2
Eva
Die erste Frau, die Stanley McCormick je sah – wirklich sah, so wie Adam seinerzeit Eva –, war seine Schwester Mary Virginia. Stanley war damals neun, ein schmächtiger, altkluger, verschlossener Junge mit schreckhaftem Blick und dem Drang, sich zu verstecken. Er schlüpfte gern unter irgendwelche Dinge – Betten, Sofas, wahre Bollwerke, die er aus Kissen im Salon oder aus Klappstühlen in der geräumigen Höhle des Tanzsaals errichtete. Das waren seine geheimen Zufluchtsorte, Schlupfwinkel und Verstecke, wo er seinem Bruder Harold entgehen, wohin er sich vor dem Klavierlehrer, der Gouvernante, seinen Schwestern und jenen steifen, langnasigen Figuren flüchten konnte, die gerade als Missionarin des Tages zu Frühstück, Tee oder Abendessen eingeladen waren. Vornehmlich aber konnte er, gut versteckt und sicher, mit einer Tüte saurer Drops zur Hand, vor sich ein Abenteuer von Jules Verne oder James Fenimore Cooper im milden Schein der Leselampe, seiner Mutter entrinnen. Sie, deren Liebe Stein pulverisieren und die Planeten aus ihrer Bahn werfen konnte, so daß sie auf ihn niederstürzten und ihn in seinem Bett zermalmten, sie floh er vor allem – und suchte doch vor allem ihre Gegenwart.
Es war im Mai 1884, kurz nach dem Tod seines Vaters. Im Haus herrschte Trauer – in ganz Chicago trauerte man, im ganzen Land, ja auf der ganzen grenzenlos weiten Welt –, und Stanley wußte nichts mit sich anzufangen. Nie zuvor war jemand gestorben, nicht in seiner unmittelbaren Umgebung jedenfalls, und mehr als der Tod selbst verwirrte ihn, nicht genau zu wissen, was von ihm erwartet wurde, abgesehen von einer kummervollen Miene. Sollte er sich auf die Brust trommeln und die Treppen hinunterkugeln, sich so gebärden wie Mary Virginia? Die Leute tätschelten ihm den Kopf, beugten sich herab, um ihm etwas ins Ohr zu raunen oder in seine entsetzten Augen zu starren. Sollte er weinen, wäre das angemessen? Oder den Schicksalsschlag tragen wie ein Mann?
Seine Mutter war keine Hilfe. Sie war pausenlos in Bewegung, setzte sich nicht einmal kurz hin, ihre Miene war so gramzerfurcht, daß sie aussah wie ein von Hafen zu Hafen gewuchtetes Gepäckstück, und wohin sie auch ging, immer war sie durch eine wahre Phalanx von Trauergästen von ihm getrennt – von ihm, von Stanley, ihrem letzten und jüngsten Kind, ihrem Baby. Er wollte ernsthaft sein, wollte brav sein, wollte angemessen trauern, sich in der Situation bewähren, ihr Freude bereiten, doch jedesmal, wenn er um ihre Zustimmung heischend aufblickte, sah er nichts als Haare und Ohren und Hinterköpfe. All diese Köpfe sammelten sich um sie, sie saßen auf Schultern, die wie wandelnde Mauern anmuteten, überall erblühten plötzlich schwarze Armbänder, und auf seiner Augenhöhe sah er nichts als Hände, die wie durch einen Zaubertrick verschwanden und wieder auftauchten, Hände mit großen Knöcheln und dicken Adern, vor Juwelen funkelnd und die Getränke und Brötchen packend, die die Dienstboten inmitten des Trauerlärms eilig herbeischafften. Er stand dabei, verschüchtert, in Kniehosen und einem zu engen Hemdkragen, und versuchte sich dem Gedränge zu entziehen. Er hatte nie geahnt, daß der Tod so laut sein konnte.
Und er wurde noch lauter. Pausenlos trafen Telegramme ein, die Zeitungen brachten fette Schlagzeilen und Nachrufe auf den Titelseiten. Angestellte der McCormick-Mähmaschinenwerke schickten eine aus fünftausend makellosen Gardenien bestehende Nachbildung der Originalmaschine mit symbolisch gebrochenem Antriebsrad, und vierhundert Arbeiter schlurften feierlich in Zweierreihe am Katafalk vorbei. Präsidenten, Premiers, Sultane, Großwesire, Kaiser und Kalifen sandten Kondolenzschreiben. Cyrus Hall McCormick, Erfinder der Getreidemähmaschine, Multimillionär und Träger des Kreuzes der französischen Ehrenlegion, dieser schrullige, stiernackige, lieblose, rheumatische, asthmatische alte Tyrann war mit fünfundsiebzig verstorben. Er war tot, und nun lag er im Salon in seinem Sarg, bleich wie eine Kröte in einem Glas mit Formalin.
Als für Stanley die Zeit kam, ihm die letzte Ehre zu erweisen, wurde er von seinem großen Bruder Cyrus jr. in den Salon geführt. Cyrus jr. war damals ein bärtiger junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, der nun urplötzlich ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz um die fünfundsiebzig Millionen Dollar zu leiten hatte und von dem alle meinten, er sähe aus wie der Papa. Stanley sah diese Ähnlichkeit nicht. Sein Vater war ein alter Mann gewesen, der älteste Mensch überhaupt, den er je gesehen hatte – fünfundsechzig, als Stanley geboren wurde, siebzig, als er langsam begriff, wer er war, und am Ende schließlich ein fleischloses, seelenloses Kunstwesen, ebenso uralt und unergründlich wie ein fossiles Dinosaurierei. Stanley mochte Dinosaurier – er träumte gern von den scharfen Reißzähnen der großen Fleischfresser unter ihnen und von den Panzerplatten, mit denen sie sich schützten, sogar die langsamsten und allerkleinsten – aber seinen Vater mochte er nicht. Oder hatte ihn nicht gemocht.
Und als er sich dem Sarg näherte, Cyrus’ mächtige, weiche Hand im kraftlosen Griff seiner eigenen brannte wie ein Ofen, wie eine Dampfmaschine, wie flüssige Lava, da empfand er nichts als Schuldgefühle. Keinen Kummer, keinen Verlust, nur Schuld. Die Leute sahen ihn an und hielten ihn für einen trauernden Sohn, aber sie wußten nicht, daß Stanley, wenn seine Mutter allabendlich die Familie zusammengerufen hatte, um für die Genesung des Vaters zu beten, den Kopf gesenkt und Gott angefleht hatte, er möge den alten Mähmaschinenkönig für immer zu sich holen. Und Gott hatte ihn erhört, denn Stanley liebte seinen Erzeuger und Ernährer nicht so, wie es einem Sohn anstand – er fürchtete ihn, fürchtete und verabscheute ihn, und er schrak zurück vor seiner dröhnenden, keuchenden Stimme, vor den knorrigen, wie mit Lack überzogenen Händen und diesem Geruch nach etwas Totem, Verwesendem, der wie ein Gift aus den geblähten, haarigen alten Nasenlöchern strömte. Es war gräßlich, seinen Vater nicht zu lieben, eine Sünde, die durch alle Spalten der Hölle widerhallte und dem Teufel selbst in den Ohren gellte. Stanley war ein Vatermörder, ein undankbarer Wurm. Und dabei war er erst neun Jahre alt.
Aber dort stand er, der Sarg, riesengroß wie ein Schiff und so blank poliert, daß man sich darin spiegeln konnte, nicht nur in dem Messing oder Gold oder was immer es war, sondern sogar im Holz. Der Sarg stand auf einem Podest in der Mitte dieses so vertrauten Raumes mit den alten französischen Möbeln, den getäfelten Wänden und der gewölbten Decke, die mit einem sommerlichen Himmel bemalt war, samt Schäfchenwolken und fliegenden Vögeln, und das alles ließ ihn noch größer wirken. Dies war das Schiff, in dem der Mähmaschinenkönig seine letzte Reise antreten würde, hinab an jenen Ort, wo es immer dunkel und feucht war, wo die Insekten sich in sein Fleisch fressen würden, um dort ihre Eier zu legen... und dann hinauf in den Himmel, weil Stanleys Vater ein guter Mann gewesen war, der der Menschheit wie auch dem lieben Gott gedient und Zehntausende gespeist hatte, genau wie Jesus Christus – das wußte Stanley und würde es niemals abstreiten. Er wußte es, weil seine Mutter es ihm erzählt hatte. Wieder und wieder hatte sie es ihm erzählt, so daß er mit einer ganzen Litanei über die Güte seines Vaters aufwuchs, die er dann mit dem lebendigen Exemplar dieses griesgrämigen, verbitterten, unversöhnlichen alten Mannes vergleichen konnte, der im Flur oben in seinem Rollstuhl kauerte.
Stanleys Beine waren wie aus Blei, die Füße wie am Boden festgeklebt. Es mußten an die zweihundert Menschen anwesend sein, Freunde, Verwandte und Fremde drängten sich Schulter an Schulter, und er konnte ihnen nicht ins Gesicht sehen, konnte nicht einmal den Kopf heben. Er betrachtete seine Füße, verlor sich im Glanz seiner Knöpfstiefel, die im Teppich versanken und wieder hervorkamen, versanken und hervorkamen, Schritt für Schritt, näher und näher. Die Getränke und Brötchen waren jetzt abgetragen, doch das ganze Haus roch noch danach, besonders dieser Raum. Es roch wie in einer Küche, es stank nach Kanapees, Räucherwurst, Fischrogen und noch etwas anderem, Undefinierbarem – nach Parfum wahrscheinlich. Aber nicht die Sorte, wie sie Frauen verwendeten – es roch durchdringender, schärfer, intensiver und beißender. Er dachte gerade darüber nach, was für ein Parfum das sein könnte und ob es der Leichenbestatter und seine lautlos umherschleichenden, händereibenden Assistenten wohl wüßten, als Cyrus jr. plötzlich seine Hand drückte, es war ein abrupter, ungestümer Druck, und Stanley hob den Blick und sah die harte, blitzende Messingstange des Sarges unmittelbar vor sich, aus dem die Nase seines toten Vaters ragte wie einer dieser bleichen Pilze, die nach Gewittern aus der Erde sprießen. Ihm war schwindlig, als hätte man ihm Äther verabreicht, seine Beine versagten ihm fast den Dienst – es war, als würden sie gar nicht mehr von Knochen gehalten, wären nicht länger an den Hüften befestigt –, und dann war seine Mutter da, sie erhob sich neben dem Sarg und schloß ihn in die Arme.
Sie hatte dort im Dunkel gekniet wie eine Art Bittstellerin, wie die Witwe eines Maharadschas, die sich auf den Scheiterhaufen wirft, und er sah, daß auch seine Schwester Anita dort kauerte, eine trauernde Achtzehnjährige, ihr breites, gramvolles Gesicht wie ein abgeernteter Acker, und Missy Hammond, die Gouvernante, mit ihrem entstellenden Buckel und den kleinen, rotgefleckten Gerinnseln ihrer Augen, aus denen sie ihn schwermütig anstarrte. Und Harold – Harold kniete ebenfalls bei ihnen, die Schultern eingezogen, die Hände gefaltet, Harold, sein Vertrauter und Spielkamerad, nur zwei Jahre älter als er und von virtuoser Gelenkigkeit, Harold, der immer nur Football spielen wollte, und dabei austeilte und einsteckte, bis er nicht mehr vom Dreck zu unterscheiden war, in dem sie sich wälzten, und nun war er verwandelt in einen professionellen Trauergast, ebenso apathisch und geduckt wie einer der Assistenten des Bestattungsunternehmers. Es war ein Schock: Harold hatte ihren Vater geliebt, wirklich geliebt, und Stanley nicht. Die Scham brannte in ihm, und er verbarg den Kopf im Kleid seiner Mutter.
Und dann stand er plötzlich, irgendwie, mit seiner Mutter oben auf dem Podest und starrte auf das erschlaffte Antlitz seiner Alpträume hinab. Da lag er, sein Vater, monströs im Tod, groß wie ein Riese, wie ein Menschenfresser, ausgestreckt auf dem Rücken, als ob er schliefe, die Augen geschlossen, der Bart eine graue Schaumkrone über seiner Kehle, dem Kinn und der neuen Krawatte, mit der sie ihn begraben würden... aber er schlief nicht, er war tot, und es lag eine Starre auf seinen frisch rasierten Wangen und eine Tiefe in den Furchen und Gräben um seine Augen, die alle Bestatterschminke dieser Welt nicht vertuschen konnte. Stanley gab sich größte Mühe, traurig und betroffen, gramgebeugt und bekümmert auszusehen, seine Mutter neben sich, Geistliche um sie herum flatternd wie ein Krähenschwarm, und überall Tanten, Onkel und vollkommen Fremde, die greinten und weinten und sich die Augen betupften, aber es gelang ihm nur, so auszusehen, wie er sich fühlte: verängstigt. Am liebsten wäre er davongerannt, hätte sich losgerissen von seiner Mutter und ihrer unüberwindlichen Macht, ihn dazuhalten – er wollte sich verstecken, bevor sie die Wahrheit in seinen Augen erkannten, bevor sich der steife, verwesende, parfümierte Leichnam seines Vaters in seinem Sarg aufsetzte und Stanleys Treulosigkeit hinausschrie. Und beinahe hätte er es auch getan, hätte sich zur Tür hinausgestürzt und allen eine Riesenschande bereitet, wäre da nicht Mary Virginia gewesen.
Die ganze Zeit hatte sie am Rand der Szene ausgeharrt, weinend und mit den Zähnen knirschend, eine Gefangene ihres Leids, jetzt aber, endlich, war ihr Augenblick gekommen. Stanley merkte nichts davon. Er nahm nur sich selbst wahr, wie er auf dem Podest herumstand, vor den Augen all dieser Menschen, und nichts lieber wollte als davonlaufen, sich verstecken und irgendwo vergraben, und er haßte seine Mutter, weil sie ihn dort festhielt, und die Trauergäste, weil sie sein Haus überschwemmten, und seinen Vater, weil er gestorben war und weil er überhaupt gelebt hatte. Er war sich vage bewußt, daß irgend jemand fehlte, jemand Wichtiges, aber er dachte nicht nach und es war ihm auch egal, am liebsten wollte er selbst sterben, auf der Stelle umfallen und die Sache hinter sich bringen – bis er ihn hörte, den ersten markerschütternden Schrei seiner Schwester. In diesem Moment verwandelte sich alles. Plötzlich war er außerhalb seines Körpers, schwebte hoch oben über dem Raum bei den aufgemalten Vögeln und sah zu, wie seine große Schwester all diese armseligen langen Gesichter mit der Gewalt ihres Kummers vernichtete.
Sie stürzte aus dem Korridor herein auf der Welle des ersten, immer noch ansteigenden Schreis, in einem schwarzen Hemdchen, das aussah wie ein Unterkleid, mit nackten Armen und bloßen Füßen, ihre Haare, wild und verfilzt, peitschten ihr ins Gesicht wie eine Geißel. Jeder im Raum, sogar Mama, die Allmächtige, stand wie erstarrt da – nein, nicht erstarrt, sondern verflüssigt wie geschmolzener Quarz und dann abgeschreckt zur zerbrechlichen Leblosigkeit von Glas. Doch dieses erste herzzerfetzende Kreischen war nichts als die Einleitung, die Ouvertüre, die Ahnung dessen, was noch kommen sollte. Der nächste Schrei, langgezogen und arienhaft, zu einem Crescendo nervenzerfetzender Klagelaute gedehnt, die klangen, als würde ein Tier lebendig ausgeweidet und gefressen, fegte über die Wände und die Decke und scheuerte all die gläsernen Mienen und glasigen Blicke blank, bis nichts anderes mehr existierte als Mary Virginia McCormick, Quell und Inbegriff allen Leids.
Ungehindert, kaum wiederzuerkennen, den Mund im Schreien verkrampft, alle Gliedmaßen zuckend und bebend wie fortgerissen von einer unwiderstehlichen Macht, so raste sie über den Teppich und durch den Dunst aus Räucherwurst und Leichenparfum, vorbei an den Trauergästen und den Leichenbestattern und den eigenen Familienangehörigen, und dann flankte sie über die Messingstange und hechtete mitten in den Sarg hinein, als spränge sie in ein Schwimmbecken. »Ich bin’s«, rief sie und schlug auf das ein, was vom Mähmaschinenkönig geblieben war, bis es für Stanleys verschwimmenden Blick so aussah, als wäre die Leiche in einer grausigen Generalprobe seiner schlimmsten Ängste zum Leben erwacht. Niemand rührte sich. Niemand atmete. »Papa«, schluchzte sie, »ich bin’s, Mary Virginia«, und ihre Hände waren an ihm, schlangen sich um den Leichnam, umklammerten die steife Kehle und den wiederbelebten Bart. »Erkennst du mich denn nicht?«
Es war eine Schande, da waren sich alle einig, denn Mary Virginia war die Schönheit der Familie, ein Wurf der genetischen Würfel, wie er sich in jeder Generation nur einmal ergibt. Und sie war ebenso talentiert wie bezaubernd, tat sich leicht mit Fremdsprachen, konnte gut zeichnen und war eine begabte Pianistin, die mit der Subtilität und dem Gefühl einer wesentlich reiferen Frau und der Wucht und Beherztheit eines Mannes spielte. Als ihr Vater starb, war sie dreiundzwanzig und unverheiratet, obwohl es keineswegs an Bewerbern gemangelt hatte, wurden doch ihre körperlichen Reize durch die Verlockung des väterlichen Vermögens noch gesteigert. In den zwei Jahren seit ihrer Großjährigkeit war dreimal um ihre Hand angehalten worden. Ihre Mutter – Nettie Fowler McCormick, eine Großmacht der Chicagoer Gesellschaft und eine Ehestifterin ohnegleichen – hatte bei allen drei Gelegenheiten den Familienrat einberufen, und jedesmal hatte Papa den Aspiranten, wiewohl diese sämtlich aus guter Familie stammten und über eigenes Vermögen verfügten, beiseite nehmen und ihm namens seiner Tochter leider absagen müssen. Und das war eine Schande, eine echte Schande. Aber die McCormicks waren gewissenhaft bis zum Starrsinn, deshalb fanden sie, daß ihnen keine Wahl blieb, als den fraglichen jungen Männern klarzumachen, worauf sie sich bei ihrer Entscheidung einließen.
Die traurige Wahrheit war, daß Mary Virginia an einer Krankheit litt, einer Krankheit, die man nicht sah, nicht sofort und nicht auf der Oberfläche. Ihre Krankheit schien sich zu vertiefen, während sie in sie hineinwuchs, schien sich zu dehnen und zu weiten, um sie aufzunehmen wie die Haut einer Anakonda. Seit ihrem dreizehnten Geburtstag war sie zunehmend weggetreten, hatte sich von der Welt der Menschen, der Dinge und Verpflichtungen entfernt, als wäre ein wichtiger Strang in ihrem Gehirn gekappt worden. Es gab Zeiten, da erkannte sie nicht einmal ihre Eltern, die Gouvernante oder die eigenen Geschwister. Sie aß nicht mehr. Sprach nicht mehr. Stundenlang kauerte sie über einem aufgeschürften Knie und betete fanatisch, ja hysterisch, sang den Namen des Herrgotts vor sich hin, bis er wie ein Fluch klang. Zu anderen Zeiten konnte sie scheinbar kaum atmen, raste in panischer Angst von einem Zimmer zum nächsten, blau im Gesicht und nach Luft schnappend, obwohl rings um sie nichts als Luft war. Dann wieder fand sie manchmal tagelang, wochenlang keinen Schlaf, und es entsetzte Nettie, wenn sie um zwei oder drei Uhr morgens in ihr Zimmer lugte und sie dort reglos im Bett liegen sah, in den Zenit ihres privaten Universums starrend – wach, aber ohne ihre Mutter wahrzunehmen, so als wäre sie blind und taub.
Mit fünfzehn erwachte sie zu neuem Leben, wiederauferstanden und hyperkinetisch, die Funken sprühten ihr von den Fingern, und sie lachte mit offenem Mund über den großen, ständig ablaufenden Witz dieser Welt. Ihre Gesten und Bewegungen erstarrten kurz und setzten dann wieder ein, beschleunigt und noch einmal beschleunigt, so daß sie ihre ziellose Tour von Zimmer zu Zimmer in einem spastischen, ruckartigen Trott vollzog, der wie ein grausames Nachäffen des Leidens der armen Missy wirkte. War sie vorher ohne jeglichen Affekt gewesen, geradezu leergefegt von aller Emotion, so war sie nun auf einmal leidenschaftlich wie ein Liebhaber zu Nettie, der eigenen Mutter, klammerte sich beim Zubettgehen ungestüm an sie und zog den Gutenachtkuß so sehr in die Länge, daß er zur Tortur wurde. Sie schlafwandelte, plapperte Unsinn, verängstigte ihre Mitschülerinnen. Und dann, kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag, begann sie mit den Selbstverstümmelungen.
Eines der Kindermädchen, eine junge Französin namens Marie Lherbette, entdeckte es als erste. Damals saß Nettie bequem in einem Louis-seize-Sessel im Salon, einem eifrigen, wohlgenährten jungen Mann gegenüber, dessen Reise nach China im Namen der Presbyterianischen Missionsgesellschaft zu bezahlen sie sich bereit erklärt hatte. Auf dem niedrigen Tischchen zwischen ihnen stand ein Tablett mit Häppchen und einer Teekanne, deren Wärmehaube ihre Großmutter in den Anfängen des Jahrhunderts gehäkelt hatte. Der junge Mann äußerte gerade einen komplizierten Gedanken über das asiatische Denken und den beklagenswerten Mangel an christianisierendem Einfluß in einer so alten und doch so verderbten Kultur, als Marie Lherbette anklopfte und mit tiefer Verbeugung den Raum betrat.
»Ja?« sagte Nettie. »Was ist denn, Marie?«
Das Mädchen blickte zu Boden. Sie war zwanzig, recht hübsch auf ihre Weise und auch pflichtbewußt, hatte jedoch in Netties Augen zuviel, nun, Französisches an sich, als daß sie völlig vertrauenswürdig gewesen wäre. »Madame, bitte, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«
»Jetzt? Sehen Sie denn nicht, daß ich beschäftigt bin?«
»Es liegt etwas« – die Französin suchte nach dem Wort – »Seriöses in dem, was ich Ihnen sagen muß.«
Etwas Seriöses? Nettie musterte Marie kurz, erhob sich dann und entschuldigte sich bei ihrem Besucher. Im nächsten Augenblick folgte sie dem Mädchen die Treppe zu den Kinderzimmern hinauf. »Was ist los?« wollte sie wissen. »Ist etwas mit Anita? Mit Mary Virginia?«
»Ja, Miss Mary Virginia«, flüsterte das Kindermädchen über die Schulter, während sie mit raschen, nervösen Schritten die Stufen erklomm und den Flur entlanghastete. Nettie mühte sich, ihr zu folgen, ihre Röcke verfingen sich an den Knien und wickelten sich ihr hartnäckig um die Knöchel, der Teppich unter ihr knisterte, die Möbel waren wie versteinert. Und dann traten sie durch die Tür in das Zimmer ihrer Tochter, und Nettie sah Mary Virginia auf dem Bett ausgestreckt, in ihrer schlaflosen Trance, nackt bis auf ein Paar Socken, und sie sah die deutlichen blutigen Handabdrücke auf der geblümten Tapete und die langen glänzenden Rinnsale, die aus ihrer Schamgegend die Innenseite der Oberschenkel hinabliefen, als wäre ein wildes Tier über sie hergefallen.
Sie brachten sie ins McLean Hospital nach Waverley/Massachusetts, wo sie gestochen, gezwickt, gewogen, vermessen, abgehört, analysiert und ausgefragt wurde von den größten Koryphäen des Faches, die das Geld der McCormicks herbeiholen konnte – und das bedeutete: von allen. Leider waren sich die Experten nicht einig. Der eine hielt Mary Virginias Problem für Neurasthenie, ein anderer für Wahnvorstellungen, ein weiterer für Dementia praecox. Man wollte sie zur Beobachtung dabehalten – und zu ihrem eigenen Schutz. Blut hatte sie nicht wieder fließen lassen, außer aus zwei kaum erkennbaren Löchern, die sie sich mit einem Federkiel in den Unterarm gebohrt hatte, aber während der Fahrt von Chicago im privaten Pullmanwaggon führte sie lebhafte Unterhaltungen mit Phantomen, und zweimal versuchte sie, sich aus dem Zug zu stürzen. Zum Glück war Cyrus jr. da und hielt sie zurück, aber Nettie brach unter der Belastung fast zusammen.
Sechs Wochen, sagten die Ärzte. Mindestens. Also beschloß Nettie, die selbst vollkommen erschöpft war – der Kollaps von Mary Virginia, Papas Krankheit, und in Chicago sehnten sich ihre Kleinen nach ihr –, ein Haus in Waverley zu mieten und Harold und Stanley nachkommen zu lassen. Es war eine von Stanleys frühesten Erinnerungen. Missy Hammond und Marie, ihr französisches Kindermädchen, fuhren mit ihm und Harold für sechs Wochen in Ferien – und wußte er denn, wie lang sechs Wochen waren? Und wie viele Tage eine Woche hatte? Und wie der erste Buchstabe vom Alphabet hieß? Ja. Und sie würden mit der Tschu-Tschu-Eisenbahn den weiten Weg durch den großen Staat Illinois, durch Indiana – konnte er denn Indiana sagen? – und Pennsylvania und New York bis nach Massachusetts fahren, wo Mama und die große Schwester jetzt waren. Seine große Schwester war krank, sehr krank, aber es würde ihr bald bessergehen, und dann würden sie alle wieder nach Hause zurückkehren.
Stanley war damals zwei und Harold fünf. Von der Zugfahrt behielt er die Erinnerung an ein intensives, blendendes Grün, ein Meer von Grün, das hinter den Fenstern vorbeizog, gewaltig und ozeanisch, eine Welt, die größer war, als sein Verständnis es zuließ. Von dem Haus in Waverley wußte er nichts mehr, außer daß die Sonne diese neue, weitläufige und undifferenzierte Welt aus Grün beschien und daß das dichte Gras am Rand des Gartens von Schlangen bevölkert war. Seine Mama erzählte ihm von ihnen – schlanke, harte, peitschenartige Wesen mit dem falschen Glanz eines eingewickelten Weihnachtsgeschenks, kleine verborgene Präsente aus Gift und Tod, die er niemals berühren durfte. So erinnerte er sich an jene Reise nach Massachusetts im Sommer 1877, an das und an seine große Schwester. Die krank war.
Mary Virginias Zustand besserte sich in McLean. Es war keine wundersame Heilung, gewiß nicht die Art von Genesung, die Nettie erwartete, die sie verlangte und von den Ärzten Tag und Nacht einforderte, aber immerhin hörten die imaginären Unterhaltungen auf, und blutige Stigmata an den Wänden gab es auch keine mehr. Sie fuhren alle gemeinsam nach Hause, zurück in das Sandsteinhaus in der Rush Street, dessen Ballsaal Platz für zweihundert Gäste bot und wo es einen dampfbeheizten Stall für die Pferde, die Ziege, die Kuh (der Mähmaschinenkönig mochte seine Milch gern frisch) und das Pony gab, das Anita fünf Jahre später zu ihrem sechzehnten Geburtstag bekommen sollte. Mary Virginia wurde älter und hübscher, aber sie mußte die Lehranstalt der Schwestern Kirkland noch vor dem Abschluß verlassen, weil Miss Nevelson, ihre Lateinlehrerin, einen abnehmbaren Kopf besaß und ihn ständig verkehrt herum aufsetzte, und das konnte Mary Virginia einfach nicht ausstehen – so was hatte sie schon immer gehaßt –, also engagierte Nettie einen Privatlehrer, der ins Haus kam. Es folgte ein Jahr von fragilem Frieden, und dann, mit achtzehn, brach Mary Virginia erneut zusammen, sie wurde Opfer von unbestimmten Ängsten und mußte wieder ins Krankenhaus – diesmal sechs Monate lang.
Eine vergleichsweise ruhige Phase schloß sich an, eine Zeit, in der sie die Zimmer des Hauses zu allen Nachtstunden durchwanderte wie eine verlorene, umherirrende Seele – erfreulicherweise aber ganz friedlich –, doch dann wurde sie allmählich wieder erregter, so wie ein Naturereignis sich langsam aufbaut, und in ihrer Erregung wandte sie sich dem Klavier zu. Plötzlich stand sie im Morgengrauen auf und hämmerte mit solcher Macht in die Tasten, daß ein Chopin oder selbst ein Liszt davon gelähmt worden wäre, sie schlug und donnerte auf das Klavier ein, bis ihre Finger wund und die Tasten blutig waren, sie setzte die Ellenbogen, das Kinn, sogar die Zähne ein, und so ging es stundenlang, manchmal sieben oder acht Stunden am Stück, und nichts konnte sie davon ablenken oder abbringen. Nettie wäre das ja recht gewesen, wenn sie nur schön gespielt hätte, ordentlich, und eine erkennbare Melodie. Aber nein, ihr Klavierspiel war eine atonale Orgie, blindlings, barbarisch, animalisch – es war verstörend, nichts anderes, und sie war gestört, ihre Tochter war gestört, und Nettie beschloß, der Sache ein Ende zu bereiten.
Eines Nachts, als Mary Virginia in Trance in ihrem Zimmer lag, ließ Nettie das Klavier abtransportieren, ins Haus ihres Schwagers in der East Erie Street, als permanente Leihgabe. Falls Nettie für den Rest ihres Lebens nie wieder einen einzigen Ton Klaviermusik hören sollte, hätte sie sich glücklich geschätzt. Mary Virginia erwachte wie üblich bei Tagesanbruch, ging an den Platz im Salon, wo das Klavier gestanden hatte, fiel dort ohne ein Wort auf die Knie und begann zu beten. Sie betete den ganzen Vormittag und den ganzen Nachmittag und hinein in den Abend, die Nacht hindurch bis zum nächsten Morgen, in die Nacht und den nächsten Morgen, ihre Gebete waren laut und gellend, sie dröhnten in der geheiligten Atmosphäre des McCormick-Familiensitzes wie die zornigen Hämmer von sechsundfünfzig Elfenbeintasten.
Diesmal betete sie sich geradewegs ins Krankenhaus, aber sie war wieder zu Hause und mehr oder minder ruhiggestellt, als ihr einundzwanzigster Geburtstag näher rückte. Nettie war gegen eine Großjährigkeitsparty, aber der Mähmaschinenkönig bestand darauf. Was sollten denn die Leute denken? Daß Cyrus Hall McCormicks älteste Tochter verrückt war? Daß er kein Vertrauen in sie besaß? Daß ihr Leben vorbei war, noch ehe es begonnen hatte? Blödsinn. Natürlich sollte sie ihre Volljährigkeitsfeier haben wie jedes andere Mädchen ihres Alters und ihres Standes, und im übrigen sollte dieses Fest nach allerhöchstem McCormick-Maßstab organisiert und durchgeführt werden, einem Maßstab, der Familien wie die Armours, die Swifts und die Pullmans Staub schlucken lassen würde. War das klar?
Es war klar. Und so öffnete Nettie, mitten in einem Februar-Kälteeinbruch, ihr Haus für sechshundertfünfzig Gäste, denen eine Armee von Dienstboten Champagner und Austern servierte, und später gab es ein förmliches Abendessen für fünfzig in der Bibliothek und anschließend Tanz bis Mitternacht im Ballsaal im dritten Stock. Angetan mit einem Gewand aus weißem Crêpe und französischen Handschuhen mit drei Knöpfen, kühl wie der zunehmende Mond, ganz ruhig – manche sagten, lethargisch – stand Mary Virginia im Begrüßungskomitee, zusammen mit ihren Eltern, Cyrus jr. und sechs weißgekleideten Absolventinnen der Kirkland-Lehranstalt, und lächelte jeden der sechshundertfünfzig Ankömmlinge an.
»Guten Abend«, sagte sie zu jedem einzelnen, und ihre Stimme klang wie losgelöst von ihrem Körper und ihrem schönen, schimmernden Gesicht, »ich bin Mary Virginia McCormick, und ich freue mich sehr, daß Sie mit mir meinen Eintritt in die Gesellschaft feiern.« Es gab keine Gebete, keine Schreie, keine Unterhaltungen mit imaginären Personen, und das Ganze lief ohne jede Störung ab, bis auf die wirklich schwierige letzte halbe Stunde, in der Johnnie Hand, der Kapellmeister, sich dem Wunsch des Ehrengastes fügte, man möge sie auf dem Klavier spielen lassen. Mary Virginia beugte sich mit konzentriertem Ausdruck über die Tasten, während die Gäste, Musiker und Dienstboten eine Miene verzückter Erwartung aufsetzten, und legte dann los mit etwas, das anfangs eine vage, flüchtige Ähnlichkeit mit einer ChopinPolonaise besaß, jedoch rasch zu der mißtönenden, gräßlichen, obszönen Kakophonie ausartete, die ihre Mutter so gut kannte. Aus einem Gesicht nach dem anderen wich das höfliche Lächeln, der Kapellmeister wirkte gequält, und Mrs. Eulalia Titus aus der Prairie Avenue mußte auf die Damentoilette begleitet werden, weil sie einen ihrer Anfälle hatte.
Nettie versuchte, die Darbietung nach etwa einer Minute mit lautem Beifall zu beenden, und das Publikum nahm ihn pflichtbewußt, ja enthusiastisch auf, so daß Mary Virginias Bemühungen einen Moment lang von einer Flutwelle des Applauses überdeckt wurden, doch als das Klatschen verebbte, spielte sie immer noch. Den Kopf über die Tasten gesenkt, mit wild fuchtelnden Ellenbogen, nichts als Daumen und Knöchel und aufblitzende Handgelenke, folterte sie das Instrument mit Variationen, die kein zivilisiertes Ohr je vernommen hatte. Nach fünf Minuten versuchte es Nettie nochmals. Sie rief: »Bravo!« und klatschte so heftig los, daß sie meinte, sie werde sich an den Handgelenken verletzen. Und wieder nahmen die Zuhörer den Applaus auf, dankbar und beschwörend riefen sie »Bravo!«, als stimmten sie damit den Rückzug an. Mary aber spielte weiter, spielte immer weiter, bis der Ballsaal leer war und Cyrus jr. und einer seiner Kommilitonen aus Princeton sie an den Armen packen und ihre Finger dem letzten donnernden Akkord entreißen mußten, der durch den Raum hallte wie das Ende eines Trommelfeuers.
Ja. Und jetzt trauerte sie um ihren Vater.
Zunächst – während der ersten paar Sekunden jedenfalls – hatte Stanley kein Problem damit. Niemand achtete im geringsten auf ihn – alle blickten auf Mary Virginia, seine große Schwester, die Erlöserin, die im letzten Augenblick hereingestürmt war, um die Menge einzuschüchtern und ihren kleinen Bruder zu erretten, und er schwebte, er flog geradezu... doch als sie dann direkt an ihm vorbeilief und sich auf dieses kalte tote Ding warf, das einmal ihr Papa gewesen war, da stürzte Stanley von der Decke wie eine Tontaube. Hier kam der Engel in Menschengestalt, seine große Schwester, die Harold und ihn oft auf Spaziergänge in den Park mitnahm, der Hochofen der Zuneigung, der ihn an Winternachmittagen dick einmummelte, wenn sie zum Schlittschuhlaufen und zu heißem Kakao am Seeufer aufbrachen, und ihm ins Ohr flüsterte, daß es lustvoll kitzelte, und ihn schwesterlich umsorgte, wenn er eine Erkältung hatte – aber sie beachtete ihn nicht. Sie war nicht seinetwegen hier, ja sie sah ihn nicht einmal.
Jemand kreischte. Alles bewegte sich auf den Sarg zu, in Mamas Gesicht blitzte das Höllenfeuer des Zorns, Harold glotzte verdattert, und Missy und Anita bissen sich auf die Fingerknöchel, als wären es Rippchen oder Hühnerflügel, und Stanley machte sich unsichtbar. Sobald die Mutter seine Hand losließ, war er weg, verschwand im Chaos der knarrenden Stühle, der schreienden Menschen, zwischen diesen überdimensionierten Körpern, die sich rücksichtslos und zielgerichtet bewegten. Er blieb nicht, um mitzuerleben, wie sein ältester Bruder und seine zwei Onkel Leander und William die große Schwester von dem toten Vater herunterzerrten, er sah nicht die Mischung aus Wildheit und Verwirrung in ihrem Gesicht, sah sie nicht treten und beißen und um sich schlagen, bis ihr der dünne Fetzen des Hemdchens über die Hüften rutschte und die zerkratzte, nackte Haut darunter freilegte. Nein: er rannte schnurstracks nach unten in die Wäschekammer zu dem großen Eichenschrank, in dem er sich vergrub.
Später, viel später – es mußte schon nach Mitternacht sein – wagte er sich wieder auf den Korridor hinaus. Er hatte das Abendessen verpaßt, und Mama hatte ihn nicht gesucht, was bedeutete, daß sie an einer ihrer Migräneattacken litt und sich wie eine Gefangene in ihrem Zimmer eingesperrt hatte. Er hatte Marie nach ihm rufen hören, später auch Missy und Anita, sich aber darauf nur noch tiefer zwischen den Handtüchern und Bettlaken vergraben. Er brauchte sie nicht – brauchte weder die große Schwester noch seine Mutter noch sonstwen –, und selbst wenn er sie brauchte, hätte er doch nichts unternehmen können. Sobald er einmal in die unterste Lade des breiten Wäscheschranks geklettert war und sie zentimeterweise zugeschoben hatte, indem er die rechte Schulter gegen die rauhe, unpolierte Fläche des Bretts über sich drückte, war er machtlos. Etwas in seinem Inneren nagte sich einen Weg hinaus – etwas, was er verschluckt hatte, etwas Lebendiges, und es ließ ihn weder Atem schöpfen noch Arme und Beine bewegen, ja nicht einmal den Kopf heben, damit er zusehen konnte, wie es mit Klauen und Reißzähnen die Haut seines Bauches aufschlitzte und diesen hermetischen Raum mit einem Bart anfüllte, der nicht aufhörte zu wachsen, bis es keinen Platz mehr in der Schublade gab und auch keine Luft mehr. Für Stanley, einen braven Jungen, einen aufgeweckten Jungen, einen netten und ganz normalen Jungen, war dies der Anfang des Schreckens. Von nun an würde es für ihn kein Versteck mehr geben.
Der Abend wurde zur Nacht, und die ganze Zeit lag Stanley reglos da, er horchte auf die Geräusche des Hauses, auf das Kommen und Gehen, das Klirren von Silberbesteck und Kristallglas und das Gemurmel der Dienstboten im Korridor. Er kämpfte seinen Hunger nieder, verleugnete sich, tat Buße und lag so still da wie der Leichnam seines Vaters im Salon. Am Ende aber war es ein Bedürfnis der Lebenden, das ihn aus der Schublade trieb: er mußte Pipi machen.
Als er endlich aus dem Schrank kroch und den Kopf zur Tür hinaussteckte, um sicherzugehen, daß niemand auf dem Korridor war, mußte er so dringend, daß er sich ihn schon abquetschte, seinen Piepmatz quetschte, den ihn Mama allerdings nicht mehr so nennen ließ. Ein Penis war es aber auch nicht, nicht in Mamas Wortschatz. Nein: es war nur ein schmutziges Ding, das kleine Jungen für irgendeinen schmutzigen Zweck besaßen, und er durfte es niemals anfassen, außer um Pipi zu machen, hatte er das verstanden? Er verstand zwar nicht, aber immer wenn sie es ihm sagte, nickte er brav, senkte den Kopf und ließ seinen Blick den Rückzug antreten.
Der Flur lag verlassen da. Ganz hinten hatte jemand ein Licht brennen lassen, vor dem Zimmer, das sie immer noch das Babyzimmer nannten, und eine weitere Lampe brannte in der Toilette gegenüber. Kein Geräusch war zu hören. Die Trauergäste hatten ihre schweren, festen Schuhe, ihre Pelze und ihre Juwelen und ihre langen Beileidsgesichter wieder nach Hause mitgenommen, und alle anderen hatten sich schlafen gelegt – immerhin stand am nächsten Morgen das Begräbnis an. Stanley quetschte ihn sich ab. Zwei Miniaturstacheln pikten ihn dort unten, auf beiden Seiten, knapp oberhalb der Schamgegend. Er hielt einen Moment lang den Atem an und lauschte, dann huschte er über den Korridor in die Toilette und schlug die Tür hinter sich zu. Er machte gerade Pipi – erleichterte sich, und ja, es war wirklich erleichternd, die einzige Erleichterung an diesem Tag –, als er in den Spiegel blickte und feststellte, daß jemand die Tür hinter ihm aufdrückte.
»Ich bin hier drin«, trällerte er und wandte sich instinktiv ab, um seinen Unterleib zu verdecken. Zur Antwort erhielt er nur das leise metallische Knirschen der Scharniere, die Tür schwang unerbittlich auf, das Geräusch seines Harns in der Keramikschüssel wurde plötzlich zur Peinlichkeit, ein stetiger, brennender, aufgestauter Strom, den er einfach nicht stoppen konnte. Er warf einen nervösen Blick über die Schulter und erwartete eigentlich Harold. »Kleinen Moment noch!« rief er, aber es war zu spät.
Es war nicht Harold, der da in der Tür stand, sondern Mary Virginia, barfuß und in ihrem schwarzen Unterkleid. Sie schien verwirrt, so als hätte sie noch nie im Leben eine Toilette – oder Stanley – gesehen.
Was Stanley anging, so versuchte er, seinen Penis zurück in die Hose zu stecken, noch ehe er fertig war, so daß er sich vorne mit heißem Pipi besprudelte. Schmutzig, schmutzig, schmutzig, konnte er seine Mutter bereits sagen hören. Er wurde rot. Das Blut dröhnte in seinen Ohren. Er wich von der Toilette zurück.
Eine Zeitlang stand Mary Virginia da und schaukelte vor und zurück auf ihren Füßen, die so weiß waren, daß sie auf den bunten Kacheln zu glühen schienen. »Stanley, das Elfchen«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme klang seltsam. Die Worte waren verschliffen und verlangsamt, als hätte sie etwas im Mund. »Der kleine Kobold«, sagte sie. »Der Junge, der mit den Fingern schnippt und einfach so verschwindet.«
Stanley sah zu, wie ihre Füße über den Fußboden glitten, fasziniert davon, wie ihre Zehen die Fliesen berührten und wieder losließen. »Hab keine Angst«, sagte sie und streckte die Hand aus, um ihm durchs Haar zu fahren, »... sie haben mich ruhiggestellt, das ist alles. Für meinen Seelenfrieden. Damit ich zur Ruhe komme.«
Stanley versuchte zu lächeln. Seine Hose war durchnäßt und unbequem, ebenso seine Unterhose, die ihn jetzt im Schritt rieb, er hatte Hunger und war müde, erschöpft von den Strapazen und von dem Entsetzen, das über ihn gekrochen war, als er sich den ganzen Tag bis in die Nacht hinein in der Schublade versteckt hatte.
Mary Virginia – die große Schwester – lächelte matt zurück, und dann, so beiläufig, als wäre er überhaupt nicht da, raffte sie das Unterkleid hoch und setzte sich auf die Toilette. Sie starrte ins Leere, und er hörte das scharfe Zischen ihres Urins, als er sich zum Händewaschen umdrehte – Immer die Hände waschen, sagte seine Mutter, immer! Er war durcheinander. Sein Gesicht brannte. Er wollte zu seiner Mutter.
Aber dann lachte Mary Virginia auf, ein hohes, heiseres, glucksendes Lachen, das ihn erschreckte, so daß er sich wider Willen umwandte. »Stanley der Trübsalbläser«, sagte sie. »Immer bist du so trübsinnig, Stanley – was ist denn los? Ist es wegen Mama?« Und dann: »Ich wette, du hast noch nie eine Frau pinkeln sehen, stimmt’s?«
Stanley schüttelte den Kopf. Die Beine seiner Schwester waren weiß, noch weißer als ihre Füße, und das Unterkleid war über die Knie hinaufgerutscht.
»Frauen setzen sich hin beim Pinkeln, hast du das gewußt? Weil wir nämlich keinen kleinen Piepmatz haben wie die Jungen – Frauen sind anders.« Sie erhob sich unsicher, als fände sie ihr Gleichgewicht nicht, und murmelte irgend etwas, das er nicht verstand. Dann sagte sie: »Möchtest du mal sehen?«
Er wußte nicht, was er tun sollte. Er blieb wie angewurzelt am Waschbecken stehen und sah zu, wie seine große Schwester sich das Unterkleid über den Kopf zog, bis sie überall weiß war. Riesenhaft weiß. Weiß wie eine Statue. Und er sah ihre Brüste, schwer und weiß im Schein der Gaslampe, und ihren Nabel und die Stelle, wo ihr Penis hätte sein sollen, doch statt dessen waren dort nur Haare, blonde Haare. »Siehst du?« sagte sie, die Worte zäh in ihrem Mund, und einen Moment lang dachte er, sie kaue Bonbons, Karamelbonbons, und gleich würde sie ihm welche geben – sie neckte ihn nur ein bißchen, darum ging es bei dieser Schau.
Aber es gab keine Bonbons, das wußte er, und er wollte am liebsten weglaufen, zurück zu der Schublade im Schrank, in der er nie wieder einen Augenblick des Friedens finden würde, zu seiner Mutter, zu Harold, Missy, Anita, zu irgendwem – aber er tat es nicht. Er stand am Waschbecken und starrte den weiß schimmernden nackten Körper seiner Schwester an, seiner großen Schwester, die sehr schön und sehr krank war, bis sie das Unterkleid aufhob und sich wieder mit dem formlosen Schwarz ihrer Trauer bedeckte.
Danach, nach der Beerdigung und den Beileidsbriefen und dem schwarzen Flor, ging Mary Virginia fort. Stanley konnte den genauen Zeitpunkt nicht benennen – es war vielleicht eine Woche nach der Beerdigung, zwei Wochen, ein Monat –, jedenfalls leitete Mama alles in die Wege, und dann war die große Schwester fort. Er erzählte nie irgendwem von jenem Abend auf der Toilette, nicht einmal Harold, aber er ging ihm noch lange nach dem Begräbnis durch den Kopf, ein tiefes, schwärendes Loch von Scham. Mädchen waren anders als Jungen, und Frauen waren anders als Männer, das wußte jeder, doch jetzt wußte Stanley, als einziger unter seinen Freunden und Schulkameraden, wie und warum sie anders waren, und es war ein Wissen, um das er nicht gebeten hatte, ein Wissen, das seine Träume komplizierte und ihn Hemmungen verspüren ließ vor seiner Mutter, vor Anita und Missy und all den anderen weiblichen Personen, die sein Leben bedrängten. Er sah ihnen ins Gesicht, auf ihr Haar, ihren Rock, ihre Füße, und er wußte, wie weiß sie unter den Kleidern waren, er wußte um dieses blasse, ausgebleichte, froschbäuchige Weiß, um die Brüste, die dort hingen wie Stümpfe von etwas, das ihnen fehlte, und um diese Narbe zwischen den Beinen, wo eigentlich Fleisch sein sollte. Es war eine quälende Vision, ein ununterbrochener Alptraum, mehr als ein Neunjähriger lange mit sich herumtragen konnte, und es dauerte den ganzen Frühling und den Sommer in den Adirondack Mountains, bis die Bilder endlich zu verblassen begannen.
Mary Virginia besuchte sie von da an nur einmal jährlich in der Rush Street, immer in Begleitung ihrer Ärztin, einer kleinen, schmallippigen Frau von der Statur eines Mannes und mit großen, hervorquellenden Augen, die die Jungen dermaßen faszinierten, daß sie sie nicht ansehen konnten, ohne zu kichern. Diese Besuche waren immer kurz – jeweils zwei oder drei Tage, die Mama und Anita so durcheinanderbrachten und ängstigten, daß man hätte meinen können, Mary Virginia sei eine Anarchistin mit einer tickenden Zeitbombe, dabei war sie in Wahrheit gutmütig wie eine Kuh – und fast genauso fett. Ihren letzten Besuch in Chicago stattete sie 1892 ab, über die Weihnachtsfeiertage, zu denen sie mit viel Gepäck und einer Kavalkade von Dienstboten und weißgekleideten Krankenschwestern eintraf. Stanley war nun kein Junge mehr. Im Herbst war er zum Studium nach Princeton gegangen, er hatte tausend Dinge im Kopf und wuchs emsig zu seinen eins dreiundneunzig heran, die ihn hoch über alle Kommilitonen aufragen ließen, und er hatte seit Monaten nicht mehr an seine verrückte große Schwester gedacht – sie war weg, aus den Augen, aus dem Sinn, eine peinliche Sache für ihn und die Familie. Doch wenn er sie in diesen Weihnachtstagen wie eine Schlafwandlerin die Treppe herunterkommen oder neben diesem kleinen Mannweib von Ärztin am Tisch sitzen sah, erschrak er über die Veränderungen an ihr. Seine große Schwester, die Schönheit, hatte sich in eine übergewichtige, klettenhafte alte Jungfer verwandelt, die immer gleich in Tränen ausbrach, wenn man auch nur eine Minute lang nicht mit ihr redete.
Allerdings blieb sie meist auf ihrem Zimmer, und unter all dem Festtagstrubel, den Feiern, Geschenken, Liedern und Trinksprüchen sah Stanley nur wenig von ihr. Tatsächlich war er im Laufe der drei Tage, die sie bei der Familie zubrachte, nur einmal mit ihr allein – am letzten Tag, als sie sich nach dem Mittagessen plötzlich bei ihm unterhakte und ihn bat, einen Spaziergang im Garten mit ihr zu machen. Es fiel ein kalter Nieselregen, und sie würde sich die Röcke ruinieren, aber Mama und die glupschäugige Ärztin warfen ihm einen vielsagenden Blick zu, und so ging er mit.
Stanley war nicht sehr geübt im Plaudern, aber er plapperte dennoch drauflos, dem gedunsenen Mond ihres Gesichts zugewandt, weil er Angst hatte, sie würde losheulen, wenn er verstummte, und sie spazierten zweimal durch den Garten, bevor sie das erste Wort sprach. Sie schritten gerade nochmals den kahlen Laubengang ab, als sie unvermittelt an seinem Arm riß und ihn dicht an sich heranzog, von Angesicht zu Angesicht, so als tanzten sie ein Menuett miteinander. Sie versuchte ihm etwas zu sagen, aber sie stotterte inzwischen stark und dehnte die Worte in die Länge, bis sie zu einer eigenen Symphonie von Bedeutungen wurden – absolut unverständlich, selbst für ihre Ärztin. Der Nieselregen lag auf ihren Wimpern und Augenbrauen und ließ ihren Hut glitzern. Es war kalt. Er sah ihr in die Augen: zwei Schwemmböden des Wahnsinns. »S-Stanley«, sagte sie und mühte sich ab. »Mein kleiner Bruder...«
Sie war aufgetrieben und weiß, weich wie Teig, und er wußte, wie weiß sie unter den Kleidern war – sah es blitzartig vor sich, die ganze Szene trat ihm in diesem Moment wieder vor Augen –, und während sich seine hoffnungslos verrückte, fettgesichtige Schwester an ihn klammerte und ihm ihren Atem ins Gesicht blies, spürte er, wie er in einem plötzlichen Schock aus Scham und Begehren steif wurde. Und Haß war dabei – auch Haß. Was tat sie ihm da an? Was wollte sie denn von ihm? Konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Er wollte sie wegstoßen, aber sie hielt ihn fest, zog ihn herunter, bis ihre Gesichter sich auf eine Handbreit genähert hatten, ihre Lippen waren gesprungen und angeschwollen, ihre Zunge bewegte sich gegen ihren Gaumen wie ein Amphibienwesen, das gerade aus dem Schlamm kroch. »S-Stanley«, stammelte sie und kämpfte, um die Worte durch das enge Geflecht ihrer Krankheit zu pressen. »D-du bist mein Lieblingsbruder, das bist du, und weißt du auch, warum?«
Er wußte nicht, warum. Seine Lenden pulsierten. Er war Mitglied des Gitarren-und-Mandolinen-Clubs und des Tennisteams, er hatte eine Semesterarbeit über die Gedichte von Robert Herrick zu schreiben, und in zwei Tagen würde er wieder im Zug nach New Jersey sitzen. Irgendwo bellte ein Hund. Ihr Atem roch nach Rindfleisch mit Soße.
»Weil du... weil du genau wie ich bist.«