Angeschirrt
Die zweite Frau, die Stanley McCormick je
im Evaskostüm sah, war eine französische Straßendirne namens
Mireille Sancerre, deren Unterwäsche von einem so intensiven Rot
war, daß sie im gedämpften Licht ihres Zimmers plötzlich wie ein
Mohnblumenfeld erstrahlte. »Hast du Spaß vielleicht bei Zusehen?«
raunte sie, während er wie gelähmt auf ihrem nach Patchouli
duftenden Bett lag und zusah, wie diese luftigen seidigen Sachen
von ihr abfielen, um das Weiße in ihrer Mitte freizulegen, jenes
Weiße, das er erwartete und fürchtete und begehrte. Er war zwanzig
Jahre alt, seit vier Monaten Absolvent der Princeton University und
der neue Schüler im Atelier von Monsieur Julien in der Rue de
Clichy auf dem Montmartre. Sein Bruder Harold, der im Juni
gemeinsam mit ihm das Studium abgeschlossen hatte, hatte
anschließend Edith Rockefeller geheiratet, und Nettie McCormick,
die Stanleys Enttäuschung spürte, hatte ihn auf eine Rundreise
durch Italien und zu den antiken Stätten Europas mitgenommen, um
ihn abzulenken. Sie kamen prächtig miteinander aus, Stanley und
seine Mutter, sie genossen die Gelegenheit, nach der Trennung durch
das Studium wieder einmal zusammenzusein, nur gerieten sie in
Streit wegen Stanleys Idee, nach der Reise noch ein paar Monate in
Paris zu bleiben, um dort zeichnen zu lernen. In Netties Augen war
die verderbteste und verruchteste Stadt Europas wohl kaum der Ort,
an dem ihr jüngstes Kind sich zum erstenmal in seinem Leben eine
eigene Wohnung nehmen sollte, während Stanley argumentierte, Paris
sei schließlich Angelpunkt und sine qua non der Kunstwelt, und ins
Feld führte, daß er vielleicht nie wieder eine solche Gelegenheit
bekommen könnte.
»Mutter«, rief er, sein Mienenspiel wechselte
rasch, und seine Augen schwirrten wie wahnsinnige Hornissen herum,
während er quer durch die vergoldete Weite ihrer Suite im Hotel
Élysee Palace hin und her wanderte, »das ist die Chance meines
Lebens, meine einzige Gelegenheit, bei einem französischen Meister
zu lernen, bevor ich nach Chicago zurückkehre und mich wieder ins
Geschirr spannen lasse. Ich bin erst zwanzig. Und ich werde mit
Mähmaschinen zu tun haben, bis ich sterbe.«
Nettie saß in ihrem Sessel wie auf einem Thron,
die Lippen fest zusammengepreßt. »Nein.«
»Aber Mutter, wieso
denn nicht? Bin ich nicht brav gewesen? Habe ich nicht gute
Leistungen im Studium geschafft und dich stolz gemacht? Ich war
besser als Harold – hundertmal besser. Und jetzt bitte ich dich nur
um diese kleine Sache.«
»Nein.«
»Bitte!«
»Nein. Und das ist endgültig. Du kennst sehr
wohl die Versuchungen, die einen jungen Mann von gutem Charakter in
einer Stadt wie dieser tagtäglich bedrängen, einem Ort, der in
meinen Augen schon immer voll war von Ausländern übelsten Leumunds,
mit all ihren obszönen und frevelhaften Ansichten und ihrer
verhöhnenden Einstellung gegenüber einem moralisch einwandfreien
Lebenswandel, und glaube keine Minute lang, daß ich nicht gesehen
habe, wie diese schweinsäugigen Franzosen uns hinter unserem Rücken
verlachen... Und deine Gesundheit? Hast du daran gedacht? Wer soll
dich denn pflegen, wenn das ägyptische Fieber dich wieder anfällt –
du bist noch geschwächt davon, das weißt du, deine Gesichtsfarbe
wirkt immer noch ziemlich gespenstisch. Na? Was sagst du dazu,
Stanley?«
Er hatte darauf keine Antwort, auch wenn er
seine Gesichtsfarbe ganz gut fand, etwas bleich und bläßlich
vielleicht, aber nicht ungewöhnlich. Er war auf und ab gegangen,
doch jetzt blieb er vor dem Spiegel des Salons stehen und sah ein
Gesicht, das er kaum wiedererkannte, glotzende Augen und
eingefallene Wangen, eine Hagerkeit, die ihn erschreckte –
zugegeben, er sollte wohl tatsächlich etwas von dem Gewicht
zurückbekommen, das er in einem Typhusanfall eingebüßt hatte, aber
wo konnte er das besser als in der kulinarischen Hauptstadt der
Welt?
»Und dein Nervenleiden – was ist damit?«
beharrte seine Mutter. »Nein, ich werde dich nicht hier
zurücklassen, niemals – ich würde die ganze Rückfahrt über vor
Angst halb sterben. Und das würdest du doch nicht wollen,
oder?«
Nein, das würde Stanley nicht wollen, und er
wußte durchaus, wie schwer ihr Herzleiden war und wie sehr sie ihn
brauchte, wie es sie zerreißen würde, auf einmal nicht mehr jeden
Tag mit ihm zusammenzusein, geschweige denn zwei Monate oder
länger, vor allem ausgerechnet jetzt, da Harold und Anita aus dem
Haus waren und sie ganz auf sich selbst gestellt in das große leere
Haus zurückkehren mußte, in dem sie mit den Dienern allein sein
würde, aber jetzt wandte er sich zum erstenmal in seinem Leben
gegen sie. Zwei Wochen lang ließ er ihr keine Ruhe, nicht eine
Minute lang, er beschwor und bestürmte sie, trommelte sich auf die
Brust, schmollte und nörgelte und knallte die Türen, bis auch die
Dienstboten nervös wurden, und schließlich ließ sie sich, wider
bessere Einsicht, erweichen. Sie besorgte ihm eine höchst
angemessene Zimmerflucht bei einer Mrs. Adela van Pele, einer
frommen Presbyterianerin fortgeschrittenen Alters aus Muncie/
Indiana, die ein untadliges Etablissement in Buttes-Chaumont
führte, während ihr Ehemann, der renommierte Wanderprediger Mies
van Pele, auf Borneo am Fluß Rajang die Kopfjäger bekehrte, und sie
sprach ausführlich mit Monsieur Julien, der ihr versicherte, ihr
Sohn werde nur die allerschicklichsten Sujets zeichnen – also
Stilleben und Landschaften, im Gegensatz zu allem, was auch nur
entfernt körperlich wäre. Solcherart zufriedengestellt, weinte
Nettie dennoch und raufte sich die Haare, trat aber die Heimfahrt
an – allein. Und an dem Abend, als seine Mutter abreiste – auf dem
Rückweg von ihrer Verabschiedung, um genau zu sein –, traf Stanley,
dem das Blut in den Ohren pochte, auf Mireille Sancerre.
Vielmehr traf sie auf ihn. Er ging gerade eine
ihm fremde Straße in der Nähe des Gare du Nord entlang, überlegte,
was er als erstes tun sollte, und achtete kein bißchen auf seine
Umgebung. Sollte er im nächstbesten Restaurant, das ihm gefiel,
essen gehen, ohne daß jemand seine Wahl in Frage stellte oder
herabsetzte? Oder im Café bei einem Glas Wein die Passanten
betrachten? Er konnte auch in ein Varieté gehen, zu einer dieser
frivolen Tanzveranstaltungen, von denen er auf dem College soviel
gehört hatte, oder sogar, falls er den Schneid dazu aufbrachte,
einen kleinen Laden suchen und eines dieser Kartenspiele mit den
Bildern auf der Rückseite kaufen und dann verstohlen in sein Zimmer
zurückschleichen, um sie dort in Ruhe zu studieren, bevor Mrs. van
Pele ihn wieder in ihre Fänge bekam und bis zum Schlafengehen
Choräle mit ihm singen wollte.
Natürlich war die Versuchung in ihm ebenso
stark wie der Widerstand gegen seine unreinen Begierden, er dachte
gerade an die fromme Mrs. van Pele und daran, wie nett ihre
Gesellschaft und wie großherzig es von ihr war, seine Stimme zu
loben, als Mireille Sancerre ihn anrempelte. Doch das war kein
gewöhnlicher Rempler, jene zufällige Berührung, wie sie einem im
Opernfoyer während der Pause, in einer Galerie oder im Museum
zustoßen mochte – es war ein Frontalzusammenprall, an dem jede
Menge Fleisch und Knochen beteiligt war: eben noch schlenderte
Stanley wie in Trance die Straße entlang, und im nächsten Moment
war er, Arm in Arm und Brust an Brust, mit einem weiblichen Wesen
verheddert, mit einer jungen Frau, deren gesamtes Repertoire von
Düften nun in seiner Nase explodierte, während ihre riesigen
klimpernden Augen aus den Tiefen ihres Gesichts hervorzuschießen
schienen wie Bojen, die unter Wasser festgehalten und plötzlich
losgelassen worden waren. »Oh, monsieur,
pardon!« stieß sie hervor. »Des milliers de
pardons!«
Und dann, er begriff gar nicht genau wie,
überredete sie ihn im Verlauf weniger Sekunden, sämtliche
Prinzipien über Bord zu werfen, die er sein Leben lang
heiliggehalten hatte, und den letzten Tropfen der moralischen und
religiösen Werte zu vergießen, die er seit seiner Geburt in sich
aufgenommen hatte, und in ihre Wohnung mitzugehen. Es gab keine
Vorstellung durch gemeinsame Bekanntschaften, keine Rezitationen
der Gedichte von Elizabeth Barrett Browning oder Geplauder über die
Familienwappen, keinerlei Präliminarien irgendwelcher Art.
Innerhalb von einhundertachtzig Sekunden nach ihrem Zusammentreffen
war Stanley mit diesem glitzernden Ding am Arm unterwegs, mit
dieser kleinen, angemalten poupée, ohne zu
wissen, wohin es ging, aber bereit, jeden umzubringen, der sich ihm
in den Weg stellen mochte.
»Also«, sagte sie nochmals, während die roten
Stoffetzen von ihr abfielen wie Blütenblätter einer Blume, um zur
Gänze jenes ewige Weiß darunter freizulegen, die durch einen Graben
getrennten Brüste und die Zielscheibe aus schwarzem Haar genau in
der Mitte dieser bleichen Leinwand, »hast du Spaß vielleicht bei
Zusehen?«, und im selben Augenblick verschwanden ihr Zeige- und
Mittelfinger in ihrem Inneren, wie bei einem Zaubertrick,
geradewegs im Zentrum dieser schwarzen Zielscheibe, und er sagte
nein, die Stimme blieb ihm wie eine Klette in der Kehle hängen,
nein, er wolle nicht zusehen, er konnte nicht zusehen, er fühlte
eine Ohnmacht nahen, und das Blut toste in ihm wie dieser berühmte
Wasserfall, an den alle Brautpaare Amerikas in ihren Flitterwochen
fuhren, und könne sie bitte, wolle sie doch bitte... das Licht
ausmachen...
Am nächsten Morgen wußte er nicht, wo er war –
anfangs wußte er nicht einmal, wer er war. Er war ein Wesen der
Natur, das war alles, ein pulsierender Nervenknoten aus
undifferenzierten Empfindungen, und er hatte Augen, so schien es,
die sich öffneten und sahen, und Ohren zum Wahrnehmen der von der
Straße heraufdringenden Geräusche – und einen Unterleib, der ein
vollkommen eigenes Leben zu führen schien. Er sah ein billiges,
billig ausgestattetes Zimmer, leere Weinflaschen auf einer Kommode,
eine Wanne auf dem Fußboden, in der verfärbte Teller eingeweicht
waren, Eier in einem Korb, ein paar Äpfel, ein Band aus
verblichenem Krepp, das die Umrisse der Zimmerdecke nachzog, und
einen wirren Haufen von Frauenkleidern. Lange Zeit starrte er nur
einfach herum und war außerhalb seines eigenen Körpers,
richtiggehend außer sich, denn es gab da einen dunklen Ort in
seinem Inneren, der wußte, was er getan hatte, der es auch genoß,
der es aufsaugen wollte und mehr davon verlangte, er aber
verweigerte diesem dunklen Ort den Weg ans Licht.
Endlich, als die Sonne die Vorhänge voll
erobert hatte, das Fußende des Bettes beleuchtete und eine Serie
von Parallelogrammen auf den Fußboden zog, setzte er sich auf. Er
war allein. Das wußte er zwar von dem Moment an, seit er die Augen
geöffnet und begonnen hatte, die Eindrücke wie ein Schwamm
aufzusaugen, hatte es sich aber nicht eingestehen wollen, weil das
der erste Schritt gewesen wäre, sich an den Namen Mireille Sancerre
zu erinnern. Aber jetzt war er wach und erinnerte sich an den Namen
– er lag auf seinen Lippen wie ein tödlicher Kuß –, und alles, was
er getan hatte, brach mit anklagendem Kreischen über ihn herein. Er
hatte nichts an. Er war nackt. Nackt im Bett einer fremden Frau –
in Mireille Sancerres Bett. Langsam, voller Furcht und einer
vehementen Abwehr, die an Hysterie grenzte, ließ er die Finger
seinen Bauch hinuntertasten bis zu dem Haar zwischen seinen Beinen,
verklebtes und verkrustetes Haar, gebadet von Venussäften, und
dann, in einer Panik von Haß und Verleugnung, zu seinem
Penis.
Sein Penis. Da war er, unversehrt und lebendig,
und er fing in seiner Hand zu wachsen an, bis er in seinen Augen zu
einem schrecklichen, unbeherrschbaren Ding wurde, die Bohnenstange
aus dem Märchen, die mitten durchs Dach wuchs und hinauf in die
Weiten des Himmels, und er nahm die Hand schnell wieder weg.
Oh, was hatte er getan, was hatte er nur
getan? Er war verdorben. Verworfen. Verflucht zu Hölle und
ewiger Verdammnis. Er wünschte, er wäre wieder auf dem College, in
der Sicherheit seines Zimmers, mit seinen Büchern und
Footballtransparenten und seinem Ledergeschirr – das er sich selbst
gebastelt hatte, als er die Sünde der Selbstbefleckung entdeckte.
Er war damals erst im zweiten Semester, aber so hatte alles
angefangen – und dies war nun das Ende, das ganze Leben wurde
schmutziger und immer schmutziger und jeder Mensch zum Tier, das
sich darin suhlte. Als er das erstemal beim Erwachen das feuchte
Zeugnis seiner Verderbtheit auf dem Bettlaken vorgefunden hatte,
war er sofort in die nächstbeste Sattlerei gegangen und hatte dort
ein Zaumzeug und diverse Werkzeuge zur Lederbearbeitung erstanden.
Er hatte alle Vorlesungen ausgelassen und war mit Vehemenz ans Werk
gegangen, hatte sich durch Versuch und Irrtum gearbeitet und jedes
Quentchen seines perfektionistischen Eifers hineingelegt, bis er,
zur Abendessenszeit, fertig war: zwei Handfesseln und zwei für die
Fußgelenke, verbunden durch die verknoteten Lederbänder der
gekürzten Zügel, und er trug es von nun an jede Nacht, dieses
Geschirr, damit er sich nie wieder berühren würde – und konnte –,
während er schlief und träumte oder in der benommenen, sinnlichen
Vorhölle der Dämmerung wach lag. Und wie sehr er doch wünschte, er
hätte sein Geschirr auch jetzt dabei...
Aber es war zu spät. Natürlich war es das. Das
Schlimmste war passiert, er hatte seinen bestialischen Instinkten
nachgegeben und eine Frau mißbraucht, er hatte Mireille Sancerre
entehrt, und es gab nur eine einzige Möglichkeit: er mußte sie
heiraten. Um ihre Seele zu retten und seine eigene. Ja, natürlich.
Die einzige Möglichkeit. Diese Eingebung verlieh ihm neue Kraft,
und mit einem Satz sprang er aus dem Bett und tastete nach seinen
Sachen – wie spät war es eigentlich? Irgendwie fand er weder seine
Uhr noch die goldene Krawattennadel, die seine Mutter ihm zum
Examen geschenkt hatte, mit den drei blitzenden Saphiren, von denen
sie immer sagte, nur seine blauen Augen seien noch schöner... und
als er die Hand in Hose und Jackett steckte und seine Taschen
abklopfte, da stellte er staunend fest, so wie jemand, der von
einem Eisenbahnunglück davonwankt, daß auch die Brieftasche
verschwunden war. Aber natürlich, er begriff augenblicklich, daß
Mireille Sancerre sich seine Barschaft angeeignet hatte, als
Anzahlung auf die Hypothek ihrer Entehrung, und sie hatte auch
jedes Recht darauf, jedes Recht auf alles, was er besaß... Immerhin
war sie ja nun die eine, die einzige: sie würde seine Frau
werden.
Stanley blieb den ganzen schleppenden Vormittag
und den ganzen hinfälligen Nachmittag hindurch in ihrem Zimmer, er
hatte Angst, sich auf der Straße zu zeigen, die Schande lauerte in
seinem verderbten Blick und auf seinem sinnlichen Mund, und obwohl
sein Durst groß genug war, daß er für einen einzigen Tropfen Wasser
meilenweit gekrochen wäre, und der Hunger ihn so zerfraß, daß er
sich fühlte wie ein irrsinniges heulendes Raubtier im Dschungel,
erhob er sich nicht von diesem Bett. Irgendwann am späten
Nachmittag war er plötzlich wieder in der Schublade des
Wäscheschranks am Tag vor dem Begräbnis seines Vaters, und dort
beschimpfte ihn eine scharfe, krächzende Stimme, eine körperlose
Stimme, die ihm das Fleisch von den Knochen schälte, und er hätte
sich nicht rühren können, selbst wenn ihm danach gewesen wäre. Die
Sonne zog vorbei, wurde blasser und erstarb. Endlich, als es dunkel
war, ganz dunkel, kehrte er zurück auf das Bett in Mireille
Sancerres billigem Zimmer, das nach verwelktem Gemüse und
verwesendem Fleisch roch, und da sah er seine Chance. Im nächsten
Moment war er auf den Beinen und rannte auf die Tür zu, die er den
ganzen Tag lang angestarrt hatte, eine Tür, die auf ein düsteres,
nach Schweiß stinkendes Treppenhaus führte, und ehe er sich’s
versah, polterte er die Stufen hinab, ohne die verdutzten Gesichter
auf den Treppenabsätzen und die Rufe in seinem Rücken zu beachten,
die Stufen hinab und auf die Straße hinaus. Dort strauchelte er und
fiel hin, verspürte ein scharfes Brennen auf der linken Handfläche
und am Knie, doch er rappelte sich wieder hoch, stand auf und
rannte weiter, rannte, bis er nicht mehr konnte.
Zwei Wochen später läutete sein Bruder Harold
auf der Durchreise bei Mrs. van Pele, um ihn zu besuchen. Er
brachte Edith mit – sie verbrachten ihre Flitterwochen in Europa
und waren nach einer Woche in London gerade auf dem Kontinent
eingetroffen –, und Edith thronte wie eine Butterblume auf den
Kissen von Mrs. van Peles bestem Sessel und balancierte ein
Gläschen von Mrs. van Peles bestem Sherry auf den Knien, während
Harold nach oben ging, um Stanley aus seiner Zimmerflucht zu holen.
Unglücklicherweise war Stanley nicht holbar – jedenfalls nicht
sofort. Harold fand ihn im Bett liegend vor, nicht zugedeckt, auf
die Seite gewälzt, Hand- und Fußgelenke ungeschickt hinter dem
Rücken gefesselt; sein Gesicht war zur Wand gekehrt, und er sah
nicht auf, als sein Bruder hereinkam.
»Stanley!« rief Harold, ein sprudelndes
Geblubber von Enthusiasmus, ein zum Platzen gefülltes Gefäß, ein
zweiundzwanzigjähriger Millionär, der wie berauscht war von seiner
jungen Braut, der Reise und seiner unerschütterlichen Allianz mit
der Familie Rockefeller. »Aufgewacht!« rief er. »Ich bin’s, Harold!
Komm schon, Brüderchen, raus aus dem Bett, jetzt wird Champagner
getrunken und gefeiert!«
Aber Stanley kam nicht aus dem Bett – er hob
kaum den Blick. Während Harold ihn noch verdattert ansah, zitterten
Stanleys Schultern, sein sichtbares Auge verschwamm, und er fing an
zu weinen, keuchte atemlos in einer Serie von rauhen, langgezogenen
Schluchzern, die alle Luft aus dem Zimmer aufzusaugen
schienen.
»Was ist denn los, Stanley?« fragte Harold, dem
jegliche Munterkeit schlagartig abhanden gekommen war. »Bist du
etwa krank? Hast du wieder diese ägyptische Geschichte?«
Eine lange Pause, zwischen den Schluchzern
kämpfte er um die Beherrschung. »Schlimmer«, krächzte Stanley,
»tausendmal schlimmer. Ich habe meine unsterbliche Seele
verloren.«
Es dauerte fast eine Stunde, ihm die Geschichte
zu entwinden, denn Stanley war zögerlich und euphemistisch, die
Scham brannte in seinem Blick, während er immer wieder von Buße,
Sühne und ewiger Verdammnis redete. Zweimal während dieser Zeit
ging Harold in den Salon hinunter, um sich bei seiner Braut zu
entschuldigen, von der er sich sechsundzwanzig Jahre später wegen
Ganna Walska, der ehrgeizigen Operndiva, scheiden lassen sollte,
und zweimal ließ er brühendheißen Tee nach oben bringen. Stanley
erzählte ihm, er suche jetzt seit zwei Wochen nach dem
bedauernswerten Mädchen und habe sich sogar die Mühe gemacht, einen
Privatdetektiv nach ihr fahnden zu lassen, aber vergeblich. Er war
viel zu erregt gewesen über die Ungeheuerlichkeit seines
Verbrechens, als daß er sich die Straße oder auch nur den
Stadtbezirk gemerkt hätte, in dem er an jenem schicksalhaften
Morgen erwacht war, und obwohl er seither jeden Abend die Gäßchen
rings um den Gare du Nord durchstreifte, konnte er sie einfach
nicht finden. Er kannte weder ihre Adresse noch ihre
Geschäftsanschrift oder ihre persönlichen Daten, dennoch war er
entschlossen, ihr gegenüber das einzig Richtige zu tun –
entschlossen, mit einem Wort, sie zu heiraten.
Als Harold ihn zu Ende angehört hatte in dem
stickigen Zimmer, mit seiner ungeduldigen, quengeligen Frau im
Untergeschoß und der Wirtin, die jedesmal die Miene einer Tragödin
aufsetzte, wenn sie mit dem Tee auf Zehenspitzen durch den Raum
schlich, empfand er nichts als Erleichterung. Nur Stanley konnte so
hoffnungslos naiv sein, dachte er, Stanley der Heilige, Stanley der
Behütete, und er wollte über diese Naivität nicht lachen – es war
eine heikle Situation, das wußte er –, doch zum Schluß konnte er
sich nicht beherrschen. »Das ist es also?« fragte er. »Das ist
alles?« Und dann lachte er. Prustete heraus. Ließ ein Wiehern
ertönen, das seine Frau unten hören konnte, während sie vor Ärger
das Gesicht verzog und sich schwor, daß sie ihm das noch heimzahlen
würde.
»Stanley, Stanley, Stanley«, sagte er
schließlich, das Gelächter drang noch immer in Sturzbächen aus ihm
heraus, wie ein Wolkenbruch, es ließ sich einfach nicht aufhalten.
»Begreifst du denn nicht? Das war eine Prostituierte, eine
putain, eine Hure. Die hat dich und tausend
andere Männer gehabt. Sie ist nicht reiner als der Beelzebub – und
außerdem hat sie dich noch gefleddert. Was glaubst du wohl, warum
sie sich verdrückt hat? Weil deine Krawattennadel mit den Saphiren,
deine goldene Uhr und die Hundert-Franc-Scheine in deiner
Brieftasche für einen hübschen sechsmonatigen Urlaub in einem
höchst komfortablen Hotel von Marseille oder Saint-Tropez oder
sonst irgendwo reichen.«
Stanley setzte sich auf und starrte auf das
dunkle Gebräu in seiner Teetasse wie ein Selbstmörder auf einer
Seinebrücke. Die Stimme erstarb ihm in der Kehle. »Ich muß sie
heiraten.«
»Jetzt sei nicht absurd.«
Diese verschwollenen Augen, der gequälte Blick
des Eremiten, des wahnsinnigen, leidenden Heiligen: Stanley starrte
ihn an. Fixierte ihn. »Du hast leicht reden – du bist ein
geachteter Mann. Du bist verheiratet. Du bist reich.«
Harold sprang auf, er verlor die Geduld und
schritt mit der leeren Teetasse in der Hand auf und ab. Es wurde
immer später, Edith war fuchsteufelswild, und Stanley, der
trübsinnige, wirklichkeitsfremde Stanley verschwendete seine
kostbare Zeit. Er versuchte es noch einmal, blieb dicht vor ihm
stehen, baute sich genau vor ihm auf. »Sie ist eine Dirne, Stanley,
eine Professionelle. Du schuldest ihr überhaupt nichts, weder Geld
noch irgendeine Buße – an deiner Stelle würde ich mir eher wegen
Krankheiten Gedanken machen, nicht übers Heiraten. Das ist
verrückt. Ein Wahnsinn. Unverantwortlich!« Plötzlich brüllte er.
»Man heiratet keine Hure!«
»Sie ist keine Hure.«
»Ist sie doch.«
»Ist sie nicht. Du kennst sie ja nicht
einmal.«
»Warum hat sie sich dann von dir vernaschen
lassen? Warum hat sie dich mit nach Hause genommen? Na? Was glaubst
du wohl, warum die ihr Büro auf der Straße hat?«
Stanley schwieg daraufhin lange Zeit, und sie
sahen einander voll wechselseitigem Abscheu an, wobei jeder sich
fragte, wie es dazu kommen konnte, daß er mit dem anderen verwandt
war. Von unten drang leise das pausenlose Geschnatter von Mrs. van
Pele herauf, die mit ihren Gemeinplätzen Edith zu Tode langweilte.
Schließlich, gerade als Harold dachte, er könne es nicht länger
ertragen, und kurz davor war, türenknallend aus dem Zimmer zu
gehen, um den kleinen Bruder und dessen heiligmäßige Skrupel zur
Hölle fahren zu lassen, sprach Stanley doch noch einmal. »Was soll
ich nur Mutter sagen?« fragte er.
Von da an wich Stanley nie wieder vom
schmalen, geraden Pfad der Tugend. Gleich nach seinem Unterricht
bei Monsieur Julien kam er heim, und wenn er nicht mit Mrs. van
Pele betete oder sie mit Interpretationen von »Macedonia« und
»Surely Goodness and Mercy Will Follow Me All the Days of My Life«
in seiner hellen Stimme erfreute, nahm er, um seine Abende
auszufüllen, Gesangsstunden bei dem namhaften Tenor Antonio
Sbriglia. Er hegte keinerlei Gedanken an Kartenspiele, ob obszöne
oder andere, keinen Wunsch, Cafés oder auch nur Restaurants zu
besuchen, und die Ehe mit Mireille Sancerre oder sonstwem war kein
Thema mehr für ihn. Unter Monsieur Juliens Anleitung polierte er
sein bescheidenes Talent auf, brachte eine Reihe von Kohlestudien
des Pont Neuf zu verschiedenen Tageszeiten zustande, von der
grimmigen Ruhe der Morgendämmerung bis zur miasmatischen
Melancholie des schwalbenzerzausten Abends, und er wurde Experte in
der Reproduktion von Cézannes Äpfeln. Ernsthaft schockiert war er
von den Exzessen Toulouse-Lautrecs und Edgar Degas’, und obwohl ihn
Monsieur Julien zum Studium des menschlichen Körpers ermunterte,
lehnte er dies hartnäckig ab. Und genau zwei Monate nachdem seine
Mutter die Heimfahrt in die Vereinigten Staaten angetreten hatte,
nahm auch er das Schiff nach Hause.
Während der folgenden sechs Jahre bewohnte
Stanley mit seiner Mutter die Familienfestung in der Rush Street
Nr. 675, gefangen in der Inszenierung seiner Kindheit wie eine
Briefmarke in einem Philatelistenalbum. Er hatte jetzt natürlich
seinen eigenen Raum, mit Blick auf die Gartenanlagen und einem
privaten Bad, doch das Kinderzimmer, in dem er den Großteil seines
Lebens verbracht hatte, blieb unverändert, und die Korridore waren
ein Mischmasch erinnerter Gerüche, vom scharfen Biß der
Kampfersalbe, mit der sein Vater sich Fußknöchel und Knie einreiben
ließ, um die Qualen des Rheumatismus zu lindern, bis zum
gespenstischen Echo von Mary Virginias französischem Parfum und dem
nachwirkenden muffigen Aroma eines seit langem toten
Beagle-Jagdhunds namens Digger. Er hatte einen Vollzeitjob in der
Mähmaschinenfirma, deren Präsident Cyrus jr. und deren
Vizepräsident Harold war, und jonglierte mit seinem Zeitplan, um
seine Seminare an der Northwestern University im Griff zu behalten,
wo er Vertragsrecht studierte. Offiziell war er Rechnungsprüfer des
Unternehmens, doch Nettie bereitete ihn darauf vor, auch die
gesamte Rechtsabteilung zu kontrollieren, womit sie alle wichtigen
Interessen der Firma McCormick in den Händen ihrer Söhne
konzentrierte, nach dem Vorbild der Medici.
Was Stanleys soziales Leben anging, so
beschränkte es sich auf zwei alte Studienfreunde aus Princeton –
von denen einer in New York lebte und nur selten die Reise in den
Mittelwesten antrat – und auf die Gefährten, die seine Mutter unter
den langweiligsten und selbstgefälligsten Sprößlingen der
strengsten und frommsten Kaufmannsfamilien Chicagos für ihn
aussuchte. Nach etlichen gescheiterten Versuchen entschied sie
dagegen, zu ihren Abendessen und Kartenspielnachmittagen auch junge
Damen einzuladen, da sie befand, ihr Stanley, dessen Gesundheit
immer noch labil war, sei nicht bereit für die emotionalen
Anspannungen von Brautwerbung und Eheschluß, ebensowenig wie sie
bereit war, ihn freizugeben – vorerst jedenfalls. Gewiß würde er
eines Tages heiraten, das stand außer Frage, aber noch war er zu
jung, zu schüchtern, zu abhängig von der Anleitung seiner
Mutter.
Im Frühling seines zweiten Jahres in Chicago,
als das Pariser Debakel allmählich in seiner Erinnerung verblaßte
(obwohl Mireille Sancerres Gesicht vor seinem inneren Auge
weiterhin zu den ungelegensten Momenten auftauchte, etwa während er
sein Abschlußexamen in Vertragsrecht ablegte oder ein halbes
Dutzend Oberhemden bei der verwelkten brünetten Verkäuferin im
Kaufhaus Twombley bestellte), willigte er ein, seine Mutter nach
Santa Barbara zu begleiten, wo sie sich um die Planung des Hauses
für Mary Virginia kümmern wollten. Das Frühjahrssemester war gerade
zu Ende, und mit Unterstützung seines Bruders konnte er sich sechs
Wochen Urlaub von der Mähmaschinenfirma nehmen. Die Geschwister
beschlossen, daß einer von ihnen der Mutter bei der schweren
Aufgabe beistehen sollte, Mary Virginia ein für allemal
unterzubringen, und da Anita einen kleinen Sohn zu pflegen hatte
und Cyrus jr. ebenso wie Harold viel zu sehr mit der Firma befaßt
war, um sich freizunehmen (man machte eine schwierige Zeit durch:
da war die beinharte Konkurrenz von Unternehmen wie Deering,
Warder, Bushnell und Glessner, und es tobte eine wahre Schlacht um
den Zugang zu den Märkten von Indien und Französisch-Indochina),
fiel die Wahl auf Stanley.
Er hatte nichts dagegen. Überhaupt nichts. Er
gab sich zwar Mühe, es zu verbergen, aber er fühlte sich nicht ganz
auf der Höhe – seit einiger Zeit schon nicht. Es waren die Nerven,
das und eine gewisse Intensivierung seiner zwanghaften kleinen
Gewohnheiten, wie etwa das ständige Händewaschen, bis die Haut
wundgescheuert war, oder das fünfzehn- bis zwanzigmalige
Nachrechnen einer Addition, weil er jedesmal fürchtete, einen
Fehler begangen zu haben, und sich immer wieder bestätigte, daß
dies zwar nicht der Fall war, aber leicht hätte geschehen können,
wäre er nicht so wachsam, oder das Vermeiden des Buchstabens R in
allen Aufzeichnungen, denn das war ein böser Buchstabe, der ihm
unverständliche Anschuldigungen und boshaft schnarrende Kritik in
die Ohren knurrte. Er hatte zu hart gearbeitet. Hatte sich zuviel
Druck aufgelastet, um sein Jurastudium mit Auszeichnung
abzuschließen und zudem seine Aufgaben in der Mähmaschinenfirma so
zu erfüllen, wie es seine Mutter von ihm erwartete. Sollten Cyrus
und Harold ruhig dableiben – er war froh über die Abwechslung. So
froh, daß er beim Packen sogar vor sich hin pfiff. Es waren die
Koffer, die er aus Frankreich mitgebracht hatte, und obwohl ihm das
Problem, was er mitnehmen und was er dalassen sollte, ziemlich zu
schaffen machte – er legte lange Listen in immer kleinerer Schrift
auf abgerissenen Zetteln an, auf Pappkartonstücken und allem, was
ihm in die Finger kam, und verlor sie dann prompt –, gelang es ihm
letztlich doch, alles Notwendige in drei Überseekisten und etliche
Koffer und Reisetaschen zu packen, die allerdings so vollgestopft
waren, daß sie am Bahnhof einen ganzen Trupp von Gepäckträgern
beinahe kapitulieren ließen. Am Vormittag ihrer Abfahrt, die Sonne
strahlte so hell, daß alles von innen zu leuchten schien, fühlte er
sich wie ein Höhlenmensch, den man aus unterirdischen Tiefen
freigelassen hatte.
Am ersten Tag der Reise saß er die ganze Zeit
nur am Fenster, ein ungeöffnetes Buch auf dem Schoß. Die Landschaft
beruhigte seine Augen, und er sah zu, wie die Sonne von Chicago mit
ihm westwärts nach Missouri und dann in den Krieg mit den Wolken
zog. Er schlief tief und fest und aß gut (seine Mutter hatte die
unerläßlichsten Dienstboten mitgenommen, darunter die norwegische
Köchin), und am dritten Tag war er so entspannt, daß er schon
wieder unruhig wurde. Deshalb schlug Nettie vor, er solle sich die
Pläne für Mary Virginias Haus ansehen und seine Ideen dazu äußern,
sie sei nicht ganz sicher hinsichtlich des Musikzimmers, ob man es
im Ost- oder im Westflügel einrichten solle, je nachdem ob Mary
Virginia lieber morgens oder abends spielte und Sonne mochte oder
nicht, andererseits machte es vielleicht gar nicht soviel aus, weil
sie in Kalifornien ja ohnehin massenhaft Sonnenschein hatten. Was
war seine Meinung dazu?
Stanley warf sich über die Blaupausen wie ein
Mann, der eine Rettungsweste von der Reling eines sinkenden
Schiffes reißt. Er breitete sie auf dem Tisch aus und studierte sie
stundenlang, vergaß die Umgebung, seine Mutter, die Dienstboten,
die gelben Ebenen von Texas und die fernen staubigen Cowboys auf
ihren fernen staubigen Pferden. Mit einem Winkellineal und einer
Handvoll frisch gespitzter Bleistifte nahm er etliche höchst
detaillierte Änderungen vor, versetzte Wände, trug Höhenangaben
ein, wo sie fehlten, skizzierte sogar Buschwerk im Garten und hie
und da die schraffierte Gestalt von Mary Virginia, wie sie am
Flügel saß oder über den Innenhof schlenderte.
Was hielt er von den Plänen? Daß sie überhaupt
nicht stimmten, daß sie eine Beleidigung waren, das Produkt
ahnungsloser Hirne und falsch verstandener Voraussetzungen. Und was
dachte er noch? Daß sie Shepley, Rutan & Coolidge wegen
Inkompetenz kündigen sollten, denn jeder Narr von der Straße hätte
einen praktischeren und ansprechenderen Entwurf liefern können, und
der Vertreter der Architektenfirma in Santa Barbara möge besser
sein Reißbrett mitbringen. Doch zu seiner Mutter sagte er nur:
»Wenn es dir recht ist, würde ich gern ein paar Abänderungen
vorschlagen...«
Am Ende blieben sie fast vier Monate lang, sie
stiegen im Arlington ab (das Potter mit seinem schönen Meerblick,
den sechshundert Zimmern und dem extra angefertigten
Porzellangeschirr im Wert von einundzwanzigtausend Dollar sollte
erst 1903 vollendet werden), und in dieser Zeit änderte Stanley die
ursprünglichen Pläne bis ins letzte Detail, von der Höhe der Türen
bis zur Form der Wandsimse im Bedienstetentrakt. Und zwar änderte
er sie täglich, manchmal stündlich, besessen und fixiert, wie
festgeklemmt in einem Spalt der Konzentration. Wie zu erwarten war,
führte dies zu beträchtlichen Reibungen mit denjenigen, die man für
die Errichtung des Gebäudes engagiert hatte. Der Architekt von
Shepley, Rutan & Coolidge kündigte noch im selben Monat, ebenso
der Baumeister, und der Nachfolger des Architekten, der extra aus
Boston geholt worden war, hielt es keine Woche aus. Stanley ließ
sich nicht beirren. Und Nettie ebensowenig. Sie vertraute ihrem
Sohn, und es freute sie, daß er sich so besorgt um das Wohlergehen
seiner armen Schwester zeigte und seine ganze Fowler-Intensität in
die Blaupausen hineinlegte: lauter wunderschöne rechtwinklige
Grund- und Aufrißzeichnungen mit diesen allerliebsten
Gebüschtupfern und den kleinen Männchen in den Zimmern – und es war
tatsächlich die Fowler-Familie, die da aus ihm herausbrach, das
vollendete Ebenbild ihres eigenen Vaters, womit sie den McCormicks
gar nichts absprechen wollte, keineswegs, aber sie kannte ihren
Jungen. Und wie er diesen Architekten und Baumeistern, ja sogar den
sizilianischen Steinmetzen Beine machte... ihm entging einfach
nichts. Und daß er etwas unentschlossen dabei war, nun, das war
eben auch ein Zug der Fowlers – es hieß ja nur, daß er
leidenschaftlich Anteil an etwas nahm, sich immer und immer wieder
selbst überprüfte, alles in Frage stellte.
Bei dieser Lage der Dinge begannen die
Bauarbeiten ernsthaft erst dann, als Nettie und Stanley nach
Chicago abreisten und der gleichmütigste aller Architekten endlich
zügig arbeiten konnte, ohne daß ständig Fragen gestellt wurden.
Stanley kehrte zu seinem früheren Lebensrhythmus zurück – zu den
Kursen in Schadenersatzrecht und Buchhaltung, in das große offene
Büro hoch über dem Werksboden der Mähmaschinenfabrik, in dem das
tyrannische R überall in den Akten lauerte, zu den Abendessen mit
seiner Mutter und irgendeinem Chester, Grover oder Cornelius, den
sie an diesem Abend für die angemessene Gesellschaft hielt – und
bald vergaß er alles: Mary Virginia, den Ort ihrer Verbannung,
Kalifornien. Aber er hinterließ seine Spuren in dem Haus, nicht nur
in der komplexen Serie von Änderungen, die schließlich das Haus
selbst wurden, sondern auch in einem anderen, höchst wesentlichen
Merkmal: er gab ihm den Namen.
Als Nettie das Grundstück erwarb, war es
bekannt unter dem Namen des Mannes, von dem sie es gekauft hatte,
O. A. Stafford, und wurde das »Stafford-Haus« genannt, der
Vorbesitzer war Oberst Greenberry W. Williams gewesen, der es
seinerseits von José Lugo und Antonio Gonzales erworben hatte, den
beiden dueños des ihnen ursprünglich von
Mexiko zugewiesenen Landes. Inzwischen sprachen die Leute von der
Liegenschaft, die immer noch aus Staffords zweigeschossigem
Holzgebäude inmitten von Orangen- und Olivenhainen und dem üppigen
Garten bestand, als dem »McCormick-Haus«. Nach Stanleys Ansicht war
das schlichtweg unangemessen: I.G. Waterman, dem das
Nachbargrundstück gehörte, nannte seinen Besitz »Mira Vista«, und
die Goulds in der Olive Mill Road lebten in »La Favorita«. Dann gab
es noch »Piranhurst«, »Riso Rivo«, »The Terraces«, »Cuesta Linda«
und »Arcady«. Wenn Mary Virginias Haus samt Grundstück auch nur
halbwegs ihre Klasse und ihren Status reflektieren sollte, dann
mußte sich irgendwer einen geziemenden Namen dafür ausdenken, und
während Cyrus, Harold und Anita in Chicago ahnungslos ihren
Geschäften nachgingen und seine Mutter immer mehr Zeit im Garten
des Hotels herumsaß, wurde Stanley diesbezüglich langsam nervös.
Tatsächlich entwickelte sich die Namenlosigkeit des Anwesens
während seines letzten Monats dort für ihn allmählich ebenso zur
Besessenheit wie die schlampigen Pläne, und er blieb bis spät in
die Nacht auf, weil er auf der Suche nach Inspirationen spanische
und italienische Wörterbücher durchforstete und über alten Karten
der Toskana, der Estremadura und Andalusiens brütete.
Und dann, eines Nachmittags in der letzten
Woche ihres Aufenthalts in Kalifornien, hatte er die Idee. Er
spazierte gerade mit seiner Mutter und Dr. Franceschi, dem
Landschaftsgestalter, über den Besitz und erörterte seine Ansichten
zu Karyatiden, Statuen im allgemeinen und zur Funktion von
Springbrunnen in koordinierten Arrangements aus künstlichen und
natürlichen Elementen, als sie von einem unwegsamen Pfad auf eine
Wiese mit einzelnen Eichen hinaustraten, die sich alle in eine
Richtung neigten. Vor den Bergen ragten die Silhouetten der Bäume
im Sonnenglanz auf, die Zweige abgespreizt wie die Arme einer
Gruppe von Schlittschuhläufern, die alle im selben Augenblick das
Gleichgewicht verloren. Es war Oktober, die Zeit der luftigen
Klarheit, wenn der Himmel ganz weit zurückweicht, bis zu den
Scharnieren der Finsternis dahinter. Schmetterlinge flatterten
bläßlich über dem hohen gelben Gras. Auf den Zweigen zwitscherten
Vögel.
»Was für seltsame Bäume, Dr. Franceschi«, sagte
Nettie und schirmte die Augen vor der Sonne ab, »wie sie alle so
geneigt sind, als hätte sie jemand im Vorbeigehen umgekippt.«
Dr. Franceschi war ein schmächtiges Männchen
von Mitte Fünfzig mit einem gemüseartigen Bart, flinken Händen und
den trockenen schnellen Augen der Eidechsen, die zu ihren Füßen
pfeilschnell über die Felsen flitzten. »Das liegt daran, daß der
Wind hier meist aus derselben Richtung weht«, sagte er, und seine
kehlige Stimme klang wie ein Querflötensolo, »von den Bergen dort
herunter. Man nennt ihn den ›Sundowner‹ – den Wind, meine
ich.«
»Und was ist mit dem da drüben?« fragte Stanley
und zeigte auf einen Baum, der von dem Muster abwich, denn sein
Stamm stand vertikal, und die Äste waren so ebenmäßig verteilt wie
die Zinken einer Gabel. Er war knapp hundert Meter entfernt,
dennoch konnte Stanley sehen, daß der Baum von einem Ring aus Fels
umgeben war, wie von einem versteinerten Kragen, der ihn
festzuhalten schien.
»Ach, der, ja: diesen Baum wollte ich Ihnen
ohnehin noch zeigen. Er ist in der Gegend eine bekannte
Kuriosität.«
Und dann überquerten sie die offene Wiese,
Nettie wackelte kompakt und vollbusig dahin, der hagere
Gartenbauarchitekt schwang sich beim Gehen auf die Zehenspitzen wie
ein Ballettomane, und Stanley spazierte mühelos mit großen,
ausgreifenden Schritten, die aus seiner Fortbewegung eine Art
Gleitflug zu machen schienen. Im Näherkommen sah Stanley, daß der
massive Sandsteinblock, der den Baum umfing, in der Mitte gespalten
war und der Baum offenbar aus diesem Spalt herauswuchs. »Wirklich
sehr sonderbar«, sagte Dr. Franceschi, »eine dieser Anomalien der
Natur – sehen Sie, vor vielen Jahren fiel eine Eichel von diesem
Baum da« – er deutete auf einen Eiche – »oder vielleicht auch von
jenem dort, wer weiß, und suchte sich mitten auf diesem kahlen
Stück Fels eine kleine Nische von Nährstoffen – ungünstigere
Lebensumstände sind hier in der Umgebung wohl schwerlich zu finden,
glauben Sie mir...«
Doch sie waren angekommen, und Stanley legte
die Hände verblüfft auf den Fels, der wuchtige Block war fast
mannshoch und groß wie ein Leichenwagen, er faßte sich rauh an und
strahlte eine leise Wärme ab. Aus so etwas waren die Gebeine der
Erde gemacht, massiver Fels, undurchdringlich, undurchlässig, ein
Symbol für alles Dauerhafte, und hier nun war er entzweigespalten,
zerrissen wie eine Bahn billigen Tuches, und das von einem so
kleinen, so heimtückischen Ding wie einer Eichel...
riven rock der
zerrissene fels...
so hieß der ort an dem er
nun war und niemand brauchte ihm das zu sagen oder an seinem bett
zu flüstern als wäre er schon tot und das alles mit dem gestank von
unerlaubter unzucht an den fingern so wie eddies finger denn eddie
war immer bei den frauen unten zugange er konnte sie hören und
riechen und fühlen in ihrem weiblichen dasein mit eng
zusammengepreßten beinen draußen im garten und oh mr. mccormick
kann niemals und darf niemals und wird auch niemals davon erfahren
einer wie er der seine unnatürlichen begierden nicht im zaum halten
kann und ich hab schon mal von so einem mann gehört das hat mir
meine cousine nancy cooper in sacramento erzählt der war bestückt
wie ein stier und er hatte eine frau eine negerin die ist zehn
kilometer weit zu fuß zu ihm gelaufen nur damit sie ihn in sich
drin spüren konnte und wenn man nancy glaubt und das tu ich dann
war es einfach zuviel für sie und sie ist in einem überschwang von
lust am schlaganfall gestorben und er ist danach gleich losgezogen
und hat sich eine andere negerin gesucht genau wie sie nur
größer...
aber sie sollten nur
flüstern sollten sie an seinem bett stehen und ihre totengebete
aufsagen – »Denk doch mal nach, Mart, das ist Stanley
McCormick, einer der reichsten Männer der Welt, und er hat nicht
mal eine Ahnung davon« – und in alle seine
körperöffnungen eindringen mit ihren schläuchen und röhren und ihn
auf die seite wälzen in dieser dusche die wie eine chinesische
wasserfolter war ja was dachten sie denn wer er war eddie und mart
und dr. gilbert van tassel affenmann hamilton daß sie ihn einfach
so vergewaltigen durften ohne schutz und ohne versteck nackt wie
eine ratte und warum ließen sie ihn nicht einfach in ruhe sie alle
seine mutter und katherine und cyrus der präsident und harold der
vizepräsident und auch anita mit ihren fetten prallen talgigen
brüsten und ihren schmeichlerischen händen auf ihm als wäre er eine
art schoßtier oder so was wie ein baby...
aber es waren seine nerven
und er war blockiert es war jedoch nur ein vorübergehendes leiden
nicht so wie bei mary virginia seiner irrenhausverrückten schwester
mit dem bleichen alptraum ihres nackten körpers und er würde bald
wieder auf den beinen sein und jeden tag gesünder werden genau wie
damals beim erstenmal im mclean aber nein das würde er nicht das
würde er niemals denn was sie alle nicht begriffen und verstanden
keiner von ihnen und schon gar nicht katherine die nur auf ihn
draufklettern und seinen penis in ihrem inneren verschwinden lassen
wollte so wie mireille sancerre ihre finger und sie würde ihm keine
ruhe lassen keine sekunde keine minute keine stunde lang sogar
jetzt lauerte sie irgendwo hier in der nähe er wußte es mit ihrem
feldstecher und dem kummervollen mitleidigen gesicht ganz zerfurcht
wie eine zitronenpresse armer stanley armer armer stanley aber sie
alle kapierten nicht daß er keinen muskel regen durfte um sein
leben zu retten weil es nämlich die Richter nicht erlaubten sie
heulten und kreischten ihre verwünschungen wenn er auch nur die
zunge ein stück bewegte weil der nach sex stinkende eddie ihm
diesen schlauch in die kehle rammte diese Richter verboten ihm sich
zu rühren und brüllten aus jeder ecke des zimmers seine sünden
heraus müßiggang und verderbtheit und abartige sexualität und eine
stelle als rechnungsprüfer nicht als präsident oder auch nur
vizepräsident und unzucht in seinem herzen und impotenz bei seiner
frau und hochmut vor seiner mutter die Richter schrien ihn nieder
mit lippen die zuckten wie regenwürmer auf einer schaufel durch die
schwarzen knorrigen affenbärte die ihre münder verdeckten und ihre
kreischenden feuchten fotzen...
aber die ganze nacht lag er
da und den ganzen tag lang war es dienstag war es nicht immer
dienstag und wieder dienstag und immer dienstag während die monate
herabfielen wie das laub von den bäumen und dann auch die jahre und
er betete zu den Richtern ihn doch freizugeben seine strafe
umzuwandeln ihn wegen guter führung zu entlassen wenn er sich nur
vor der sünde bewahren könnte wenn er nur wieder zurück in sein
geschirr gelangen könnte nur einmal noch nur noch ein einziges
mal...