Eva
Die erste Frau, die Stanley McCormick je
sah – wirklich sah, so wie Adam seinerzeit Eva –, war seine
Schwester Mary Virginia. Stanley war damals neun, ein schmächtiger,
altkluger, verschlossener Junge mit schreckhaftem Blick und dem
Drang, sich zu verstecken. Er schlüpfte gern unter irgendwelche
Dinge – Betten, Sofas, wahre Bollwerke, die er aus Kissen im Salon
oder aus Klappstühlen in der geräumigen Höhle des Tanzsaals
errichtete. Das waren seine geheimen Zufluchtsorte, Schlupfwinkel
und Verstecke, wo er seinem Bruder Harold entgehen, wohin er sich
vor dem Klavierlehrer, der Gouvernante, seinen Schwestern und jenen
steifen, langnasigen Figuren flüchten konnte, die gerade als
Missionarin des Tages zu Frühstück, Tee oder Abendessen eingeladen
waren. Vornehmlich aber konnte er, gut versteckt und sicher, mit
einer Tüte saurer Drops zur Hand, vor sich ein Abenteuer von Jules
Verne oder James Fenimore Cooper im milden Schein der Leselampe,
seiner Mutter entrinnen. Sie, deren Liebe Stein pulverisieren und
die Planeten aus ihrer Bahn werfen konnte, so daß sie auf ihn
niederstürzten und ihn in seinem Bett zermalmten, sie floh er vor
allem – und suchte doch vor allem ihre Gegenwart.
Es war im Mai 1884, kurz nach dem Tod seines
Vaters. Im Haus herrschte Trauer – in ganz Chicago trauerte man, im
ganzen Land, ja auf der ganzen grenzenlos weiten Welt –, und
Stanley wußte nichts mit sich anzufangen. Nie zuvor war jemand
gestorben, nicht in seiner unmittelbaren Umgebung jedenfalls, und
mehr als der Tod selbst verwirrte ihn, nicht genau zu wissen, was
von ihm erwartet wurde, abgesehen von einer kummervollen Miene.
Sollte er sich auf die Brust trommeln und die Treppen
hinunterkugeln, sich so gebärden wie Mary Virginia? Die Leute
tätschelten ihm den Kopf, beugten sich herab, um ihm etwas ins Ohr
zu raunen oder in seine entsetzten Augen zu starren. Sollte er
weinen, wäre das angemessen? Oder den Schicksalsschlag tragen wie
ein Mann?
Seine Mutter war keine Hilfe. Sie war pausenlos
in Bewegung, setzte sich nicht einmal kurz hin, ihre Miene war so
gramzerfurcht, daß sie aussah wie ein von Hafen zu Hafen
gewuchtetes Gepäckstück, und wohin sie auch ging, immer war sie
durch eine wahre Phalanx von Trauergästen von ihm getrennt – von
ihm, von Stanley, ihrem letzten und
jüngsten Kind, ihrem Baby. Er wollte ernsthaft sein, wollte brav
sein, wollte angemessen trauern, sich in der Situation bewähren,
ihr Freude bereiten, doch jedesmal, wenn er um ihre Zustimmung
heischend aufblickte, sah er nichts als Haare und Ohren und
Hinterköpfe. All diese Köpfe sammelten sich um sie, sie saßen auf
Schultern, die wie wandelnde Mauern anmuteten, überall erblühten
plötzlich schwarze Armbänder, und auf seiner Augenhöhe sah er
nichts als Hände, die wie durch einen Zaubertrick verschwanden und
wieder auftauchten, Hände mit großen Knöcheln und dicken Adern, vor
Juwelen funkelnd und die Getränke und Brötchen packend, die die
Dienstboten inmitten des Trauerlärms eilig herbeischafften. Er
stand dabei, verschüchtert, in Kniehosen und einem zu engen
Hemdkragen, und versuchte sich dem Gedränge zu entziehen. Er hatte
nie geahnt, daß der Tod so laut sein konnte.
Und er wurde noch lauter. Pausenlos trafen
Telegramme ein, die Zeitungen brachten fette Schlagzeilen und
Nachrufe auf den Titelseiten. Angestellte der
McCormick-Mähmaschinenwerke schickten eine aus fünftausend
makellosen Gardenien bestehende Nachbildung der Originalmaschine
mit symbolisch gebrochenem Antriebsrad, und vierhundert Arbeiter
schlurften feierlich in Zweierreihe am Katafalk vorbei.
Präsidenten, Premiers, Sultane, Großwesire, Kaiser und Kalifen
sandten Kondolenzschreiben. Cyrus Hall McCormick, Erfinder der
Getreidemähmaschine, Multimillionär und Träger des Kreuzes der
französischen Ehrenlegion, dieser schrullige, stiernackige,
lieblose, rheumatische, asthmatische alte Tyrann war mit
fünfundsiebzig verstorben. Er war tot, und nun lag er im Salon in
seinem Sarg, bleich wie eine Kröte in einem Glas mit
Formalin.
Als für Stanley die Zeit kam, ihm die letzte
Ehre zu erweisen, wurde er von seinem großen Bruder Cyrus jr. in
den Salon geführt. Cyrus jr. war damals ein bärtiger junger Mann
von fünfundzwanzig Jahren, der nun urplötzlich ein Unternehmen mit
einem Jahresumsatz um die fünfundsiebzig Millionen Dollar zu leiten
hatte und von dem alle meinten, er sähe aus wie der Papa. Stanley
sah diese Ähnlichkeit nicht. Sein Vater war ein alter Mann gewesen,
der älteste Mensch überhaupt, den er je gesehen hatte –
fünfundsechzig, als Stanley geboren wurde, siebzig, als er langsam
begriff, wer er war, und am Ende schließlich ein fleischloses,
seelenloses Kunstwesen, ebenso uralt und unergründlich wie ein
fossiles Dinosaurierei. Stanley mochte Dinosaurier – er träumte
gern von den scharfen Reißzähnen der großen Fleischfresser unter
ihnen und von den Panzerplatten, mit denen sie sich schützten,
sogar die langsamsten und allerkleinsten – aber seinen Vater mochte
er nicht. Oder hatte ihn nicht gemocht.
Und als er sich dem Sarg näherte, Cyrus’
mächtige, weiche Hand im kraftlosen Griff seiner eigenen brannte
wie ein Ofen, wie eine Dampfmaschine, wie flüssige Lava, da empfand
er nichts als Schuldgefühle. Keinen Kummer, keinen Verlust, nur
Schuld. Die Leute sahen ihn an und hielten ihn für einen trauernden
Sohn, aber sie wußten nicht, daß Stanley, wenn seine Mutter
allabendlich die Familie zusammengerufen hatte, um für die Genesung
des Vaters zu beten, den Kopf gesenkt und Gott angefleht hatte, er
möge den alten Mähmaschinenkönig für immer zu sich holen. Und Gott
hatte ihn erhört, denn Stanley liebte seinen Erzeuger und Ernährer
nicht so, wie es einem Sohn anstand – er fürchtete ihn, fürchtete
und verabscheute ihn, und er schrak zurück vor seiner dröhnenden,
keuchenden Stimme, vor den knorrigen, wie mit Lack überzogenen
Händen und diesem Geruch nach etwas Totem, Verwesendem, der wie ein
Gift aus den geblähten, haarigen alten Nasenlöchern strömte. Es war
gräßlich, seinen Vater nicht zu lieben, eine Sünde, die durch alle
Spalten der Hölle widerhallte und dem Teufel selbst in den Ohren
gellte. Stanley war ein Vatermörder, ein undankbarer Wurm. Und
dabei war er erst neun Jahre alt.
Aber dort stand er, der Sarg, riesengroß wie
ein Schiff und so blank poliert, daß man sich darin spiegeln
konnte, nicht nur in dem Messing oder Gold oder was immer es war,
sondern sogar im Holz. Der Sarg stand auf einem Podest in der Mitte
dieses so vertrauten Raumes mit den alten französischen Möbeln, den
getäfelten Wänden und der gewölbten Decke, die mit einem
sommerlichen Himmel bemalt war, samt Schäfchenwolken und fliegenden
Vögeln, und das alles ließ ihn noch größer wirken. Dies war das
Schiff, in dem der Mähmaschinenkönig seine letzte Reise antreten
würde, hinab an jenen Ort, wo es immer dunkel und feucht war, wo
die Insekten sich in sein Fleisch fressen würden, um dort ihre Eier
zu legen... und dann hinauf in den Himmel, weil Stanleys Vater ein
guter Mann gewesen war, der der Menschheit wie auch dem lieben Gott
gedient und Zehntausende gespeist hatte, genau wie Jesus Christus –
das wußte Stanley und würde es niemals abstreiten. Er wußte es,
weil seine Mutter es ihm erzählt hatte. Wieder und wieder hatte sie
es ihm erzählt, so daß er mit einer ganzen Litanei über die Güte
seines Vaters aufwuchs, die er dann mit dem lebendigen Exemplar
dieses griesgrämigen, verbitterten, unversöhnlichen alten Mannes
vergleichen konnte, der im Flur oben in seinem Rollstuhl
kauerte.
Stanleys Beine waren wie aus Blei, die Füße wie
am Boden festgeklebt. Es mußten an die zweihundert Menschen
anwesend sein, Freunde, Verwandte und Fremde drängten sich Schulter
an Schulter, und er konnte ihnen nicht ins Gesicht sehen, konnte
nicht einmal den Kopf heben. Er betrachtete seine Füße, verlor sich
im Glanz seiner Knöpfstiefel, die im Teppich versanken und wieder
hervorkamen, versanken und hervorkamen, Schritt für Schritt, näher
und näher. Die Getränke und Brötchen waren jetzt abgetragen, doch
das ganze Haus roch noch danach, besonders dieser Raum. Es roch wie
in einer Küche, es stank nach Kanapees, Räucherwurst, Fischrogen
und noch etwas anderem, Undefinierbarem – nach Parfum
wahrscheinlich. Aber nicht die Sorte, wie sie Frauen verwendeten –
es roch durchdringender, schärfer, intensiver und beißender. Er
dachte gerade darüber nach, was für ein Parfum das sein könnte und
ob es der Leichenbestatter und seine lautlos umherschleichenden,
händereibenden Assistenten wohl wüßten, als Cyrus jr. plötzlich
seine Hand drückte, es war ein abrupter, ungestümer Druck, und
Stanley hob den Blick und sah die harte, blitzende Messingstange
des Sarges unmittelbar vor sich, aus dem die Nase seines toten
Vaters ragte wie einer dieser bleichen Pilze, die nach Gewittern
aus der Erde sprießen. Ihm war schwindlig, als hätte man ihm Äther
verabreicht, seine Beine versagten ihm fast den Dienst – es war,
als würden sie gar nicht mehr von Knochen gehalten, wären nicht
länger an den Hüften befestigt –, und dann war seine Mutter da, sie
erhob sich neben dem Sarg und schloß ihn in die Arme.
Sie hatte dort im Dunkel gekniet wie eine Art
Bittstellerin, wie die Witwe eines Maharadschas, die sich auf den
Scheiterhaufen wirft, und er sah, daß auch seine Schwester Anita
dort kauerte, eine trauernde Achtzehnjährige, ihr breites,
gramvolles Gesicht wie ein abgeernteter Acker, und Missy Hammond,
die Gouvernante, mit ihrem entstellenden Buckel und den kleinen,
rotgefleckten Gerinnseln ihrer Augen, aus denen sie ihn schwermütig
anstarrte. Und Harold – Harold kniete ebenfalls bei ihnen, die
Schultern eingezogen, die Hände gefaltet, Harold, sein Vertrauter
und Spielkamerad, nur zwei Jahre älter als er und von virtuoser
Gelenkigkeit, Harold, der immer nur Football spielen wollte, und
dabei austeilte und einsteckte, bis er nicht mehr vom Dreck zu
unterscheiden war, in dem sie sich wälzten, und nun war er
verwandelt in einen professionellen Trauergast, ebenso apathisch
und geduckt wie einer der Assistenten des Bestattungsunternehmers.
Es war ein Schock: Harold hatte ihren Vater geliebt, wirklich
geliebt, und Stanley nicht. Die Scham brannte in ihm, und er
verbarg den Kopf im Kleid seiner Mutter.
Und dann stand er plötzlich, irgendwie, mit
seiner Mutter oben auf dem Podest und starrte auf das erschlaffte
Antlitz seiner Alpträume hinab. Da lag er, sein Vater, monströs im
Tod, groß wie ein Riese, wie ein Menschenfresser, ausgestreckt auf
dem Rücken, als ob er schliefe, die Augen geschlossen, der Bart
eine graue Schaumkrone über seiner Kehle, dem Kinn und der neuen
Krawatte, mit der sie ihn begraben würden... aber er schlief nicht,
er war tot, und es lag eine Starre auf seinen frisch rasierten
Wangen und eine Tiefe in den Furchen und Gräben um seine Augen, die
alle Bestatterschminke dieser Welt nicht vertuschen konnte. Stanley
gab sich größte Mühe, traurig und betroffen, gramgebeugt und
bekümmert auszusehen, seine Mutter neben sich, Geistliche um sie
herum flatternd wie ein Krähenschwarm, und überall Tanten, Onkel
und vollkommen Fremde, die greinten und weinten und sich die Augen
betupften, aber es gelang ihm nur, so auszusehen, wie er sich
fühlte: verängstigt. Am liebsten wäre er davongerannt, hätte sich
losgerissen von seiner Mutter und ihrer unüberwindlichen Macht, ihn
dazuhalten – er wollte sich verstecken, bevor sie die Wahrheit in
seinen Augen erkannten, bevor sich der steife, verwesende,
parfümierte Leichnam seines Vaters in seinem Sarg aufsetzte und
Stanleys Treulosigkeit hinausschrie. Und beinahe hätte er es auch
getan, hätte sich zur Tür hinausgestürzt und allen eine
Riesenschande bereitet, wäre da nicht Mary Virginia gewesen.
Die ganze Zeit hatte sie am Rand der Szene
ausgeharrt, weinend und mit den Zähnen knirschend, eine Gefangene
ihres Leids, jetzt aber, endlich, war ihr Augenblick gekommen.
Stanley merkte nichts davon. Er nahm nur sich selbst wahr, wie er
auf dem Podest herumstand, vor den Augen all dieser Menschen, und
nichts lieber wollte als davonlaufen, sich verstecken und irgendwo
vergraben, und er haßte seine Mutter, weil sie ihn dort festhielt,
und die Trauergäste, weil sie sein Haus überschwemmten, und seinen
Vater, weil er gestorben war und weil er überhaupt gelebt hatte. Er
war sich vage bewußt, daß irgend jemand fehlte, jemand Wichtiges,
aber er dachte nicht nach und es war ihm auch egal, am liebsten
wollte er selbst sterben, auf der Stelle umfallen und die Sache
hinter sich bringen – bis er ihn hörte, den ersten
markerschütternden Schrei seiner Schwester. In diesem Moment
verwandelte sich alles. Plötzlich war er außerhalb seines Körpers,
schwebte hoch oben über dem Raum bei den aufgemalten Vögeln und sah
zu, wie seine große Schwester all diese armseligen langen Gesichter
mit der Gewalt ihres Kummers vernichtete.
Sie stürzte aus dem Korridor herein auf der
Welle des ersten, immer noch ansteigenden Schreis, in einem
schwarzen Hemdchen, das aussah wie ein Unterkleid, mit nackten
Armen und bloßen Füßen, ihre Haare, wild und verfilzt, peitschten
ihr ins Gesicht wie eine Geißel. Jeder im Raum, sogar Mama, die
Allmächtige, stand wie erstarrt da – nein, nicht erstarrt, sondern
verflüssigt wie geschmolzener Quarz und dann abgeschreckt zur
zerbrechlichen Leblosigkeit von Glas. Doch dieses erste
herzzerfetzende Kreischen war nichts als die Einleitung, die
Ouvertüre, die Ahnung dessen, was noch kommen sollte. Der nächste
Schrei, langgezogen und arienhaft, zu einem Crescendo
nervenzerfetzender Klagelaute gedehnt, die klangen, als würde ein
Tier lebendig ausgeweidet und gefressen, fegte über die Wände und
die Decke und scheuerte all die gläsernen Mienen und glasigen
Blicke blank, bis nichts anderes mehr existierte als Mary Virginia
McCormick, Quell und Inbegriff allen Leids.
Ungehindert, kaum wiederzuerkennen, den Mund im
Schreien verkrampft, alle Gliedmaßen zuckend und bebend wie
fortgerissen von einer unwiderstehlichen Macht, so raste sie über
den Teppich und durch den Dunst aus Räucherwurst und Leichenparfum,
vorbei an den Trauergästen und den Leichenbestattern und den
eigenen Familienangehörigen, und dann flankte sie über die
Messingstange und hechtete mitten in den Sarg hinein, als spränge
sie in ein Schwimmbecken. »Ich bin’s«, rief sie und schlug auf das
ein, was vom Mähmaschinenkönig geblieben war, bis es für Stanleys
verschwimmenden Blick so aussah, als wäre die Leiche in einer
grausigen Generalprobe seiner schlimmsten Ängste zum Leben erwacht.
Niemand rührte sich. Niemand atmete. »Papa«, schluchzte sie, »ich
bin’s, Mary Virginia«, und ihre Hände waren an ihm, schlangen sich
um den Leichnam, umklammerten die steife Kehle und den
wiederbelebten Bart. »Erkennst du mich denn nicht?«
Es war eine Schande, da waren sich alle
einig, denn Mary Virginia war die Schönheit der Familie, ein Wurf
der genetischen Würfel, wie er sich in jeder Generation nur einmal
ergibt. Und sie war ebenso talentiert wie bezaubernd, tat sich
leicht mit Fremdsprachen, konnte gut zeichnen und war eine begabte
Pianistin, die mit der Subtilität und dem Gefühl einer wesentlich
reiferen Frau und der Wucht und Beherztheit eines Mannes spielte.
Als ihr Vater starb, war sie dreiundzwanzig und unverheiratet,
obwohl es keineswegs an Bewerbern gemangelt hatte, wurden doch ihre
körperlichen Reize durch die Verlockung des väterlichen Vermögens
noch gesteigert. In den zwei Jahren seit ihrer Großjährigkeit war
dreimal um ihre Hand angehalten worden. Ihre Mutter – Nettie Fowler
McCormick, eine Großmacht der Chicagoer Gesellschaft und eine
Ehestifterin ohnegleichen – hatte bei allen drei Gelegenheiten den
Familienrat einberufen, und jedesmal hatte Papa den Aspiranten,
wiewohl diese sämtlich aus guter Familie stammten und über eigenes
Vermögen verfügten, beiseite nehmen und ihm namens seiner Tochter
leider absagen müssen. Und das war eine Schande, eine echte
Schande. Aber die McCormicks waren gewissenhaft bis zum Starrsinn,
deshalb fanden sie, daß ihnen keine Wahl blieb, als den fraglichen
jungen Männern klarzumachen, worauf sie sich bei ihrer Entscheidung
einließen.
Die traurige Wahrheit war, daß Mary Virginia an
einer Krankheit litt, einer Krankheit, die man nicht sah, nicht
sofort und nicht auf der Oberfläche. Ihre Krankheit schien sich zu
vertiefen, während sie in sie hineinwuchs, schien sich zu dehnen
und zu weiten, um sie aufzunehmen wie die Haut einer Anakonda. Seit
ihrem dreizehnten Geburtstag war sie zunehmend weggetreten, hatte
sich von der Welt der Menschen, der Dinge und Verpflichtungen
entfernt, als wäre ein wichtiger Strang in ihrem Gehirn gekappt
worden. Es gab Zeiten, da erkannte sie nicht einmal ihre Eltern,
die Gouvernante oder die eigenen Geschwister. Sie aß nicht mehr.
Sprach nicht mehr. Stundenlang kauerte sie über einem
aufgeschürften Knie und betete fanatisch, ja hysterisch, sang den
Namen des Herrgotts vor sich hin, bis er wie ein Fluch klang. Zu
anderen Zeiten konnte sie scheinbar kaum atmen, raste in panischer
Angst von einem Zimmer zum nächsten, blau im Gesicht und nach Luft
schnappend, obwohl rings um sie nichts als Luft war. Dann wieder
fand sie manchmal tagelang, wochenlang keinen Schlaf, und es
entsetzte Nettie, wenn sie um zwei oder drei Uhr morgens in ihr
Zimmer lugte und sie dort reglos im Bett liegen sah, in den Zenit
ihres privaten Universums starrend – wach, aber ohne ihre Mutter
wahrzunehmen, so als wäre sie blind und taub.
Mit fünfzehn erwachte sie zu neuem Leben,
wiederauferstanden und hyperkinetisch, die Funken sprühten ihr von
den Fingern, und sie lachte mit offenem Mund über den großen,
ständig ablaufenden Witz dieser Welt. Ihre Gesten und Bewegungen
erstarrten kurz und setzten dann wieder ein, beschleunigt und noch
einmal beschleunigt, so daß sie ihre ziellose Tour von Zimmer zu
Zimmer in einem spastischen, ruckartigen Trott vollzog, der wie ein
grausames Nachäffen des Leidens der armen Missy wirkte. War sie
vorher ohne jeglichen Affekt gewesen, geradezu leergefegt von aller
Emotion, so war sie nun auf einmal leidenschaftlich wie ein
Liebhaber zu Nettie, der eigenen Mutter, klammerte sich beim
Zubettgehen ungestüm an sie und zog den Gutenachtkuß so sehr in die
Länge, daß er zur Tortur wurde. Sie schlafwandelte, plapperte
Unsinn, verängstigte ihre Mitschülerinnen. Und dann, kurz vor ihrem
sechzehnten Geburtstag, begann sie mit den
Selbstverstümmelungen.
Eines der Kindermädchen, eine junge Französin
namens Marie Lherbette, entdeckte es als erste. Damals saß Nettie
bequem in einem Louis-seize-Sessel im Salon, einem eifrigen,
wohlgenährten jungen Mann gegenüber, dessen Reise nach China im
Namen der Presbyterianischen Missionsgesellschaft zu bezahlen sie
sich bereit erklärt hatte. Auf dem niedrigen Tischchen zwischen
ihnen stand ein Tablett mit Häppchen und einer Teekanne, deren
Wärmehaube ihre Großmutter in den Anfängen des Jahrhunderts
gehäkelt hatte. Der junge Mann äußerte gerade einen komplizierten
Gedanken über das asiatische Denken und den beklagenswerten Mangel
an christianisierendem Einfluß in einer so alten und doch so
verderbten Kultur, als Marie Lherbette anklopfte und mit tiefer
Verbeugung den Raum betrat.
»Ja?« sagte Nettie. »Was ist denn,
Marie?«
Das Mädchen blickte zu Boden. Sie war zwanzig,
recht hübsch auf ihre Weise und auch pflichtbewußt, hatte jedoch in
Netties Augen zuviel, nun, Französisches an sich, als daß sie
völlig vertrauenswürdig gewesen wäre. »Madame, bitte, kann ich Sie
einen Augenblick sprechen?«
»Jetzt? Sehen Sie denn nicht, daß ich
beschäftigt bin?«
»Es liegt etwas« – die Französin suchte nach
dem Wort – »Seriöses in dem, was ich Ihnen sagen muß.«
Etwas Seriöses? Nettie musterte Marie kurz,
erhob sich dann und entschuldigte sich bei ihrem Besucher. Im
nächsten Augenblick folgte sie dem Mädchen die Treppe zu den
Kinderzimmern hinauf. »Was ist los?« wollte sie wissen. »Ist etwas
mit Anita? Mit Mary Virginia?«
»Ja, Miss Mary Virginia«, flüsterte das
Kindermädchen über die Schulter, während sie mit raschen, nervösen
Schritten die Stufen erklomm und den Flur entlanghastete. Nettie
mühte sich, ihr zu folgen, ihre Röcke verfingen sich an den Knien
und wickelten sich ihr hartnäckig um die Knöchel, der Teppich unter
ihr knisterte, die Möbel waren wie versteinert. Und dann traten sie
durch die Tür in das Zimmer ihrer Tochter, und Nettie sah Mary
Virginia auf dem Bett ausgestreckt, in ihrer schlaflosen Trance,
nackt bis auf ein Paar Socken, und sie sah die deutlichen blutigen
Handabdrücke auf der geblümten Tapete und die langen glänzenden
Rinnsale, die aus ihrer Schamgegend die Innenseite der Oberschenkel
hinabliefen, als wäre ein wildes Tier über sie hergefallen.
Sie brachten sie ins McLean Hospital nach
Waverley/Massachusetts, wo sie gestochen, gezwickt, gewogen,
vermessen, abgehört, analysiert und ausgefragt wurde von den
größten Koryphäen des Faches, die das Geld der McCormicks
herbeiholen konnte – und das bedeutete: von allen. Leider waren
sich die Experten nicht einig. Der eine hielt Mary Virginias
Problem für Neurasthenie, ein anderer für Wahnvorstellungen, ein
weiterer für Dementia praecox. Man wollte sie zur Beobachtung
dabehalten – und zu ihrem eigenen Schutz. Blut hatte sie nicht
wieder fließen lassen, außer aus zwei kaum erkennbaren Löchern, die
sie sich mit einem Federkiel in den Unterarm gebohrt hatte, aber
während der Fahrt von Chicago im privaten Pullmanwaggon führte sie
lebhafte Unterhaltungen mit Phantomen, und zweimal versuchte sie,
sich aus dem Zug zu stürzen. Zum Glück war Cyrus jr. da und hielt
sie zurück, aber Nettie brach unter der Belastung fast
zusammen.
Sechs Wochen, sagten die Ärzte. Mindestens.
Also beschloß Nettie, die selbst vollkommen erschöpft war – der
Kollaps von Mary Virginia, Papas Krankheit, und in Chicago sehnten
sich ihre Kleinen nach ihr –, ein Haus in Waverley zu mieten und
Harold und Stanley nachkommen zu lassen. Es war eine von Stanleys
frühesten Erinnerungen. Missy Hammond und Marie, ihr französisches
Kindermädchen, fuhren mit ihm und Harold für sechs Wochen in Ferien
– und wußte er denn, wie lang sechs Wochen waren? Und wie viele
Tage eine Woche hatte? Und wie der erste Buchstabe vom Alphabet
hieß? Ja. Und sie würden mit der Tschu-Tschu-Eisenbahn den weiten
Weg durch den großen Staat Illinois, durch Indiana – konnte er denn
Indiana sagen? – und Pennsylvania und New
York bis nach Massachusetts fahren, wo Mama und die große Schwester
jetzt waren. Seine große Schwester war krank, sehr krank, aber es
würde ihr bald bessergehen, und dann würden sie alle wieder nach
Hause zurückkehren.
Stanley war damals zwei und Harold fünf. Von
der Zugfahrt behielt er die Erinnerung an ein intensives,
blendendes Grün, ein Meer von Grün, das hinter den Fenstern
vorbeizog, gewaltig und ozeanisch, eine Welt, die größer war, als
sein Verständnis es zuließ. Von dem Haus in Waverley wußte er
nichts mehr, außer daß die Sonne diese neue, weitläufige und
undifferenzierte Welt aus Grün beschien und daß das dichte Gras am
Rand des Gartens von Schlangen bevölkert war. Seine Mama erzählte
ihm von ihnen – schlanke, harte, peitschenartige Wesen mit dem
falschen Glanz eines eingewickelten Weihnachtsgeschenks, kleine
verborgene Präsente aus Gift und Tod, die er niemals berühren
durfte. So erinnerte er sich an jene Reise nach Massachusetts im
Sommer 1877, an das und an seine große Schwester. Die krank
war.
Mary Virginias Zustand besserte sich in McLean.
Es war keine wundersame Heilung, gewiß nicht die Art von Genesung,
die Nettie erwartete, die sie verlangte und von den Ärzten Tag und
Nacht einforderte, aber immerhin hörten die imaginären
Unterhaltungen auf, und blutige Stigmata an den Wänden gab es auch
keine mehr. Sie fuhren alle gemeinsam nach Hause, zurück in das
Sandsteinhaus in der Rush Street, dessen Ballsaal Platz für
zweihundert Gäste bot und wo es einen dampfbeheizten Stall für die
Pferde, die Ziege, die Kuh (der Mähmaschinenkönig mochte seine
Milch gern frisch) und das Pony gab, das Anita fünf Jahre später zu
ihrem sechzehnten Geburtstag bekommen
sollte. Mary Virginia wurde älter und hübscher, aber sie mußte die
Lehranstalt der Schwestern Kirkland noch vor dem Abschluß
verlassen, weil Miss Nevelson, ihre Lateinlehrerin, einen
abnehmbaren Kopf besaß und ihn ständig verkehrt herum aufsetzte,
und das konnte Mary Virginia einfach nicht ausstehen – so was hatte
sie schon immer gehaßt –, also engagierte Nettie einen
Privatlehrer, der ins Haus kam. Es folgte ein Jahr von fragilem
Frieden, und dann, mit achtzehn, brach Mary Virginia erneut
zusammen, sie wurde Opfer von unbestimmten Ängsten und mußte wieder
ins Krankenhaus – diesmal sechs Monate lang.
Eine vergleichsweise ruhige Phase schloß sich
an, eine Zeit, in der sie die Zimmer des Hauses zu allen
Nachtstunden durchwanderte wie eine verlorene, umherirrende Seele –
erfreulicherweise aber ganz friedlich –, doch dann wurde sie
allmählich wieder erregter, so wie ein Naturereignis sich langsam
aufbaut, und in ihrer Erregung wandte sie sich dem Klavier zu.
Plötzlich stand sie im Morgengrauen auf und hämmerte mit solcher
Macht in die Tasten, daß ein Chopin oder selbst ein Liszt davon
gelähmt worden wäre, sie schlug und donnerte auf das Klavier ein,
bis ihre Finger wund und die Tasten blutig waren, sie setzte die
Ellenbogen, das Kinn, sogar die Zähne ein, und so ging es
stundenlang, manchmal sieben oder acht Stunden am Stück, und nichts
konnte sie davon ablenken oder abbringen. Nettie wäre das ja recht
gewesen, wenn sie nur schön gespielt hätte, ordentlich, und eine
erkennbare Melodie. Aber nein, ihr Klavierspiel war eine atonale
Orgie, blindlings, barbarisch, animalisch – es war verstörend,
nichts anderes, und sie war gestört, ihre
Tochter war gestört, und Nettie beschloß, der Sache ein Ende zu
bereiten.
Eines Nachts, als Mary Virginia in Trance in
ihrem Zimmer lag, ließ Nettie das Klavier abtransportieren, ins
Haus ihres Schwagers in der East Erie Street, als permanente
Leihgabe. Falls Nettie für den Rest ihres Lebens nie wieder einen
einzigen Ton Klaviermusik hören sollte, hätte sie sich glücklich
geschätzt. Mary Virginia erwachte wie üblich bei Tagesanbruch, ging
an den Platz im Salon, wo das Klavier gestanden hatte, fiel dort
ohne ein Wort auf die Knie und begann zu beten. Sie betete den
ganzen Vormittag und den ganzen Nachmittag und hinein in den Abend,
die Nacht hindurch bis zum nächsten Morgen, in die Nacht und den
nächsten Morgen, ihre Gebete waren laut und gellend, sie dröhnten
in der geheiligten Atmosphäre des McCormick-Familiensitzes wie die
zornigen Hämmer von sechsundfünfzig Elfenbeintasten.
Diesmal betete sie sich geradewegs ins
Krankenhaus, aber sie war wieder zu Hause und mehr oder minder
ruhiggestellt, als ihr einundzwanzigster Geburtstag näher rückte.
Nettie war gegen eine Großjährigkeitsparty, aber der
Mähmaschinenkönig bestand darauf. Was sollten denn die Leute
denken? Daß Cyrus Hall McCormicks älteste Tochter verrückt war? Daß
er kein Vertrauen in sie besaß? Daß ihr Leben vorbei war, noch ehe
es begonnen hatte? Blödsinn. Natürlich sollte sie ihre
Volljährigkeitsfeier haben wie jedes andere Mädchen ihres Alters
und ihres Standes, und im übrigen sollte dieses Fest nach
allerhöchstem McCormick-Maßstab organisiert und durchgeführt
werden, einem Maßstab, der Familien wie die Armours, die Swifts und
die Pullmans Staub schlucken lassen würde. War das klar?
Es war klar. Und so öffnete Nettie, mitten in
einem Februar-Kälteeinbruch, ihr Haus für sechshundertfünfzig
Gäste, denen eine Armee von Dienstboten Champagner und Austern
servierte, und später gab es ein förmliches Abendessen für fünfzig
in der Bibliothek und anschließend Tanz bis Mitternacht im Ballsaal
im dritten Stock. Angetan mit einem Gewand aus weißem Crêpe und
französischen Handschuhen mit drei Knöpfen, kühl wie der zunehmende
Mond, ganz ruhig – manche sagten, lethargisch – stand Mary Virginia
im Begrüßungskomitee, zusammen mit ihren Eltern, Cyrus jr. und
sechs weißgekleideten Absolventinnen der Kirkland-Lehranstalt, und
lächelte jeden der sechshundertfünfzig Ankömmlinge an.
»Guten Abend«, sagte sie zu jedem einzelnen,
und ihre Stimme klang wie losgelöst von ihrem Körper und ihrem
schönen, schimmernden Gesicht, »ich bin Mary Virginia McCormick,
und ich freue mich sehr, daß Sie mit mir meinen Eintritt in die
Gesellschaft feiern.« Es gab keine Gebete, keine Schreie, keine
Unterhaltungen mit imaginären Personen, und das Ganze lief ohne
jede Störung ab, bis auf die wirklich schwierige letzte halbe
Stunde, in der Johnnie Hand, der Kapellmeister, sich dem Wunsch des
Ehrengastes fügte, man möge sie auf dem Klavier spielen lassen.
Mary Virginia beugte sich mit konzentriertem Ausdruck über die
Tasten, während die Gäste, Musiker und Dienstboten eine Miene
verzückter Erwartung aufsetzten, und legte dann los mit etwas, das
anfangs eine vage, flüchtige Ähnlichkeit mit einer ChopinPolonaise
besaß, jedoch rasch zu der mißtönenden, gräßlichen, obszönen
Kakophonie ausartete, die ihre Mutter so gut kannte. Aus einem
Gesicht nach dem anderen wich das höfliche Lächeln, der
Kapellmeister wirkte gequält, und Mrs. Eulalia Titus aus der
Prairie Avenue mußte auf die Damentoilette begleitet werden, weil
sie einen ihrer Anfälle hatte.
Nettie versuchte, die Darbietung nach etwa
einer Minute mit lautem Beifall zu beenden, und das Publikum nahm
ihn pflichtbewußt, ja enthusiastisch auf, so daß Mary Virginias
Bemühungen einen Moment lang von einer Flutwelle des Applauses
überdeckt wurden, doch als das Klatschen verebbte, spielte sie
immer noch. Den Kopf über die Tasten gesenkt, mit wild fuchtelnden
Ellenbogen, nichts als Daumen und Knöchel und aufblitzende
Handgelenke, folterte sie das Instrument mit Variationen, die kein
zivilisiertes Ohr je vernommen hatte. Nach fünf Minuten versuchte
es Nettie nochmals. Sie rief: »Bravo!« und klatschte so heftig los,
daß sie meinte, sie werde sich an den Handgelenken verletzen. Und
wieder nahmen die Zuhörer den Applaus auf, dankbar und beschwörend
riefen sie »Bravo!«, als stimmten sie damit den Rückzug an. Mary
aber spielte weiter, spielte immer weiter, bis der Ballsaal leer
war und Cyrus jr. und einer seiner Kommilitonen aus Princeton sie
an den Armen packen und ihre Finger dem letzten donnernden Akkord
entreißen mußten, der durch den Raum hallte wie das Ende eines
Trommelfeuers.
Ja. Und jetzt trauerte sie um ihren
Vater.
Zunächst – während der ersten paar
Sekunden jedenfalls – hatte Stanley kein Problem damit. Niemand
achtete im geringsten auf ihn – alle blickten auf Mary Virginia,
seine große Schwester, die Erlöserin, die im letzten Augenblick
hereingestürmt war, um die Menge einzuschüchtern und ihren kleinen
Bruder zu erretten, und er schwebte, er flog geradezu... doch als
sie dann direkt an ihm vorbeilief und sich auf dieses kalte tote
Ding warf, das einmal ihr Papa gewesen war, da stürzte Stanley von
der Decke wie eine Tontaube. Hier kam der Engel in Menschengestalt,
seine große Schwester, die Harold und ihn oft auf Spaziergänge in
den Park mitnahm, der Hochofen der Zuneigung, der ihn an
Winternachmittagen dick einmummelte, wenn sie zum
Schlittschuhlaufen und zu heißem Kakao am Seeufer aufbrachen, und
ihm ins Ohr flüsterte, daß es lustvoll kitzelte, und ihn
schwesterlich umsorgte, wenn er eine Erkältung hatte – aber sie
beachtete ihn nicht. Sie war nicht seinetwegen hier, ja sie sah ihn
nicht einmal.
Jemand kreischte. Alles bewegte sich auf den
Sarg zu, in Mamas Gesicht blitzte das Höllenfeuer des Zorns, Harold
glotzte verdattert, und Missy und Anita bissen sich auf die
Fingerknöchel, als wären es Rippchen oder Hühnerflügel, und Stanley
machte sich unsichtbar. Sobald die Mutter seine Hand losließ, war
er weg, verschwand im Chaos der knarrenden Stühle, der schreienden
Menschen, zwischen diesen überdimensionierten Körpern, die sich
rücksichtslos und zielgerichtet bewegten. Er blieb nicht, um
mitzuerleben, wie sein ältester Bruder und seine zwei Onkel Leander
und William die große Schwester von dem toten Vater
herunterzerrten, er sah nicht die Mischung aus Wildheit und
Verwirrung in ihrem Gesicht, sah sie nicht treten und beißen und um
sich schlagen, bis ihr der dünne Fetzen des Hemdchens über die
Hüften rutschte und die zerkratzte, nackte Haut darunter freilegte.
Nein: er rannte schnurstracks nach unten in die Wäschekammer zu dem
großen Eichenschrank, in dem er sich vergrub.
Später, viel später – es mußte schon nach
Mitternacht sein – wagte er sich wieder auf den Korridor hinaus. Er
hatte das Abendessen verpaßt, und Mama hatte ihn nicht gesucht, was
bedeutete, daß sie an einer ihrer Migräneattacken litt und sich wie
eine Gefangene in ihrem Zimmer eingesperrt hatte. Er hatte Marie
nach ihm rufen hören, später auch Missy und Anita, sich aber darauf
nur noch tiefer zwischen den Handtüchern und Bettlaken vergraben.
Er brauchte sie nicht – brauchte weder die große Schwester noch
seine Mutter noch sonstwen –, und selbst wenn er sie brauchte,
hätte er doch nichts unternehmen können. Sobald er einmal in die
unterste Lade des breiten Wäscheschranks geklettert war und sie
zentimeterweise zugeschoben hatte, indem er die rechte Schulter
gegen die rauhe, unpolierte Fläche des Bretts über sich drückte,
war er machtlos. Etwas in seinem Inneren nagte sich einen Weg
hinaus – etwas, was er verschluckt hatte, etwas Lebendiges, und es
ließ ihn weder Atem schöpfen noch Arme und Beine bewegen, ja nicht
einmal den Kopf heben, damit er zusehen konnte, wie es mit Klauen
und Reißzähnen die Haut seines Bauches aufschlitzte und diesen
hermetischen Raum mit einem Bart anfüllte, der nicht aufhörte zu
wachsen, bis es keinen Platz mehr in der Schublade gab und auch
keine Luft mehr. Für Stanley, einen braven Jungen, einen
aufgeweckten Jungen, einen netten und ganz normalen Jungen, war
dies der Anfang des Schreckens. Von nun an würde es für ihn kein
Versteck mehr geben.
Der Abend wurde zur Nacht, und die ganze Zeit
lag Stanley reglos da, er horchte auf die Geräusche des Hauses, auf
das Kommen und Gehen, das Klirren von Silberbesteck und
Kristallglas und das Gemurmel der Dienstboten im Korridor. Er
kämpfte seinen Hunger nieder, verleugnete sich, tat Buße und lag so
still da wie der Leichnam seines Vaters im Salon. Am Ende aber war
es ein Bedürfnis der Lebenden, das ihn aus der Schublade trieb: er
mußte Pipi machen.
Als er endlich aus dem Schrank kroch und den
Kopf zur Tür hinaussteckte, um sicherzugehen, daß niemand auf dem
Korridor war, mußte er so dringend, daß er sich ihn schon
abquetschte, seinen Piepmatz quetschte, den ihn Mama allerdings
nicht mehr so nennen ließ. Ein Penis war es aber auch nicht, nicht
in Mamas Wortschatz. Nein: es war nur ein schmutziges Ding, das
kleine Jungen für irgendeinen schmutzigen Zweck besaßen, und er
durfte es niemals anfassen, außer um Pipi zu machen, hatte er das
verstanden? Er verstand zwar nicht, aber immer wenn sie es ihm
sagte, nickte er brav, senkte den Kopf und ließ seinen Blick den
Rückzug antreten.
Der Flur lag verlassen da. Ganz hinten hatte
jemand ein Licht brennen lassen, vor dem Zimmer, das sie immer noch
das Babyzimmer nannten, und eine weitere Lampe brannte in der
Toilette gegenüber. Kein Geräusch war zu hören. Die Trauergäste
hatten ihre schweren, festen Schuhe, ihre Pelze und ihre Juwelen
und ihre langen Beileidsgesichter wieder nach Hause mitgenommen,
und alle anderen hatten sich schlafen gelegt – immerhin stand am
nächsten Morgen das Begräbnis an. Stanley quetschte ihn sich ab.
Zwei Miniaturstacheln pikten ihn dort unten, auf beiden Seiten,
knapp oberhalb der Schamgegend. Er hielt einen Moment lang den Atem
an und lauschte, dann huschte er über den Korridor in die Toilette
und schlug die Tür hinter sich zu. Er machte gerade Pipi –
erleichterte sich, und ja, es war wirklich erleichternd, die
einzige Erleichterung an diesem Tag –, als er in den Spiegel
blickte und feststellte, daß jemand die Tür hinter ihm
aufdrückte.
»Ich bin hier drin«, trällerte er und wandte
sich instinktiv ab, um seinen Unterleib zu verdecken. Zur Antwort
erhielt er nur das leise metallische Knirschen der Scharniere, die
Tür schwang unerbittlich auf, das Geräusch seines Harns in der
Keramikschüssel wurde plötzlich zur Peinlichkeit, ein stetiger,
brennender, aufgestauter Strom, den er einfach nicht stoppen
konnte. Er warf einen nervösen Blick über die Schulter und
erwartete eigentlich Harold. »Kleinen Moment noch!« rief er, aber
es war zu spät.
Es war nicht Harold, der da in der Tür stand,
sondern Mary Virginia, barfuß und in ihrem schwarzen Unterkleid.
Sie schien verwirrt, so als hätte sie noch nie im Leben eine
Toilette – oder Stanley – gesehen.
Was Stanley anging, so versuchte er, seinen
Penis zurück in die Hose zu stecken, noch ehe er fertig war, so daß
er sich vorne mit heißem Pipi besprudelte. Schmutzig, schmutzig, schmutzig, konnte er seine
Mutter bereits sagen hören. Er wurde rot. Das Blut dröhnte in
seinen Ohren. Er wich von der Toilette zurück.
Eine Zeitlang stand Mary Virginia da und
schaukelte vor und zurück auf ihren Füßen, die so weiß waren, daß
sie auf den bunten Kacheln zu glühen schienen. »Stanley, das
Elfchen«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme klang seltsam. Die
Worte waren verschliffen und verlangsamt, als hätte sie etwas im
Mund. »Der kleine Kobold«, sagte sie. »Der Junge, der mit den
Fingern schnippt und einfach so verschwindet.«
Stanley sah zu, wie ihre Füße über den Fußboden
glitten, fasziniert davon, wie ihre Zehen die Fliesen berührten und
wieder losließen. »Hab keine Angst«, sagte sie und streckte die
Hand aus, um ihm durchs Haar zu fahren, »... sie haben mich
ruhiggestellt, das ist alles. Für meinen Seelenfrieden. Damit ich
zur Ruhe komme.«
Stanley versuchte zu lächeln. Seine Hose war
durchnäßt und unbequem, ebenso seine Unterhose, die ihn jetzt im
Schritt rieb, er hatte Hunger und war müde, erschöpft von den
Strapazen und von dem Entsetzen, das über ihn gekrochen war, als er
sich den ganzen Tag bis in die Nacht hinein in der Schublade
versteckt hatte.
Mary Virginia – die große Schwester – lächelte
matt zurück, und dann, so beiläufig, als wäre er überhaupt nicht
da, raffte sie das Unterkleid hoch und setzte sich auf die
Toilette. Sie starrte ins Leere, und er hörte das scharfe Zischen
ihres Urins, als er sich zum Händewaschen umdrehte – Immer die Hände waschen, sagte seine Mutter,
immer! Er war durcheinander. Sein Gesicht
brannte. Er wollte zu seiner Mutter.
Aber dann lachte Mary Virginia auf, ein hohes,
heiseres, glucksendes Lachen, das ihn erschreckte, so daß er sich
wider Willen umwandte. »Stanley der Trübsalbläser«, sagte sie.
»Immer bist du so trübsinnig, Stanley – was ist denn los? Ist es
wegen Mama?« Und dann: »Ich wette, du hast noch nie eine Frau
pinkeln sehen, stimmt’s?«
Stanley schüttelte den Kopf. Die Beine seiner
Schwester waren weiß, noch weißer als ihre Füße, und das Unterkleid
war über die Knie hinaufgerutscht.
»Frauen setzen sich hin beim Pinkeln, hast du
das gewußt? Weil wir nämlich keinen kleinen Piepmatz haben wie die
Jungen – Frauen sind anders.« Sie erhob sich unsicher, als fände
sie ihr Gleichgewicht nicht, und murmelte irgend etwas, das er
nicht verstand. Dann sagte sie: »Möchtest du mal sehen?«
Er wußte nicht, was er tun sollte. Er blieb wie
angewurzelt am Waschbecken stehen und sah zu, wie seine große
Schwester sich das Unterkleid über den Kopf zog, bis sie überall
weiß war. Riesenhaft weiß. Weiß wie eine Statue. Und er sah ihre
Brüste, schwer und weiß im Schein der Gaslampe, und ihren Nabel und
die Stelle, wo ihr Penis hätte sein sollen, doch statt dessen waren
dort nur Haare, blonde Haare. »Siehst du?« sagte sie, die Worte zäh
in ihrem Mund, und einen Moment lang dachte er, sie kaue Bonbons,
Karamelbonbons, und gleich würde sie ihm welche geben – sie neckte
ihn nur ein bißchen, darum ging es bei dieser Schau.
Aber es gab keine Bonbons, das wußte er, und er
wollte am liebsten weglaufen, zurück zu der Schublade im Schrank,
in der er nie wieder einen Augenblick des Friedens finden würde, zu
seiner Mutter, zu Harold, Missy, Anita, zu irgendwem – aber er tat
es nicht. Er stand am Waschbecken und starrte den weiß schimmernden
nackten Körper seiner Schwester an, seiner großen Schwester, die
sehr schön und sehr krank war, bis sie das Unterkleid aufhob und
sich wieder mit dem formlosen Schwarz ihrer Trauer bedeckte.
Danach, nach der Beerdigung und den
Beileidsbriefen und dem schwarzen Flor, ging Mary Virginia fort.
Stanley konnte den genauen Zeitpunkt nicht benennen – es war
vielleicht eine Woche nach der Beerdigung, zwei Wochen, ein Monat
–, jedenfalls leitete Mama alles in die Wege, und dann war die
große Schwester fort. Er erzählte nie irgendwem von jenem Abend auf
der Toilette, nicht einmal Harold, aber er ging ihm noch lange nach
dem Begräbnis durch den Kopf, ein tiefes, schwärendes Loch von
Scham. Mädchen waren anders als Jungen, und Frauen waren anders als
Männer, das wußte jeder, doch jetzt wußte Stanley, als einziger
unter seinen Freunden und Schulkameraden, wie und warum sie anders
waren, und es war ein Wissen, um das er nicht gebeten hatte, ein
Wissen, das seine Träume komplizierte und ihn Hemmungen verspüren
ließ vor seiner Mutter, vor Anita und Missy und all den anderen
weiblichen Personen, die sein Leben bedrängten. Er sah ihnen ins
Gesicht, auf ihr Haar, ihren Rock, ihre Füße, und er wußte, wie
weiß sie unter den Kleidern waren, er wußte um dieses blasse,
ausgebleichte, froschbäuchige Weiß, um die Brüste, die dort hingen
wie Stümpfe von etwas, das ihnen fehlte, und um diese Narbe
zwischen den Beinen, wo eigentlich Fleisch sein sollte. Es war eine
quälende Vision, ein ununterbrochener Alptraum, mehr als ein
Neunjähriger lange mit sich herumtragen konnte, und es dauerte den
ganzen Frühling und den Sommer in den Adirondack Mountains, bis die
Bilder endlich zu verblassen begannen.
Mary Virginia besuchte sie von da an nur einmal
jährlich in der Rush Street, immer in Begleitung ihrer Ärztin,
einer kleinen, schmallippigen Frau von der Statur eines Mannes und
mit großen, hervorquellenden Augen, die die Jungen dermaßen
faszinierten, daß sie sie nicht ansehen konnten, ohne zu kichern.
Diese Besuche waren immer kurz – jeweils zwei oder drei Tage, die
Mama und Anita so durcheinanderbrachten und ängstigten, daß man
hätte meinen können, Mary Virginia sei eine Anarchistin mit einer
tickenden Zeitbombe, dabei war sie in Wahrheit gutmütig wie eine
Kuh – und fast genauso fett. Ihren letzten Besuch in Chicago
stattete sie 1892 ab, über die Weihnachtsfeiertage, zu denen sie
mit viel Gepäck und einer Kavalkade von Dienstboten und
weißgekleideten Krankenschwestern eintraf. Stanley war nun kein
Junge mehr. Im Herbst war er zum Studium nach Princeton gegangen,
er hatte tausend Dinge im Kopf und wuchs emsig zu seinen eins
dreiundneunzig heran, die ihn hoch über alle Kommilitonen aufragen
ließen, und er hatte seit Monaten nicht mehr an seine verrückte
große Schwester gedacht – sie war weg, aus den Augen, aus dem Sinn,
eine peinliche Sache für ihn und die Familie. Doch wenn er sie in
diesen Weihnachtstagen wie eine Schlafwandlerin die Treppe
herunterkommen oder neben diesem kleinen Mannweib von Ärztin am
Tisch sitzen sah, erschrak er über die Veränderungen an ihr. Seine
große Schwester, die Schönheit, hatte sich in eine übergewichtige,
klettenhafte alte Jungfer verwandelt, die immer gleich in Tränen
ausbrach, wenn man auch nur eine Minute lang nicht mit ihr
redete.
Allerdings blieb sie meist auf ihrem Zimmer,
und unter all dem Festtagstrubel, den Feiern, Geschenken, Liedern
und Trinksprüchen sah Stanley nur wenig von ihr. Tatsächlich war er
im Laufe der drei Tage, die sie bei der Familie zubrachte, nur
einmal mit ihr allein – am letzten Tag, als sie sich nach dem
Mittagessen plötzlich bei ihm unterhakte und ihn bat, einen
Spaziergang im Garten mit ihr zu machen. Es fiel ein kalter
Nieselregen, und sie würde sich die Röcke ruinieren, aber Mama und
die glupschäugige Ärztin warfen ihm einen vielsagenden Blick zu,
und so ging er mit.
Stanley war nicht sehr geübt im Plaudern, aber
er plapperte dennoch drauflos, dem gedunsenen Mond ihres Gesichts
zugewandt, weil er Angst hatte, sie würde losheulen, wenn er
verstummte, und sie spazierten zweimal durch den Garten, bevor sie
das erste Wort sprach. Sie schritten gerade nochmals den kahlen
Laubengang ab, als sie unvermittelt an seinem Arm riß und ihn dicht
an sich heranzog, von Angesicht zu Angesicht, so als tanzten sie
ein Menuett miteinander. Sie versuchte ihm etwas zu sagen, aber sie
stotterte inzwischen stark und dehnte die Worte in die Länge, bis
sie zu einer eigenen Symphonie von Bedeutungen wurden – absolut
unverständlich, selbst für ihre Ärztin. Der Nieselregen lag auf
ihren Wimpern und Augenbrauen und ließ ihren Hut glitzern. Es war
kalt. Er sah ihr in die Augen: zwei Schwemmböden des Wahnsinns.
»S-Stanley«, sagte sie und mühte sich ab. »Mein kleiner
Bruder...«
Sie war aufgetrieben und weiß, weich wie Teig,
und er wußte, wie weiß sie unter den Kleidern war – sah es
blitzartig vor sich, die ganze Szene trat ihm in diesem Moment
wieder vor Augen –, und während sich seine hoffnungslos verrückte,
fettgesichtige Schwester an ihn klammerte und ihm ihren Atem ins
Gesicht blies, spürte er, wie er in einem plötzlichen Schock aus
Scham und Begehren steif wurde. Und Haß war dabei – auch Haß. Was
tat sie ihm da an? Was wollte sie denn von ihm? Konnte sie ihn
nicht einfach in Ruhe lassen? Er wollte sie wegstoßen, aber sie
hielt ihn fest, zog ihn herunter, bis ihre Gesichter sich auf eine
Handbreit genähert hatten, ihre Lippen waren gesprungen und
angeschwollen, ihre Zunge bewegte sich gegen ihren Gaumen wie ein
Amphibienwesen, das gerade aus dem Schlamm kroch. »S-Stanley«,
stammelte sie und kämpfte, um die Worte durch das enge Geflecht
ihrer Krankheit zu pressen. »D-du bist mein Lieblingsbruder, das
bist du, und weißt du auch, warum?«
Er wußte nicht, warum. Seine Lenden pulsierten.
Er war Mitglied des Gitarren-und-Mandolinen-Clubs und des
Tennisteams, er hatte eine Semesterarbeit über die Gedichte von
Robert Herrick zu schreiben, und in zwei Tagen würde er wieder im
Zug nach New Jersey sitzen. Irgendwo bellte ein Hund. Ihr Atem roch
nach Rindfleisch mit Soße.
»Weil du... weil du genau wie ich bist.«