6
Angeschirrt
Die zweite Frau, die Stanley McCormick je im Evaskostüm sah, war eine französische Straßendirne namens Mireille Sancerre, deren Unterwäsche von einem so intensiven Rot war, daß sie im gedämpften Licht ihres Zimmers plötzlich wie ein Mohnblumenfeld erstrahlte. »Hast du Spaß vielleicht bei Zusehen?« raunte sie, während er wie gelähmt auf ihrem nach Patchouli duftenden Bett lag und zusah, wie diese luftigen seidigen Sachen von ihr abfielen, um das Weiße in ihrer Mitte freizulegen, jenes Weiße, das er erwartete und fürchtete und begehrte. Er war zwanzig Jahre alt, seit vier Monaten Absolvent der Princeton University und der neue Schüler im Atelier von Monsieur Julien in der Rue de Clichy auf dem Montmartre. Sein Bruder Harold, der im Juni gemeinsam mit ihm das Studium abgeschlossen hatte, hatte anschließend Edith Rockefeller geheiratet, und Nettie McCormick, die Stanleys Enttäuschung spürte, hatte ihn auf eine Rundreise durch Italien und zu den antiken Stätten Europas mitgenommen, um ihn abzulenken. Sie kamen prächtig miteinander aus, Stanley und seine Mutter, sie genossen die Gelegenheit, nach der Trennung durch das Studium wieder einmal zusammenzusein, nur gerieten sie in Streit wegen Stanleys Idee, nach der Reise noch ein paar Monate in Paris zu bleiben, um dort zeichnen zu lernen. In Netties Augen war die verderbteste und verruchteste Stadt Europas wohl kaum der Ort, an dem ihr jüngstes Kind sich zum erstenmal in seinem Leben eine eigene Wohnung nehmen sollte, während Stanley argumentierte, Paris sei schließlich Angelpunkt und sine qua non der Kunstwelt, und ins Feld führte, daß er vielleicht nie wieder eine solche Gelegenheit bekommen könnte.
»Mutter«, rief er, sein Mienenspiel wechselte rasch, und seine Augen schwirrten wie wahnsinnige Hornissen herum, während er quer durch die vergoldete Weite ihrer Suite im Hotel Élysee Palace hin und her wanderte, »das ist die Chance meines Lebens, meine einzige Gelegenheit, bei einem französischen Meister zu lernen, bevor ich nach Chicago zurückkehre und mich wieder ins Geschirr spannen lasse. Ich bin erst zwanzig. Und ich werde mit Mähmaschinen zu tun haben, bis ich sterbe.«
Nettie saß in ihrem Sessel wie auf einem Thron, die Lippen fest zusammengepreßt. »Nein.«
»Aber Mutter, wieso denn nicht? Bin ich nicht brav gewesen? Habe ich nicht gute Leistungen im Studium geschafft und dich stolz gemacht? Ich war besser als Harold – hundertmal besser. Und jetzt bitte ich dich nur um diese kleine Sache.«
»Nein.«
»Bitte!«
»Nein. Und das ist endgültig. Du kennst sehr wohl die Versuchungen, die einen jungen Mann von gutem Charakter in einer Stadt wie dieser tagtäglich bedrängen, einem Ort, der in meinen Augen schon immer voll war von Ausländern übelsten Leumunds, mit all ihren obszönen und frevelhaften Ansichten und ihrer verhöhnenden Einstellung gegenüber einem moralisch einwandfreien Lebenswandel, und glaube keine Minute lang, daß ich nicht gesehen habe, wie diese schweinsäugigen Franzosen uns hinter unserem Rücken verlachen... Und deine Gesundheit? Hast du daran gedacht? Wer soll dich denn pflegen, wenn das ägyptische Fieber dich wieder anfällt – du bist noch geschwächt davon, das weißt du, deine Gesichtsfarbe wirkt immer noch ziemlich gespenstisch. Na? Was sagst du dazu, Stanley?«
Er hatte darauf keine Antwort, auch wenn er seine Gesichtsfarbe ganz gut fand, etwas bleich und bläßlich vielleicht, aber nicht ungewöhnlich. Er war auf und ab gegangen, doch jetzt blieb er vor dem Spiegel des Salons stehen und sah ein Gesicht, das er kaum wiedererkannte, glotzende Augen und eingefallene Wangen, eine Hagerkeit, die ihn erschreckte – zugegeben, er sollte wohl tatsächlich etwas von dem Gewicht zurückbekommen, das er in einem Typhusanfall eingebüßt hatte, aber wo konnte er das besser als in der kulinarischen Hauptstadt der Welt?
»Und dein Nervenleiden – was ist damit?« beharrte seine Mutter. »Nein, ich werde dich nicht hier zurücklassen, niemals – ich würde die ganze Rückfahrt über vor Angst halb sterben. Und das würdest du doch nicht wollen, oder?«
Nein, das würde Stanley nicht wollen, und er wußte durchaus, wie schwer ihr Herzleiden war und wie sehr sie ihn brauchte, wie es sie zerreißen würde, auf einmal nicht mehr jeden Tag mit ihm zusammenzusein, geschweige denn zwei Monate oder länger, vor allem ausgerechnet jetzt, da Harold und Anita aus dem Haus waren und sie ganz auf sich selbst gestellt in das große leere Haus zurückkehren mußte, in dem sie mit den Dienern allein sein würde, aber jetzt wandte er sich zum erstenmal in seinem Leben gegen sie. Zwei Wochen lang ließ er ihr keine Ruhe, nicht eine Minute lang, er beschwor und bestürmte sie, trommelte sich auf die Brust, schmollte und nörgelte und knallte die Türen, bis auch die Dienstboten nervös wurden, und schließlich ließ sie sich, wider bessere Einsicht, erweichen. Sie besorgte ihm eine höchst angemessene Zimmerflucht bei einer Mrs. Adela van Pele, einer frommen Presbyterianerin fortgeschrittenen Alters aus Muncie/ Indiana, die ein untadliges Etablissement in Buttes-Chaumont führte, während ihr Ehemann, der renommierte Wanderprediger Mies van Pele, auf Borneo am Fluß Rajang die Kopfjäger bekehrte, und sie sprach ausführlich mit Monsieur Julien, der ihr versicherte, ihr Sohn werde nur die allerschicklichsten Sujets zeichnen – also Stilleben und Landschaften, im Gegensatz zu allem, was auch nur entfernt körperlich wäre. Solcherart zufriedengestellt, weinte Nettie dennoch und raufte sich die Haare, trat aber die Heimfahrt an – allein. Und an dem Abend, als seine Mutter abreiste – auf dem Rückweg von ihrer Verabschiedung, um genau zu sein –, traf Stanley, dem das Blut in den Ohren pochte, auf Mireille Sancerre.
Vielmehr traf sie auf ihn. Er ging gerade eine ihm fremde Straße in der Nähe des Gare du Nord entlang, überlegte, was er als erstes tun sollte, und achtete kein bißchen auf seine Umgebung. Sollte er im nächstbesten Restaurant, das ihm gefiel, essen gehen, ohne daß jemand seine Wahl in Frage stellte oder herabsetzte? Oder im Café bei einem Glas Wein die Passanten betrachten? Er konnte auch in ein Varieté gehen, zu einer dieser frivolen Tanzveranstaltungen, von denen er auf dem College soviel gehört hatte, oder sogar, falls er den Schneid dazu aufbrachte, einen kleinen Laden suchen und eines dieser Kartenspiele mit den Bildern auf der Rückseite kaufen und dann verstohlen in sein Zimmer zurückschleichen, um sie dort in Ruhe zu studieren, bevor Mrs. van Pele ihn wieder in ihre Fänge bekam und bis zum Schlafengehen Choräle mit ihm singen wollte.
Natürlich war die Versuchung in ihm ebenso stark wie der Widerstand gegen seine unreinen Begierden, er dachte gerade an die fromme Mrs. van Pele und daran, wie nett ihre Gesellschaft und wie großherzig es von ihr war, seine Stimme zu loben, als Mireille Sancerre ihn anrempelte. Doch das war kein gewöhnlicher Rempler, jene zufällige Berührung, wie sie einem im Opernfoyer während der Pause, in einer Galerie oder im Museum zustoßen mochte – es war ein Frontalzusammenprall, an dem jede Menge Fleisch und Knochen beteiligt war: eben noch schlenderte Stanley wie in Trance die Straße entlang, und im nächsten Moment war er, Arm in Arm und Brust an Brust, mit einem weiblichen Wesen verheddert, mit einer jungen Frau, deren gesamtes Repertoire von Düften nun in seiner Nase explodierte, während ihre riesigen klimpernden Augen aus den Tiefen ihres Gesichts hervorzuschießen schienen wie Bojen, die unter Wasser festgehalten und plötzlich losgelassen worden waren. »Oh, monsieur, pardon!« stieß sie hervor. »Des milliers de pardons!«
Und dann, er begriff gar nicht genau wie, überredete sie ihn im Verlauf weniger Sekunden, sämtliche Prinzipien über Bord zu werfen, die er sein Leben lang heiliggehalten hatte, und den letzten Tropfen der moralischen und religiösen Werte zu vergießen, die er seit seiner Geburt in sich aufgenommen hatte, und in ihre Wohnung mitzugehen. Es gab keine Vorstellung durch gemeinsame Bekanntschaften, keine Rezitationen der Gedichte von Elizabeth Barrett Browning oder Geplauder über die Familienwappen, keinerlei Präliminarien irgendwelcher Art. Innerhalb von einhundertachtzig Sekunden nach ihrem Zusammentreffen war Stanley mit diesem glitzernden Ding am Arm unterwegs, mit dieser kleinen, angemalten poupée, ohne zu wissen, wohin es ging, aber bereit, jeden umzubringen, der sich ihm in den Weg stellen mochte.
»Also«, sagte sie nochmals, während die roten Stoffetzen von ihr abfielen wie Blütenblätter einer Blume, um zur Gänze jenes ewige Weiß darunter freizulegen, die durch einen Graben getrennten Brüste und die Zielscheibe aus schwarzem Haar genau in der Mitte dieser bleichen Leinwand, »hast du Spaß vielleicht bei Zusehen?«, und im selben Augenblick verschwanden ihr Zeige- und Mittelfinger in ihrem Inneren, wie bei einem Zaubertrick, geradewegs im Zentrum dieser schwarzen Zielscheibe, und er sagte nein, die Stimme blieb ihm wie eine Klette in der Kehle hängen, nein, er wolle nicht zusehen, er konnte nicht zusehen, er fühlte eine Ohnmacht nahen, und das Blut toste in ihm wie dieser berühmte Wasserfall, an den alle Brautpaare Amerikas in ihren Flitterwochen fuhren, und könne sie bitte, wolle sie doch bitte... das Licht ausmachen...
Am nächsten Morgen wußte er nicht, wo er war – anfangs wußte er nicht einmal, wer er war. Er war ein Wesen der Natur, das war alles, ein pulsierender Nervenknoten aus undifferenzierten Empfindungen, und er hatte Augen, so schien es, die sich öffneten und sahen, und Ohren zum Wahrnehmen der von der Straße heraufdringenden Geräusche – und einen Unterleib, der ein vollkommen eigenes Leben zu führen schien. Er sah ein billiges, billig ausgestattetes Zimmer, leere Weinflaschen auf einer Kommode, eine Wanne auf dem Fußboden, in der verfärbte Teller eingeweicht waren, Eier in einem Korb, ein paar Äpfel, ein Band aus verblichenem Krepp, das die Umrisse der Zimmerdecke nachzog, und einen wirren Haufen von Frauenkleidern. Lange Zeit starrte er nur einfach herum und war außerhalb seines eigenen Körpers, richtiggehend außer sich, denn es gab da einen dunklen Ort in seinem Inneren, der wußte, was er getan hatte, der es auch genoß, der es aufsaugen wollte und mehr davon verlangte, er aber verweigerte diesem dunklen Ort den Weg ans Licht.
Endlich, als die Sonne die Vorhänge voll erobert hatte, das Fußende des Bettes beleuchtete und eine Serie von Parallelogrammen auf den Fußboden zog, setzte er sich auf. Er war allein. Das wußte er zwar von dem Moment an, seit er die Augen geöffnet und begonnen hatte, die Eindrücke wie ein Schwamm aufzusaugen, hatte es sich aber nicht eingestehen wollen, weil das der erste Schritt gewesen wäre, sich an den Namen Mireille Sancerre zu erinnern. Aber jetzt war er wach und erinnerte sich an den Namen – er lag auf seinen Lippen wie ein tödlicher Kuß –, und alles, was er getan hatte, brach mit anklagendem Kreischen über ihn herein. Er hatte nichts an. Er war nackt. Nackt im Bett einer fremden Frau – in Mireille Sancerres Bett. Langsam, voller Furcht und einer vehementen Abwehr, die an Hysterie grenzte, ließ er die Finger seinen Bauch hinuntertasten bis zu dem Haar zwischen seinen Beinen, verklebtes und verkrustetes Haar, gebadet von Venussäften, und dann, in einer Panik von Haß und Verleugnung, zu seinem Penis.
Sein Penis. Da war er, unversehrt und lebendig, und er fing in seiner Hand zu wachsen an, bis er in seinen Augen zu einem schrecklichen, unbeherrschbaren Ding wurde, die Bohnenstange aus dem Märchen, die mitten durchs Dach wuchs und hinauf in die Weiten des Himmels, und er nahm die Hand schnell wieder weg. Oh, was hatte er getan, was hatte er nur getan? Er war verdorben. Verworfen. Verflucht zu Hölle und ewiger Verdammnis. Er wünschte, er wäre wieder auf dem College, in der Sicherheit seines Zimmers, mit seinen Büchern und Footballtransparenten und seinem Ledergeschirr – das er sich selbst gebastelt hatte, als er die Sünde der Selbstbefleckung entdeckte. Er war damals erst im zweiten Semester, aber so hatte alles angefangen – und dies war nun das Ende, das ganze Leben wurde schmutziger und immer schmutziger und jeder Mensch zum Tier, das sich darin suhlte. Als er das erstemal beim Erwachen das feuchte Zeugnis seiner Verderbtheit auf dem Bettlaken vorgefunden hatte, war er sofort in die nächstbeste Sattlerei gegangen und hatte dort ein Zaumzeug und diverse Werkzeuge zur Lederbearbeitung erstanden. Er hatte alle Vorlesungen ausgelassen und war mit Vehemenz ans Werk gegangen, hatte sich durch Versuch und Irrtum gearbeitet und jedes Quentchen seines perfektionistischen Eifers hineingelegt, bis er, zur Abendessenszeit, fertig war: zwei Handfesseln und zwei für die Fußgelenke, verbunden durch die verknoteten Lederbänder der gekürzten Zügel, und er trug es von nun an jede Nacht, dieses Geschirr, damit er sich nie wieder berühren würde – und konnte –, während er schlief und träumte oder in der benommenen, sinnlichen Vorhölle der Dämmerung wach lag. Und wie sehr er doch wünschte, er hätte sein Geschirr auch jetzt dabei...
Aber es war zu spät. Natürlich war es das. Das Schlimmste war passiert, er hatte seinen bestialischen Instinkten nachgegeben und eine Frau mißbraucht, er hatte Mireille Sancerre entehrt, und es gab nur eine einzige Möglichkeit: er mußte sie heiraten. Um ihre Seele zu retten und seine eigene. Ja, natürlich. Die einzige Möglichkeit. Diese Eingebung verlieh ihm neue Kraft, und mit einem Satz sprang er aus dem Bett und tastete nach seinen Sachen – wie spät war es eigentlich? Irgendwie fand er weder seine Uhr noch die goldene Krawattennadel, die seine Mutter ihm zum Examen geschenkt hatte, mit den drei blitzenden Saphiren, von denen sie immer sagte, nur seine blauen Augen seien noch schöner... und als er die Hand in Hose und Jackett steckte und seine Taschen abklopfte, da stellte er staunend fest, so wie jemand, der von einem Eisenbahnunglück davonwankt, daß auch die Brieftasche verschwunden war. Aber natürlich, er begriff augenblicklich, daß Mireille Sancerre sich seine Barschaft angeeignet hatte, als Anzahlung auf die Hypothek ihrer Entehrung, und sie hatte auch jedes Recht darauf, jedes Recht auf alles, was er besaß... Immerhin war sie ja nun die eine, die einzige: sie würde seine Frau werden.
Stanley blieb den ganzen schleppenden Vormittag und den ganzen hinfälligen Nachmittag hindurch in ihrem Zimmer, er hatte Angst, sich auf der Straße zu zeigen, die Schande lauerte in seinem verderbten Blick und auf seinem sinnlichen Mund, und obwohl sein Durst groß genug war, daß er für einen einzigen Tropfen Wasser meilenweit gekrochen wäre, und der Hunger ihn so zerfraß, daß er sich fühlte wie ein irrsinniges heulendes Raubtier im Dschungel, erhob er sich nicht von diesem Bett. Irgendwann am späten Nachmittag war er plötzlich wieder in der Schublade des Wäscheschranks am Tag vor dem Begräbnis seines Vaters, und dort beschimpfte ihn eine scharfe, krächzende Stimme, eine körperlose Stimme, die ihm das Fleisch von den Knochen schälte, und er hätte sich nicht rühren können, selbst wenn ihm danach gewesen wäre. Die Sonne zog vorbei, wurde blasser und erstarb. Endlich, als es dunkel war, ganz dunkel, kehrte er zurück auf das Bett in Mireille Sancerres billigem Zimmer, das nach verwelktem Gemüse und verwesendem Fleisch roch, und da sah er seine Chance. Im nächsten Moment war er auf den Beinen und rannte auf die Tür zu, die er den ganzen Tag lang angestarrt hatte, eine Tür, die auf ein düsteres, nach Schweiß stinkendes Treppenhaus führte, und ehe er sich’s versah, polterte er die Stufen hinab, ohne die verdutzten Gesichter auf den Treppenabsätzen und die Rufe in seinem Rücken zu beachten, die Stufen hinab und auf die Straße hinaus. Dort strauchelte er und fiel hin, verspürte ein scharfes Brennen auf der linken Handfläche und am Knie, doch er rappelte sich wieder hoch, stand auf und rannte weiter, rannte, bis er nicht mehr konnte.
Zwei Wochen später läutete sein Bruder Harold auf der Durchreise bei Mrs. van Pele, um ihn zu besuchen. Er brachte Edith mit – sie verbrachten ihre Flitterwochen in Europa und waren nach einer Woche in London gerade auf dem Kontinent eingetroffen –, und Edith thronte wie eine Butterblume auf den Kissen von Mrs. van Peles bestem Sessel und balancierte ein Gläschen von Mrs. van Peles bestem Sherry auf den Knien, während Harold nach oben ging, um Stanley aus seiner Zimmerflucht zu holen. Unglücklicherweise war Stanley nicht holbar – jedenfalls nicht sofort. Harold fand ihn im Bett liegend vor, nicht zugedeckt, auf die Seite gewälzt, Hand- und Fußgelenke ungeschickt hinter dem Rücken gefesselt; sein Gesicht war zur Wand gekehrt, und er sah nicht auf, als sein Bruder hereinkam.
»Stanley!« rief Harold, ein sprudelndes Geblubber von Enthusiasmus, ein zum Platzen gefülltes Gefäß, ein zweiundzwanzigjähriger Millionär, der wie berauscht war von seiner jungen Braut, der Reise und seiner unerschütterlichen Allianz mit der Familie Rockefeller. »Aufgewacht!« rief er. »Ich bin’s, Harold! Komm schon, Brüderchen, raus aus dem Bett, jetzt wird Champagner getrunken und gefeiert!«
Aber Stanley kam nicht aus dem Bett – er hob kaum den Blick. Während Harold ihn noch verdattert ansah, zitterten Stanleys Schultern, sein sichtbares Auge verschwamm, und er fing an zu weinen, keuchte atemlos in einer Serie von rauhen, langgezogenen Schluchzern, die alle Luft aus dem Zimmer aufzusaugen schienen.
»Was ist denn los, Stanley?« fragte Harold, dem jegliche Munterkeit schlagartig abhanden gekommen war. »Bist du etwa krank? Hast du wieder diese ägyptische Geschichte?«
Eine lange Pause, zwischen den Schluchzern kämpfte er um die Beherrschung. »Schlimmer«, krächzte Stanley, »tausendmal schlimmer. Ich habe meine unsterbliche Seele verloren.«
Es dauerte fast eine Stunde, ihm die Geschichte zu entwinden, denn Stanley war zögerlich und euphemistisch, die Scham brannte in seinem Blick, während er immer wieder von Buße, Sühne und ewiger Verdammnis redete. Zweimal während dieser Zeit ging Harold in den Salon hinunter, um sich bei seiner Braut zu entschuldigen, von der er sich sechsundzwanzig Jahre später wegen Ganna Walska, der ehrgeizigen Operndiva, scheiden lassen sollte, und zweimal ließ er brühendheißen Tee nach oben bringen. Stanley erzählte ihm, er suche jetzt seit zwei Wochen nach dem bedauernswerten Mädchen und habe sich sogar die Mühe gemacht, einen Privatdetektiv nach ihr fahnden zu lassen, aber vergeblich. Er war viel zu erregt gewesen über die Ungeheuerlichkeit seines Verbrechens, als daß er sich die Straße oder auch nur den Stadtbezirk gemerkt hätte, in dem er an jenem schicksalhaften Morgen erwacht war, und obwohl er seither jeden Abend die Gäßchen rings um den Gare du Nord durchstreifte, konnte er sie einfach nicht finden. Er kannte weder ihre Adresse noch ihre Geschäftsanschrift oder ihre persönlichen Daten, dennoch war er entschlossen, ihr gegenüber das einzig Richtige zu tun – entschlossen, mit einem Wort, sie zu heiraten.
Als Harold ihn zu Ende angehört hatte in dem stickigen Zimmer, mit seiner ungeduldigen, quengeligen Frau im Untergeschoß und der Wirtin, die jedesmal die Miene einer Tragödin aufsetzte, wenn sie mit dem Tee auf Zehenspitzen durch den Raum schlich, empfand er nichts als Erleichterung. Nur Stanley konnte so hoffnungslos naiv sein, dachte er, Stanley der Heilige, Stanley der Behütete, und er wollte über diese Naivität nicht lachen – es war eine heikle Situation, das wußte er –, doch zum Schluß konnte er sich nicht beherrschen. »Das ist es also?« fragte er. »Das ist alles?« Und dann lachte er. Prustete heraus. Ließ ein Wiehern ertönen, das seine Frau unten hören konnte, während sie vor Ärger das Gesicht verzog und sich schwor, daß sie ihm das noch heimzahlen würde.
»Stanley, Stanley, Stanley«, sagte er schließlich, das Gelächter drang noch immer in Sturzbächen aus ihm heraus, wie ein Wolkenbruch, es ließ sich einfach nicht aufhalten. »Begreifst du denn nicht? Das war eine Prostituierte, eine putain, eine Hure. Die hat dich und tausend andere Männer gehabt. Sie ist nicht reiner als der Beelzebub – und außerdem hat sie dich noch gefleddert. Was glaubst du wohl, warum sie sich verdrückt hat? Weil deine Krawattennadel mit den Saphiren, deine goldene Uhr und die Hundert-Franc-Scheine in deiner Brieftasche für einen hübschen sechsmonatigen Urlaub in einem höchst komfortablen Hotel von Marseille oder Saint-Tropez oder sonst irgendwo reichen.«
Stanley setzte sich auf und starrte auf das dunkle Gebräu in seiner Teetasse wie ein Selbstmörder auf einer Seinebrücke. Die Stimme erstarb ihm in der Kehle. »Ich muß sie heiraten.«
»Jetzt sei nicht absurd.«
Diese verschwollenen Augen, der gequälte Blick des Eremiten, des wahnsinnigen, leidenden Heiligen: Stanley starrte ihn an. Fixierte ihn. »Du hast leicht reden – du bist ein geachteter Mann. Du bist verheiratet. Du bist reich.«
Harold sprang auf, er verlor die Geduld und schritt mit der leeren Teetasse in der Hand auf und ab. Es wurde immer später, Edith war fuchsteufelswild, und Stanley, der trübsinnige, wirklichkeitsfremde Stanley verschwendete seine kostbare Zeit. Er versuchte es noch einmal, blieb dicht vor ihm stehen, baute sich genau vor ihm auf. »Sie ist eine Dirne, Stanley, eine Professionelle. Du schuldest ihr überhaupt nichts, weder Geld noch irgendeine Buße – an deiner Stelle würde ich mir eher wegen Krankheiten Gedanken machen, nicht übers Heiraten. Das ist verrückt. Ein Wahnsinn. Unverantwortlich!« Plötzlich brüllte er. »Man heiratet keine Hure!«
»Sie ist keine Hure.«
»Ist sie doch.«
»Ist sie nicht. Du kennst sie ja nicht einmal.«
»Warum hat sie sich dann von dir vernaschen lassen? Warum hat sie dich mit nach Hause genommen? Na? Was glaubst du wohl, warum die ihr Büro auf der Straße hat?«
Stanley schwieg daraufhin lange Zeit, und sie sahen einander voll wechselseitigem Abscheu an, wobei jeder sich fragte, wie es dazu kommen konnte, daß er mit dem anderen verwandt war. Von unten drang leise das pausenlose Geschnatter von Mrs. van Pele herauf, die mit ihren Gemeinplätzen Edith zu Tode langweilte. Schließlich, gerade als Harold dachte, er könne es nicht länger ertragen, und kurz davor war, türenknallend aus dem Zimmer zu gehen, um den kleinen Bruder und dessen heiligmäßige Skrupel zur Hölle fahren zu lassen, sprach Stanley doch noch einmal. »Was soll ich nur Mutter sagen?« fragte er.
Von da an wich Stanley nie wieder vom schmalen, geraden Pfad der Tugend. Gleich nach seinem Unterricht bei Monsieur Julien kam er heim, und wenn er nicht mit Mrs. van Pele betete oder sie mit Interpretationen von »Macedonia« und »Surely Goodness and Mercy Will Follow Me All the Days of My Life« in seiner hellen Stimme erfreute, nahm er, um seine Abende auszufüllen, Gesangsstunden bei dem namhaften Tenor Antonio Sbriglia. Er hegte keinerlei Gedanken an Kartenspiele, ob obszöne oder andere, keinen Wunsch, Cafés oder auch nur Restaurants zu besuchen, und die Ehe mit Mireille Sancerre oder sonstwem war kein Thema mehr für ihn. Unter Monsieur Juliens Anleitung polierte er sein bescheidenes Talent auf, brachte eine Reihe von Kohlestudien des Pont Neuf zu verschiedenen Tageszeiten zustande, von der grimmigen Ruhe der Morgendämmerung bis zur miasmatischen Melancholie des schwalbenzerzausten Abends, und er wurde Experte in der Reproduktion von Cézannes Äpfeln. Ernsthaft schockiert war er von den Exzessen Toulouse-Lautrecs und Edgar Degas’, und obwohl ihn Monsieur Julien zum Studium des menschlichen Körpers ermunterte, lehnte er dies hartnäckig ab. Und genau zwei Monate nachdem seine Mutter die Heimfahrt in die Vereinigten Staaten angetreten hatte, nahm auch er das Schiff nach Hause.
Während der folgenden sechs Jahre bewohnte Stanley mit seiner Mutter die Familienfestung in der Rush Street Nr. 675, gefangen in der Inszenierung seiner Kindheit wie eine Briefmarke in einem Philatelistenalbum. Er hatte jetzt natürlich seinen eigenen Raum, mit Blick auf die Gartenanlagen und einem privaten Bad, doch das Kinderzimmer, in dem er den Großteil seines Lebens verbracht hatte, blieb unverändert, und die Korridore waren ein Mischmasch erinnerter Gerüche, vom scharfen Biß der Kampfersalbe, mit der sein Vater sich Fußknöchel und Knie einreiben ließ, um die Qualen des Rheumatismus zu lindern, bis zum gespenstischen Echo von Mary Virginias französischem Parfum und dem nachwirkenden muffigen Aroma eines seit langem toten Beagle-Jagdhunds namens Digger. Er hatte einen Vollzeitjob in der Mähmaschinenfirma, deren Präsident Cyrus jr. und deren Vizepräsident Harold war, und jonglierte mit seinem Zeitplan, um seine Seminare an der Northwestern University im Griff zu behalten, wo er Vertragsrecht studierte. Offiziell war er Rechnungsprüfer des Unternehmens, doch Nettie bereitete ihn darauf vor, auch die gesamte Rechtsabteilung zu kontrollieren, womit sie alle wichtigen Interessen der Firma McCormick in den Händen ihrer Söhne konzentrierte, nach dem Vorbild der Medici.
Was Stanleys soziales Leben anging, so beschränkte es sich auf zwei alte Studienfreunde aus Princeton – von denen einer in New York lebte und nur selten die Reise in den Mittelwesten antrat – und auf die Gefährten, die seine Mutter unter den langweiligsten und selbstgefälligsten Sprößlingen der strengsten und frommsten Kaufmannsfamilien Chicagos für ihn aussuchte. Nach etlichen gescheiterten Versuchen entschied sie dagegen, zu ihren Abendessen und Kartenspielnachmittagen auch junge Damen einzuladen, da sie befand, ihr Stanley, dessen Gesundheit immer noch labil war, sei nicht bereit für die emotionalen Anspannungen von Brautwerbung und Eheschluß, ebensowenig wie sie bereit war, ihn freizugeben – vorerst jedenfalls. Gewiß würde er eines Tages heiraten, das stand außer Frage, aber noch war er zu jung, zu schüchtern, zu abhängig von der Anleitung seiner Mutter.
Im Frühling seines zweiten Jahres in Chicago, als das Pariser Debakel allmählich in seiner Erinnerung verblaßte (obwohl Mireille Sancerres Gesicht vor seinem inneren Auge weiterhin zu den ungelegensten Momenten auftauchte, etwa während er sein Abschlußexamen in Vertragsrecht ablegte oder ein halbes Dutzend Oberhemden bei der verwelkten brünetten Verkäuferin im Kaufhaus Twombley bestellte), willigte er ein, seine Mutter nach Santa Barbara zu begleiten, wo sie sich um die Planung des Hauses für Mary Virginia kümmern wollten. Das Frühjahrssemester war gerade zu Ende, und mit Unterstützung seines Bruders konnte er sich sechs Wochen Urlaub von der Mähmaschinenfirma nehmen. Die Geschwister beschlossen, daß einer von ihnen der Mutter bei der schweren Aufgabe beistehen sollte, Mary Virginia ein für allemal unterzubringen, und da Anita einen kleinen Sohn zu pflegen hatte und Cyrus jr. ebenso wie Harold viel zu sehr mit der Firma befaßt war, um sich freizunehmen (man machte eine schwierige Zeit durch: da war die beinharte Konkurrenz von Unternehmen wie Deering, Warder, Bushnell und Glessner, und es tobte eine wahre Schlacht um den Zugang zu den Märkten von Indien und Französisch-Indochina), fiel die Wahl auf Stanley.
Er hatte nichts dagegen. Überhaupt nichts. Er gab sich zwar Mühe, es zu verbergen, aber er fühlte sich nicht ganz auf der Höhe – seit einiger Zeit schon nicht. Es waren die Nerven, das und eine gewisse Intensivierung seiner zwanghaften kleinen Gewohnheiten, wie etwa das ständige Händewaschen, bis die Haut wundgescheuert war, oder das fünfzehn- bis zwanzigmalige Nachrechnen einer Addition, weil er jedesmal fürchtete, einen Fehler begangen zu haben, und sich immer wieder bestätigte, daß dies zwar nicht der Fall war, aber leicht hätte geschehen können, wäre er nicht so wachsam, oder das Vermeiden des Buchstabens R in allen Aufzeichnungen, denn das war ein böser Buchstabe, der ihm unverständliche Anschuldigungen und boshaft schnarrende Kritik in die Ohren knurrte. Er hatte zu hart gearbeitet. Hatte sich zuviel Druck aufgelastet, um sein Jurastudium mit Auszeichnung abzuschließen und zudem seine Aufgaben in der Mähmaschinenfirma so zu erfüllen, wie es seine Mutter von ihm erwartete. Sollten Cyrus und Harold ruhig dableiben – er war froh über die Abwechslung. So froh, daß er beim Packen sogar vor sich hin pfiff. Es waren die Koffer, die er aus Frankreich mitgebracht hatte, und obwohl ihm das Problem, was er mitnehmen und was er dalassen sollte, ziemlich zu schaffen machte – er legte lange Listen in immer kleinerer Schrift auf abgerissenen Zetteln an, auf Pappkartonstücken und allem, was ihm in die Finger kam, und verlor sie dann prompt –, gelang es ihm letztlich doch, alles Notwendige in drei Überseekisten und etliche Koffer und Reisetaschen zu packen, die allerdings so vollgestopft waren, daß sie am Bahnhof einen ganzen Trupp von Gepäckträgern beinahe kapitulieren ließen. Am Vormittag ihrer Abfahrt, die Sonne strahlte so hell, daß alles von innen zu leuchten schien, fühlte er sich wie ein Höhlenmensch, den man aus unterirdischen Tiefen freigelassen hatte.
Am ersten Tag der Reise saß er die ganze Zeit nur am Fenster, ein ungeöffnetes Buch auf dem Schoß. Die Landschaft beruhigte seine Augen, und er sah zu, wie die Sonne von Chicago mit ihm westwärts nach Missouri und dann in den Krieg mit den Wolken zog. Er schlief tief und fest und aß gut (seine Mutter hatte die unerläßlichsten Dienstboten mitgenommen, darunter die norwegische Köchin), und am dritten Tag war er so entspannt, daß er schon wieder unruhig wurde. Deshalb schlug Nettie vor, er solle sich die Pläne für Mary Virginias Haus ansehen und seine Ideen dazu äußern, sie sei nicht ganz sicher hinsichtlich des Musikzimmers, ob man es im Ost- oder im Westflügel einrichten solle, je nachdem ob Mary Virginia lieber morgens oder abends spielte und Sonne mochte oder nicht, andererseits machte es vielleicht gar nicht soviel aus, weil sie in Kalifornien ja ohnehin massenhaft Sonnenschein hatten. Was war seine Meinung dazu?
Stanley warf sich über die Blaupausen wie ein Mann, der eine Rettungsweste von der Reling eines sinkenden Schiffes reißt. Er breitete sie auf dem Tisch aus und studierte sie stundenlang, vergaß die Umgebung, seine Mutter, die Dienstboten, die gelben Ebenen von Texas und die fernen staubigen Cowboys auf ihren fernen staubigen Pferden. Mit einem Winkellineal und einer Handvoll frisch gespitzter Bleistifte nahm er etliche höchst detaillierte Änderungen vor, versetzte Wände, trug Höhenangaben ein, wo sie fehlten, skizzierte sogar Buschwerk im Garten und hie und da die schraffierte Gestalt von Mary Virginia, wie sie am Flügel saß oder über den Innenhof schlenderte.
Was hielt er von den Plänen? Daß sie überhaupt nicht stimmten, daß sie eine Beleidigung waren, das Produkt ahnungsloser Hirne und falsch verstandener Voraussetzungen. Und was dachte er noch? Daß sie Shepley, Rutan & Coolidge wegen Inkompetenz kündigen sollten, denn jeder Narr von der Straße hätte einen praktischeren und ansprechenderen Entwurf liefern können, und der Vertreter der Architektenfirma in Santa Barbara möge besser sein Reißbrett mitbringen. Doch zu seiner Mutter sagte er nur: »Wenn es dir recht ist, würde ich gern ein paar Abänderungen vorschlagen...«
Am Ende blieben sie fast vier Monate lang, sie stiegen im Arlington ab (das Potter mit seinem schönen Meerblick, den sechshundert Zimmern und dem extra angefertigten Porzellangeschirr im Wert von einundzwanzigtausend Dollar sollte erst 1903 vollendet werden), und in dieser Zeit änderte Stanley die ursprünglichen Pläne bis ins letzte Detail, von der Höhe der Türen bis zur Form der Wandsimse im Bedienstetentrakt. Und zwar änderte er sie täglich, manchmal stündlich, besessen und fixiert, wie festgeklemmt in einem Spalt der Konzentration. Wie zu erwarten war, führte dies zu beträchtlichen Reibungen mit denjenigen, die man für die Errichtung des Gebäudes engagiert hatte. Der Architekt von Shepley, Rutan & Coolidge kündigte noch im selben Monat, ebenso der Baumeister, und der Nachfolger des Architekten, der extra aus Boston geholt worden war, hielt es keine Woche aus. Stanley ließ sich nicht beirren. Und Nettie ebensowenig. Sie vertraute ihrem Sohn, und es freute sie, daß er sich so besorgt um das Wohlergehen seiner armen Schwester zeigte und seine ganze Fowler-Intensität in die Blaupausen hineinlegte: lauter wunderschöne rechtwinklige Grund- und Aufrißzeichnungen mit diesen allerliebsten Gebüschtupfern und den kleinen Männchen in den Zimmern – und es war tatsächlich die Fowler-Familie, die da aus ihm herausbrach, das vollendete Ebenbild ihres eigenen Vaters, womit sie den McCormicks gar nichts absprechen wollte, keineswegs, aber sie kannte ihren Jungen. Und wie er diesen Architekten und Baumeistern, ja sogar den sizilianischen Steinmetzen Beine machte... ihm entging einfach nichts. Und daß er etwas unentschlossen dabei war, nun, das war eben auch ein Zug der Fowlers – es hieß ja nur, daß er leidenschaftlich Anteil an etwas nahm, sich immer und immer wieder selbst überprüfte, alles in Frage stellte.
Bei dieser Lage der Dinge begannen die Bauarbeiten ernsthaft erst dann, als Nettie und Stanley nach Chicago abreisten und der gleichmütigste aller Architekten endlich zügig arbeiten konnte, ohne daß ständig Fragen gestellt wurden. Stanley kehrte zu seinem früheren Lebensrhythmus zurück – zu den Kursen in Schadenersatzrecht und Buchhaltung, in das große offene Büro hoch über dem Werksboden der Mähmaschinenfabrik, in dem das tyrannische R überall in den Akten lauerte, zu den Abendessen mit seiner Mutter und irgendeinem Chester, Grover oder Cornelius, den sie an diesem Abend für die angemessene Gesellschaft hielt – und bald vergaß er alles: Mary Virginia, den Ort ihrer Verbannung, Kalifornien. Aber er hinterließ seine Spuren in dem Haus, nicht nur in der komplexen Serie von Änderungen, die schließlich das Haus selbst wurden, sondern auch in einem anderen, höchst wesentlichen Merkmal: er gab ihm den Namen.
Als Nettie das Grundstück erwarb, war es bekannt unter dem Namen des Mannes, von dem sie es gekauft hatte, O. A. Stafford, und wurde das »Stafford-Haus« genannt, der Vorbesitzer war Oberst Greenberry W. Williams gewesen, der es seinerseits von José Lugo und Antonio Gonzales erworben hatte, den beiden dueños des ihnen ursprünglich von Mexiko zugewiesenen Landes. Inzwischen sprachen die Leute von der Liegenschaft, die immer noch aus Staffords zweigeschossigem Holzgebäude inmitten von Orangen- und Olivenhainen und dem üppigen Garten bestand, als dem »McCormick-Haus«. Nach Stanleys Ansicht war das schlichtweg unangemessen: I.G. Waterman, dem das Nachbargrundstück gehörte, nannte seinen Besitz »Mira Vista«, und die Goulds in der Olive Mill Road lebten in »La Favorita«. Dann gab es noch »Piranhurst«, »Riso Rivo«, »The Terraces«, »Cuesta Linda« und »Arcady«. Wenn Mary Virginias Haus samt Grundstück auch nur halbwegs ihre Klasse und ihren Status reflektieren sollte, dann mußte sich irgendwer einen geziemenden Namen dafür ausdenken, und während Cyrus, Harold und Anita in Chicago ahnungslos ihren Geschäften nachgingen und seine Mutter immer mehr Zeit im Garten des Hotels herumsaß, wurde Stanley diesbezüglich langsam nervös. Tatsächlich entwickelte sich die Namenlosigkeit des Anwesens während seines letzten Monats dort für ihn allmählich ebenso zur Besessenheit wie die schlampigen Pläne, und er blieb bis spät in die Nacht auf, weil er auf der Suche nach Inspirationen spanische und italienische Wörterbücher durchforstete und über alten Karten der Toskana, der Estremadura und Andalusiens brütete.
Und dann, eines Nachmittags in der letzten Woche ihres Aufenthalts in Kalifornien, hatte er die Idee. Er spazierte gerade mit seiner Mutter und Dr. Franceschi, dem Landschaftsgestalter, über den Besitz und erörterte seine Ansichten zu Karyatiden, Statuen im allgemeinen und zur Funktion von Springbrunnen in koordinierten Arrangements aus künstlichen und natürlichen Elementen, als sie von einem unwegsamen Pfad auf eine Wiese mit einzelnen Eichen hinaustraten, die sich alle in eine Richtung neigten. Vor den Bergen ragten die Silhouetten der Bäume im Sonnenglanz auf, die Zweige abgespreizt wie die Arme einer Gruppe von Schlittschuhläufern, die alle im selben Augenblick das Gleichgewicht verloren. Es war Oktober, die Zeit der luftigen Klarheit, wenn der Himmel ganz weit zurückweicht, bis zu den Scharnieren der Finsternis dahinter. Schmetterlinge flatterten bläßlich über dem hohen gelben Gras. Auf den Zweigen zwitscherten Vögel.
»Was für seltsame Bäume, Dr. Franceschi«, sagte Nettie und schirmte die Augen vor der Sonne ab, »wie sie alle so geneigt sind, als hätte sie jemand im Vorbeigehen umgekippt.«
Dr. Franceschi war ein schmächtiges Männchen von Mitte Fünfzig mit einem gemüseartigen Bart, flinken Händen und den trockenen schnellen Augen der Eidechsen, die zu ihren Füßen pfeilschnell über die Felsen flitzten. »Das liegt daran, daß der Wind hier meist aus derselben Richtung weht«, sagte er, und seine kehlige Stimme klang wie ein Querflötensolo, »von den Bergen dort herunter. Man nennt ihn den ›Sundowner‹ – den Wind, meine ich.«
»Und was ist mit dem da drüben?« fragte Stanley und zeigte auf einen Baum, der von dem Muster abwich, denn sein Stamm stand vertikal, und die Äste waren so ebenmäßig verteilt wie die Zinken einer Gabel. Er war knapp hundert Meter entfernt, dennoch konnte Stanley sehen, daß der Baum von einem Ring aus Fels umgeben war, wie von einem versteinerten Kragen, der ihn festzuhalten schien.
»Ach, der, ja: diesen Baum wollte ich Ihnen ohnehin noch zeigen. Er ist in der Gegend eine bekannte Kuriosität.«
Und dann überquerten sie die offene Wiese, Nettie wackelte kompakt und vollbusig dahin, der hagere Gartenbauarchitekt schwang sich beim Gehen auf die Zehenspitzen wie ein Ballettomane, und Stanley spazierte mühelos mit großen, ausgreifenden Schritten, die aus seiner Fortbewegung eine Art Gleitflug zu machen schienen. Im Näherkommen sah Stanley, daß der massive Sandsteinblock, der den Baum umfing, in der Mitte gespalten war und der Baum offenbar aus diesem Spalt herauswuchs. »Wirklich sehr sonderbar«, sagte Dr. Franceschi, »eine dieser Anomalien der Natur – sehen Sie, vor vielen Jahren fiel eine Eichel von diesem Baum da« – er deutete auf einen Eiche – »oder vielleicht auch von jenem dort, wer weiß, und suchte sich mitten auf diesem kahlen Stück Fels eine kleine Nische von Nährstoffen – ungünstigere Lebensumstände sind hier in der Umgebung wohl schwerlich zu finden, glauben Sie mir...«
Doch sie waren angekommen, und Stanley legte die Hände verblüfft auf den Fels, der wuchtige Block war fast mannshoch und groß wie ein Leichenwagen, er faßte sich rauh an und strahlte eine leise Wärme ab. Aus so etwas waren die Gebeine der Erde gemacht, massiver Fels, undurchdringlich, undurchlässig, ein Symbol für alles Dauerhafte, und hier nun war er entzweigespalten, zerrissen wie eine Bahn billigen Tuches, und das von einem so kleinen, so heimtückischen Ding wie einer Eichel...
riven rock der zerrissene fels...
so hieß der ort an dem er nun war und niemand brauchte ihm das zu sagen oder an seinem bett zu flüstern als wäre er schon tot und das alles mit dem gestank von unerlaubter unzucht an den fingern so wie eddies finger denn eddie war immer bei den frauen unten zugange er konnte sie hören und riechen und fühlen in ihrem weiblichen dasein mit eng zusammengepreßten beinen draußen im garten und oh mr. mccormick kann niemals und darf niemals und wird auch niemals davon erfahren einer wie er der seine unnatürlichen begierden nicht im zaum halten kann und ich hab schon mal von so einem mann gehört das hat mir meine cousine nancy cooper in sacramento erzählt der war bestückt wie ein stier und er hatte eine frau eine negerin die ist zehn kilometer weit zu fuß zu ihm gelaufen nur damit sie ihn in sich drin spüren konnte und wenn man nancy glaubt und das tu ich dann war es einfach zuviel für sie und sie ist in einem überschwang von lust am schlaganfall gestorben und er ist danach gleich losgezogen und hat sich eine andere negerin gesucht genau wie sie nur größer...
aber sie sollten nur flüstern sollten sie an seinem bett stehen und ihre totengebete aufsagen – »Denk doch mal nach, Mart, das ist Stanley McCormick, einer der reichsten Männer der Welt, und er hat nicht mal eine Ahnung davon« – und in alle seine körperöffnungen eindringen mit ihren schläuchen und röhren und ihn auf die seite wälzen in dieser dusche die wie eine chinesische wasserfolter war ja was dachten sie denn wer er war eddie und mart und dr. gilbert van tassel affenmann hamilton daß sie ihn einfach so vergewaltigen durften ohne schutz und ohne versteck nackt wie eine ratte und warum ließen sie ihn nicht einfach in ruhe sie alle seine mutter und katherine und cyrus der präsident und harold der vizepräsident und auch anita mit ihren fetten prallen talgigen brüsten und ihren schmeichlerischen händen auf ihm als wäre er eine art schoßtier oder so was wie ein baby...
aber es waren seine nerven und er war blockiert es war jedoch nur ein vorübergehendes leiden nicht so wie bei mary virginia seiner irrenhausverrückten schwester mit dem bleichen alptraum ihres nackten körpers und er würde bald wieder auf den beinen sein und jeden tag gesünder werden genau wie damals beim erstenmal im mclean aber nein das würde er nicht das würde er niemals denn was sie alle nicht begriffen und verstanden keiner von ihnen und schon gar nicht katherine die nur auf ihn draufklettern und seinen penis in ihrem inneren verschwinden lassen wollte so wie mireille sancerre ihre finger und sie würde ihm keine ruhe lassen keine sekunde keine minute keine stunde lang sogar jetzt lauerte sie irgendwo hier in der nähe er wußte es mit ihrem feldstecher und dem kummervollen mitleidigen gesicht ganz zerfurcht wie eine zitronenpresse armer stanley armer armer stanley aber sie alle kapierten nicht daß er keinen muskel regen durfte um sein leben zu retten weil es nämlich die Richter nicht erlaubten sie heulten und kreischten ihre verwünschungen wenn er auch nur die zunge ein stück bewegte weil der nach sex stinkende eddie ihm diesen schlauch in die kehle rammte diese Richter verboten ihm sich zu rühren und brüllten aus jeder ecke des zimmers seine sünden heraus müßiggang und verderbtheit und abartige sexualität und eine stelle als rechnungsprüfer nicht als präsident oder auch nur vizepräsident und unzucht in seinem herzen und impotenz bei seiner frau und hochmut vor seiner mutter die Richter schrien ihn nieder mit lippen die zuckten wie regenwürmer auf einer schaufel durch die schwarzen knorrigen affenbärte die ihre münder verdeckten und ihre kreischenden feuchten fotzen...
aber die ganze nacht lag er da und den ganzen tag lang war es dienstag war es nicht immer dienstag und wieder dienstag und immer dienstag während die monate herabfielen wie das laub von den bäumen und dann auch die jahre und er betete zu den Richtern ihn doch freizugeben seine strafe umzuwandeln ihn wegen guter führung zu entlassen wenn er sich nur vor der sünde bewahren könnte wenn er nur wieder zurück in sein geschirr gelangen könnte nur einmal noch nur noch ein einziges mal...