sie solle hereinkommen, aber er tat es nicht, und als sie erneut auf die Hupe drückte und die Miene leicht verärgert verzog, erhob er sich und ging durch die Bar zu ihr hinaus.
»Was war denn los?« fragte sie und warf ihm einen Blick zu, als er in den Wagen stieg. »Hast du mich nicht gesehen? Du hast doch direkt zu mir hinausgestarrt.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, der Wagen setzte sich mit einem Knirschen der Reifen in Bewegung, und als er bequem saß, rasten sie den State Highway in Richtung Meer entlang, und die blaue Haut des Himmels zerfloß mit der blauen Haut des Ozeans in einem dünnen grauen Saum aus Dunst, der die Sicht auf die Inseln verhüllte. Sie hatte das Verdeck geschlossen, der Diskretion halber, und sie fuhr zu schnell, wich hektisch einem Marktwagen und einem schlecht geparkten Automobil aus, zwängte sich vor die Trolleybahn und schoß über Kreuzungen, als gäbe es keinen anderen Wagen auf der Straße. »Doch, ich hab dich gesehen«, sagte er und spürte dabei, wie die Last über ihm leichter wurde, wenn auch nur um einen Hauch, »und es war gut, dich zu sehen, verdammt gut... ich wollte nur eine Minute lang diesen Augenblick genießen und daran denken, wie glücklich ich bin. Oder bald sein werde.«
»Was ist denn los?« fragte sie und zog einen Flunsch. »Streiken deine Freundinnen alle?« Sie beugte sich für einen Kuß zu ihm, ließ aber die Straße nicht aus den Augen. Sie ratterten durch Schlaglöcher und über Straßenbahngleise, daß ihm fast der Kopf durch das Stoffdach flog, und dann bog sie nach rechts in die Cabrillo Road ab, weg von der Stadt. »Triffst du dich immer noch mit dieser kleinen Italienerschlampe, ich meine die mit dem dreckigen Blick? Du weißt schon, die Kinderkriegerin?«
»Nein, nein«, log er, »momentan gibt’s niemanden.« Und er grinste sie an, ihre Gesichter waren ganz nah, der Wagen ruckte, sie roch gut. »Hab mich für dich aufgespart.«
Als Antwort zog sie einen Flachmann unter dem Sitz hervor, nahm einen Schluck und gab ihn an ihn weiter. »Da kann ich mich ja auf eine heiße Nacht gefaßt machen«, sagte sie schließlich und sah ihn von der Seite an, ein starres Lächeln auf den Lippen, die feucht vom Gin waren, und wie ein Schauspieler auf sein Stichwort reagiert, streckte er die Hand aus und legte sie ihr auf den Oberschenkel.
Sie hielten bei keinem Imbiß, keiner Raststätte, keinem Restaurant, sondern fuhren geradewegs die Hot Springs Road hinauf in die Hügel von Montecito, in einem Hurrikan aus Staub und wirbelndem Laub, der nicht nachließ, bis sie in die von Bäumen gesäumte Einfahrt ihrer Villa einbog und vor der Garage anhielt. Sie schaltete den Motor ab, und er überlegte kurz, ob er um den Wagen gehen und ihr die Tür öffnen sollte, aber ihr schien das ziemlich egal zu sein, und im nächsten Augenblick stiegen sie beide aus dem Wagen und gingen gemeinsam aufs Haus zu. Sie waren ganz allein, keine Diener, Gärtner oder Wäscherinnen, keine Augen zum Zusehen, keine Ohren zum Belauschen, und so nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn ohne Umschweife ins Schlafzimmer. Er wußte, was er zu tun hatte, und während der Nachmittag allmählich zum Abend wurde und die Sonne über den Fußboden vor der weit offenen Glastür kroch, die in den Garten mit seinen drei Meter hohen Farnen hinausführte, nutzte er seine Zunge, seine Finger und seinen harten irischen Schwanz, um ihr jede erdenkliche Lust zu entlocken, und es war, als würde er mit dem Ball unter dem Arm in die Touchdown-Zone sprinten, als schlüge er einen Home-run im Baseball, eine weitere wertlose Heldentat, sonst nichts. Er liebte sie nicht. Er liebte Giovannella. Er dachte darüber nach, wie seltsam es doch war, während er in Dolores Isringhausen mit einer Verzweiflung hineinstieß, die er nicht zugeben konnte, und die Sonne zog über den Himmel, die Frau unter ihm stemmte ihm die Hüfte entgegen, und er spürte, wie die Last sich wieder auf ihn legte, hoffnungslos und unnachgiebig, bis sie ihn beinahe zermalmte.
Er mußte wohl eingeschlafen sein, denn als das Telephon im Nebenzimmer klingelte, fuhr er auf dem Bett hoch, so daß sie behutsam die Hand auf seine Brust legte, um ihn zu beschwichtigen. Er sah ihr nach, als sie aufstand und hinüberging, ihre Beine und ihr Hintern fingen das Licht ein, und da war nichts Schlaffes und Faltiges an ihr. Wie alt war sie eigentlich – fünfunddreißig? Vierzig? Er hatte sie nie gefragt. Aber er konnte sehen, daß sie nie Kinder bekommen hatte – oder wenn, dann war es lange her. Er nahm einen Schluck aus dem Flachmann, beobachtete einen Kolibri, der über der Trompetenblume mit ihren rosafarbenen, mösenförmigen Blüten schwebte, und hörte zu, wie sie in den Hörer raunte. Mit wem redete sie da wohl – mit ihrem Bettgespielen von morgen?
Wie ein Wirbelwind kam sie ins Schlafzimmer zurück, ihre Hüften schoben sich schwungvoll hin und her, und sie setzte sich rittlings auf den weißen Hügel seines Knies. Er wartete, bis sie sich eine Zigarette vom Nachttisch geholt und angezündet hatte, dann fragte er sie: »Und was macht deinMann – er ist noch nicht aus dem Krieg zurück, oder?«
»Wer, Tom?« Sie wackelte mit dem Unterleib und rieb sich an ihm, an seinem Knie, und er konnte ihre Wärme und Nässe dort fühlen. »Der kommt nie zurück – hat viel zuviel Spaß dabei, den Huren von Asiago seinen Ballermann zu zeigen.«
»Weiß er, was du tust? Ich meine, daß du ihm...«
»Was? Daß ich ihm untreu bin? Ist das das richtige Wort?«
Er suchte ihren Blick nach einem Signal ab, aber der war ebenso gläsern und distanziert wie immer. Sie zuckte nur die Achseln und verschob ihre Schenkel, um sich der Krümmung seines Knies anzupassen. »Ja«, sagte er, »ich denke schon.«
»Was glaubst du wohl?«
Was glaubte er? Er war leicht schockiert, sonst nichts, über die lockere Moral, die sie hatte – und ihr Mann offenbar auch. Er würde sich jedenfalls mit so etwas nicht abfinden, nicht wenn er drüben in Italien wäre und gegen die Hunnen oder die Österreicher oder gegen wen auch immer kämpfte. Er sagte nichts, aber sie musterte ihn prüfend, rieb sich jetzt an seinem Schienbein, ein schmales Lächeln, kurzes Haar, sanft schwingende Brüste.
»Sollte ich mich lieber im Kloster einsperren, bis der große Krieger wieder heimkehrt?«
Nein. Oder doch. Aber er war bereits weiter mit seinen Gedanken, und ihm wurde klar, daß sie und ihr Mann ihm völlig egal waren, und auch, was sie mit ihren jeweiligen Unterleibern anfingen – er dachte an dieses halb-italienische Baby im Kinderwagen und an das blasse, fragende Gesicht auf dem zerknüllten Photo. »Kann ich dich mal was fragen?«
Sie zog eine Miene, die er nicht entschlüsseln konnte, und er spürte, wie sich ihr Körper anspannte, obwohl sie gleichgültig sagte: »Klar, frag ruhig« und dabei den Rauch in zwei nach oben trudelnden Ringen durch die Nase ausstieß.
»Ich überlege gerade – du hast keine Kinder, oder? Zur Welt gebracht, meine ich?«
»Ich?« Sie lachte auf. »Kannst du dir mich als Mutter vorstellen?Komm schon, Eddie.«
»Aber wie...?«
»Aha«, sagte sie und drehte sich weg, um die Zigarette in dem schmiedeeisernen Aschenbecher auf dem Nachttisch auszudrükken, »jetzt weiß ich, woher der Wind weht. Sie hat ihr Baby gekriegt, stimmt’s, dein kleines Bauernmädel?«
Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Ja.«
»Und es ist von dir?«
»Ja.«
Und dann lachte sie wieder, und dieses Lachen ärgerte ihn, ließ ihn jenen Funken Zorn verspüren, der ihm immer geradewegs in die Hände zu fahren schien. »Du findest das witzig?«
Als Antwort warf sie sich auf ihn, drückte seinen Kopf ins Kissen und zwang ihm einen Kuß ab, der eher ein Biß war, dann rollte sie von ihm weg und lag mit gespreizten Beinen auf dem Rücken neben ihm. »Ja, das finde ich«, sagte sie. »Und es ist witzig, weil du selbst noch ein Baby bist, wie neugeboren, und du strampelst noch. Klar, sieh mich ruhig so komisch an, halt dich nicht zurück, aber um deine Frage zu beantworten: ich verwende ein Mensinga-Pessar, Eddie«, und sie griff sich zwischen die Beine, um es ihm zu zeigen.
Und jetzt war er ehrlich schockiert, sogar ein wenig erschrocken. Sie hielt das Ding hoch, so daß er es sehen konnte, eine schwarze Gummikappe, glänzend und schmierig von ihren Körpersäften – und seinen. Es war gottlos, das war es, eine Mordwaffe, eine Todsünde, die man sehen und fühlen und in den Händen halten konnte.
»Das gibt’s in vierzehn Größen«, sagte sie und genoß den Moment und den Ausdruck auf seinem Gesicht. »Das einzige Problem ist nur«, jetzt spielte sie das kleine Mädchen und drückte sich wieder gegen seinen Körper, »man muß nach Holland fahren, um eins zu kriegen.«
Die Regenfälle in diesem Winter schienen ungewöhnlich heftig, im Februar ließ ein Unwetter an einem einzigen Tag zweihundert Liter Wasser pro Quadratmeter über der Stadt niedergehen, wo man jeden Saloon, Imbiß, Friseursalon, Lebensmittelhandel und Zigarettenladen mit Sandsäcken abgedichtet hatte, und verwandelte die untere State Street in einen Sturzbach aus brodelndem Schlamm, der die Erdgeschosse aller Wohnhäuser und Geschäfte überflutete. Der dunkle, saugende Strom, der diesen Schlamm vor sich her trug, riß eine wahre Flotte von Automobilen ins Meer hinaus, wo die anbrandenden Wogen die Hafenmauern unter Beschuß nahmen und die Hälfte der dort vertäuten Boote so lange gegen den Strand warfen, bis nichts als zersplittertes Holz von ihnen übrig war. Der Himmel flatterte wie ein zerfetztes Bettlaken, grau geworden vom vielen Benutzen, an der Leine.
O’Kane genoß es, zu Anfang jedenfalls. Ihm fehlte das Wetter – richtiges Wetter, die Nordoststürme, die am Hafen von Boston vom Meer hereinpfiffen, die Gewitter, die den Sommerhimmel in Brand steckten und die Temperatur um zehn Grad fallen ließen, während man kaum mit dem Finger schnippen konnte –, doch nachdem er sich ein neues Paar Stiefel so ruiniert hatte, daß er sie wegwerfen konnte, und eine Woche lang seinen Schnaps in einer Chinesenkneipe bestellen mußte, weil bei Menhoff der Schlamm fünfzehn Zentimeter hoch stand und die Stuhlbeine hinaufkroch, reichte es auch ihm langsam. Es regnete immer weiter, und jeder empfand es als Belastung, sogar Mr. McCormick, der verkündete, er werde noch verrückt, wenn er nicht bald die Sonne sähe. Es war eine Prüfung, eine echte Prüfung, aber der Regen ließ dann den Frühling nur um so süßer erscheinen, und im März war es kaum zu glauben, daß ein einziger Tropfen gefallen war oder je wieder fallen würde.
Dolores Isringhausen fuhr zurück nach New York, am Morgen nach dem St. Patrick’s Day (den sie nicht mit O’Kane verbrachte), Giovannella wurde allmählich wieder nett zu ihm und ließ ihn sogar ein paarmal ins Haus, wenn Guido nicht da war, damit er das Baby von nahem bewundern konnte, allerdings ohne Küssen und ohne Anfassen, und auch Mr. McCormicks Zustand besserte sich so sehr, daß er zumindest fünfzig Prozent der Zeit mehr oder weniger vernünftig war – obwohl Dr. Brush nicht mehr aktiv intervenierte, sondern nur wieder strikt beaufsichtigte. Oder vielleicht gerade deshalb. Man sollte den Mann einfach in Ruhe lassen, so lautete O’Kanes Philosophie – wenn er zwei Stunden lang duschen wollte, dann sollte er es tun dürfen. Warum auch nicht? Schließlich mußte er keinen Zug erwischen.
Und dann wurde es Juni, und Dr. Brush, mit all seinen einhundertachtundvierzig Kilo, erhielt die Einberufung zum Dienst für das Vaterland hinter den Frontlinien beim US-amerikanischen Expeditionskorps in Europa. Er ließ seine Frau mit einer Cousine (ihrer) im Haus in der Anapamu Street zurück, führte ein längeres Gespräch mit Mr. McCormick über Pflicht, Patriotismus und Kriegsführung, dann machte er sich auf den Weg zum Bahnhof, das einzige Mitglied des McCormick-Therapieteams, das zum Wehrdienst einberufen wurde. Sie stationierten ihn in England, und O’Kane stellte ihn sich vor, wie er morgens ein englisches Frühstück mit zwei Kannen Tee hinunterspülte und sich anschließend im Schatten der Ulmen zu einem Haufen einbeiniger Veteranen mit Grabenkoller setzte und sie fragte, ob ihre Väter sie verprügelt hätten.
Wie sich herausstellte, sollte Brush knapp über zwei Jahre lang fort sein, und obwohl er nicht allzuviel zustande gebracht hatte, soweit O’Kane die Sache beurteilen konnte, höchstens per Zufall, bestanden die McCormicks – und Katherine – auf einem Ersatzmann, und zwar dem besten, der für ihr Geld zu haben war. Oder zu mieten. Dr. Meyer nahm persönlich den weiten Weg auf sich und brachte den Interimsarzt mit, einen Dr. August Hoch, der ihm als Leiter des Pathologischen Instituts von New York nachgefolgt war. Hoch war Deutscher, ein Kraut – bis auf Hamilton und Brush waren diese Seelenklempner anscheinend alle Krauts, denn die hatten die Seelenklempnerei ja erfunden. Nur gab es im Land zu dieser Zeit eine Menge antideutscher Gefühle, begreiflicherweise, und das erleichterte es O’Kane nicht gerade, sich bei Menhoff an der Bar wohl zu fühlen, da jedermann in der Stadt wußte, daß ihm ein Kraut die Befehle gab. Einmal in einem Imbiß mußte er sogar mit einem Typen den Boden aufwischen, der Dolores Isringhausen ein Hunnenweib genannt hatte, dabei war die Ironie der Geschichte, daß sie gar keine Deutsche war – mit Mädchennamen hieß sie Mayhew.
Aber Dr. Hoch war in Ordnung. Er war ein scharfsinniger alter Knacker mit grauem Backenbart und einer dünnen weißen Narbe, die einen häßlichen Bogen von knapp unter seinem linken Auge zum Drehpunkt seines Kiefergelenks beschrieb. O’Kane war an dem Tag dabei, als Meyer und Hoch zu Mr. McCormick hineinmarschierten, der gerade von seinem Morgenspaziergang zurückkehrte – einer gewundenen, vielfach verästelten Route zu den Indianergründen und wieder zurück. Mr. McCormick stand allein in der Ecke und hielt eine private Konferenz mit seinen Richtern ab, und Dr. Meyer, den Mr. McCormick von den halbjährlichen Besuchen gut kannte, ging schnurstracks auf ihn zu und sagte, er wolle ihm gern jemanden vorstellen. »Oder«, fügte er hinzu, mit einem Akzent so dick wie Melasse, »vielleicht erinnern Sie sich noch an ihn, ja?«
Mr. McCormick verließ seine Richter und wandte sich langsam um, sein Blick ging mechanisch von Dr. Meyers schwarzbärtigem zu Dr. Hochs graubärtigemGesicht. Dr. Meyer schien er zu kennen, und das war gut und schön, doch Hoch blieb ihm offenbar ein Rätsel. Seine Augen zeigten irgend etwas – ein Funken des Wiedererkennens? Angst? Verwirrung? –, doch O’Kane konnte es nicht entziffern.
»Vielleicht sollte ich Ihrem Gedächtnis nachhelfen«, fuhr Dr. Meyer fort und federte auf den Fußsohlen, als wollte er gleich ein akrobatisches Kunststückchen aufführen. »Sie erinnern sich doch noch, daß Dr. Hoch Sie im Jahr 1907 einmal untersucht hat, als Sie ein Gast im McLean waren, aber eventuell haben Sie es ja vergessen, weil es Ihnen damals nicht so gut ging wie heute, ja?«
Dr. Hoch trat vor, ein mickriger Bursche in einem formlosen grauen Anzug, der sich Schnurr- und Backenbart so lange hatte wuchern lassen, daß sie ihm bis auf den Kragen herabhingen und völlig den Hals verdeckten. Seine Narbe blitzte im Morgenlicht auf wie ein Rinnsal aus getrocknetem Speichel oder wie die Spur, die eine Nacktschnecke auf einem Stein hinterläßt, silbrig und kaum merklich schimmernd. »Wie geht es Ihnen, Mr. McCormick?« fragte er mit einer angedeuteten Verbeugung, und er streckte die Hand nicht aus, bis Mr. McCormick ihm automatisch seine reichte. »Es ist mir ein großes Vergnügen, Sie wiederzusehen, ja?« Sein Akzent war noch stärker als Meyers.
Mr. McCormick hielt Dr. Hochs Hand lange Zeit fest – so lange, daß O’Kane schon überlegte, ob er dazwischengehen und seinen festen Griff lockern sollte –, und zweimal hob er die freie Hand, wie um die Narbe im Gesicht des Arztes zu berühren, doch er ließ sie jedesmal wieder sinken. »Aha«, sagte Dr. Hoch schließlich, »wie ich sehe, interessieren Sie sich für meine Narbe, ja?«
Mr. McCormick ließ die Hand des Doktors los und hüpfte ein wenig herum, stampfte mit den Füßen auf und schüttelte die Hände, als wären sie naß, bevor er sie verlegen in die Hosentaschen steckte. Er baute sich vor dem Arzt auf, der nicht viel größer als einszweiundsechzig oder einsdreiundsechzig sein konnte. Offenbar wollte er etwas sagen, biß sich dann aber auf die Zunge, starrte Dr. Hochs Gesicht an und sah fasziniert zu, wie Hoch mit der Fingerspitze die Narbe nachfuhr.
»Das hier«, sagte Hoch, »nennen wir in Deutschland einen Schmiß. Von einem Duell aus meiner Studentenzeit. Sehen Sie, es galt als kosmetische Attraktion für die Damen, als ein Zeichen der Männlichkeit, vielleicht auch als Ehrenmal, aber natürlich war das damals alles Narretei, die Eitelkeit der Jugend, und ich weiß auch gar nicht, ob die heutigen Studenten diesen – wie sagt man, ›Ritus‹? – noch pflegen.« Und dann sagte er etwas auf schnellfeuerdeutsch zu Meyer, der ebenso rasch zurückbrabbelte.
»Ach so. Herr Doktor Meyer sagt mir soeben, daß dieser Brauch nicht mehr so häufig praktiziert wird wie ehedem.« Er starrte zu Mr. McCormick auf, wie ein Gnom im Wald zu einem Riesen – und Mr. McCormick war ein Riese, trotz seiner gekrümmten Schultern, die ihn manchmal geradezu gebückt wirken ließen, je nach der Härte der Bestrafung, die seine imaginären Richter ihm auferlegten. »Möchten Sie sie gerne anfassen?« fragte der Arzt, und seine Augen funkelten.
Und Mr. McCormick, der körperlichen Intimitäten keinesfalls zugeneigt war und während der ganzen Zeit, die O’Kane ihn kannte, außer im Zorn noch nie jemanden berührt hatte, hob tastend die Hand, um Dr. Hochs Wange mit zwei bebenden Fingern zu erforschen. Wieder und wieder fuhr er den Bogen der Narbe nach, sehr behutsam, so als ob er eine Katze streichelte. Es war ein seltsamer Anblick: Mr. McCormick streichelte den Doktor, der sich der Berührung fügte, im Zimmer war es so still, daß man hätte meinen können, sie wären in einer ägyptischen Grabkammer eingeschlossen. Mr. McCormick sah aus, als wollte er etwas sagen, die Lippen zuckten stumm, ehe er seine Stimme fand. »Dann ist es – ist es«, stammelte er, zog die Hand wieder weg und steckte sie in die Tasche, »ist es also doch möglich.«
»Möglich?« Dr. Hoch stand reglos da, nur Zentimeter vor ihrem vornübergebeugten, zitternden Arbeitgeber entfernt, und sah ihm unverwandt in die Augen. Dr. Meyer sah O’Kane fragend an, doch O’Kane war ebenso verblüfft. Das war etwas Neues, das mit dem Anfassen, und man mußte abwarten, was daraus wurde.
»Ein... ein Mann zu sein«, sagte Mr. McCormick, und dann gab er eine seiner Nonsense-Formeln zum besten: »Ein-Schlitz, ein-Schlitz, ein-Schlitz.«
»Ja, ja, das ist möglich«, sagte Dr. Hoch. Sein Gesicht war ein Netz aus feinen Fältchen, gerafft und geballt um diesen einen gewaltigen silbrigen Schmiß, und er stellte keine Fragen über Mutter oder Vater, dröhnte keine Platitüden heraus – er wartete einfach nur ab.
»Mit einer Rasierklinge, meine ich.« Mr. McCormick stand jetzt aufrecht und blickte sich im Zimmer um, als sähe er es in einem neuen Licht. »Wenn, wenn Eddie und Mart mich rasieren, dann ist das gefährlich, wenn man sich schneidet, aber es kann, man kann...«
Der kleine Doktor nickte. »Das stimmt«, sagte er.
»Ich meine... was ich meine, ist – wenn ich mich hier schneide« – er berührte nochmals die Narbe des Arztes –, »dann, dann würde es bald verheilen, und i-ich hätte auch so eine Narbe.« Er wippte auf den Fersen. »Aber hier«, sagte er und fuhr sich dabei mit dem Zeigefinger über die Kehle, »hier ist es sehr... gefährlich. Und hier« – er zeigte nach unten –, »hier ist man dann kein... kein Mann mehr.«
»Aber Mr. McCormick«, mischte sich O’Kane ein, »wir benutzen immer einen Sicherheitsrasierer, das wissen Sie doch...«
Hoch sah Meyer an. Meyer sah Hoch an. Mr. McCormick richtete sich auf, bis seine Schultern völlig gerade waren und er ein Musterbeispiel guter Haltung abgab. Er wartete, bis er sicher sein konnte, O’Kanes Aufmerksamkeit zu haben, und die der beiden Ärzte ebenso, dann sagte er mit klarer, fester, unerschütterlicher Stimme: »Ja, Eddie, ich weiß.«
Soso. O’Kane war beeindruckt – und all das wegen einer Narbe –, dachte aber nicht weiter darüber nach, während der Sommer in den Herbst überging, das Kriegsgeschehen jede Unterhaltung beherrschte und Giovannella allmählich wieder wärmer und netter und zugänglicher wurde und sich an den Samstagnachmittagen davonstahl, um mit ihm auf einer Matratze in der Garage hinter Pats Haus herumzukugeln, während das Baby seine Rassel schwenkte und mit Beinchen und Ärmchen strampelte. Der Schmißträger, Dr. Hoch, ging inzwischen sehr geduldig mit Mr. McCormick um – kein dummes Zeug wie diese Redekur –, er blieb den ganzen Tag lang bis in den Abend bei ihm, widmete ihm mehr Zeit als O’Kane oder Mart oder sonst irgendwer in Riven Rock. Meistens saß er einfach nur neben Mr. McCormick, leicht zerzaust und onkelhaft, las ihm dann und wann etwas Interessantes aus einem Buch oder einer Zeitschrift vor, ging mit ihm zum Theatergebäude hinüber und zurück oder begleitete ihn auf seinen Spaziergängen. Manchmal hockten die beiden stundenlang beisammen und sprachen kein Wort, dann wieder war Mr. McCormick geradezu schwatzhaft und plapperte immer wieder über die Mähmaschine – »das Erntewunder« nannte er es, nach irgendeinem Buch über seinen Vater –, über seine zwei Brüder und die schreiende Notwendigkeit von Wohlfahrtseinrichtungen und Reformen in dieser kalten, hartherzigen Welt.
Sie sprachen auch über den Krieg, und das war einigermaßen seltsam, in O’Kanes Augen jedenfalls, denn da saßen ein amerikanischer Millionär und der Prototyp des Hunnen Seite an Seite beieinander, doch sie gerieten nie in Streit oder wurden auch nur laut bei dem Thema, nicht daß O’Kane sich erinnerte. Die Kriegsnachrichten tröpfelten den ganzen Winter hindurch nach Riven Rock, oft mit mehrtägiger Verspätung, über die Zeitungen von Chicago, Los Angeles und Santa Barbara, und in diesen Blättern fanden sich auch Neuigkeiten über Katherine. Sie war dieses Jahr – 1917 – und auch das nächste über in Washington, wo sie Mitglied des vom Präsidenten handverlesenen Frauenausschusses für Landesverteidigung war, der sich mit allen möglichen Angelegenheiten in Zusammenhang mit dem Krieg beschäftigte, ob es nun darum ging, Frauen zum Verkaufen von Kriegsanleihen einzuteilen oder sich diese patriotischen Plakate auszudenken, die man überall sah. Ungefähr einmal im Monat schickte sie Mr. McCormick detaillierte Karten der Westfront, auf denen sämtliche Kampflinien und Schützengräben eingezeichnet waren. Diese studierte er stundenlang, gab Kommentare über Orte ab, die er während seiner Flitterwochen besucht hatte, und malte allerlei lustige Figuren hinein, die Armeen, Geschützstellungen oder Marine-, Kavallerie- und sogar Luftwaffeneinheiten darstellen sollten.
Eine Zeitlang, besonders im Sommer und Herbst des folgenden Jahres, gehörte der Krieg zu seinen liebsten fixen Ideen, in die er nicht nur Dr. Hoch, sondern auch O’Kane hineinzog. Wenn die Armeen vorstießen oder den Rückzug antraten, radierte er sorgfältig seine Figuren und Symbole aus, verschob die Linien nach vorn oder hinten und zeichnete dann alles wieder neu ein. Die Offensive von Amiens analysierte er in sämtlichen Details, und nie war er klarer und artikulierter gewesen, nicht seit seinen Tagen im McLean, als er noch Golf gespielt hatte, und als die Zeitungen im September den amerikanischen Sieg bei St. Mihiel meldeten, paradierte er stundenlang durch den oberen Salon, schüttelte die Fäuste und gab beängstigende Imitationen vom Heulen und Krachen eines Bombardements von sich, während der kleine Doktor ihm ohne jeden Ausdruck in seinem narbigen Gesicht dabei zusah.
Katherine kehrte im Dezember 1917 über die Feiertage zurück, und damit kam die Sache mit der Narbe wieder aufs Tapet. Wegen ihrer Aufgaben im Verteidigungsausschuß kam sie erst spät, traf gerade zwei Tage vor Weihnachten in Kalifornien ein. Sie wirkte müde und abgekämpft, und als sie im Theatergebäude unter einem kolossalen Kranz aus Stechpalmen- und Mistelzweigen Geschenke an die Angestellten verteilte, sah sie alt aus. Jedenfalls älter. O’Kane beobachtete sie – sie war immer damenhaft, immer perfekt, aus dem klarsten und kältesten Eis geschnitzt – und versuchte, ihr Alter zu schätzen. Sie mußte jetzt, was, einundvierzig sein? Oder zweiundvierzig? Aber zum erstenmal zeigte sich das jetzt auch – nichts Weltbewegendes; eine alte Vettel war sie noch lange nicht, aber zu sehen war es doch. Ihre Kleider waren so prächtig wie immer, aber es war die Mode von gestern, der schwere Faltenwurf der Suffragette und der Matrone, kein Vergleich mit den sparsamen Satinkleidchen einer Dolores Isringhausen oder dem wandelnden Glanz einer Giovannella. Sie wurde alt, aber so erging es jedermann, sogar dem Glückspilz Eddie O’Kane, der im März sechsunddreißig werden würde. Und er spürte es schmerzhaft, als er zu ihr herantrat und sie ihm die Hand drückte, ihm seinen Briefumschlag und ein Lächeln schenkte, das nichts zu bedeuten hatte, weder Ja noch Nein, und er wünschte sich beinahe, sie würde wieder mit der Peitsche knallen, damit sie alle wieder von vorn anfangen könnten, voll neuer Hoffnung.
Am nächsten Tag jedenfalls, am Heiligabend, kam sie früh nach Riven Rock, mit Stapeln von Geschenken und Kuchen beladen, und rief ihren Mann vom Erdgeschoß aus an, um mit ihm zu plaudern und ihm frohe Weihnachten zu wünschen. O’Kane spielte gerade Domino mit Mart, als das Telephon klingelte und Dr. Hoch den Hörer abnahm. »Für Sie, Mr. McCormick«, sagte er, und seine Augen waren naß und groß. »Es ist Ihre Frau.«
Mr. McCormick brauchte eine geschlagene Minute, bis er genug Dampf hatte, um durchs Zimmer zu dem Arzt zu gehen, der ihm das Telephon entgegenhielt, und als er sich doch in Bewegung setzte, verfiel er in seine alte Zwei-Schritte-vor-und-einen-zurück-Technik, ließ die Schultern hängen und zog ein langes Gesicht, sein rechtes Bein war plötzlich lahm geworden und schleifte hinter ihm her wie in einem Verwundeten-Tango. Als er den Apparat endlich erreichte, den Hörer zum Ohr hob und sich zum Mundstück hinabbeugte, da hatte er nicht viel mehr zu sagen als ein feuchtes, halb verschlucktes Hallo. Das Reden schien gänzlich sie zu übernehmen. Zunächst jedenfalls.
Dr. Hoch ließ sich in diskreter Entfernung bequem in einem Sessel nieder, und O’Kane und Mart setzten ihr Spiel fort, doch alle drei hörten sie zu, natürlich taten sie das – wenn nicht aus therapeutischen Gründen, dann aus reiner Neugier; und außerdem, um ein wenn auch noch so kleines Loch in das engmaschige Netz ihrer Langeweile zu reißen.
Nachdem das Gespräch fünf Minuten gedauert hatte, ertönte plötzlich Mr. McCormicks Stimme mit einem froschartigen Quaken. »Hast du Dr. HochsNarbe gesehen?«
Es folgte eine Pause, in der sie antwortete, und wenn O’Kane sich anstrengte, durch das Knacken des Feuers und die übrigen Geräusche des Hauses zu horchen, nahm er das allerleiseste Wispern am anderen Ende der Leitung wahr, und das war komisch – sie hätte ebensogut auf der anderen Seite der Welt sein können, so leise klang ihre Stimme, dabei stand sie nur eine Etage weiter unten. Auch für Mr. McCormick mußte das seltsam sein, denn er wußte so gut wie jeder andere, wo sie war. Andererseits war er wohl daran gewöhnt, dachte O’Kane. Sicher. Aber sich an so etwas zu gewöhnen – gewöhnen zu müssen –, das war, wie wenn sich ein Zuchthäusler in Einzelhaft in die Maus verliebt, die seine Zelle mit ihm teilt, oder ein Galeerensklave das Gefühl des Ruders in seiner Hand schätzen lernt.
Jetzt aber erzählte Mr. McCormick etwas über Schnittwunden, und wieder schlich sich sein Singsang hinein: »Ein-Schlitz, ein-Schlitz, ein-Schlitz.« Dann sagte er: »Ich könnte mich auch schneiden. B-beim Rasieren. In den Hals. Schon mal daran gedacht?«
Sie erwiderte irgend etwas, ein kaum hörbares mechanisches Krächzen. Das Feuer knisterte. Mart streckte sich, und etwas in seinen Schultern knackte.
»Du bist in Washington!« rief Mr. McCormick auf einmal. »Mit anderen M-Männern! Du bist ganz allein in Washington, stimmt’s? Ich weiß, daß es so ist, und hast du auch gehört, was S-Scobble mit seiner Frau angestellt hat, oder – oder beinahe angestellt hat, weil sie... weil sie ihm UNTREU war?« Die letzten Worte brüllte er so laut heraus, daß der Doktor zusammenfuhr und O’Kane sich beherrschen mußte, um nicht aufzuspringen und nervös im Zimmer herumzugehen.
Sie antwortete ihm etwas, versuchte ihn zu besänftigen: Aber Stanley, das weißt du doch besser...
»Weißt du es?«
Schweigen am anderen Ende. Offenbar wußte sie es nicht.
Und dann, mit ebenso gelassener wie klarer, fester Stimme, zitierte er ein zotiges Gedicht:
Auf sein untreues Weibstück schlägt Scobble wild ein,
Und droht mit dem Messer zu bereiten ihr Pein.
»Nein, lieber Scobble, du darfst mich nicht stechen –
Ein Schlitz reicht aus zum Ehebrechen.«
Dann blieb er reglos lange Zeit mit dem Telephon in der Hand stehen, und ob Katherine darauf etwas antwortete oder nicht, erfuhr O’Kane niemals, denn ihm fiel gerade das Herz in die Hose und seine Augen brannten auf einmal, als hätte er Ätznatron darin. Er hatte nie viel darüber nachgedacht, daß Mr. McCormick hier in seinem Elfenbeinturm eingesperrt und sie dort draußen in der weiten Welt war, aber natürlich war sie ihm untreu, wie konnte es anders sein, Eisprinzessin oder nicht? Es ging schon gut zwölf Jahre so. Und wie konnte irgendeine Frau so lange ohne auskommen?