Ein Schlitz reicht aus
Wie sich herausstellte, war Dr. Brush
keiner, der den Status quo ins Wanken brachte, selbst wenn das in
seiner Macht gestanden hätte, was nicht der Fall war. O’Kane mochte
ihn recht gern – er war ein herzlicher Mensch, immer zum Lachen
aufgelegt, ein großer, körperlicher Mann, der Essen und Trinken
genoß und nicht andauernd so tat, als wäre er besser als jeder
andere auf der Welt, der nicht zufällig Millionär oder Irrenarzt
war –, aber er respektierte ihn nicht so, wie er Dr. Hamilton
respektiert hatte. Bei all seinem Herumgetue mit den Affen, seinen
Allüren und seiner steifen Förmlichkeit war Hamilton doch immerhin
ein erstklassiger Psychiater, einer der besten im Land, und Mr.
McCormicks Zustand hatte sich unter seiner Betreuung tatsächlich
gebessert, wenn auch immer wieder Rückschläge aufgetreten waren.
Nicht daß Brush keine erstklassigen Referenzen hätte, abgesehen
davon, daß ihn Dr. Meyer persönlich auserwählt hatte, aber er war
eben einfach zu, nun ja, zu drollig, um auf lange Sicht etwas aus
sich zu machen, und das verhieß nichts Gutes für Mr. McCormick.
Hamilton hatte aus Riven Rock herausgeholt, was er haben wollte,
und sich dann verabschiedet: Brush dagegen schien es zu reichen,
wie eine fette Boje in dem seichten Tümpel dieses speziellen
psychologischen Entwicklungsgebiets zu schaukeln.
Angefangen hatte er recht energisch, sehr
darauf erpicht, einen guten Eindruck zu erwecken, so wie jedermann
in einer neuen Stellung, besonders da er wußte, daß er einerseits
der Eisprinzessin verantwortlich war und andererseits Dr. Meyer,
dem humorlosesten Menschen der Welt. Im Prinzip setzte er Dr.
Hamiltons Reglement fort, das den Aktivitäten von Mr. McCormick
eine strenge Zeiteinteilung auferlegte, von der Weckzeit über die
Dauer seines Duschbads bis zur genauen Stunde, an der er sich
abends zurückzuziehen hatte, doch da er der neue Boss war, konnte
er es sich nicht nehmen lassen, ein paar kleine Dinge zu verändern.
Am Anfang jedenfalls. Nur am Anfang.
Als erstes begann er damit, und in O’Kanes
Augen war das ganz ohne Frage ein Fehler, es bei Mr. McCormick mit
der Redekur zu probieren. In jener Zeit – es war der Spätsommer
1916 – galt die Redekur noch eher als Kuriosität, eine Art besseres
Gesellschaftsspiel für die Reichen und Müßigen, so wie die
Traumdeutung oder die Hypnose, und erst wenige Psychiater hatten
den Gedanken Dr. Freuds aufgegriffen, sie auf ihre schwer gestörten
Patienten anzuwenden. Wie die meisten Menschen war O’Kane höchst
skeptisch – wie konnte man einen Tobsüchtigen allein durch Reden
davon abbringen, den eigenen Urin zu trinken oder seine gelähmte
Großmutter hundertmal mit einer Cocktailgabel zu traktieren? –, und
Dr. Hamilton hatte, obwohl er Freuds Theorien guthieß und jederzeit
bereit war, O’Kane und die Thompsons beim geringsten Anlaß über so
absurdes Zeug wie frühkindliche Sexualität oder mütterliche Lust
aufzuklären, hatte Mr. McCormick nie der Redekur unterzogen. Er
hielt es für klüger, dem Patienten ein reglementiertes Programm
aufzuerlegen, mit guter, gesunder Ernährung, ausreichend
körperlicher Ertüchtigung und intellektueller Stimulation, und
ansonsten der Natur ihren Lauf zu lassen. Brush aber war neu in
diesem Job, und er wollte sich behaupten.
O’Kane und Mart erlebten die erste Sitzung mit.
Es war ein sonniger Vormittag, herrliches Wetter, die Morgennebel
hatten sich verzogen, der Sommer lag in voller Pracht da, und Mr.
McCormick genoß nach dem Frühstück die frische Luft auf der
Sonnenveranda. Die Veranda grenzte direkt an den oberen Salon, war
von zweieinhalb Meter hohen Mauern umgeben, auf Augenhöhe öffneten
sich Gitterfenster, und die zu einer Sitzgruppe arrangierten
Korbmöbel waren durch die italienischen Fliesen hindurch im Beton
festgedübelt. Die Tür zur Sonnenveranda war immer verriegelt, wenn
sie nicht genutzt wurde, und das Mobiliar mit Bedacht so
aufgestellt, daß Mr. McCormick möglichst nicht an eine Mauer
gelangen konnte, um darüberzuhechten. Es wäre ein Sprung über zwei
Etagen in die Büsche hinab, und selbst für einen Mann von Mr.
McCormicks Behendigkeit konnte ein solcher Sturz tödlich
sein.
Mr. McCormick hatte gut gefrühstückt an diesem
Tag – zwei Eier mit gebratenem Speck, ein Muffin und eine Schüssel
Cornflakes mit Zucker und Sahne –, und er schien in besonders guter
Stimmung zu sein, in Vorfreude auf einen neuen Kinofilm, den Roscoe
am Abend zuvor aus Hollywood mitgebracht hatte. Es war ein Film mit
Lillian Gish, und Mr. McCormick, der keine Frauen in Fleisch und
Blut sehen durfte, genoß die Gelegenheit außerordentlich, diese
Wesen auf der schimmernden flachen Leinwand des Lichtspieltheaters
zum Leben erwachen zu sehen. Mehr als einmal mußte er daran
gehindert werden, sein Geschlechtsteil zu entblößen, wenn im Film
Pearl White an einem Felsvorsprung baumelte oder Mary Pickford den
Rock lüpfte, um vom Trittbrett eines Automobils zu steigen, dennoch
meinten die Ärzte, die von den Filmen gebotene geistige Anregung
sei wichtiger als kleine Unannehmlichkeiten, wie sie die Abbildung
weiblicher Wesen – ob in Not oder sonstwie – mit sich bringe.
O’Kane war da nicht so sicher. Schließlich war er es, der mitten in
der Vorführung beim flackernden Licht dem heftig keuchenden Mr.
McCormick das Glied wieder in der Hose verstauen mußte, was für Mr.
McCormick nur demütigend sein konnte – und für O’Kane war es auch
keine reine Freude. Nein, ständig diese geschminkten Frauen mit den
Wimpern klimpern und ihre Dekolletés und alles übrige in die Kamera
schwenken zu sehen, das mußte den armen Mann ja nur noch mehr
quälen. Jeder wäre verrückt geworden in seiner Lage, und des
öfteren fragte sich O’Kane, ob sie nicht einmal im Monat eine
Prostituierte engagieren sollten, damit Mr. McCormick – der
freilich fachgerecht gefesselt sein müßte – seinen natürlichen
Trieben frönen konnte wie jeder andere Mann, aber das wäre wohl
keine psychologische Vorgehensweise gewesen, oder?
Jedenfalls tauchte Dr. Brush an diesem Morgen
auf, nachdem O’Kane und Mart Mr. McCormick auf die Sonnenveranda
hinausgebracht hatten, und er schien entschlossen, die Redekur
einmal auszuprobieren. »Mr. McCormick!« Noch während er durch die
Tür polterte, posaunte er fröhlich und leutselig einen Gruß hinaus:
»Und wie fühlen Sie sich an diesem wunderschönen Tag?«
Mr. McCormick saß in einem Korbsessel, die Füße
auf das Korbsofa gelegt, die Hände hinter dem Nacken verschränkt,
und starrte in den wolkenlosen Himmel. Wie immer war er gekleidet,
als wäre er auf dem Weg zu seinem Büro in der Mähmaschinenfabrik:
grauer Sommeranzug mit Weste, steifer Kragen und Krawatte. Weder
reagierte er auf die Begrüßung, noch nahm er die Anwesenheit des
Arztes anderweitig zur Kenntnis.
Unbeeindruckt stampfte Dr. Brush über die
Fliesen, baute sich unmittelbar hinter Mr. McCormick auf und beugte
sich dann vor, womit er den massigen, schwitzenden Zeppelin seines
Gesichts in Mr. McCormicks Gesichtsfeld manövrierte.
»Also wirklich«, dröhnte Dr. Brush. »Haben Sie
nicht ein Riesenglück, daß hier das liebe lange Jahr hindurch so
ein Prachtwetter ist? Besonders angenehm muß das im Winter sein,
schlicht und einfach aus dem Grund, daß man Eis und Schnee ganz
vergessen kann, aber auch im Sommer – können Sie sich vorstellen,
wie die Leute drüben an der Ostküste unter der schwülen Hitze
leiden... und hier ist es immer herrlich. Was meinen Sie, wie warm
es ist, Mr. McCormick – einundzwanzig Grad? Zweiundzwanzig
vielleicht? Na?«
Keine Antwort.
»Allerdings«, schloß der Doktor mit einem
gekünstelten Seufzer, »Sie haben wirklich Glück.«
In diesem Moment sprach Mr. McCormick zum
erstenmal, seit sie ihn auf die Veranda hinausgebracht hatten. Er
hielt immer noch den Kopf nach hinten gelegt und sah Dr. Brush auf
dem Kopf stehend vor sich, was ein seltsames Bild sein mußte,
obwohl es ihn nicht zu stören schien. »Glück?« fragte er mit einem
kaum hörbaren Krächzton. »Ich-ich habe ebenso viel Glück wie ein
Hund.«
»Ein Hund?« Jetzt geriet der Doktor in einen
Zustand höchster Erregung, er flitzte mit hektischen Schritten
seiner zu kleinen Füße auf der Veranda herum, bis er sich
schließlich in den Sessel gegenüber von Mr. McCormick quetschte.
»Und warum sagen Sie das, Mr. McCormick? Ein Hund? Wirklich. Wie
ungewöhnlich.«
Mart, der an der Wand gleich links von der Tür
lehnte, ließ laut seine Knöchel knacken. O’Kane war im Schatten am
anderen Ende der Veranda auf und ab gegangen, blieb jetzt aber
stehen, suchte eine bequeme Stelle in der Ecke und lehnte sich an,
um zuzuhören. Mr. McCormick starrte immer noch zum Himmel empor und
sagte nichts.
»Ein Hund?« wiederholte Dr. Brush. »Habe ich
Sie da recht verstanden, Mr. McCormick? Sie sagten doch, ›wie ein
Hund‹, oder?«
Immer noch nichts.
»Denn wenn Sie das gesagt haben, und ich bin
überzeugt, daß ich nichts an den Ohren habe – oder vielleicht doch,
ha! sollte sie besser mal untersuchen lassen –, also wenn Sie ›wie
ein Hund‹ gesagt haben, dann wäre ich äußerst neugierig, warum Sie
sich so fühlen, schlicht und einfach aus dem Grund, daß es ein
höchst außergewöhnlicher Vergleich ist, und ich bin sicher, daß
auch Mr. Thompson und Mr. O’Kane an Ihrem Gedankengang interessiert
sind. Stimmt’s, Männer?«
Mart grunzte, und es war schwer zu entscheiden,
ob es ein zustimmendes oder ablehnendes Grunzen war.
O’Kane nickte kurz. »Ja«, sagte er, »sicher
doch.«
»Haben Sie gehört, Mr. McCormick? Auch Ihre
Freunde möchten gerne wissen, was Sie zu diesem Thema zu sagen
haben. Ja? Mr. McCormick?«
Und immer noch nichts. O’Kane überlegte, ob Mr.
McCormick die Frage überhaupt gehört hatte oder ob sein Verstand
bereits wieder eingeschlossen war, unzugänglich wie ein Nagetier,
das sich tief in seinem Bau verkrochen hatte. Wenigstens wurde er
nicht gewalttätig. Noch nicht jedenfalls.
Der Arzt zog eine Zigarre aus der Innentasche
seiner Jacke und nahm sich die Zeit, sie anzuzünden. Er zog daran,
stieß eine Rauchwolke aus und musterte den Patienten mit
scharfsinnigem Blick, der jedoch an Mr. McCormick leider
verschwendet war, da dieser weiter zum Himmel hinaufstarrte, als
wäre er Percival Lowell und forschte nach Anzeichen von Leben auf
dem Mars. »Vielleicht fühlen Sie sich hier eingesperrt, ist das so,
Mr. McCormick?« begann Dr. Brush. »Wollen Sie das damit ausdrücken
– daß Sie lieber mehr Freiheiten hätten? Dafür ließe sich durchaus
sorgen – mehr Ausfahrten, mehr Spaziergänge außerhalb des
Grundstücks, wenn Sie das gerne möchten. Möchten Sie das? Haben Sie
es so gemeint?«
Nach einer Pause von mindestens fünf oder sechs
Minuten änderte Dr. Brush seine Strategie. »Erzählen Sie mir von
Ihrem Vater, Mr. McCormick«, sagte er, wobei er sich vorbeugte und
zu Mr. McCormicks langem blassen Hals und der Unterseite seines
Kinns sprach. »Das war ein großer Mann, wie ich höre... Haben Sie
ihn sehr geliebt?«
Eine Möwe kreiste über ihnen. Es war sehr
still. Irgendwo weiter unten, in Richtung der Hütten, sang jemand
auf italienisch, ein monotoner Klang, der wie ein Pendel hin und
her schwang.
»Haben Sie... haben Sie je das Gefühl gehabt,
ihn zu hassen? Oder einen Groll gegen ihn gehegt? Vielleicht hat er
Sie, als Sie ein kleiner Junge waren, oft bestraft oder womöglich
gar geschlagen – ist so etwas jemals passiert?«
O’Kane wurde sich des Laufs der Sonne bewußt,
da der scharf umrissene schräge Schatten neben ihm unerbittlich
näher kroch. Er versuchte, die Worte des Liedes zu hören, obwohl er
sie ohnehin nicht verstehen würde, und bemühte sich, nicht an
Giovannella zu denken. Mr. McCormick, der ein Meister der
Reglosigkeit war – er hätte ein ideales Modell für einen Bildhauer
abgegeben –, rührte sich nicht. Er schien nicht einmal zu
atmen.
»So«, sagte der Doktor nach einer Weile, stand
umständlich auf, paffte an seiner Zigarre und begann wieder auf und
ab zu gehen, von Fliese zu Fliese. »Soso.« Er stellte sich wieder
hinter Mr. McCormick und schob sein Gesicht erneut in dessen
Gesichtsfeld. »Und Ihre Mutter«, setzte er fort, »was ist sie für
eine Frau?«
Der zweite Ansatz, den Dr. Brush versuchte,
hatte mit gewissen kleineren Verfeinerungen des täglichen Ablaufs
zu tun, die er der Effizienz halber vornahm. Anfangen wollte er mit
Mr. McCormicks Duschgewohnheiten. »Eddie«, nahm er O’Kane eines
Abends nach Schichtende beiseite, »wissen Sie, ich habe über Mr.
McCormicks Tagesablauf nachgedacht und wie er seine Ressourcen
dabei verschwendet, und schlicht und einfach aus diesem Grund finde
ich, wir könnten die Dinge etwas rationeller gestalten. Ihn ein
bißchen aufrütteln, wissen Sie. Es ist doch immer dasselbe, tagaus,
tagein. Der gute Mann muß sich ja längst zu Tode langweilen.«
O’Kane, der trotz des Wechsels an der Spitze
Oberpfleger geblieben war und außerdem eine Gehaltserhöhung von
fünf Dollar pro Woche erhalten hatte, seit Dr. Brush da war, hielt
es für zweckmäßig, sich betroffen zu zeigen, auch wenn er an dem
bestehenden Ablauf überhaupt nichts auszusetzen fand. Es war nicht
der Zeitplan, der Mr. McCormick einschränkte, auch nicht ein Mangel
an geistiger Anregung – sondern der Mangel an Frauen. Der sollte
sich ein paarmal flachlegen lassen, dann würde man ja sehen, was
geschah – viel schlimmer als jetzt konnte es sowieso nicht werden.
Er sah Brush mit unschuldiger Miene an. »Und woran dachten
Sie?«
»Nun, ich habe mir eine Sache mal näher
angesehen, und zwar das Duschen«, sagte der Arzt. Sie standen am
Eingang zum oberen Salon; Mr. McCormick lag im Bett, Nick und Pat
hatten gerade die Schicht begonnen. »›Sieben bis acht Uhr morgens:
Duschbad.‹ Klingt das nicht etwas übertrieben? Selbst im Interesse
von Sauberkeit und Hygiene? Ich selbst zum Beispiel verbringe nie
länger als fünf Minuten in der Dusche, und ha! Sie werden wohl
zugeben, daß es bei mir eine ganze Menge mehr zu waschen gibt als
bei Mr. McCormick. Jedenfalls dachte ich mir, daß wir diese Zeit
zurückschrauben könnten – schön langsam natürlich –, bis er am Ende
nur noch fünf bis zehn Minuten lang duscht, und die gewonnene Zeit
können wir dann für seine Genesung und völlige Heilung
nutzen...«
O’Kane zuckte die Achseln. »Sicher, gut
möglich. Aber beim Duschen ist Mr. McCormick ziemlich stur, das ist
eine seiner Lieblingsobsessionen, und es könnte schwierig werden,
ihm das zu...«
»Ach was.« Der Arzt winkte ab. »Überlassen Sie
das nur mir – Obsessionen sind mein Geschäft.«
Und so kam es, daß am nächsten Morgen, gerade
als O’Kane und Mart Mr. McCormick in die Dusche geführt hatten, Dr.
Brush auftauchte – barfuß und hünenhaft in einer langen, wallenden
Regenpelerine von der Größe eines Zwei-Mann-Zelts. »Guten Morgen,
guten Morgen!« dröhnte er, und der lärmende Ruf hallte in der
schmalen Kabine der gefliesten Dusche wider, als wären es Hunderte
von Stimmen. »Kümmern Sie sich nicht um mich, Mr. McCormick«,
schrie er, während die bleichen, fleischigen Zehen auf den nassen
Kacheln klatschten und das Wasser schon von seinem Umhang perlte.
»Ich bin nur im Interesse der Effizienz hier, um ihr Duschbad zu
beobachten, schlicht und einfach aus dem – also, sehen Sie in mir
einen dieser Wirtschaftlichkeitsexperten, die Industrielle wie Sie
immer wieder einsetzen, um die Produktionsabläufe zu verbessern und
zu beschleunigen... Machen Sie nur weiter, lassen Sie sich nicht
stören...«
Mr. McCormick saß nackt auf dem Boden unter
einem der drei Duschköpfe und seifte sich heftig mit einem frischen
Stück Palmolive-Seife die Brust ein. Anfangs wirkte er beunruhigt
und machte sogar eine Geste, als wollte er seinen Schambereich
verdecken, überlegte es sich dann aber offenbar anders, wandte sich
von dem Arzt ab und seifte sich weiter ein.
»Also, ich dachte mir«, fuhr der Doktor fort,
im aufsteigenden Dampf und dem Wasser, das gegen die Wände
prasselte und ihm im Aufspritzen die Beine naß machte, »wir werden
damit anfangen, unsere Duschzeit ein wenig zu verkürzen – auf
vielleicht, na, wie wär’s mit einer Viertelstunde, Mr. McCormick?
Sehen Sie, und ich bin sicher, Sie werden mir da beipflichten, das
ist doch eine mehr als vernünftige Zeitspanne, um sich gründlich zu
reinigen, schlicht und einfach aus dem Grund, daß der menschliche
Körper nur mit einer begrenzten Menge Schmutz behaftet sein kann,
besonders wenn man täglich duscht, meinen Sie nicht auch?«
O’Kane stand in der Tür zum Badezimmer, seiner
Standardposition, von wo er Mr. McCormick in der Dusche beobachten
konnte, ohne ihn allzusehr zu bedrängen, und Mart war draußen im
Zimmer, wo er Mr. McCormicks Frühstückstisch deckte. Zwar war die
Dusche ziemlich groß – sie hätte mindestens drei Personen Platz
geboten –, trotzdem hatte O’Kane das unangenehme Gefühl, daß der
Doktor ein unnötiges Risiko einging. Es ließ sich nicht sagen, wie
Mr. McCormick diese Invasion seiner Privatsphäre auslegen würde,
Effizienz hin oder her, und falls er durchdrehte, so bestand bei
den glatten Fliesen und dem stetig fließenden Wasser immer die
Möglichkeit eines bösen Sturzes. Ihm gefiel die Situation kein
bißchen, und er hatte die pessimistische Vision, wie er sich ins
Gemenge warf und wieder einmal einen Anzug ruinierte.
Doch Mr. McCormick überraschte ihn. Er wirkte
nicht sonderlich erregt – jedenfalls bemerkte O’Kane nichts davon.
Er hielt dem Eindringling nur die weiße Fläche seines Rückens
zugewandt und seifte sich um so kräftiger ein, je länger der Doktor
dahinplapperte und das Wasser in einer Kaskade aus stahlharten
glitzernden Nadeln herabfiel. So ging es eine Zeitlang weiter, bis
O’Kane auf ein Zeichen von Brush Mart herbeirief, der in die Dusche
trat, um den Wasserhahn abzudrehen.
Im nächsten Moment versiegte der Strahl der
Brause. Mr. McCormick warf einen gehetzten Blick über die Schulter
auf den Arzt, dann auf O’Kane – jetzt geht’s los, dachte O’Kane und
spannte sich an –, doch der Patient tat nichts weiter als auf dem
nassen Boden ein Stück weit zu rutschen, so daß er zu den Armaturen
hinauflangen konnte. Er drehte mehrmals an den Griffen und bewegte
sich dann in einem schiebenden Krebsgang zuerst nach links, dann
nach rechts, um es bei den beiden anderen Brausen zu probieren. Er
brauchte recht lange dafür, und als er sich schließlich überzeugt
hatte, daß das Wasser tatsächlich versiegt war, rutschte er genau
zu der Stelle zurück, an der er vor der Störung gesessen hatte und
fuhr fort, sich einzuseifen, als wäre nichts geschehen.
Dr. Brush wiederum sagte dabei Sachen wie »Also
gut, Mr. McCormick, sehr schön, dann hören wir jetzt mal langsam
auf, nicht wahr?« und »Ist das nicht viel besser so? Finden Sie
nicht? Optimistisch grinsend erhob er sich über der
zusammengesunkenen Gestalt ihres Arbeitgebers, seine Zehen krallten
sich wie Finger in den Boden, die gelbe Pelerine tropfte, die
kurzen Haare in seinem Nacken kräuselten sich in der Feuchtigkeit
wie Entenfedern. Aber Mr. McCormick achtete nicht auf ihn, sondern
drückte seinen ganzen Widerwillen dadurch aus, daß er sich mit dem
kleiner werdenden Seifenstück bearbeitete wie mit einer
Flagellantenpeitsche, und als es verbraucht war, griff er nach
einem neuen.
»Nun gut«, vertraute Dr. Brush später an diesem
Tag O’Kane an, »das ist ein Machtkampf, und wir werden ja sehen,
wie weit der Patient zu gehen bereit ist, ehe er begreift, welchen
Vorteil es hat, sich effizienter zu verhalten.«
Am nächsten Morgen war der Arzt zurück; diesmal
lag nur ein einziges Stück Seife in der Schale, und das Duschen
wurde bereits nach zehn Minuten abgebrochen. Wieder ließ Dr. Brush
alle möglichen zuversichtlichen Bemerkungen über das Einsparen von
Zeit und Energie und den Wert der Disziplin vom Stapel, doch Mr.
McCormick wich um keinen Deut von seiner Routine ab. Nachdem die
Brause abgedreht war, seifte er sich noch eine volle Stunde lang
ein und erschien zum Frühstück mit grünlich-weißen
Palmolive-Schlieren an den Wangen und der Stirn, wie ein
Indianerhäuptling auf dem Kriegspfad. Am Tag darauf wurde das
Duschen auf fünf Minuten verkürzt und nur Seifenpulver hingestellt,
aber Mr. McCormick machte beharrlich weiter, genau wie O’Kane es
erwartet hatte. Als das Wasser aus war, rieb sich Mr. McCormick am
ganzen Leib mit dem körnigen Pulver ein, bis es sich zu einem
gelblichen Schaum auflöste, der dann auf seiner Haut härtete wie
eine Glasur.
Die Krise kam am vierten Tag.
Dr. Brush verfügte diesmal, gar keine Seife
auszuhändigen. Er erschien jovial und energiegeladen wie gewöhnlich
und räsonierte mit Mr. McCormick wie mit einem Kind – oder
zumindest wie mit einem Imbezilen in der Irrenanstalt. »Aber
begreifen Sie denn nicht«, sagte er, die Stimme verflacht und
verzerrt vom Prasseln des Wassers, bis der Hahn nach fünf Minuten
auf sein Zeichen hin zugedreht wurde, »daß Sie höchst unvernünftig
handeln, Mr. McCormick – oder nicht unvernünftig, sondern
ineffizient? Meinen Sie denn, Sie könnten Ihre Mähmaschinenfabrik
mit so einem Zeitplan laufen lassen, häh? Selbstverständlich
bekommen Sie Ihre Seife sofort zurück, sobald Sie, nun ja, wieder
anfangen... also, schlicht und einfach aus dem...«
Mr. McCormick duschte ohne Seife und schien sie
auch gar nicht zu vermissen, oberflächlich betrachtet jedenfalls
nicht; er saß gut anderthalb Stunden lang unter den trockenen
Brauseköpfen, und als er aufstand, griff er nach dem Handtuch,
obwohl er längst trocken war. Egal. Er benutzte dieses Handtuch wie
ein Büßer seine Geißel und schlug damit aus allen Richtungen auf
seinen Körper ein, bis die Haut so aufgeschürft war, daß sie zu
bluten begann und er mit Gewalt davon abgehalten werden mußte. Am
nächsten Morgen versuchte er nicht einmal, die Dusche aufzudrehen,
sondern griff gleich nach dem Handtuch, als wäre er schon naß, und
rieb sich damit wie wild an all den aufgescheuerten Stellen, bis
sie wieder zu bluten anfingen, und erst nach einem Handgemenge, bei
dem er mit den vereinten Kräften von O’Kane, Mart und Dr. Brush
überwältigt werden mußte, ließ er davon ab.
Und so ging es eine Woche lang weiter, bis Mr.
McCormick vom Scheitel bis zur Sohle eine wandelnde Schorfnarbe war
und Dr. Brush seine fixe Idee von der Effizienz endlich fallenließ.
Tatsächlich gab er von da an überhaupt jeden Versuch auf, sich in
Mr. McCormicks Angelegenheiten einzumischen, weder mit Änderungen
seines Zeitplans noch durch therapeutische Gespräche, und während
des einen Jahres, ehe er zum Militärdienst berufen wurde, um die am
Schützengrabenkoller leidenden Veteranen der Westfront zu
behandeln, schien er es vollends zufrieden, einfach nur –
dahinzugleiten.
O’Kane für sein Teil war damit
einverstanden, er hatte seine eigenen Probleme. Als der Herbst von
1916 in den Winter von 1917 ausblutete und der Krieg immer näher
rückte, schienen sich seine Scharmützel mit Rosaleen und
Giovannella zu verschärfen, bis er unter schwachen
Rückzugsgefechten das Feld räumen mußte. Mit Rosaleen wurde der
Kampf wenigstens per Post und über eine Distanz von rund
fünftausend Kilometern ausgefochten. Er hatte seit zwei Jahren
nichts von ihr gehört, und dann verlangte sie plötzlich Geld von
ihm:die Briefe prasselten nur so auf ihn nieder in einem
Wirbelsturm von Forderungen, Klagen und Drohungen. Und was wollte
sie? Sie wollte Schuhe für Eddie jr., der angeblich das »genaue
ebenbilt von sein Fater« und bald neun Jahre alt war, außerdem
einen neuen Sonntagsanzug für den Kleinen, damit er recht hübsch
aussähe bei ihrer Hochzeit mit Homer Quammen, und ob er sich wohl
noch an Homer erinnerte? Übrigens habe sie die Scheidung
eingereicht, und sie fand, er schulde ihr dafür was und solle auch
keine Sekunde lang glauben, daß ihre zweite Ehe ihn etwa von seiner
Verpflichtung befreie, für Eddie jr. zu sorgen, vor allem da Homer
»arm wiene Kürchenmauss« sei.
Er schickte ihr das Geld, vierzig Dollar alles
in allem, obwohl es ihn wurmte, weil er jeden Cent für ein
Grundstücksgeschäft sparte, an dem ihn Dolores Isringhausens
Schwager beteiligen wollte, und er bekam dafür nie ein Dankeschön,
ein auf Wiedersehen oder sonst etwas. Es folgten aber keine
weiteren Briefe, also nahm er an, sie habe das Geld gekriegt, und
bis er wieder von ihr hörte, hatte er die Sache längst vergessen.
Das war im Dezember, um Weihnachten herum – er erinnerte sich
daran, weil Katherine in der Stadt war, sie lud im oberen Salon
Berge von Geschenken und Kränzen, Popcorngirlanden und so weiter ab
und brachte Brush und Stribling, den Grundstücksverwalter,
ordentlich auf Trab –, und O’Kane kam gerade von seiner Schicht
nach Hause, wo er Mrs. Fitzmaurice ein Sandwich abschwatzen und
danach auf einen Drink in Menhoffs Kneipe gehen wollte, als er den
verschmierten Briefumschlag auf dem Tisch im Flur liegen sah. Er
erkannte Rosaleens verkrampfte untermenschliche Krakelschrift –
Wohlgeb. Edw. O’Kane c/o Mrs. Morris Fitzmaurice, 196 State Street,
Santa Barbara, Kalifornien – und schob sich den Brief in die
Brusttasche.
Später, als er bei Menhoff an einem Tisch saß
und seine Jacke nach einem Streichholz durchstöberte, um dem
Mädchen aus dem Billigkaufhaus Feuer zu geben, entdeckte er ihn
wieder. Er zündete ihr die Zigarette an – sie hieß Daisy, und ihre
Brüste ließen ihn fast wahnsinnig werden, so daß er aus lauter
Liebe zu ihnen am liebsten gestorben wäre –, dann entschuldigte er
sich und ging auf die Toilette, wo er vor dem Pissoir stehend den
Brief aufriß und damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlug.
In dem Kuvert steckte eine Photographie, sonst nichts, keine Zeile.
Er hielt sie mit der freien Hand ins Licht. Das Bild war
verschwommen und ziemlich unscharf, so als hätte sich die Welt in
dem Moment zwischen dem Drücken des Auslösers und dem Fixieren der
Aufnahme ein Stück verschoben, und es zeigte einen schlaksigen
Jungen in kurzen Hosen, neuen Schuhen, Jackett und Schlips, tapfer
lächelnd vor einem Hintergrund kahler Bäume und einer ebenfalls
entlaubten Hecke. O’Kane sah genauer hin. Kniff die Augen zusammen.
Wendete die glatte Oberfläche, um das Licht einzufangen. Und sah
das Gesicht seines Sohnes, das ihm aus dem verwackelten Photo
entgegenstrahlte, Eddie jr., sein eigen Fleisch und Blut, und
dieses Gesicht würde er überall wiedererkennen.
Sicher. Sicher würde er das.
Dort am Pissoir verlor er jedes Zeitgefühl,
starrte nur in das strahlende Gesicht auf diesem Bild und fühlte
sich dabei so schlecht, wie er sich noch nie gefühlt hatte,
schlecht und schäbig, wertloser als jeder Vagabund vor einer
Mülltonne. Seine Eltern kannten den eigenen Enkelsohn nicht einmal,
seine Schwestern nicht ihren Neffen. Niemand kannte ihn, niemand
außer Rosaleen – und Homer Quammen. Gott, wie weh das tat. Sie
hätte ihm ebensogut eine Bombe per Post schicken können, ihn mit
Schrapnell beschießen, seine Haut zerfetzen. Er dachte, er müsse
weinen, dachte wirklich, er würde gleich in sich zusammensinken und
zum erstenmal weinen, seit er selbst ein Kind gewesen war, den
säuerlichen Gestank der Pisse in der Nase, Schimmel in den
Ablaufrinnen, die Luft so schwer und braun wie Senfgas, das über
Schützengräben wallte, doch dann hörte er das blecherne Klimpern
des Pianos aus dem Schankraum und kam wieder zu sich. Daisy saß
dort draußen, Daisy in der Blüte ihrer Jugend, die darauf wartete,
von ihm gepflückt zu werden.
Na gut. Also dann. Er schüttelte ab, knöpfte zu
und drückte die Spülung. Und dann, es war beinahe so, als litte er
wie die arme Mrs. Brush an einem nervösen Tic, fühlte er, wie sich
seine rechte Hand zusammenballte, und das Photo lag zerknüllt in
dem Pissoir neben dem bekrakelten Umschlag. Danach bekam er keine
Briefe mehr. Hörte auch nie wieder ein Wort von Scheidung.
Mit Giovannella war es anders. Und schlimmer.
Wesentlich schlimmer. Sie hatte sich ihm widersetzt, natürlich
hatte sie das, und nachdem sie den glatten roten Stichel wieder aus
seiner Handfläche gezogen hatte und sie beide stumme Zeugen des
Phänomens geworden waren, wie sein Blut hervorquoll und die weiße
Fläche bedeckte, auf der eben noch kein Blut gewesen war, da sagte
sie nichts dazu, kein Tut mir leid oder Entschuldige oder Hab ich
dir weh getan? Nein, sie zerriß einfach den Zettel mit dem Namen
von Dolores Isringhausens Arzt darauf und schleuderte ihm die
Fetzen ins Gesicht, und er umklammerte seine verletzte Hand, er
fluchte jetzt, verfluchte sie mit jedem Schmähwort, das ihm
einfiel, und Gott im Himmel, wie sehr diese Hand schmerzte. »Du
Hure!« schrie er. »Schlampe! Du verdammte Spaghettischlampe!« Sie
aber stand starr vor ihm, ihr Gesicht war wie aus Eisen, und sie
hielt diesen glitzernden stählernen Stachel in der geballten Faust,
bis er sicher war, daß sie ihm die Nadel gleich mitten ins Herz
treiben würde, und da wich er rückwärts zur Tür hinaus und die
wacklige Treppe hinab, wobei er weiter mechanisch Flüche ausstieß
und dachte, daß er jetzt selbst einen Arzt brauchte – und das
ausgerechnet an einem Sonntag.
Sie wollte ihn danach nicht wiedersehen. Er
aber wollte sie, wollte sie so dringend wie noch nie etwas in
seinem Leben, und nicht zum Kämpfen und Streiten wegen Ehemännern
oder Babys oder San Francisco und dergleichen, sondern um sie zu
lieben, sie nackt auszuziehen, auf dem Bett flachzulegen, in den
Armen zu halten und sie zu lieben, bis sie keine Luft mehr bekam.
Doch sie verschmähte ihn. Er kroch zu der Wohnung über dem
Schuhmacherladen hinauf, und sie knallte ihm die Tür ins Gesicht;
er paßte sie auf der Straße ab, wenn sie zum Markt ging, und sie
stolzierte an ihm vorüber, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Als
er sie am Ellenbogen packte – »Bitte, Giovannella«, flehte er, »hör
mich an, hör mich nur eine Minute lang an« –, da riß sie sich los
und stapfte davon, mit ihren schnellen, ausgreifenden Schritten,
die Schultern so steif und kompakt, als wären sie mit Draht
zusammengebunden.
Wirklich quälend für ihn aber war, daß er
zusehen mußte, wie sie runder wurde, Tag für Tag, Woche für Woche.
Jeden Sonntagnachmittag spazierte sie die Straßen auf und ab, am
Arm von Guido, diesem wunderlichen Italienerzwerg, der sogar mit
Stiefeln keine sechsundvierzig Kilo wog, und dabei schlenderte sie
jedesmal am vorderen Fenster seiner Pension sowie an sämtlichen
Saloons von Spanishtown vorbei – und an Cody Menhoffs Kneipe auch,
für alle Fälle. Anfangs sah man noch nichts, niemand sah es, weil
das Baby erst so groß wie eine abgehäutete Ratte war, noch gar kein
echtes Baby, nicht mal richtig menschlich war es, doch gegen Ende
Juni merkte man es recht deutlich, und Mitte Juli konnte man
meinen, sie schmuggelte Melonen unter dem Rock. Er ging ihr
manchmal nach, halb betrunken und mit sich ringend, und
beobachtete, wie die Leute stehenblieben, um ihr zu gratulieren,
die Männer lächelten väterlich, die Frauen streckten die Hände aus,
um den geschwollenen Talisman ihres Bauches zu tätscheln, und die
ganze Zeit stand Guido der Schuster grinsend und in seinem
einfältigen Stolz rot angelaufen daneben. O’Kane fühlte sich
ausgeschlossen. Er war böse. Er war zornig.
Das Baby wurde Ende Oktober geboren. O’Kane
hörte es von Baldy Dimucci, der Zigarren verteilte, als wäre er
selbst der stolze Vater, und kein Wort fiel mehr wegen der Sache
vor acht Jahren – und auch neueren Vorkommnissen. Oder war da doch
ein Groll? Als er eines sonnenwarmen Nachmittags kurz vor Halloween
zum Mittagessen hinunterging, war der alte Dimucci zu ihm in die
Küche gekommen. O’Kane hatte am Morgen seinen Lieferwagen in der
Einfahrt gesehen (keine Eselskarren mehr für Baldy: er war
wohlhabend geworden, Besitzer einer gutgehenden Gärtnerei und eines
nagelneuen Ford-Lasters) und sich darüber gewundert, den
Zusammenhang zu Giovannella und ihrem Baby aber nicht hergestellt,
bis Baldy durch die Küchentür trat, etwas unsicher auf den Beinen
und nach Rotwein und Zigarrenrauch riechend. »He, Eddie«, sagte er,
während Sam Wah mürrisch am Herd stand und O’Kane seine Suppe
löffelte, »hast du schon gute Nachricht gehört?«
»Gute Nachricht? Nein, was denn für
eine?«
Der alte Baldy kam auf ihn zu, das Gesicht von
wilden Furchen durchzogen, die Augen leuchtend vom Wein, auf den
Lippen ein breites Knoblauchfressergrinsen. »Giovannella«, sagte
er, und er war gar nicht so betrunken, wie er wirkte, »Giovannella
und mein Schwiegersohn, sie haben Baby gekriegt.«
O’Kane blinzelte nur. Er fragte nicht, ob es
ein Junge oder ein Mädchen war, ob es blonde Haare hatte oder ob
eines seiner grünen irischen Augen mit einer haselnußbraunen
Glücksuhr verziert war, denn all das wußte er bereits, und von
diesem Wissen wurde ihm übel und schwindlig, als zöge man ihm den
Boden unter den Füßen weg. Daher sagte er gar nichts, entbot keine
Gratulationen oder guten Wünsche für die junge Mutter – er
blinzelte nur.
»Hier«, sagte Baldy, der in seinem besten Anzug
vor ihm stand, das Hemd vom Wein befleckt, »nimm dir eine
Zigarre.«
O’Kane ging nach der Arbeit direkt zu ihrer
Wohnung, wagte sich aber nicht hinauf, weil dort oben ein
gewaltiges rotweinseliges, akkordeonbeschwingtes, pastakochendes
Itaker-Tohuwabohu herrschte und überall auf den Treppenstufen
lärmende und lachende Menschen saßen. Und als es ihm zwei Tage
später gelang, sich hinaufzuschleichen, öffnete ihm nicht
Giovannella die Tür, sondern eine große, wuchtige Statue von Frau,
die mit ihr zwar die Nase und die Augen, aber sonst nichts gemein
hatte. Das war ihre Mutter, kein Zweifel. Sie sagte etwas auf
italienisch, und er versuchte, an ihr vorbei in das vertraute
Zimmer zu spähen, doch sie füllte das ganze Bild aus und
wiederholte, was immer sie gerade gesagt hatte, als sie ihn mit
offenstehendem Mund auf dem Treppenabsatz erblickte. »Giovannella«,
sagte er, das einzige italienische Wort, das er kannte, aber die
Frau ließ sich davon nicht beeindrucken. Eine bebende, blaugeäderte
mütterliche Hand fuhr zu dem Kreuz an ihrem Hals, als wollte sie
ein schleichendes Unheil abwehren, während die andere die Tür
gepackt hielt, um ihm den Weg hinein zu versperren, und in dem
Augenblick, bevor sie ihm die Tür mit einer Wucht ins Gesicht
knallte, die den morschen Treppenaufbau bis in seine verfaulten
Stützpfeiler erzittern ließ, hörte er das Baby weinen, ein
einziger, gellender Schrei, der ihm wie eine Anklage in den Ohren
klang.
Als er endlich doch einen Blick auf
Giovannellas Baby erhaschte – auf seinen Sohn, seinen zweiten Sohn,
und er ein Fremder für beide –, da war es an dem Tag, als Dolores
Isringhausen aus New York zurückkehrte, um ihre Villa für den
Winter zu beziehen. Es war ein Samstag, und als er von seiner
Schicht heimkehrte, wartete im Flur der Pension von Mrs.
Fitzmaurice ein Brief auf ihn. Das fliederfarbene Kuvert duftete
nach ihrem Parfum und war nur mit einem schlichten »Eddie«
beschrieben. Er riß es unverzüglich auf, mitten im Gang und vor dem
alten Walter Hogan, der ihn aus blutunterlaufenen Augen
beobachtete. »Bin gestern abend eingetroffen«, las er, »und ich
langweile mich jetzt schon. Ruf mich an.« Sie hatte sich nicht
einmal die Mühe gemacht, mit ihrem Namen zu unterzeichnen.
Er rief sie an, und ihre Stimme schnurrte in
seinem Innern, bis es sich anfühlte, als wären ihm an sämtlichen
Nervenenden feine Härchen gewachsen, und er stellte sie sich vor,
wie er sie zuletzt gesehen hatte, in einem japanischen Kimono mit
nichts darunter. »Hier Eddie«, sagte er, und sie packte ihn sofort
mit ihrem katzenkralligen Flüsterton: »Warum rufst du erst jetzt
an?« Sie verabredeten sich zum Abendessen, und er ärgerte sich,
weil er keinen Wagen besaß, in dem er sie herumfahren konnte. Er
mochte es nicht, wenn sie fuhr – es war irgendwie nicht richtig.
Davon bekam er immer ein komisches Gefühl, so als wäre er nur ein
halber Mann, ein Krüppel oder so, und er wollte nicht, daß irgend
jemand ihn sah, wie ein Trottel auf dem Beifahrersitz hockend und
eine Frau am Steuer. Tatsache aber war, daß er kein Automobil nötig
hatte, nicht wenn ihn Roscoe sechs Tage die Woche nach Riven Rock
und wieder zurück kutschierte und in Santa Barbara alles zu Fuß
oder per Straßenbahn zu sieben Cent die Fahrt erreichbar war. Er
sparte sein Geld lieber, weil er nicht vorhatte, sein Leben lang
als Pfleger zu arbeiten, und so ein Wagen kostete nur Geld, wenn
man den Preis fürs Benzin, die Reifen und Reparaturen bedachte, und
wie oft hatte er Roscoe bis zu den Ohren schwarz von Schmiere
gesehen? Heute abend aber könnte er wirklich einen Wagen gebrauchen
– irgendwas, sogar eine dieser Tin Lizzies von Ford, bei denen man
sich den Arm abkurbeln mußte –, um bei Dolores’ Haus vorzufahren
und ein paarmal auf die Hupe zu drücken, und er fühlte sich billig
und schäbig und wollte gerade zu Menhoff gehen, um sich ein wenig
aufzumöbeln.
Da sah er Giovannella. Sie stand vor dem
Gemüseladen auf der anderen Straßenseite, beugte sich vor, um die
Tomaten zu begutachten, und neben ihr, in einem Kinderwagen von der
Farbe eines Fledermausflügels, war das Baby. Guido war nirgends zu
sehen. O’Kane blickte in beide Richtungen und über die Schulter, um
sicherzugehen, daß ihn niemand beobachtete, dann überquerte er die
Straße und stellte sich neben sie, nur ein Gesicht in der Menge,
und er drückte tatsächlich am Obst herum wie eine wählerische
Hausfrau, während er in den Kinderwagen spähte und die winzigen
Gesichtszüge musterte, eingeschrumpelt wie eine vertrocknete
Pfütze, die fest geschlossenen Augen, ein rüschiges blaues Häubchen
über die unsichtbaren Augenbrauen gezogen. Aber die Haut – die
feisten, geballten Fäuste, das schrumplige Gesicht – hatte dieselbe
Farbe wie Giovannella, war Giovannella pur und unverfälscht, Zimt
auf Toast, sizilianischer Lehm. Oder Erde. Sizilianische
Erde.
Giovannella hatte ihn jetzt bemerkt, sie
blickte von ihren Tomaten auf, die Wilson, der dickarmige
Gemüsehändler, auf seiner silbernen, schaufelartigen Waage für sie
abwog, und starrte ihn aus ihren höllenschwarzen Augen an. Sie zog
die Mundwinkel nahezu unmerklich nach oben. »Er ist wunderschön,
mein Kleiner, stimmt’s, Eddie?«
O’Kane sah zu Wilson, und Wilson wußte es,
jeder wußte es. Außer vielleicht Guido. »Ja«, sagte er, »sicher«,
und er fühlte sich vollkommen benebelt, so als wäre er beim
Zahnarzt gewesen und hätte das betäubende Gas so tief eingeatmet,
daß sein Verstand dahinschwand.
Oho, und jetzt grinste sie wirklich, der Mund
ging weit auseinander, ihre Zähne blitzten weiß auf in der Sonne.
»Und weißt du, wie wir ihn genannt haben, Eddie? Na?«
Er hatte keine Ahnung. Er sah wieder zu Wilson,
und Wilson sah beiseite.
»›Guido‹, Eddie. Wir haben ihn ›Guido‹ genannt.
Nach seinem Vater.«
Und wie fühlte er sich da? Erleichtert?
Dankbar? Froh, daß er nicht noch ein weiteres Kind gezeugt hatte,
dem er als Vater ein Fremder blieb? Nein. Er fühlte sich verraten.
Er verspürte Wut. Eifersucht, heiß und elektrisierend, als wäre ein
Draht in seinem Inneren gespannt, von seinem Schwanz zum Gehirn,
und die Stromstärke voll aufgedreht. Wilson verschwand hinter
seinen Melonen und Kürbissen. Eine Frau in einem Filzhut, dessen
Schwarz zu Grau verblichen war, beugte sich über die Radieschen und
ging dann den Gang entlang in die kühle Tiefe des Ladens. Er sah
Giovannella scharf an. »Was sagst du da?«
Das Baby hätte ebensogut aus Holz geschnitzt
sein können – es lag still in seinem Wagen, in sich versunken.
Giovannella schob sich die braune Papiertüte mit den Tomaten unter
den Arm und musterte ihn kaltblütig. »Du bist ein toller Hecht,
was, Eddie? Immer so selbstsicher – stimmt’s? Der große Hengst und
Frauenheld.« Sie biß sich auf die Lippe und blickte sich rasch um,
ob irgend jemand sie belauschte. Er war verwirrt, trieb hilflos auf
hoher See, die Sonne warf Schatten quer über die Straße, und der
Gehsteig schimmerte, als wäre er regennaß. Was wollte sie nur von
ihm? Was war das Problem?
Und dann, als läge es mitten auf der Bühne und
hätte nur auf ein Stichwort gewartet, erwachte das Baby und schlug
die Augen auf – und da war es, alle Welt konnte es sehen, das Grün
der Bucht von Dingle und das haselnußbraune Drei-Uhr-Glück
darin.
Tja, und das vermieste ihm den restlichen Tag,
durchkreuzte alles, ließ ihn in einen Trübsinn versinken, der sich
allenfalls mit Whiskey beheben ließ. Kaum hatte der Junge die Augen
geöffnet, war sie natürlich auf und davon, die Räder des
Kinderwagens drehten sich wie die einer Lokomotive, und der erste
leise Schrei nach dem Aufwachen steigerte sich zu einem kindlichen
Wutausbruch, doch da bog sie schon um die Ecke und eilte die De la
Guerra Street entlang, bis die weißen Steinsäulen der First
Security Bank sie verschluckten. Er verfolgte sie nicht. Laß sie
nur gehen, dachte er, laß sie ihre Spielchen spielen, und hätte sie
nicht eine prachtvolle Gehilfin von Savonarola abgegeben, ein
glühendes Eisen in der Hand? Diese Schlampe. Oh, diese
Schlampe.
Seine Hand zitterte unter dem Gewicht des
ersten Whiskeys, er saß an einem Tisch in der Ecke, starrte aus dem
Fenster und sah zu, wie die Tauben von der Straße aufflogen und
sich wieder niederließen, bis er sie alle einzeln kannte, an Gang
und Farbe unterscheiden, Männchen und Weibchen, die Alten und die
Jungen auseinanderhalten konnte. Diese flatternden, fruchtbaren
Viecher waren wie ein geistloses gefiedertes Symbol seines eigenen
zwecklosen Lebens, instinktiv stiegen sie vor jedem vorbeifahrenden
Wagen auf und sanken hinter ihm wieder herab, gedankenlos
stolzierten, pickten und fickten sie. Er dachte an Giovannella und
Rosaleen, an Eddie jr. und den kleinen Guido – Guido, ausgerechnet! – und fragte sich, was er
falsch gemacht hatte. Und wie. Er war kein Biologe wie Katherine,
aber er wußte, wenn der männliche Vertreter einer Spezies – genauer
gesagt, Eddie O’Kane – seinem weiblichen Gegenstück oft genug sein
Ding hineinsteckte, ganz egal, welche Zeit im Monat gerade war oder
welche Vorkehrungen man traf, dann würde sie irgendwann anschwellen
und immer weiter anschwellen, bis es wieder ein greinendes kleines
Gör mehr auf der Welt gab.
Aber er bremste sich noch rechtzeitig. Das hier
war kein gewöhnliches Gör, das war kein schwarzäugiges kleines
Schusterkind, sondern Guido O’Kane, sein Sohn, und er mußte die
Verantwortung für ihn übernehmen. Aber wie? Giovannella jeden Monat
etwas Geld für ihn zuschieben und den heimlichen Onkel spielen? Dem
Schuster des Nachts in einer dunklen Gasse auflauern, sie zur Witwe
und dann schnurstracks zu seiner Frau machen, was er ja wohl von
Anfang an hätte tun sollen? Allerdings – hier ertönte eine kalte
Quengelstimme in seinem Hinterkopf, die Stimme der Eisprinzessin,
die ihm im Salon eine Gardinenpredigt hielt – war er ja bereits
verheiratet, oder?
All das ging ihm durch den Kopf, als der kleine
Maxwell-Zweisitzer mit den Weißwandreifen und den ausdrucksstarken
Bremsen vorfuhr, was die Tauben in wildem Durcheinander aufflattern
ließ. Er sah Dolores Isringhausen am Steuer sitzen, mit
perlenbesetzten Handschuhen, sah sie den Kopf nach hinten werfen
und den glasigen kalten Blick in ihren Augen. Sie stieg nicht aus.
Kam nicht herein. Tippte nur auf die Hupe, als ob sie einen Lakaien
herbeirief, irgendeinen Negerbock, der sich nachts ins Herrenhaus
schlich und es ihr besorgte, wenn der Herr nicht da war – für wen
hielt sie ihn denn? Er rührte keinen Muskel. Hob das Glas an den
Mund, trank einen langen, langsamen Schluck, als hätte er alle Zeit
der Welt, und dabei sah er ihr unverwandt in die Augen. Er wollte
ihr bedeuten, sie solle hereinkommen, aber er tat es nicht, und als
sie erneut auf die Hupe drückte und die Miene leicht verärgert
verzog, erhob er sich und ging durch die Bar zu ihr hinaus.
»Was war denn los?« fragte sie und warf ihm
einen Blick zu, als er in den Wagen stieg. »Hast du mich nicht
gesehen? Du hast doch direkt zu mir hinausgestarrt.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, der Wagen
setzte sich mit einem Knirschen der Reifen in Bewegung, und als er
bequem saß, rasten sie den State Highway in Richtung Meer entlang,
und die blaue Haut des Himmels zerfloß mit der blauen Haut des
Ozeans in einem dünnen grauen Saum aus Dunst, der die Sicht auf die
Inseln verhüllte. Sie hatte das Verdeck geschlossen, der Diskretion
halber, und sie fuhr zu schnell, wich hektisch einem Marktwagen und
einem schlecht geparkten Automobil aus, zwängte sich vor die
Trolleybahn und schoß über Kreuzungen, als gäbe es keinen anderen
Wagen auf der Straße. »Doch, ich hab dich gesehen«, sagte er und
spürte dabei, wie die Last über ihm leichter wurde, wenn auch nur
um einen Hauch, »und es war gut, dich zu sehen, verdammt gut... ich
wollte nur eine Minute lang diesen Augenblick genießen und daran
denken, wie glücklich ich bin. Oder bald sein werde.«
»Was ist denn los?« fragte sie und zog einen
Flunsch. »Streiken deine Freundinnen alle?« Sie beugte sich für
einen Kuß zu ihm, ließ aber die Straße nicht aus den Augen. Sie
ratterten durch Schlaglöcher und über Straßenbahngleise, daß ihm
fast der Kopf durch das Stoffdach flog, und dann bog sie nach
rechts in die Cabrillo Road ab, weg von der Stadt. »Triffst du dich
immer noch mit dieser kleinen Italienerschlampe, ich meine die mit
dem dreckigen Blick? Du weißt schon, die Kinderkriegerin?«
»Nein, nein«, log er, »momentan gibt’s
niemanden.« Und er grinste sie an, ihre Gesichter waren ganz nah,
der Wagen ruckte, sie roch gut. »Hab mich für dich
aufgespart.«
Als Antwort zog sie einen Flachmann unter dem
Sitz hervor, nahm einen Schluck und gab ihn an ihn weiter. »Da kann
ich mich ja auf eine heiße Nacht gefaßt machen«, sagte sie
schließlich und sah ihn von der Seite an, ein starres Lächeln auf
den Lippen, die feucht vom Gin waren, und wie ein Schauspieler auf
sein Stichwort reagiert, streckte er die Hand aus und legte sie ihr
auf den Oberschenkel.
Sie hielten bei keinem Imbiß, keiner
Raststätte, keinem Restaurant, sondern fuhren geradewegs die Hot
Springs Road hinauf in die Hügel von Montecito, in einem Hurrikan
aus Staub und wirbelndem Laub, der nicht nachließ, bis sie in die
von Bäumen gesäumte Einfahrt ihrer Villa einbog und vor der Garage
anhielt. Sie schaltete den Motor ab, und er überlegte kurz, ob er
um den Wagen gehen und ihr die Tür öffnen sollte, aber ihr schien
das ziemlich egal zu sein, und im nächsten Augenblick stiegen sie
beide aus dem Wagen und gingen gemeinsam aufs Haus zu. Sie waren
ganz allein, keine Diener, Gärtner oder Wäscherinnen, keine Augen
zum Zusehen, keine Ohren zum Belauschen, und so nahm sie ihn bei
der Hand und führte ihn ohne Umschweife ins Schlafzimmer. Er wußte,
was er zu tun hatte, und während der Nachmittag allmählich zum
Abend wurde und die Sonne über den Fußboden vor der weit offenen
Glastür kroch, die in den Garten mit seinen drei Meter hohen Farnen
hinausführte, nutzte er seine Zunge, seine Finger und seinen harten
irischen Schwanz, um ihr jede erdenkliche Lust zu entlocken, und es
war, als würde er mit dem Ball unter dem Arm in die Touchdown-Zone
sprinten, als schlüge er einen Home-run im Baseball, eine weitere
wertlose Heldentat, sonst nichts. Er liebte sie nicht. Er liebte
Giovannella. Er dachte darüber nach, wie seltsam es doch war,
während er in Dolores Isringhausen mit einer Verzweiflung
hineinstieß, die er nicht zugeben konnte, und die Sonne zog über
den Himmel, die Frau unter ihm stemmte ihm die Hüfte entgegen, und
er spürte, wie die Last sich wieder auf ihn legte, hoffnungslos und
unnachgiebig, bis sie ihn beinahe zermalmte.
Er mußte wohl eingeschlafen sein, denn als das
Telephon im Nebenzimmer klingelte, fuhr er auf dem Bett hoch, so
daß sie behutsam die Hand auf seine Brust legte, um ihn zu
beschwichtigen. Er sah ihr nach, als sie aufstand und hinüberging,
ihre Beine und ihr Hintern fingen das Licht ein, und da war nichts
Schlaffes und Faltiges an ihr. Wie alt war sie eigentlich –
fünfunddreißig? Vierzig? Er hatte sie nie gefragt. Aber er konnte
sehen, daß sie nie Kinder bekommen hatte – oder wenn, dann war es
lange her. Er nahm einen Schluck aus dem Flachmann, beobachtete
einen Kolibri, der über der Trompetenblume mit ihren rosafarbenen,
mösenförmigen Blüten schwebte, und hörte zu, wie sie in den Hörer
raunte. Mit wem redete sie da wohl – mit ihrem Bettgespielen von
morgen?
Wie ein Wirbelwind kam sie ins Schlafzimmer
zurück, ihre Hüften schoben sich schwungvoll hin und her, und sie
setzte sich rittlings auf den weißen Hügel seines Knies. Er
wartete, bis sie sich eine Zigarette vom Nachttisch geholt und
angezündet hatte, dann fragte er sie: »Und was macht deinMann – er
ist noch nicht aus dem Krieg zurück, oder?«
»Wer, Tom?« Sie wackelte mit dem Unterleib und
rieb sich an ihm, an seinem Knie, und er konnte ihre Wärme und
Nässe dort fühlen. »Der kommt nie zurück – hat viel zuviel Spaß
dabei, den Huren von Asiago seinen Ballermann zu zeigen.«
»Weiß er, was du tust? Ich meine, daß du
ihm...«
»Was? Daß ich ihm untreu bin? Ist das das
richtige Wort?«
Er suchte ihren Blick nach einem Signal ab,
aber der war ebenso gläsern und distanziert wie immer. Sie zuckte
nur die Achseln und verschob ihre Schenkel, um sich der Krümmung
seines Knies anzupassen. »Ja«, sagte er, »ich denke schon.«
»Was glaubst du wohl?«
Was glaubte er? Er war leicht schockiert, sonst
nichts, über die lockere Moral, die sie hatte – und ihr Mann
offenbar auch. Er würde sich jedenfalls mit so etwas nicht
abfinden, nicht wenn er drüben in Italien wäre und gegen die Hunnen
oder die Österreicher oder gegen wen auch immer kämpfte. Er sagte
nichts, aber sie musterte ihn prüfend, rieb sich jetzt an seinem
Schienbein, ein schmales Lächeln, kurzes Haar, sanft schwingende
Brüste.
»Sollte ich mich lieber im Kloster einsperren,
bis der große Krieger wieder heimkehrt?«
Nein. Oder doch. Aber er war bereits weiter mit
seinen Gedanken, und ihm wurde klar, daß sie und ihr Mann ihm
völlig egal waren, und auch, was sie mit ihren jeweiligen
Unterleibern anfingen – er dachte an dieses halb-italienische Baby
im Kinderwagen und an das blasse, fragende Gesicht auf dem
zerknüllten Photo. »Kann ich dich mal was fragen?«
Sie zog eine Miene, die er nicht entschlüsseln
konnte, und er spürte, wie sich ihr Körper anspannte, obwohl sie
gleichgültig sagte: »Klar, frag ruhig« und dabei den Rauch in zwei
nach oben trudelnden Ringen durch die Nase ausstieß.
»Ich überlege gerade – du hast keine Kinder,
oder? Zur Welt gebracht, meine ich?«
»Ich?« Sie lachte auf. »Kannst du dir mich als
Mutter vorstellen?Komm schon, Eddie.«
»Aber wie...?«
»Aha«, sagte sie und drehte sich weg, um die
Zigarette in dem schmiedeeisernen Aschenbecher auf dem Nachttisch
auszudrükken, »jetzt weiß ich, woher der Wind weht. Sie hat ihr
Baby gekriegt, stimmt’s, dein kleines Bauernmädel?«
Er konnte ihr nicht in die Augen sehen.
»Ja.«
»Und es ist von dir?«
»Ja.«
Und dann lachte sie wieder, und dieses Lachen
ärgerte ihn, ließ ihn jenen Funken Zorn verspüren, der ihm immer
geradewegs in die Hände zu fahren schien. »Du findest das
witzig?«
Als Antwort warf sie sich auf ihn, drückte
seinen Kopf ins Kissen und zwang ihm einen Kuß ab, der eher ein Biß
war, dann rollte sie von ihm weg und lag mit gespreizten Beinen auf
dem Rücken neben ihm. »Ja, das finde ich«, sagte sie. »Und es ist
witzig, weil du selbst noch ein Baby bist, wie neugeboren, und du
strampelst noch. Klar, sieh mich ruhig so komisch an, halt dich
nicht zurück, aber um deine Frage zu beantworten: ich verwende ein
Mensinga-Pessar, Eddie«, und sie griff sich zwischen die Beine, um
es ihm zu zeigen.
Und jetzt war er ehrlich schockiert, sogar ein
wenig erschrocken. Sie hielt das Ding hoch, so daß er es sehen
konnte, eine schwarze Gummikappe, glänzend und schmierig von ihren
Körpersäften – und seinen. Es war gottlos, das war es, eine
Mordwaffe, eine Todsünde, die man sehen und fühlen und in den
Händen halten konnte.
»Das gibt’s in vierzehn Größen«, sagte sie und
genoß den Moment und den Ausdruck auf seinem Gesicht. »Das einzige
Problem ist nur«, jetzt spielte sie das kleine Mädchen und drückte
sich wieder gegen seinen Körper, »man muß nach Holland fahren, um
eins zu kriegen.«
Die Regenfälle in diesem Winter schienen
ungewöhnlich heftig, im Februar ließ ein Unwetter an einem einzigen
Tag zweihundert Liter Wasser pro Quadratmeter über der Stadt
niedergehen, wo man jeden Saloon, Imbiß, Friseursalon,
Lebensmittelhandel und Zigarettenladen mit Sandsäcken abgedichtet
hatte, und verwandelte die untere State Street in einen Sturzbach
aus brodelndem Schlamm, der die Erdgeschosse aller Wohnhäuser und
Geschäfte überflutete. Der dunkle, saugende Strom, der diesen
Schlamm vor sich her trug, riß eine wahre Flotte von Automobilen
ins Meer hinaus, wo die anbrandenden Wogen die Hafenmauern unter
Beschuß nahmen und die Hälfte der dort vertäuten Boote so lange
gegen den Strand warfen, bis nichts als zersplittertes Holz von
ihnen übrig war. Der Himmel flatterte wie ein zerfetztes Bettlaken,
grau geworden vom vielen Benutzen, an der Leine.
O’Kane genoß es, zu Anfang jedenfalls. Ihm
fehlte das Wetter – richtiges Wetter, die Nordoststürme, die am
Hafen von Boston vom Meer hereinpfiffen, die Gewitter, die den
Sommerhimmel in Brand steckten und die Temperatur um zehn Grad
fallen ließen, während man kaum mit dem Finger schnippen konnte –,
doch nachdem er sich ein neues Paar Stiefel so ruiniert hatte, daß
er sie wegwerfen konnte, und eine Woche lang seinen Schnaps in
einer Chinesenkneipe bestellen mußte, weil bei Menhoff der Schlamm
fünfzehn Zentimeter hoch stand und die Stuhlbeine hinaufkroch,
reichte es auch ihm langsam. Es regnete immer weiter, und jeder
empfand es als Belastung, sogar Mr. McCormick, der verkündete, er
werde noch verrückt, wenn er nicht bald die Sonne sähe. Es war eine
Prüfung, eine echte Prüfung, aber der Regen ließ dann den Frühling
nur um so süßer erscheinen, und im März war es kaum zu glauben, daß
ein einziger Tropfen gefallen war oder je wieder fallen
würde.
Dolores Isringhausen fuhr zurück nach New York,
am Morgen nach dem St. Patrick’s Day (den sie nicht mit O’Kane
verbrachte), Giovannella wurde allmählich wieder nett zu ihm und
ließ ihn sogar ein paarmal ins Haus, wenn Guido nicht da war, damit
er das Baby von nahem bewundern konnte, allerdings ohne Küssen und
ohne Anfassen, und auch Mr. McCormicks Zustand besserte sich so
sehr, daß er zumindest fünfzig Prozent der Zeit mehr oder weniger
vernünftig war – obwohl Dr. Brush nicht mehr aktiv intervenierte,
sondern nur wieder strikt beaufsichtigte. Oder vielleicht gerade
deshalb. Man sollte den Mann einfach in Ruhe lassen, so lautete
O’Kanes Philosophie – wenn er zwei Stunden lang duschen wollte,
dann sollte er es tun dürfen. Warum auch nicht? Schließlich mußte
er keinen Zug erwischen.
Und dann wurde es Juni, und Dr. Brush, mit all
seinen einhundertachtundvierzig Kilo, erhielt die Einberufung zum
Dienst für das Vaterland hinter den Frontlinien beim US-amerikanischen Expeditionskorps in Europa. Er
ließ seine Frau mit einer Cousine (ihrer) im Haus in der Anapamu
Street zurück, führte ein längeres Gespräch mit Mr. McCormick über
Pflicht, Patriotismus und Kriegsführung, dann machte er sich auf
den Weg zum Bahnhof, das einzige Mitglied des
McCormick-Therapieteams, das zum Wehrdienst einberufen wurde. Sie
stationierten ihn in England, und O’Kane stellte ihn sich vor, wie
er morgens ein englisches Frühstück mit zwei Kannen Tee
hinunterspülte und sich anschließend im Schatten der Ulmen zu einem
Haufen einbeiniger Veteranen mit Grabenkoller setzte und sie
fragte, ob ihre Väter sie verprügelt hätten.
Wie sich herausstellte, sollte Brush knapp über
zwei Jahre lang fort sein, und obwohl er nicht allzuviel zustande
gebracht hatte, soweit O’Kane die Sache beurteilen konnte,
höchstens per Zufall, bestanden die McCormicks – und Katherine –
auf einem Ersatzmann, und zwar dem besten, der für ihr Geld zu
haben war. Oder zu mieten. Dr. Meyer nahm persönlich den weiten Weg
auf sich und brachte den Interimsarzt mit, einen Dr. August Hoch,
der ihm als Leiter des Pathologischen Instituts von New York
nachgefolgt war. Hoch war Deutscher, ein Kraut – bis auf Hamilton
und Brush waren diese Seelenklempner anscheinend alle Krauts, denn
die hatten die Seelenklempnerei ja erfunden. Nur gab es im Land zu
dieser Zeit eine Menge antideutscher Gefühle, begreiflicherweise,
und das erleichterte es O’Kane nicht gerade, sich bei Menhoff an
der Bar wohl zu fühlen, da jedermann in der Stadt wußte, daß ihm
ein Kraut die Befehle gab. Einmal in einem Imbiß mußte er sogar mit
einem Typen den Boden aufwischen, der Dolores Isringhausen ein
Hunnenweib genannt hatte, dabei war die Ironie der Geschichte, daß
sie gar keine Deutsche war – mit Mädchennamen hieß sie
Mayhew.
Aber Dr. Hoch war in Ordnung. Er war ein
scharfsinniger alter Knacker mit grauem Backenbart und einer dünnen
weißen Narbe, die einen häßlichen Bogen von knapp unter seinem
linken Auge zum Drehpunkt seines Kiefergelenks beschrieb. O’Kane
war an dem Tag dabei, als Meyer und Hoch zu Mr. McCormick
hineinmarschierten, der gerade von seinem Morgenspaziergang
zurückkehrte – einer gewundenen, vielfach verästelten Route zu den
Indianergründen und wieder zurück. Mr. McCormick stand allein in
der Ecke und hielt eine private Konferenz mit seinen Richtern ab,
und Dr. Meyer, den Mr. McCormick von den halbjährlichen Besuchen
gut kannte, ging schnurstracks auf ihn zu und sagte, er wolle ihm
gern jemanden vorstellen. »Oder«, fügte er hinzu, mit einem Akzent
so dick wie Melasse, »vielleicht erinnern Sie sich noch an ihn,
ja?«
Mr. McCormick verließ seine Richter und wandte
sich langsam um, sein Blick ging mechanisch von Dr. Meyers
schwarzbärtigem zu Dr. Hochs graubärtigemGesicht. Dr. Meyer schien
er zu kennen, und das war gut und schön, doch Hoch blieb ihm
offenbar ein Rätsel. Seine Augen zeigten irgend etwas – ein Funken
des Wiedererkennens? Angst? Verwirrung? –, doch O’Kane konnte es
nicht entziffern.
»Vielleicht sollte ich Ihrem Gedächtnis
nachhelfen«, fuhr Dr. Meyer fort und federte auf den Fußsohlen, als
wollte er gleich ein akrobatisches Kunststückchen aufführen. »Sie
erinnern sich doch noch, daß Dr. Hoch Sie im Jahr 1907 einmal
untersucht hat, als Sie ein Gast im McLean waren, aber eventuell
haben Sie es ja vergessen, weil es Ihnen damals nicht so gut ging
wie heute, ja?«
Dr. Hoch trat vor, ein mickriger Bursche in
einem formlosen grauen Anzug, der sich Schnurr- und Backenbart so
lange hatte wuchern lassen, daß sie ihm bis auf den Kragen
herabhingen und völlig den Hals verdeckten. Seine Narbe blitzte im
Morgenlicht auf wie ein Rinnsal aus getrocknetem Speichel oder wie
die Spur, die eine Nacktschnecke auf einem Stein hinterläßt,
silbrig und kaum merklich schimmernd. »Wie geht es Ihnen, Mr.
McCormick?« fragte er mit einer angedeuteten Verbeugung, und er
streckte die Hand nicht aus, bis Mr. McCormick ihm automatisch
seine reichte. »Es ist mir ein großes Vergnügen, Sie wiederzusehen,
ja?« Sein Akzent war noch stärker als Meyers.
Mr. McCormick hielt Dr. Hochs Hand lange Zeit
fest – so lange, daß O’Kane schon überlegte, ob er dazwischengehen
und seinen festen Griff lockern sollte –, und zweimal hob er die
freie Hand, wie um die Narbe im Gesicht des Arztes zu berühren,
doch er ließ sie jedesmal wieder sinken. »Aha«, sagte Dr. Hoch
schließlich, »wie ich sehe, interessieren Sie sich für meine Narbe,
ja?«
Mr. McCormick ließ die Hand des Doktors los und
hüpfte ein wenig herum, stampfte mit den Füßen auf und schüttelte
die Hände, als wären sie naß, bevor er sie verlegen in die
Hosentaschen steckte. Er baute sich vor dem Arzt auf, der nicht
viel größer als einszweiundsechzig oder einsdreiundsechzig sein
konnte. Offenbar wollte er etwas sagen, biß sich dann aber auf die
Zunge, starrte Dr. Hochs Gesicht an und sah fasziniert zu, wie Hoch
mit der Fingerspitze die Narbe nachfuhr.
»Das hier«, sagte Hoch, »nennen wir in
Deutschland einen Schmiß. Von einem Duell aus meiner Studentenzeit.
Sehen Sie, es galt als kosmetische Attraktion für die Damen, als
ein Zeichen der Männlichkeit, vielleicht auch als Ehrenmal, aber
natürlich war das damals alles Narretei, die Eitelkeit der Jugend,
und ich weiß auch gar nicht, ob die heutigen Studenten diesen – wie
sagt man, ›Ritus‹? – noch pflegen.« Und dann sagte er etwas auf
schnellfeuerdeutsch zu Meyer, der ebenso rasch
zurückbrabbelte.
»Ach so. Herr Doktor Meyer sagt mir soeben, daß
dieser Brauch nicht mehr so häufig praktiziert wird wie ehedem.« Er
starrte zu Mr. McCormick auf, wie ein Gnom im Wald zu einem Riesen
– und Mr. McCormick war ein Riese, trotz seiner gekrümmten
Schultern, die ihn manchmal geradezu gebückt wirken ließen, je nach
der Härte der Bestrafung, die seine imaginären Richter ihm
auferlegten. »Möchten Sie sie gerne anfassen?« fragte der Arzt, und
seine Augen funkelten.
Und Mr. McCormick, der körperlichen Intimitäten
keinesfalls zugeneigt war und während der ganzen Zeit, die O’Kane
ihn kannte, außer im Zorn noch nie jemanden berührt hatte, hob
tastend die Hand, um Dr. Hochs Wange mit zwei bebenden Fingern zu
erforschen. Wieder und wieder fuhr er den Bogen der Narbe nach,
sehr behutsam, so als ob er eine Katze streichelte. Es war ein
seltsamer Anblick: Mr. McCormick streichelte den Doktor, der sich
der Berührung fügte, im Zimmer war es so still, daß man hätte
meinen können, sie wären in einer ägyptischen Grabkammer
eingeschlossen. Mr. McCormick sah aus, als wollte er etwas sagen,
die Lippen zuckten stumm, ehe er seine Stimme fand. »Dann ist es –
ist es«, stammelte er, zog die Hand wieder weg und steckte sie in
die Tasche, »ist es also doch möglich.«
»Möglich?« Dr. Hoch stand reglos da, nur
Zentimeter vor ihrem vornübergebeugten, zitternden Arbeitgeber
entfernt, und sah ihm unverwandt in die Augen. Dr. Meyer sah O’Kane
fragend an, doch O’Kane war ebenso verblüfft. Das war etwas Neues,
das mit dem Anfassen, und man mußte abwarten, was daraus
wurde.
»Ein... ein Mann zu sein«, sagte Mr. McCormick,
und dann gab er eine seiner Nonsense-Formeln zum besten:
»Ein-Schlitz, ein-Schlitz, ein-Schlitz.«
»Ja, ja, das ist möglich«, sagte Dr. Hoch. Sein
Gesicht war ein Netz aus feinen Fältchen, gerafft und geballt um
diesen einen gewaltigen silbrigen Schmiß, und er stellte keine
Fragen über Mutter oder Vater, dröhnte keine Platitüden heraus – er
wartete einfach nur ab.
»Mit einer Rasierklinge, meine ich.« Mr.
McCormick stand jetzt aufrecht und blickte sich im Zimmer um, als
sähe er es in einem neuen Licht. »Wenn, wenn Eddie und Mart mich
rasieren, dann ist das gefährlich, wenn man sich schneidet, aber es
kann, man kann...«
Der kleine Doktor nickte. »Das stimmt«, sagte
er.
»Ich meine... was ich meine, ist – wenn ich
mich hier schneide« – er berührte nochmals die Narbe des Arztes –,
»dann, dann würde es bald verheilen, und i-ich hätte auch so eine
Narbe.« Er wippte auf den Fersen. »Aber hier«, sagte er und fuhr
sich dabei mit dem Zeigefinger über die Kehle, »hier ist es sehr...
gefährlich. Und hier« – er zeigte nach unten –, »hier ist man dann
kein... kein Mann mehr.«
»Aber Mr. McCormick«, mischte sich O’Kane ein,
»wir benutzen immer einen Sicherheitsrasierer, das wissen Sie
doch...«
Hoch sah Meyer an. Meyer sah Hoch an. Mr.
McCormick richtete sich auf, bis seine Schultern völlig gerade
waren und er ein Musterbeispiel guter Haltung abgab. Er wartete,
bis er sicher sein konnte, O’Kanes Aufmerksamkeit zu haben, und die
der beiden Ärzte ebenso, dann sagte er mit klarer, fester,
unerschütterlicher Stimme: »Ja, Eddie, ich weiß.«
Soso. O’Kane war beeindruckt – und all das
wegen einer Narbe –, dachte aber nicht weiter darüber nach, während
der Sommer in den Herbst überging, das Kriegsgeschehen jede
Unterhaltung beherrschte und Giovannella allmählich wieder wärmer
und netter und zugänglicher wurde und sich an den
Samstagnachmittagen davonstahl, um mit ihm auf einer Matratze in
der Garage hinter Pats Haus herumzukugeln, während das Baby seine
Rassel schwenkte und mit Beinchen und Ärmchen strampelte. Der
Schmißträger, Dr. Hoch, ging inzwischen sehr geduldig mit Mr.
McCormick um – kein dummes Zeug wie diese Redekur –, er blieb den
ganzen Tag lang bis in den Abend bei ihm, widmete ihm mehr Zeit als
O’Kane oder Mart oder sonst irgendwer in Riven Rock. Meistens saß
er einfach nur neben Mr. McCormick, leicht zerzaust und onkelhaft,
las ihm dann und wann etwas Interessantes aus einem Buch oder einer
Zeitschrift vor, ging mit ihm zum Theatergebäude hinüber und zurück
oder begleitete ihn auf seinen Spaziergängen. Manchmal hockten die
beiden stundenlang beisammen und sprachen kein Wort, dann wieder
war Mr. McCormick geradezu schwatzhaft und plapperte immer wieder
über die Mähmaschine – »das Erntewunder« nannte er es, nach
irgendeinem Buch über seinen Vater –, über seine zwei Brüder und
die schreiende Notwendigkeit von Wohlfahrtseinrichtungen und
Reformen in dieser kalten, hartherzigen Welt.
Sie sprachen auch über den Krieg, und das war
einigermaßen seltsam, in O’Kanes Augen jedenfalls, denn da saßen
ein amerikanischer Millionär und der Prototyp des Hunnen Seite an
Seite beieinander, doch sie gerieten nie in Streit oder wurden auch
nur laut bei dem Thema, nicht daß O’Kane sich erinnerte. Die
Kriegsnachrichten tröpfelten den ganzen Winter hindurch nach Riven
Rock, oft mit mehrtägiger Verspätung, über die Zeitungen von
Chicago, Los Angeles und Santa Barbara, und in diesen Blättern
fanden sich auch Neuigkeiten über Katherine. Sie war dieses Jahr –
1917 – und auch das nächste über in Washington, wo sie Mitglied des
vom Präsidenten handverlesenen Frauenausschusses für
Landesverteidigung war, der sich mit allen möglichen
Angelegenheiten in Zusammenhang mit dem Krieg beschäftigte, ob es
nun darum ging, Frauen zum Verkaufen von Kriegsanleihen einzuteilen
oder sich diese patriotischen Plakate auszudenken, die man überall
sah. Ungefähr einmal im Monat schickte sie Mr. McCormick
detaillierte Karten der Westfront, auf denen sämtliche Kampflinien
und Schützengräben eingezeichnet waren. Diese studierte er
stundenlang, gab Kommentare über Orte ab, die er während seiner
Flitterwochen besucht hatte, und malte allerlei lustige Figuren
hinein, die Armeen, Geschützstellungen oder Marine-, Kavallerie-
und sogar Luftwaffeneinheiten darstellen sollten.
Eine Zeitlang, besonders im Sommer und Herbst
des folgenden Jahres, gehörte der Krieg zu seinen liebsten fixen
Ideen, in die er nicht nur Dr. Hoch, sondern auch O’Kane hineinzog.
Wenn die Armeen vorstießen oder den Rückzug antraten, radierte er
sorgfältig seine Figuren und Symbole aus, verschob die Linien nach
vorn oder hinten und zeichnete dann alles wieder neu ein. Die
Offensive von Amiens analysierte er in sämtlichen Details, und nie
war er klarer und artikulierter gewesen, nicht seit seinen Tagen im
McLean, als er noch Golf gespielt hatte, und als die Zeitungen im
September den amerikanischen Sieg bei St. Mihiel meldeten,
paradierte er stundenlang durch den oberen Salon, schüttelte die
Fäuste und gab beängstigende Imitationen vom Heulen und Krachen
eines Bombardements von sich, während der kleine Doktor ihm ohne
jeden Ausdruck in seinem narbigen Gesicht dabei zusah.
Katherine kehrte im Dezember 1917 über die
Feiertage zurück, und damit kam die Sache mit der Narbe wieder aufs
Tapet. Wegen ihrer Aufgaben im Verteidigungsausschuß kam sie erst
spät, traf gerade zwei Tage vor Weihnachten in Kalifornien ein. Sie
wirkte müde und abgekämpft, und als sie im Theatergebäude unter
einem kolossalen Kranz aus Stechpalmen- und Mistelzweigen Geschenke
an die Angestellten verteilte, sah sie alt aus. Jedenfalls
älter. O’Kane beobachtete sie – sie war
immer damenhaft, immer perfekt, aus dem klarsten und kältesten Eis
geschnitzt – und versuchte, ihr Alter zu schätzen. Sie mußte jetzt,
was, einundvierzig sein? Oder zweiundvierzig? Aber zum erstenmal
zeigte sich das jetzt auch – nichts Weltbewegendes; eine alte
Vettel war sie noch lange nicht, aber zu sehen war es doch. Ihre
Kleider waren so prächtig wie immer, aber es war die Mode von
gestern, der schwere Faltenwurf der Suffragette und der Matrone,
kein Vergleich mit den sparsamen Satinkleidchen einer Dolores
Isringhausen oder dem wandelnden Glanz einer Giovannella. Sie wurde
alt, aber so erging es jedermann, sogar dem Glückspilz Eddie
O’Kane, der im März sechsunddreißig werden würde. Und er spürte es
schmerzhaft, als er zu ihr herantrat und sie ihm die Hand drückte,
ihm seinen Briefumschlag und ein Lächeln schenkte, das nichts zu
bedeuten hatte, weder Ja noch Nein, und er wünschte sich beinahe,
sie würde wieder mit der Peitsche knallen, damit sie alle wieder
von vorn anfangen könnten, voll neuer Hoffnung.
Am nächsten Tag jedenfalls, am Heiligabend, kam
sie früh nach Riven Rock, mit Stapeln von Geschenken und Kuchen
beladen, und rief ihren Mann vom Erdgeschoß aus an, um mit ihm zu
plaudern und ihm frohe Weihnachten zu wünschen. O’Kane spielte
gerade Domino mit Mart, als das Telephon klingelte und Dr. Hoch den
Hörer abnahm. »Für Sie, Mr. McCormick«, sagte er, und seine Augen
waren naß und groß. »Es ist Ihre Frau.«
Mr. McCormick brauchte eine geschlagene Minute,
bis er genug Dampf hatte, um durchs Zimmer zu dem Arzt zu gehen,
der ihm das Telephon entgegenhielt, und als er sich doch in
Bewegung setzte, verfiel er in seine alte
Zwei-Schritte-vor-und-einen-zurück-Technik, ließ die Schultern
hängen und zog ein langes Gesicht, sein rechtes Bein war plötzlich
lahm geworden und schleifte hinter ihm her wie in einem
Verwundeten-Tango. Als er den Apparat endlich erreichte, den Hörer
zum Ohr hob und sich zum Mundstück hinabbeugte, da hatte er nicht
viel mehr zu sagen als ein feuchtes, halb verschlucktes Hallo. Das
Reden schien gänzlich sie zu übernehmen. Zunächst jedenfalls.
Dr. Hoch ließ sich in diskreter Entfernung
bequem in einem Sessel nieder, und O’Kane und Mart setzten ihr
Spiel fort, doch alle drei hörten sie zu, natürlich taten sie das –
wenn nicht aus therapeutischen Gründen, dann aus reiner Neugier;
und außerdem, um ein wenn auch noch so kleines Loch in das
engmaschige Netz ihrer Langeweile zu reißen.
Nachdem das Gespräch fünf Minuten gedauert
hatte, ertönte plötzlich Mr. McCormicks Stimme mit einem
froschartigen Quaken. »Hast du Dr. HochsNarbe gesehen?«
Es folgte eine Pause, in der sie antwortete,
und wenn O’Kane sich anstrengte, durch das Knacken des Feuers und
die übrigen Geräusche des Hauses zu horchen, nahm er das
allerleiseste Wispern am anderen Ende der Leitung wahr, und das war
komisch – sie hätte ebensogut auf der anderen Seite der Welt sein
können, so leise klang ihre Stimme, dabei stand sie nur eine Etage
weiter unten. Auch für Mr. McCormick mußte das seltsam sein, denn
er wußte so gut wie jeder andere, wo sie war. Andererseits war er
wohl daran gewöhnt, dachte O’Kane. Sicher. Aber sich an so etwas zu
gewöhnen – gewöhnen zu müssen –, das war, wie wenn sich ein
Zuchthäusler in Einzelhaft in die Maus verliebt, die seine Zelle
mit ihm teilt, oder ein Galeerensklave das Gefühl des Ruders in
seiner Hand schätzen lernt.
Jetzt aber erzählte Mr. McCormick etwas über
Schnittwunden, und wieder schlich sich sein Singsang hinein:
»Ein-Schlitz, ein-Schlitz, ein-Schlitz.« Dann sagte er: »Ich könnte
mich auch schneiden. B-beim Rasieren. In den Hals. Schon mal daran
gedacht?«
Sie erwiderte irgend etwas, ein kaum hörbares
mechanisches Krächzen. Das Feuer knisterte. Mart streckte sich, und
etwas in seinen Schultern knackte.
»Du bist in Washington!« rief Mr. McCormick auf
einmal. »Mit anderen M-Männern! Du bist ganz allein in Washington,
stimmt’s? Ich weiß, daß es so ist, und hast du auch gehört, was
S-Scobble mit seiner Frau angestellt hat, oder – oder beinahe
angestellt hat, weil sie... weil sie ihm UNTREU war?« Die letzten Worte brüllte er so
laut heraus, daß der Doktor zusammenfuhr und O’Kane sich
beherrschen mußte, um nicht aufzuspringen und nervös im Zimmer
herumzugehen.
Sie antwortete ihm etwas, versuchte ihn zu
besänftigen: Aber Stanley, das weißt du doch
besser...
»Weißt du es?«
Schweigen am anderen Ende. Offenbar wußte sie
es nicht.
Und dann, mit ebenso gelassener wie klarer,
fester Stimme, zitierte er ein zotiges Gedicht:
Auf sein untreues
Weibstück schlägt Scobble wild ein,
Und droht mit dem Messer zu bereiten ihr Pein.
»Nein, lieber Scobble, du darfst mich nicht stechen –
Ein Schlitz reicht aus zum Ehebrechen.«
Und droht mit dem Messer zu bereiten ihr Pein.
»Nein, lieber Scobble, du darfst mich nicht stechen –
Ein Schlitz reicht aus zum Ehebrechen.«
Dann blieb er reglos lange Zeit mit dem
Telephon in der Hand stehen, und ob Katherine darauf etwas
antwortete oder nicht, erfuhr O’Kane niemals, denn ihm fiel gerade
das Herz in die Hose und seine Augen brannten auf einmal, als hätte
er Ätznatron darin. Er hatte nie viel darüber nachgedacht, daß Mr.
McCormick hier in seinem Elfenbeinturm eingesperrt und sie dort
draußen in der weiten Welt war, aber natürlich war sie ihm untreu,
wie konnte es anders sein, Eisprinzessin oder nicht? Es ging schon
gut zwölf Jahre so. Und wie konnte irgendeine Frau so lange ohne
auskommen?