Vom Tod
und von Begonien
und von Begonien
O’Kane aß ein Steak bei Menhoff an dem
windgepeitschten Novemberabend, als die Nachricht vom
Waffenstillstand über den Telegraphen kam – etwas verspätet, weil
die Verbindung den ganzen Tag gestört gewesen war. Wegen des Windes
waren viele Leute daheimgeblieben, aber einige Paare hatten sich
doch zu Codys Abendessen bei keuschem Kerzenschein eingefunden, und
die Stammgäste im Schankraum schluckten Soleier und knabberten
Brezeln, während auf dem Tresen die Biere gelblich prickelten und
die Whiskeys und Bourbons aufrecht vor ihnen standen wie brave
Soldaten. Praktisch nichts außer der Apokalypse würde diese
Kundschaft abhalten, ihre Ellenbogen zu reiben, und O’Kane hatte
vor, sich ihnen in Kürze beizugesellen, einstweilen aber genoß er
sein Steak mit Kartoffelstreifen nach französischer Art und das
erste köstliche Bier, während der Wind an den Fenstern rüttelte und
es in der Kneipe so gemütlich wurde wie in einer
Schiffskajüte.
Er las in der Zeitung einen Artikel über die
Fertigstellung von Las Tejas, einen neuen Prunkbau in Montecito,
der dem Casino der Villa Farnese aus dem sechzehnten Jahrhundert im
italienischen Viterbo nachempfunden war, als Cody Menhoff
persönlich in seiner weißen Schürze aus der Küche stürzte und
jubelte: »Der Krieg ist aus! Der Krieg ist aus!« Als allererstes
erfuhr es eigentlich der Tellerwäscher und kam damit einer ganzen
Prozession von Ladeninhabern, trommelnden Kindern und
tomatengesichtigen Trunkenbolden um wenige Minuten zuvor. Er hatte
gerade hinter der Kneipe den Mülleimer ausgekippt, als er lautes
Johlen hörte und ein Gewirr von Beinen und weißen Knien durch die
Gasse rennen sah: ein paar lärmende Jungen schwenkten eine Flagge,
die wie Wäsche auf der Leine hinter ihnen herflatterte. »Was gibt’s
Neues?« fragte er, obwohl er es schon erriet, und einer aus der
Rasselbande hörte lange genug auf, seine Blechdeckel gegeneinander
zu schlagen, um ihm zu erzählen, daß die Krauts offiziell
kapituliert hatten. Diese Neuigkeit hatte er Cody überbracht, und
Cody, ein massiger Holländer mit einem Gesicht wie ein Butterfaß,
stürmte in die Kneipe und spendierte eine Runde.
Bald darauf fuhr eine lange Schlange von
Automobilen laut hupend durch die Straßen, und das Schankzimmer
füllte sich rasch, Wind oder nicht – und es war keine kapriziöse
Brise, sondern ein strenger Sturm, der ausgetrocknete Atem dieser
Jahreszeit, der als wahrer Zyklon von den Bergen herunterpfiff, ein
Widersacher aller Hüte, Dachschindeln und raschelnden Palmwedel. In
Menhoffs Kneipe aber wehte kein Wind – bis auf den, den die Gäste
selbst machten. Die Menge feierte, Toasts wurden ausgebracht und
Ansprachen gehalten, und dann setzte sich jemand ans Klavier und
spielte die Nationalhymne, in die alle mit feuchtfröhlichem Gejohle
einfielen, und als sie dreimal damit durch waren, sangen sie »God
Bless America«, den »Yankee Doodle« und »The Stars and Stripes
Forever«. Es war berauschend und grandios, und obwohl O’Kane sich
eigentlich auf zwei Whiskeys hatte beschränken wollen (in letzter
Zeit war ihm das Trinken etwas entglitten, und er wollte sich
wieder in den Griff kriegen), kannte er bald kein Halten mehr.
Rasch kam er in Stimmung, klopfte anderen Leuten auf die Schultern,
krähte Witze und Limericks in die Runde, tanzte einen
improvisierten Jig mit Mart, der kurz nach neun mit Roscoe
aufgetaucht war, den Kopf stolz erhoben, ein strahlendes
Siegerlächeln im Gesicht. Gegen zehn saß O’Kane in einer Ecke und
sang alte, traurige Lieder in einem gebrochenen Säuseln, und als
Roscoe ihn am nächsten Morgen abholte, mußte er sich zweimal
übergeben, bevor er sich anziehen und aufbrechen konnte, um zu
sehen, wie Mr. McCormick die Neuigkeit aufnahm.
Die Feierlichkeiten dauerten gute sechs Wochen,
bis Weihnachten. Man konnte in jede beliebige Bar der Stadt gehen,
vom miesesten Saloon mit fleckiger Messingtheke und Sägespänen auf
dem Boden bis zu Menhoffs Kneipe oder dem Speisesaal im Potter
Hotel, immer fand sich irgendwer, der sein Glas auf den
Waffenstillstand erhob. Dann kam Weihnachten, und wieder galt es,
ein Schlückchen zu trinken, sonst wäre man ja nicht richtig am
Leben, und eine Woche später wurde das Neue Jahr in einem Meer von
billigem Rotwein angespült, auf dem ein Floß mit bösen Gerüchten
über die Alkoholgegner, die Prohibition und das Frauenwahlrecht
dahertrieb, ganz zu schweigen von der Grippe-Epidemie, und O’Kane
faßte den festen Vorsatz, sich wieder am Riemen zu reißen, sobald
das Geschäft mit Jim Isringhausen wegen des Orangenhains erledigt
war, für den er sein ganzes Leben – jedenfalls ziemlich lange –
gespart hatte, denn das mußte er unbedingt noch feiern, keine
Frage.
Er verpaßte keinen einzigen Arbeitstag – nur
ein Trunkenbold und versoffener Taugenichts würde seine Pflichten
derart vernachlässigen –, sondern fand sich jeden Morgen um acht
Uhr in Riven Rock ein, vom Morgenschnäpschen eine leichte Fahne
verströmend, und flehte Sam Wah inständig an, ihm ein paar Rühreier
zu braten, damit sich sein Magen beruhigte. Es war eine schlimme
Zeit, ständig schmerzte ihm der Kopf, alle Farben wurden blasser,
so daß ihm die paradiesische Kulisse draußen vor der Tür
verschlissen und schäbig erschien, und langsam bekam er Angst, er
könne ebenso enden wie sein Vater, dieser unbeherrschte,
streitsüchtige, tolpatschige Nichtsnutz, der immer nur auf dem Sofa
herumlag und außerstande war, eine Arbeit länger als zwei Wochen zu
behalten. Er mußte sich einschränken, wirklich. Den ganzen Winter
hindurch versprach er sich, das zu tun. Bald.
Mr. McCormicks allmähliche Besserung schien
sich währenddessen fortzusetzen, obwohl ihn die Nachricht vom
Waffenstillstand gleich doppelt getroffen hatte. Einerseits konnte
er jetzt nicht länger die Offensiven verfolgen, seine Karten
zeichnen und jeden Tag die Nase in fünf bis sechs verschiedene
Zeitungen stecken, und das riß eine immer größer werdende Lücke in
sein Leben, obwohl Dr. Hoch ihn für eine Reihe von Dingen zu
interessieren versuchte, von der Orchideenzucht und dem
Klarinettenspiel bis zu Rasenbowling und Kreuzworträtseln. Der
zweite Aspekt war seine Frau. Da der Krieg nun vorüber war und die
Frauen bald das Wahlrecht erhalten sollten, gab es im Grunde keine
Entschuldigung für Katherine, daß sie so lange fortblieb. Sie war
seit dem vorigen Weihnachtsfest nicht mehr in Riven Rock gewesen,
als er sie des Ehebruchs bezichtigt hatte, obwohl sie ihm jede
Woche Briefe und Päckchen mit Büchern, Kleidern, Süßigkeiten und
neuen Schallplatten für sein Grammophon schickte. Das war auch ganz
in Ordnung so, und Mr. McCormick schätzte diese Sendungen, aber
seine Frau befand sich draußen in der weiten Welt und er nicht, und
dieser Gedanke war ihm ein Quell steter Provokation, ein
flackerndes kleines Flämmchen unter einem Topf mit Wasser, der
langsam zu sieden begann.
Gerade drei Tage nach dem Waffenstillstand war
O’Kane im oberen Salon mit Mr. McCormick, Mart und Dr. Hoch, als
ein Brief von Katherine mit der Morgenpost eintraf. Es war ein
langweiliger Vormittag, Hoch war ungewöhnlich schweigsam, Mr.
McCormick dagegen war nervös und ging rastlos in den Zimmern auf
und ab wie ein Tier im Käfig; sogar der versprochene Spielfilm war
nicht gekommen, weil Roscoe die Grippe erwischt hatte und deshalb
am Vorabend nicht nach Hollywood gefahren war, und von »Flying A«
nebenan gab es keine neuen Produktionen mehr – vor vier Jahren war
die Firma das größte Filmstudio der Welt gewesen, inzwischen stand
sie am Rande des Bankrotts. Immer noch blies ein starker Wind und
wehte Gestrüpp aus dem Nirgendwo daher, das sich an der Hintertür
auftürmte, und alle Fensterbretter waren von einer wie mit dem
Lineal gezogenen Schicht aus feinem hellbraunen Staub bedeckt, und
all das machte die Atmosphäre nur um so drückender. O’Kanes Kopf
schmerzte, und seine Kehle war so trocken, daß sie sich anfühlte,
als hätte man ein Loch in den Boden des Death Valley gebohrt, aber
er gab sich dennoch Mühe, Mr. McCormick in ein Gespräch zu
verwickeln und fing sogar eine immer wieder unterbrochene Partie
Schach mit ihm an. Dr. Hoch, der in Mr. McCormicks Rastlosigkeit
ein Symptom dafür sah, daß Schlimmeres bevorstand, gab Anweisung,
die Wassersprenger in den Bäumen aufzudrehen, doch statt des
üblichen einlullenden Wisperns von tröpfelndem Wasser hörte man
nichts als eine Art fernes Prasseln, als würde eine
Feuerwehrspritze auf eine Mauer gerichtet, und das gelegentliche
Beben der Fensterscheiben, wenn der Wind wieder einmal das Glas
durchdringen wollte.
Alle drei – O’Kane, Mart und Dr. Hoch – sahen
zu, wie Mr. McCormick durch das Eisengitter der Tür vom Butler die
Post entgegennahm und sich in einen Sessel fallen ließ, um sie
durchzulesen. Die ersten beiden Briefe interessierten ihn
anscheinend nicht: als er die Absender geprüft und den Klebefalz
berochen hatte, ließ er sie achtlos zu Boden fallen. Der dritte
jedoch war die Zauberformel, und nachdem er die Handschrift auf dem
Umschlag längere Zeit betrachtet hatte, schlitzte er ihn mit dem
Zeigefinger auf und machte es sich bequem, um ihn unter einem
leisen Gebrabbel zu lesen, das wohl privat gedacht war, aber immer
wieder in verschiedene Knurr- und Quietschlaute und einen hohen,
gellenden Falsett ausbrach, wie von einem ganz anderen Menschen.
Mr. McCormick saß einige Zeit über diesem Brief, und kleine Fetzen
davon drangen hie und da aus der Unverständlichkeit heraus, während
er sich vom Flüsterton zu lautem Gebrüll steigerte und dann wieder
leiser wurde: in Jane Roessings Haus – vierzehn
Grad unter Null – erinnerst du dich an Milbourne? – Hund gestorben
– neuer Hut – Mutter mit Grippe im Bett.
Es herrschte Schweigen, als er fertig war, und
in dieses Schweigen plazierte Dr. Hoch seine Frage:
»Neuigkeiten?«
Mr. McCormick sah mit nichtssagender Miene auf.
»Er ist von Katherine.«
Der Doktor, eulenhaft und mit fragendem
Tonfall: »Ah?«
»Sie – sie kommt erst am Abend davor, oder am
Tag davor, also, das heißt am Heiligabend. Zuviel zu tun, sagt sie.
Noch vom Krieg, wissen Sie, Aufräumarbeiten. Und die – die
Suffragetten. Sie ist jetzt in Washington.«
»Ach, wie schade«, sagte Dr. Hoch, aber es
klang nicht, als ob es von Herzen käme. Es ging ihm in letzter Zeit
nicht gut, und so sah er auch aus, blaß und eingefallen, das
Gesicht tief zerfurcht und eingeschrumpelt wie eine in der Sonne
vertrocknete Frucht. In seinen Augen lag Schmerz, ein dünner
Schleier, und dumpfe Resignation. Er hatte O’Kane einmal gestanden,
er habe die Stelle in Riven Rock aus gesundheitlichen Gründen
angenommen – das Pathologische Institut sei ihm zuviel geworden,
und das Klima hier nahe der berühmten Heilquellen um Santa Barbara
werde ihm gewiß guttun. Allzu gut tat es ihm aber nicht, soweit
O’Kane das beurteilen konnte – sein ehemals grauer Bart war im
Laufe des Jahres weiß geworden, und das einzige in seinem Gesicht,
was einem auffiel, war die Narbe, die immer deutlicher und
leuchtender wurde, je mehr der Rest seiner Haut von ihr zurückwich.
Erstaunlicherweise war er zwei Jahre jünger
als Meyer, dabei hätte jeder ihn für Meyers Vater gehalten. Oder
sogar für seinen Großvater. Und noch etwas – er war gar kein Kraut,
sondern Schweizer, genau wie Meyer übrigens, obwohl sie beide wie
Krauts redeten, aber er erklärte O’Kane, daß Deutsch die Sprache in
seinem Teil der Schweiz war, rings um Basel, und daß manche
Schweizer Französisch und andere Italienisch sprachen. O’Kane hatte
nur den Kopf geschüttelt: man lernte eben nie aus.
Mr. McCormick hing immer noch matt in seinem
Sessel, Katherines Brief quer über die Brust gebreitet, die Beine
gespreizt und die Augen tief in den Höhlen versunken. Er war den
ganzen Vormittag über erregt gewesen, und jetzt wirkte er wie aus
den Angeln gerutscht, denn auf seinem Gesicht wechselten sich alle
möglichen beunruhigenden Gefühle ab. O’Kane machte sich auf einiges
gefaßt.
»Wie schade«, wiederholte Hoch, »aber immerhin
können Sie sich doch darauf freuen, pünktlich zu Weihnachten mit
ihr zu telephonieren, um ihre vertraute Stimme zu hören, nicht
wahr?«
»Sie ist eine Hure!« schrie Mr. McCormick und
sprang in einem wilden Gefuchtel von Armen und Beinen aus dem
Sessel auf, dann stürmte er auf Hoch zu, baute sich zitternd über
ihm auf und zerriß den Brief in kleine Stücke, die er auf den
gesenkten, weißen Kopf des Arztes hinabregnen ließ. »Ich hasse
sie!« tobte er. »Ich will sie umbringen!«
»Soso, jaja«, murmelte Dr. Hoch, ohne einen
Muskel zu rühren, »wir haben alle unsere Enttäuschungen, aber ich
bin sicher, Sie werden sich anders fühlen, wenn sie erst einmal
hier im Haus ist und Sie am Telephon mit ihr sprechen. Jetzt aber«
– hier klatschte er matt in die Hände – »wissen Sie, ich fühle mich
nicht so gut, wie mir lieb wäre, und vielleicht könnten wir eine
kleine Ausfahrt unternehmen, was meinen Sie, Mr. McCormick? Wir
alle zusammen – O’Kane, Mr. Thompson, Sie und ich? Um ein wenig
Abwechslung zu haben, ja? Was meinen Sie?«
Mr. McCormicks Miene verwandelte sich im selben
Moment. Enthusiastisch grinsend sah er O’Kane und Mart, dann wieder
den Doktor an. Er fuhr gern Auto, aber unter der Ägide von Dr.
Brush – und jetzt Dr. Hoch – waren die Ausflüge sehr selten
geworden, weil sie gefährlich und für alle Beteiligten mit großen
Umständen verbunden waren: Mr. McCormick mußte dabei natürlich jede
Sekunde beaufsichtigt werden und eingeklemmt zwischen O’Kane und
Mart sitzen, während der Arzt, ob es nun Hamilton, Brush oder Hoch
war, nur vorne bei Roscoe Platz fand.
»Ja«, sagte Mr. McCormick mit einem breiten
Grinsen seiner faulenden Zähne – Dentisten haßte er mit geistloser
Inbrunst und wehrte sich jedesmal derart heftig gegen sie, daß
seine Psychiater den Gedanken an zahnärztliche Behandlung praktisch
aufgegeben hatten, »ja, ich denke, dazu hätte ich Lust. Große Lust
sogar. Zur, äh, zur Abwechslung, genau. Ich werde Roscoe einen der
Wagen vorfahren lassen. Und wir können uns ja etwas zum Essen
einpacken lassen – nicht wahr?«
Mr. McCormick brauchte immer eine Zeitlang, um
von einem Ort zum anderen zu gelangen – das war eine seiner
Marotten –, und sowohl O’Kane wie Mart mußten ihm dabei helfen,
Mantel, Hut und Handschuhe passend zusammenzustellen, und ihm
versichern, daß er gut aussah, ja geradezu blendend, und daß das
Wetter draußen keinerlei Grund zur Besorgnis bot. »Ist ja nicht so,
als wären wir noch in Waverley«, witzelte O’Kane, dann standen er
und Mart mit ihm an der vergitterten Tür zu seinen Räumen, und die
Schlüssel öffneten die Schlösser.
Es gab kein Problem, jedenfalls nicht auf der
Treppe, und Mr. McCormick, der gerade im letzten Monat seinen
vierundvierzigsten Geburtstag mit einer großen Männerfeier im
Theatergebäude begangen hatte, sah tatsächlich aus wie der Herr des
Hauses mit den silbergrauen Schläfen und dem schieferfarbenen
Filzhut, der seinen wachen Blick betonte. Er stand ausnahmsweise
aufrecht, hielt die Schultern gerade und den Kopf hoch erhoben, zog
weder den rechten Fuß nach noch blieb er mitten auf der Treppe
stehen und ging für jede Stufe, die er hinunterstieg, zwei Stufen
zurück nach oben – einer seiner Lieblingstics. Nein, er war die
Schicklichkeit selbst – bis Torkelson, der Butler, ihm die
Vordertür aufhielt. Im selben Augenblick war er fort, entwand sich
O’Kanes Griff wie der Entfesselungskünstler Houdini und schoß an
Roscoe und dem wartenden Wagen vorbei.
Das war nichts Neues. Ungefähr jedes zweite
Mal, wenn er für einen Spaziergang oder für ein Konzert oder einen
Film im Theatergebäude aus dem Haus gelangte, fiel er in einen
Sturmschritt, so daß O’Kane und Mart neben ihm herrennen mußten,
als trainierten sie alle drei für den Marathonlauf. Dr. Hamilton
hatte befunden, das Gerenne werde Mr. McCormick »unendlich guttun«
und das Personal solle ihm ruhig seinen Willen lassen, solange er
nicht ins Gebüsch entwich oder das Grundstück zu verlassen
versuchte. Brush war die Sache vollkommen einerlei, und Hoch mit
seiner typisch deutschen – oder schweizerischen – Begeisterung für
körperliche Quälereien teilte Hamiltons Meinung zu diesem Thema.
Also rannte Mr. McCormick los, und O’Kane rannte mit – was
zumindest den unerwarteten Nebeneffekt hatte, daß er so seinen
Whiskeykopf klar bekam.
An diesem Morgen jedoch überraschte Mr.
McCormick ihn und Mart: als sie den Wagen erreichten, war er schon
weiter vorn auf der Auffahrt, mit einem Vorsprung von gut fünfzig
Metern. »So warten Sie doch, Mr. McCormick!« rief O’Kane, dessen
Schädel sich schon jetzt anfühlte, als explodierte er gleich. »Was
ist mit unserem Ausflug?«
Falls Mr. McCormick ihn hörte, so zeigte er es
nicht. Er rannte weiter, in einem regelrechten Sprint, er rannte,
als wäre ihm der ganze Schwarm seiner Richter und Dämonen auf den
Fersen, aber er lief nicht auf das Haupttor zu, sondern verblüffte
O’Kane, indem er sich scharf links hielt und damit weiter in die
Mitte des Grundstücks vordrang. Diese Straße führte zu einer aus
Stein gebauten Garage, die etwas vom Haus entfernt in einem kleinen
Wald stand, dann verlief sie nach Westen zur Ashley Road am anderen
Ende des Anwesens. O’Kane stürmte los, Mart an seiner Seite.
»Dieser Dreckskerl«, fluchte er. »Wieso ausgerechnet heute? Mein
Kopf fühlt sich so groß an wie ein Ballon.«
Mart, dessen Kopf so groß wie ein Ballon war,
grunzte nur und trottete in seiner sturen, kopflastigen Art dahin.
»Er läuft zu dem Tor bei der Ashley Road«, bemerkte er mit
pfeifendem Keuchen, doch als O’Kane aufblickte, sah er, wie ihr
Arbeitgeber wiederum nach links bog und auf dem langen gewundenen
Fahrweg verschwand, der mitten durch das Grundstück führte. Nun
bekam er wirklich Herzklopfen, denn in dieser Richtung stand das
nächstgelegene Haus, Mira Vista, und dort gab es Frauen –
gebieterische, verzärtelte, überfütterte Gesellschaftsdamen, Frauen
wie Katherine.
O’Kane gab sein Letztes, doch an diesem
Vormittag war das nicht allzu viel, was er auch als erster
zugegeben hätte. Sam Wahs rettende Rühreier kamen ihm jäh in der
Kehle hoch wie ein Sektkorken, wie etwas Bösartiges, das er gerade
zur Welt brachte, und seine Beine wurden von den Hüftgelenken aus
taub, als er hinter sich ein Dröhnen und Quietschen hörte und dann
Roscoe mit furzartigem Auspuffgeknatter vorbeirasen sah, auf dem
Sitz daneben der kerzengerade Dr. Hoch, dessen Bart im Fahrtwind
aus dem offenen Fenster wehte. Darauf sank Mart am Wegesrand zu
Boden, aber O’Kane hetzte weiter. Er folgte dem entschwindenden
Heck des großen Pierce-Arrow, bis das Tor am Ende des von Bäumen
dicht gesäumten, gepflasterten Wegs auftauchte und der Wagen wieder
größer wurde. Einen Moment später war auch er da, rang nach Atem
und fühlte sich exakt wie das Opfer eines Indianeraufstands, dem
sechs oder sieben gezielte Pfeile in Lunge, Unterleib und Leber
steckten.
Roscoe saß noch am Lenkrad, bleich und
ausgezehrt von seinem Grippeanfall, doch Dr. Hoch stand am offenen
Tor bei Mr. McCormick, und dieser schien nicht einmal zu schwitzen.
»Was zum...« keuchte O’Kane und warf sich abgekämpft über die
Motorhaube. »Was...?«
»Ach, Eddie«, sagte Mr. McCormick, dessen Augen
sich wieder tief in seinen Schädel zurückgezogen hatten. »Hallo.
Ich wollte gerade – ich dachte... also, daß wir heute mal bei
diesem Tor rausfahren sollten, deshalb habe ich es aufgemacht,
damit wir die Begonien sehen, die neuen Begonien...«
O’Kane war fassungslos. Er war außer sich. Er
hatte höchstens noch neun Atemzüge in diesem Leben, dann war alles
vorbei. »Begonien?« ächzte er.
Mr. McCormick bedeutete ihm, sich umzudrehen
und die Aussicht zu genießen. Verwirrt vollzog O’Kane eine langsame
Drehung und starrte den Weg entlang, der in die Ferne davonwich, wo
Mart Thompson als sich bewegender Fleck heranhinkte. Und
tatsächlich, da waren sie, je eine frischgepflanzte Doppelreihe zu
beiden Seiten des gepflasterten Fahrwegs, bis weit nach hinten zu
Mart und noch weiter: Begonien.
Und dann brach Weihnachten aus der Tiefe des
Weltraums über sie herab, die Erde drehte sich durch das All, und
Aldebaran stand hell und unerschütterlich am östlichen Himmel, eine
festliche Zeit mit gefüllter Gans, mit Liedern und Drinks. Das
Kaufhaus Marshall Field in Chicago lieferte einen
fertiggeschmückten Christbaum und in Folie gewickelte Präsentpakete
für das Personal (inzwischen waren es vierzehn Angestellte im
Haushalt und siebenundvierzig für das gesamte Anwesen), außerdem
gab es die üblichen Nippes, Süßigkeiten und hellbraune Pekannüsse
sowie körbeweise erstklassige kalifornische Navelorangen, die aus
dem San Fernando Valley nach Chicago und dann wieder zurück nach
Kalifornien gereist waren. Die große Monterey-Kiefer draußen auf
der weiten Rasenfläche, um deren Stamm herum zwei Männer einander
gerade an den Fingerspitzen berühren konnten, war mit bunten
Lämpchen geschmückt und strahlte hell in der Nacht. O’Kane schickte
seiner Mutter einen Pullover aus Schurwolle und seinem Vater eine
Porzellanreproduktion der Flagge des Staates Kalifornien, und für
Eddie jr. schickte er ein Taschenmesser über seine Mutter, nicht
über Rosaleen, der man nichts anvertrauen konnte, außer man band es
ihr mit einem großen Zettel daran um den Hals. Und er fand ein
filigranes Armband aus vierzehnkarätigem Weißgold für Giovannella,
die es erst mit der Begründung ablehnte, Guido würde wissen wollen,
von wem sie es hätte. »Ich werde es nur für dich tragen«, sagte sie
dann. »Wenn wir allein sind. Im Bett.«
Katherine kam und ging wieder in ihrem üblichen
Wirbelwind aus Geschenken, Beschwerden und Befehlen, doch nicht
bevor O’Kane Gelegenheit hatte, die alljährliche Unterhaltung
zwischen ihr und ihrem Mann zu belauschen – diesmal an ihrem Ende
der Leitung. Es war der Heilige Abend und sie war gerade
eingetroffen, so spät wie immer, und das verletzte Mr. McCormick
zutiefst, was sie gar nicht wahrzunehmen schien. Die Fenster waren
schlierig vom Regen, seit einer Stunde war es dunkel, und O’Kane
war betrunken, während der Arbeit betrunken, und Gott mochte ihm
beistehen, wenn ihn die Eisprinzessin zu einem ihrer endlosen
Verhöre festnagelte und seine Fahne bemerkte. Er hätte nicht
trinken sollen, und das wußte er, aber es war Weihnachten, und Sam
Wah hatte einen wüsten scharfen Rumpunsch zusammengebraut, in dem
Rosinen und Orangenschalen schwammen, und die Hälfte der
Angestellten torkelte sturzbesoffen zur Hintertür hinein und
hinaus. Und außerdem war er deprimiert. Es war sein zehntes
Weihnachten in Kalifornien, zehn Jahre als Pfleger, zehn Jahre als
Säufer, und er kam nirgendwo hin. Er war immer noch nicht reich,
nicht einmal annähernd, ihm gehörte weder ein Orangenhain noch eine
Avocadoplantage, sein einer Sohn war ein Fremder und lebte weit weg
in Boston, und der andere hieß Guido – also wieso sollte er nicht
saufen?
Jedenfalls schlich er sich gerade zur Küche
hinaus und wollte durch die hintere Halle zur Haupttreppe, nachdem
er sechs mörderische Tassen des heißen chinesischen
Weihnachtspunsches gebechert hatte, als er Katherines Stimme hörte
und erstarrte. Nicht daß er erstaunt war, sie zu treffen – schon
den ganzen Tag gingen alle auf Zehenspitzen und sahen sich nervös
um, sogar Hoch –, aber irgendwie hatte er gehofft, sie würde gar
nicht kommen. Sie brachte niemandem hier auch nur einen Funken
Glück – eher das Gegenteil –, und er vertrat ebenso wie Nick, Pat
und Mart die Ansicht, daß Mr. McCormick ohne sie besser dran wäre.
Wie unruhig und nervös er an diesem Morgen gewesen war, wie
gründlich er sich abgeseift hatte, das war einfach kläglich, so als
hätte er Angst, sie könnte ihn durch das Telephon riechen. So
aufgeregt war er gewesen, daß er nicht gefrühstückt und auch
mittags nichts gegessen hatte bis auf die Suppe, und die kleinen
Geschenke seiner Angestellten waren ihm nur flüchtige Beachtung
wert – Ernestine Thompson hatte ihm einen Schal gestrickt, Mart
schenkte ihm einen Bleistiftspitzer, und O’Kane überreichte ihm in
einer symbolischen Geste einen Schlüsselanhänger mit der Aufschrift
WENN EINEM ALLE TÜREN OFFENSTEHN.
Nicht mehr als ein paar kleine Andenken, aber in den vergangenen
Jahren hatte Mr. McCormick sich immer sehr darüber gefreut.
»Was meinst du damit?« Katherine erhob zornig
die Stimme. Als O’Kane vorsichtig in die Halle hinaustrat, nahm er
eine Bewegung in der Bibliothek wahr. Es war Katherine, und sie
stand mit dem Rücken zu ihm. Sie hielt den Telephonhörer steif in
der wie aus Eis modellierten Hand und neigte den Kopf nach vorn, um
in das Mundstück zu sprechen. Torkelson war knapp vor der Tür
postiert, wie ein Holzindianer vor dem Tabakladen, seiner Miene war
keinerlei Interesse oder Gefühl anzusehen, ein Butler vom Scheitel
bis zur Sohle. Er starrte O’Kane an, hob aber nicht einmal die
Brauen.
»Nicht in diesem Ton, Stanley, das lasse ich
mir einfach nicht... Was hast du gesagt? Willst du, daß ich
auflege, jetzt sofort? Willst du das?... Na also, das ist schon
besser. Ja, ich liebe dich, und das weißt du sehr wohl...«
O’Kane beobachtete ihre Schultern, die
Bewegungen ihrer Handgelenke, während sie den Hörer hielt, das
Licht, das auf ihrem Haar spielte. Er wußte, er sollte schleunigst
nach oben verschwinden, ehe sie sich umdrehte und ihn entdeckte,
doch er tat es nicht. Er war gefangen, gefesselt, wie ein kleiner
Junge im Wald, der fasziniert die Vorgänge der Natur rings um sich
betrachtet. Die Vögel auf den Bäumen, die Kröten zu seinen Füßen,
die Schlangen im Gras.
»Wirklich, Stanley – nein, ganz entschieden
nein. Wie oft müssen wir das denn noch durchkauen? Ich habe Butler
Ames jetzt seit, mein Gott, zehn Jahren oder länger weder gesehen
noch etwas von ihm gehört, und nein, ich bin nicht mit Minister
Baker essen gewesen... diese Andeutung finde ich ärgerlich,
Stanley, und wenn du glauben willst – nein, nicht im geringsten.
Newton Baker ist ein Freund, ein alter Freund meiner Familie, und
als Kriegsminister unter Präsident Wilson ist er natürlich von Zeit
zu Zeit für Besprechungen zu uns gekommen, und wir...«
Es entstand eine Pause. Katherine verlagerte
ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und wandte der offenen
Tür jetzt das Profil zu. Ihr Gesicht war blaß und blutleer, aber
sie hatte Puder und Lippenstift aufgelegt und wirkte im Licht der
Lampe dramatisch wie eine Schauspielerin, die auf ihr Stichwort
wartet. Sie hörte zu – O’Kane konnte sich die zusammenhanglosen
Bezichtigungen vorstellen, die Mr. McCormick am anderen Ende der
Leitung auf sie losließ, und er sah, wie sie den Hörer ein Stück
vom Ohr weghielt und sich zu sammeln versuchte.
»Sag bitte kein böses Wort über Jane Roessing –
sie ist ein Engel, hast du verstanden?... Das ist geradezu
widerlich, Stanley, und ich warne dich hiermit... wirklich, ich
kann einfach nicht glauben, was ich da höre. Immer sagst du nur
ich, ich, ich – hast du dir eigentlich einmal überlegt, was
ich durchmache?
Nein, ich will dir kein schlechtes Gewissen
einreden, ich möchte nur, daß du meine Lage verstehst, daß du auch
einmal darüber nachdenkst, wie es für mich sein muß, mich in der
Gesellschaft zu bewegen, ohne dich am Arm zu haben, ohne Mann,
immer nur das fünfte Rad am Wagen...
Ja, ich weiß, daß du versuchst, gesund zu
werden. Nein. Nein, davon will ich nichts hören, laß gefälligst
Jane aus dem Spiel, sie ist ein... Nein, ich habe nichts zu
verbergen. Ja, sie ist hier. Sie hat mich begleitet, um mir im
Hotel Gesellschaft zu leisten, aber ich verspreche dir, ich werde
dich deshalb nicht vernachlässigen. Ich werde die nächsten zwei
Wochen jeden Tag hier sein – wenn du irgend etwas brauchst, mußt du
es mir nur sagen, dann bringe ich es...«
Endlich setzte sich O’Kane in Bewegung und
wollte die Treppe hinaufschleichen, während sie gerade abgelenkt
war, aber als er eben den ersten vorsichtigen Schritt unternahm,
sah er, wie sich ihre Miene veränderte – »Nein«, brüllte sie,
»verdammt noch mal, nein! Ich habe niemals... Jane ist nur eine
Freundin« –, sie fuhr herum, um den Hörer
auf die Gabel zu knallen, und plötzlich ruhte die ganze wütende
Last ihres Blicks auf O’Kane. Er wandte rasch den Kopf ab – er
hatte sie nicht beobachtet, wußte gar nicht, daß sie da war, tat
nur seine Pflicht als Pfleger – und registrierte, wie seine Beine
die Treppenstufen mit festen, kräftigen Schritten in Angriff
nahmen. Und es funktionierte auch, beinahe jedenfalls, denn er war
schon halb oben und das Eisengitter vor dem oberen Salon in Sicht,
als ihre gepreßte, höchst undamenhafte Stimme ihn einholte. »Mr.
O’Kane!« rief sie. »Mr. O’Kane, würden Sie bitte einen Moment zu
mir kommen?«
Mit hängenden Schultern, die Hände tief in die
Taschen geschoben, stieg O’Kane die Stufen wieder hinunter,
durchquerte die Halle und ging eine Handbreit an Torkelson vorbei,
der immer noch reglos an der Wand vor der Tür zur Bibliothek
verharrte (er konnte die Poren im Gesicht des Mannes sehen, wie die
Krater des Mondes, und die fleischlose Knolle seiner Butlernase,
und er schwor sich: wenn Torkelson die Mundwinkel in einer auch nur
vage an ein Grinsen erinnernden Miene heben sollte, würde er ihm
eine verpassen – wenn nicht jetzt, dann später). Torkelson rührte
keinen Muskel. O’Kane ließ ihn am Rande seines Gesichtsfeldes
vorbeiziehen, dann stand er in der Bibliothek und wurde sich des
eigentümlichen Duftes der Bücher bewußt – Kalbsleder und Staub,
beißende Druckerschwärze und neutrales Papier –, und noch eines
anderen, unerwarteten Geruchs: Zigarettenrauch. Katherine sah
glänzend aus, prachtvoll, in Licht gebadet. Sie nickte ihm kurz zu,
ging um ihn herum und rief hinaus: »Sie können gehen, Torkelson«,
worauf sie die Tür zuzog.
O’Kanes Sinne waren wie betäubt. Er fühlte
sich, als watete er durch hüfthohes Wasser. Etwas dümmlich stand er
herum, sämtliche überlasteten Nervenknoten seines Gehirns
schalteten sich der Reihe nach ab, bis ihm plötzlich auffiel, daß
er und Katherine nicht allein waren. Noch eine zweite Frau war
zugegen, eine Rothaarige in einem dunkelgrünen Kleid, das kurz
genug war, um ihre Beine von den Knien abwärts zu entblößen – sehr
hübsche Beine obendrein, wie O’Kane zu bemerken nicht umhin konnte.
Sie saß in einem Lehnstuhl vor den Bücherregalen und rauchte eine
Zigarette in einer Elfenbeinspitze.
»Wie schön, Sie wiederzusehen, Mr. O’Kane«,
sagte Katherine und wandte sich wieder ihm zu, aber sie lächelte
nicht dabei und sie bot ihm auch nicht die Hand zum Gruß. Sie
nickte brüsk in Richtung ihrer Begleiterin. »Mr. O’Kane, Mrs.
Roessing. Jane, Mr. O’Kane.«
O’Kane schenkte beiden von ihnen ein schmales,
dünnes Grinsen, die Sorte Grinsen, mit der die Hyäne einen Löwen
bedenken mochte, wenn sie auf den urtümlichen Ebenen von einem
Kadaver zurückwich. Er fühlte sich benebelt. Sam Wah mußte gut zwei
Liter Rum in diesen Punsch geschüttet haben – und Gott weiß was
noch.
»Nehmen Sie Platz, Mr. O’Kane«, sagte Katherine
im Auf- und Abgehen.
Er tat wie geheißen und ließ sich gegenüber von
Mrs. Roessing behutsam auf den vordersten Rand eines zweiten
Lehnstuhls nieder.
»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß ich zurück
bin«, sagte Katherine, »und daß ich vorhabe, die nächsten zwei
Wochen hierzubleiben, um mich um Verwaltungsdinge zu kümmern, und
daß Jane – Mrs. Roessing – mich dabei unterstützen wird. Danach muß
ich zurück nach Washington, und ich weiß nicht, wann ich
wiederkommen werde. Also: Wie geht es meinem Mann – Ihrer Meinung
nach? Irgendwelche Veränderungen?«
»Er ist mehr oder minder der gleiche.«
»Und was hat das zu bedeuten? Gar keine
Besserung?«
O’Kane war bereit, ihr zu sagen, was sie hören
wollte, daß Mr. McCormick Fortschritte machte wie ein
Musterschüler, einen behenden Spurt in Richtung geistiger
Gesundheit hinlegte und nur noch etwas Zeit, Geld sowie die
Dienstbarkeiten junger Mädchen, reifer Frauen und bärtiger Vetteln
benötigte, um wieder ganz der alte zu werden, doch der Alkohol
beeinträchtigte ihn. »Ein wenig«, sagte er achselzuckend. »Wir
haben jetzt wieder einen Teppich im oberen Salon, und er hat ihn
nicht wieder zerlegt. Und er läuft ziemlich viel –
trainingshalber.«
»Er läuft?« Sie blieb abrupt stehen und
zerteilte O’Kane mit ihrem Blick.
»Ja. In letzter Zeit scheint er gern zu laufen
– wenn wir, das heißt, Mart und ich, ihn bei seinem täglichen
Spaziergang begleiten. Und vor ein paar Wochen haben wir einen
Ausflug im Wagen mit ihm unternommen, das hat ihm sichtlich Spaß
gemacht.«
»Das ist alles? Das ist das Ausmaß seiner
Genesung in Ihren Augen – daß er läuft? Ich muß Ihnen sagen, daß
ich eben mit ihm telephoniert habe, und er scheint mir so verwirrt
wie immer – oder gar noch verwirrter. Und irritierend« – dies war
für den Rotschopf gedacht, samt Nicken und gequälter Miene –
»Stanley kann sehr irritierend sein.«
»Bei allem Respekt, Mrs.« – fast hätte er sich
versprochen und sie Katherine genannt – »Mrs. McCormick, ich bin
kein Arzt, aber ich denke, daß Ihre Anwesenheit ihn aufgeregt hat,
deshalb ist er jetzt nicht er selbst, ganz und gar nicht...«
Wieder ein Blick zu Mrs. Roessing. »Ja, das
erzählt mir jeder Arzt und jeder Pfleger, alles Männer, seit über
zwölf Jahren.«
Dann überraschte ihn Katherine – ja sie
schockierte ihn. Auf einmal hielt sie eine Zigarette in der Hand,
wie von Geisterhand herbeigezaubert, ging quer durch den Raum zu
Mrs. Roessing und bat sie um Feuer, in einem gedämpften Raunen, das
O’Kane alles mögliche vermuten ließ. Er sah stumm zu, wie die
beiden Frauen die Köpfe zusammensteckten und Katherine sich bei
Mrs. Roessings glühender Zigarette Feuer holte.
»Und Dr. Hoch?« fragte Katherine und stieß den
Rauch aus. »Seine Gesundheit, meine ich – hält er sich gut?
Verbringt er jeden Tag Zeit mit meinem Mann?«
O’Kane sah von einer Frau zur anderen. Er hatte
die Frage nicht einmal gehört. Katherine rauchte. Das hätte er sich
nie geträumt – nicht sie. Sie mochte die Königin der
Eisprinzessinnen sein, aber sie war eine Dame, vor allem eine Dame
– und Damen rauchten nicht. Andererseits hatte er schon immer
vermutet, daß solche Sachen mit Protestmärschen und Emanzipation
und all dem anderen Hand in Hand gingen. Radikale waren das.
Hosenbräute. Mannweiber.
»Mr. O’Kane?«
»Mmh?«
Katherines Gesichtsausdruck war wie eine Axt.
Aus dem gleißenden Licht heraus hackte sie auf ihn los. »Sie haben
doch nicht getrunken, oder?«
Er bemühte sich, eine seiner Masken
aufzusetzen, Eddie O’Kane mit der Silberzunge, einer der größten
Lügner der Welt. »Aber nein«, erwiderte er. »Ich, äh – ich fühle
mich nur nicht so recht gesund, das ist alles.«
Hier sprang die Rothaarige schlagartig auf, die
schönen Beine spannten sich an, das dunkelgrüne Kleid geriet in
heftige Bewegung. Die beiden wechselten einen Blick. »Sie haben
doch nicht etwa Fieber, oder?« Jetzt sprach Mrs. Roessing, und sie
hatte eine dieser elementaren Stimmen, die derart in einen
eindringen, daß man alles gestehen möchte. »Eine Art Darmgrippe?
Durchfall?«
O’Kane war verwirrt. Sein Gesicht brannte.
Beide Frauen belagerten ihn geradezu. »Ich – nein. Nein, da habe
ich kein... äh, es ist – mein Kopf. Mein Kopf schmerzt, das ist
alles. Und auch nur ganz wenig, ein bißchen.«
»Der Chauffeur – Roscoe –, er war doch krank,
oder?«
O’Kane nickte.
»Grippe?«
»Das stimmt.«
Nun ergriff Katherine wieder das Wort, und ihr
Gesicht war so blaß, daß man hätte meinen können, sie wäre
einbalsamiert. »Und mein Mann? Er, er ist doch nicht
krank...?«
Und so erfuhr O’Kane, betrunken vom
chinesischen Weihnachtspunsch, bedrängt von zwei angespannten,
aschfahlen Frauen, daß die spanische Grippe, an der weltweit
doppelt so viele Menschen sterben sollten wie im Weltkrieg, Santa
Barbara erreicht hatte.
Als eine der ersten erwischte es Mrs.
Goux, die Frau von der Weinkellerei mit den Knöcheln, die jeden Tag
die Straße auf und ab gekugelt war, immer umschwirrt von Kindern,
Paketen und einem äußerst schmutzigen weißen Hund. Sie hinterließ
einen aufgelösten Mann und eine von Kummer gebrochene siebenköpfige
Brut, die aus den Fenstern im Obergeschoß gegenüber dem Haus von
Mrs. Fitzmaurice in der State Street greinten, und das war
deprimierend genug, doch ehe man wieder Luft holen konnte, wälzten
sich auch noch der Ehemann und vier der Kinder mit über
einundvierzig Grad Fieber in den Betten und starben. Dann kam der
Gemüsehändler Wilson an die Reihe, ein Mann von Mitte Dreißig mit
den Schultern eines Abwehrspielers und schwerem fleischigen Bizeps,
der nie im Leben einen einzigen Tag krank gewesen war. Er sagte zu
seiner Frau am Tag nach Weihnachten, ihm sei ein bißchen übel, was
sie schlicht und einfach seinem übermäßigen Saufen zuschrieb, und
sie wollte auch kein Wort von der rings um sie grassierenden
Hysterie hören – bis er zwei Tage später tot war. Ihren ältesten
Sohn erwischte es als nächsten – er war höchstens zwölf oder
dreizehn Jahre alt –, dann Wilsons Bruder Chas, der die Eisfabrik
betrieb, dann Chas’ Frau, und zum Neujahrstag waren sie alle drei
tot und aufgebahrt.
O’Kane wurde es unheimlich. Er ging an Wilsons
Laden vorbei, wo die Läden herabgelassen waren und ein schwarzer
Kranz an der Tür hing, und vom Eingang von Mrs. Fitzmaurices
Pension konnte er den Zettel sehen, der am Fenster der Weinkellerei
klebte: BIS AUF WEITERES
GESCHLOSSEN. Die Straßen lagen verlassen da. Menhoffs Kneipe
erinnerte an eine Grabkammer. Und in Fetzers Drogerie waren die
Gazemasken innerhalb einer Viertelstunde ausverkauft. Aber wie
steckte man sich überhaupt mit der Grippe an? Von anderen Leuten.
Und wie hatten die sie bekommen? Von anderen Leuten. Und der erste,
der allererste Fall – wie hatte der sich’s geholt? Mart vertrat die
Meinung, es sei eine Strafe Gottes, »wegen dem Krieg und so«,
während Nick sagte, es werde durch die demobilisierten Soldaten
verbreitet. Mrs. Fitzmaurice lastete es der Unreinlichkeit an,
keine weitere Debatte – schließlich hatte in ihrem Haus keiner die
Grippe, nicht wahr? O’Kane nahm sich jeden Abend einen halben Liter
Whiskey mit aufs Zimmer, wo er grübelnd auf dem Bett lag, und erst
am Silvesterabend feierte er – aber mit Leuten, die dermaßen
eingeschüchtert waren, daß sie jede verfügbare Flasche leertrinken
mußten, nur um sich zu beruhigen.
In Riven Rock hatten sie noch vergleichsweise
Glück. Nur Mart und einer von Sam Wahs Küchenjungen – ein
mondgesichtiges Bürschchen, das alle Wing nannten – steckten sich
an. Mart lag anderthalb Wochen lang flach, bei seinem Bruder
Patrick im Hinterzimmer, wo ihn Patricks Frau Mildred regelmäßig in
kalte Tücher wickelte, um das Fieber zu senken, und ihm heiße
Hühnerbrühe einflößte, wenn er Schüttelfrost bekam. Wing starb
daran. Das war eine furchtbare Sache – er war noch ein Junge
gewesen, Wing mit dem verschmitzten Lächeln und dem dünnen langen
Haarzopf, wie Paul Revere auf den alten Stichen, und kein Wort
Englisch hatte er gekonnt –, es traf alle sehr hart, aber niemand
nahm es schwerer als Katherine. Nicht wegen Wing – den kannte sie
nur als Namen auf der wöchentlichen Gehaltsliste –, sondern wegen
Mr. McCormick. Die Infektion war im Haus, nicht draußen auf den
Feldern, sie schwärte nicht nur in den Kloaken und Kaschemmen,
sondern mitten in Riven Rock. Mart und Wing hatte es erwischt. Es
könnte auch ihren Ehemann erwischen.
Dieser Gedanke schien sie aufzurütteln. Sie
verschob ihre Rückkehr nach Washington für die Dauer der Epidemie,
und während der ersten Woche, als die Angst noch frisch und jung
war, stürmte sie jeden Morgen um acht durch die Türen von Riven
Rock, mit Mrs. Roessing im Schlepptau, dazu Dr. Urvater, einer der
Weißkittel aus dem Ort, und zwei Helferinnen. Alle fünf trugen
Gazemasken – »Die Grippe verbreitet sich über die Atemluft«, sagte
sie immer wieder, »fast noch leichter als durch direkten Kontakt«
–, und sie bestand darauf, daß das gesamte Personal, einschließlich
des sich wütend sträubenden Sam Wah, ebenfalls Masken aufsetzte.
Und während Dr. Urvater Mr. McCormick die Zunge niederdrückte und
in die Ohren spähte und dabei leutselig mit Dr. Hoch über Käse,
Lederhosen und derlei Themen schwatzte, flitzte Katherine durch die
unteren Räumlichkeiten, gefolgt von einem Schwarm von Dienstboten
und dem starken, gesundheitsförderlichen Geruch nach
Desinfektionsmittel. Jede Oberfläche wurde mit einer Lösung aus
Bleichmittel oder Karbolsäure gereinigt, und alle Türknäufe,
Geländer, Telephonhörer und Lichtschalter wurden stündlich
abgewischt. Sie war Wissenschaftlerin. Sie war die Eisprinzessin.
Das sollte sich die Grippe gefälligst merken.
O’Kane seinerseits tat, wie ihm geheißen. Er
trug seine Gazemaske, setzte eine angemessen ernste Miene auf und
drehte mit einem bleichegetränkten Tuch in der Hand die Türknäufe,
doch sobald Katherine am Abend abfuhr oder er die Treppe hinaufging
und Mr. McCormicks Privatgemächer betrat, zog er die Maske ab und
steckte sie in die Tasche. So etwas wie diese Grippewelle hatte er
noch nie erlebt – kaum wandte man sich ab, fiel schon der nächste
tot um –, und sie jagte ihm auch Angst ein, wirklich, trotzdem fand
er, daß Katherine die Dinge etwas zu weit trieb. Persönlich sorgte
er sich nicht – er hatte die Konstitution seines Vaters geerbt, ihm
konnte nichts zustoßen, außer es kam aus einer Flasche, und kein
Glück auf der Welt konnte einen davor schützen –, aber er fürchtete
um Mr. McCormick, auch wenn er die Masken und Desinfektionsmittel
für einen Anfall weiblicher Hysterie hielt. Die übrigen
Angestellten teilten seine Angst, obwohl niemand darüber sprechen
wollte. Mr. McCormick mochte einen ziemlich weichen Keks haben,
aber er war die Stütze und das Fundament dieses Hauses, und wenn er
fiel, wie viele würden mit ihm fallen?
Ihr Arbeitgeber und Wohltäter sah jedoch
prächtig aus – frisch und putzmunter, ein Ausbund an Gesundheit.
Auf Geheiß von Dr. Hoch (und Katherine, die hinter den Kulissen
wirkte) durfte er keine Spaziergänge mehr unternehmen und nicht
einmal zum Theatergebäude gehen, bis die Sache vorbei war, und das
ließ ihn etwas gereizt werden. Er hatte die Angewohnheit, sich
seine Maske in die Stirn zu schieben, wie einen Faschingshut, und
er spielte Dr. Urvater ständig Streiche mit dem Zungenspatel und
dem Thermometer, die er wie eine Bulldogge packte und nicht wieder
losließ, bis Dr. Hoch sich mühsam vom Sofa erhob und einschritt.
Jeden Tag unterhielt er sich am Telephon mit Katherine, sie im
unteren Salon voller Karbolsäure, er eine Etage über ihr, und das
schien eine erregende Wirkung auf ihn zu haben, aber soweit O’Kane
sehen konnte, bekam er nicht einmal einen Schnupfen, geschweige
denn die spanische Grippe.
»Ich glaube, sie trägt zu dick auf«, sagte Nick
eines Morgens, als er und O’Kane darauf warteten, daß Mr. McCormick
mit dem Duschen fertig war. Er ersetzte Mart tagsüber, während
Patrick nachts allein bei Mr. McCormick wachte. »Die gottverdammten
Türknäufe läßt sie polieren, du liebe Güte. Aber besser zuviel zu
früh als zuwenig zu spät, ist immer mein Motto.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte O’Kane, der an
der Tür zum Badezimmer stand, knapp außer Reichweite des
Spritzwassers. Mr. McCormick kauerte nackt auf den nassen Fliesen
und seifte sich sorgfältig die Zehen ein, während O’Kane darüber
nachsann, daß er in seinem Leben wohl öfter Mr. McCormick nackt
gesehen hatte als irgendeine Frau, und das schloß Giovannella und
die lange verflossene Rosaleen ein. »Uns würde das Wasser bis zum
Hals stehen, wenn ihm was passiert. Sobald ich erst mal bei dieser
Zitrusplantage dabei bin, von der ich dir erzählt habe – Jim
Isringhausen sucht nur noch ein paar weitere Investoren –, bin ich
aus dem Schneider, aber einstweilen wüßte ich nicht, was ich täte,
wenn ich nicht hier arbeiten könnte. Ich würde wirklich nur ungern
wieder Scheiße und Blut in der geschlossenen Abteilung
aufwischen.«
»Amen.« Nick stieß einen Seufzer aus. Er lehnte
sich gegen die geflieste Wand, das Wasser kondensierte auf seinen
Augenbrauen und den kurzen Härchen, die über der Wölbung seiner
Stirn Posten standen. Er war klobig und groß, immer noch recht
muskulös, aber er setzte Fett an um die Mitte und am Hintern, denn
er und Pat taten nichts anderes, als die Nacht hindurch bei Mr.
McCormick am Bett zu sitzen, und tagsüber schliefen sie, wenn
andere Leute ihrer Arbeit nachgingen. Und jünger wurde er auch
nicht. »Ja, ich wär auch in der Zwickmühle, wenn Mr. McCormick was
passieren würde, und Pat und Mart ebenso. Aber nicht für jeden
hätte es schlimme Folgen, wenn er in die ewigen Jagdgründe
einginge.«
»Wen meinst du?«
»Na«, sagte er und setzte eine durchtriebene
Miene auf, »sie zum Beispiel. Weißt schon:
dein Liebling.«
»Katherine?«
Er nickte und beobachtete O’Kanes Reaktion. »Da
wundert man sich direkt, warum sie hier die Florence Nightingale
spielt, was? Wenn er stirbt, dann hat sie alles: die Häuser, die
Automobile und mehr Millionen, als du zählen kannst. Und keinen
verrückten Ehemann mehr.«
Nick lag nicht ganz falsch, andererseits
bestätigte es, was O’Kane die ganze Zeit über behauptet hatte:
Katherine sorgte sich tatsächlich um das Wohlergehen ihres Mannes,
das war kein Theater, man konnte sagen, was man wollte. O’Kane sann
viel darüber nach, was das bedeutete, besonders wenn er an Dolores
Isringhausen dachte und daran, wie sie ihren Mann behandelte – oder
an Rosaleen oder sogar an Giovannella und ihren kleinen
Schuhmacher. Frauen waren berechnend und falsch, das hatte er immer
geglaubt – allesamt, außer seiner Mutter natürlich und vielleicht
der Jungfrau Maria. Und jede Ehe war ein Krieg um die Macht – wer
liebt wen, und wer liebt wen mehr? –, in dem die Frauen immer die
Oberhand besaßen, ständig schmiedeten sie Pläne und warteten auf
die Chance, einem das Messer in den Rücken zu rammen. Aber nicht
Katherine. Nicht die Eisprinzessin. Sie hatte ihren Mann genau
dort, wo sie ihn haben wollte – in einem goldenen Käfig –, und kein
kranker Kanarienvogel war je besser umsorgt worden.
»Ach, übrigens«, sagte Nick – Mr. McCormick
hatte jetzt leise zu singen begonnen, ein unmelodisches, gedämpftes
Gestöhne, das so ungefähr alles hätte sein können, von einer
hochgeistigen Symphonie bis zu »Row, Row, Row Your Boat« –, »hast
du das von dem Itaker-Schuster gehört? Du weißt doch, der mit der
hübschen kleinen Frau, die du, äh –« Seine Hände rundeten den Satz
ab.
»Was ist mit dem?«
»Du hast es nicht gehört?«
»Nein, was denn?«
»Der ist gestorben. Vor zwei, drei Tagen.
Ernestine hat’s mir erzählt, weil sie ihre Stiefel neu besohlen
lassen wollte, da hing ein Kranz an der Tür, und auf der Straße
davor haben sich lauter Spaghettis die Haare gerauft und
herumgejammert. Schlimm, wirklich schlimm, anscheinend ist keiner
von uns sicher – nicht bis sich diese Seuche entweder von selber
ausbrennt oder uns alle erwischt, jeden einzelnen, aber dann sind
wir unsere Probleme ja auch los, was?«
O’Kane ließ sich von Roscoe vor
Capolupos Schuhmacherei absetzen, sobald seine Schicht zu Ende war,
aber das Geschäft hatte geschlossen, die Läden waren verrammelt,
und an der Wohnung darüber öffnete ihm niemand. Er rüttelte ein
paarmal an der Tür, klopfte halbherzig an den Fensterläden und
dann, in Ermangelung eines besseren Plans, setzte er sich hin und
wartete. Er hatte viele Überstunden gearbeitet, um Marts Ausfall
wettzumachen, es war spät – Viertel zehn schon – und er konnte sich
nicht vorstellen, wo Giovannella war, außer sie hatten den Schuster
noch gar nicht begraben und sie war bei einer Itaker-Totenwache
irgendwo in der Stadt. Er lehnte sich zurück und wünschte, er hätte
daran gedacht, sich irgendwo eine Flasche Whiskey oder Wein zu
kaufen. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch, denn es war kalt,
für Santa Barbara jedenfalls, so um die fünf Grad. Er lauschte in
die Nacht hinein, hörte das klägliche Tuten einer Schiffssirene,
die vom Hafen her übers Wasser tönte, das rasselnde Knattern eines
Autoauspuffs, in der Gasse unten entdeckte gerade eine Katze oder
vielleicht eine Ratte etwas Interessantes, und er mußte pausenlos
an Giovannella denken und überlegte, was er zu ihr sagen würde. Und
nur an sie zu denken und daran, daß sie jetzt frei war, jederzeit
zu ihm zu kommen, Tag und Nacht, ohne irgendwem Ausreden oder
Erklärungen zu schulden, reichte aus, um in seinem Kopf alle
möglichen erotischen Szenarien entstehen zu lassen, und er sah, wie
sie auf ihn stieg, die Lippen vor Lust geschwollen, die Brustwarzen
hart und dunkel auf ihrer dunklen Haut, es ist wie beim Reiten,
Eddie, komm, mein Pferdchen, komm...
Heiraten konnte er sie natürlich nicht, und das
wußte sie – es wäre Bigamie, obwohl sie seinen grünäugigen Sohn in
Kniehosen durch die Stadt spazierenführte, und man mußte ja blind
sein, um nicht zu merken, daß der Junge von ihm war und von keinem
anderen – aber etwa eine halbe Stunde lang überlegte er, wie es
wäre, mit ihr einen Hausstand zu gründen, irgendwo so weit weg, daß
niemand von ihnen wußte. Sie könnten sich etwas in Carpinteria
suchen, gut zehn Kilometer weiter im Süden, gleich am Ozean, wo
eine laue Brise in den Palmen spielte und alles so klein und ruhig
war, und sich dort einfach für Mann und Frau ausgeben, wer sollte
das bestreiten? Aber dann müßte er einen Wagen haben, ein Haus
mieten – und das wär’ was, es wäre wieder so wie damals mit
Rosaleen bei dem alten Rowlings, das plärrende Baby, die ganze
Wohnung mit Scheiße vollgeschmiert...
Um halb elf, völlig durchgefroren und zutiefst
angewidert von sich selbst – und auch von Giovannella und sogar von
Guido, weil der den schlechten Stil besessen hatte, einfach zu
sterben und alles durcheinanderzubringen –, kam O’Kane auf die
Beine und stapfte durch die stillen, leeren Straßen zur Pension von
Mrs. Fitzmaurice. Das Haus war dunkel bis auf die Lampe im Flur,
und er schloß mit übertriebener Vorsicht auf, wobei er sich
geistesabwesend fragte, ob in seiner Notfallflasche auf dem
Fußboden hinter dem Schreibtisch noch etwas drin war – er stellte
sie sich vor, ließ die goldgelbe Flasche Wirklichkeit werden –, als
er bemerkte, daß auf dem Tisch im Flur ein Päckchen für ihn
lag.
Es war klein, nicht größer als eine
Zigarettenschachtel, und recht schwer, schwerer jedenfalls als nur
Pappe. Es war außen doppelt und dreifach mit schmutzigweißem Band
verklebt, und O’Kane sah einen Daumenabdruck auf einem Stück
Klebeband, daneben steckten ein paar lose Haare. Er erkannte die
Handschrift sofort: Rosaleens. Einen Augenblick lang zögerte er,
drehte das Ding in der Hand herum. Es konnte nicht das sein, als
was es sich anfühlte – ein Geschenk, ein verspätetes
Weihnachtspräsent, vielleicht von Eddie jr. – nein, das war
unmöglich. Wenn Rosaleen damit zu tun hatte, dann war es sicher
etwas, das er sich lieber erst am nächsten Morgen ansehen sollte,
bei Tageslicht, wenn Giovannella ihm nicht so sehr durch den Kopf
ging.
Er nahm das Päckchen von einer Hand in die
andere, dabei spähte er in den dunklen Aufenthaltsraum mit seinen
spinnenartigen Pflanzen, den düsteren Möbeln und den Läufern, die
knapp vor dem Ende ihres Läuferlebens standen. Ach was, dachte er,
setzte sich auf den harten Stuhl im Flur und riß das Ding auf. Das
Band verklebte ihm die Finger, das Packpapier fiel zu Boden. Und
jetzt war er noch ratloser: es war das Taschenmesser, das er Eddie
jr. geschenkt hatte, es kam wie ein Bumerang zurück zu ihm. Aber
Moment, da war noch etwas, eine Nachricht, ein Zettel,
zusammengeknüllt wie ein welkes Blatt in der Hülle aus Klebeband
und Papier, beschrieben in dem unsauberen, halb analphabetischen
Gekrakel, das so beredt von Rosaleens Innerem sprach:
Liber Eddie!
Ich kannich lenga mit die Lüge leeben. Im
herpst hab ich Dir nich geschriebn aber bei uns hir is die
Spaanische Gerippe gekomen und unser son is dran gestorbn. Er ligt
auf dem Sankt Columbannusfridhof begrabn und ich hab Deine muter
oder Sonswem nix gesagt und hir is das taschenmeser zurük es het
dem Jungen bestimt gefaln
Deine Dich usw
Rosaleen
Rosaleen
Er hatte keine Gelegenheit, darauf zu
reagieren, weil in diesem Moment jemand hartnäckig gegen das
Fensterchen in der Eingangstür zu pochen begann. (Und wie hätte er
auch reagieren sollen – auf die Knie sinken, sich die Haare raufen,
sein Schicksal dem Himmel klagen? Die traurige Wahrheit war, daß er
seinen Sohn nie gekannt hatte. Irgendwo war ein Fremder gestorben,
das war alles, und was hieß es schon, daß er Eddie O’Kanes Augen
und seinen Gang und sein Aussehen gehabt hatte, wenn er lachte oder
nachdachte oder sich das Knie aufschrammte und mit tränennassem
Gesicht zu seiner Mutter gerannt kam? Na und?)
Das Pochen wurde lauter – tack-tack-tack-tack –, er ließ den Brief fallen und
marschierte benommen auf die Tür zu. Ein Gesicht preßte sich im
Dunkel der Nacht gegen das Glas, über das sich das Spiegelbild
seines eigenen verdutzten Gesichtes legte. Anfangs dachte er an
Gespenster, an dem Grab entstiegene Geister von verlassenen kleinen
barfüßigen Jungen, die an der Grippe gestorben waren und ihn nun
heimsuchten, und erst nach einer Weile wurde ihm klar, wer da mit
einer Münze gegen das dünne Glas klopfte, ohne einen Gedanken
daran, daß Mrs. Fitzmaurice aufwachen könnte, die am Ende des
Korridors den leichten Schlaf der ewig Wachsamen schlief: es war
Giovannella.
Sie sagte etwas, formte die Worte hinter dem
Glas mit dem Mund, begleitet von einer Serie ungestümer Gebärden.
Sie mußte ihn sprechen – sie wollte – wußte er schon?
Er öffnete ihr die Tür, und da war sie, schob
sich an ihm vorbei in den Flur, mit ihrem breiten, schönen Gesicht
und diesen Augen, die alles von ihm wußten, und sie trug Guido, den
kleinen Guido, seinen einzigen noch lebenden Sohn, über der
Schulter wie etwas, das sie vom Markt mitgebracht hatte, wie ein
paar Pfund Schweinebraten oder Rinderfilet. Sobald er die Tür
geschlossen hatte, fuhr sie zu ihm herum und umklammerte mit der
freien Hand seinen Nacken, preßte den Mund auf den seinen, alles
sehr theatralisch und wild, und er wurde auf einmal hellwach. »Er
ist tot«, zischelte sie und warf den Kopf nach hinten, um ihm in
die Augen zu sehen. »Er ist an der Grippe gestorben.«
O’Kane legte einen Finger auf die Lippen. Mrs.
Fitzmaurice würde bereits die Ohren spitzen, schon nach zehn Uhr
abends und eine fremde Frau im Haus. Mrs. Fitzmaurice, diese
tobende Furie, aber geschlechtslos wie ein alter Schuh. »Pssst!«
zischte er warnend und rechnete halb damit, gleich seine
vorwurfsvolle Wirtin hinter sich zu sehen, in ihrem Nachthemd, das
bis zum Boden reichte. »Ich weiß.«
Wieder drückte sie sich an ihn, hielt ihn fest,
der kleine Guido dazwischen, ihre Wärme und ihr Geruch wie der von
keiner anderen Frau: Nelken, Knoblauch, Vanille und Zwiebeln, die
süß in der Pfanne brutzelten. »Ich hab Angst, Eddie«, flüsterte
sie. »Guido... ich... ich hab ihn doch gepflegt, und jetzt ist er
tot vom Fieber, ganz heiß ist er geworden, so traurig und
jammervoll, er konnte gar nicht den Mund aufmachen, um was zu mir
zu sagen oder zum Pfarrer, keine letzten Worte, gar nichts... und
wie er gerochen hat – es war grausig, als würde er innerlich
zerfressen, so daß nur noch Scheiße von ihm übrig wär.« Sie
zitterte, eine Ader pulsierte an ihrem Hals, das Haar fiel lose
unter der Hutkrempe hervor und hing ihr in die Augen. »Ich hab
Angst, daß ich es auch... oder der kleine Guido, Eddie, unser Sohn.
Die Leute sagen, man kann sich’s holen, wenn man nur auf der Straße
an wem vorbeigeht, und verstehst du, Eddie: ich hab ihn gepflegt,
ich hab Guido gepflegt.«
Ihre Augen waren zwei wirbelnde Strudel, zwei
Löcher, die ihr Gesicht von allem anderen entleerten, und sie
wollte ihn nicht loslassen. Auch er hatte Angst. Erst Eddie jr. und
jetzt das – was war, wenn sie sich angesteckt hatte? Wenn sie
starb, so wie Wilson und Mrs. Goux und Wing? Was dann? Er sah über
die Schulter, den Flur entlang zur Tür von Mrs. Fitzmaurice, alles
wirkte matt und undeutlich im trüben Schein der Lampe. »Du bist
jung und kräftig«, hörte er sich sagen. »Selbst wenn du es kriegst,
dann wirst du’s überstehen. So wie Mart. Hab ich dir das von Mart
erzählt?«
»Ich bin Witwe, Eddie«, sagte sie.
Er nickte. Sie war Witwe. Witwenschaft, das war
nun ihr Zustand, ein trauriger Zustand, achtundzwanzig Jahre alt
und schon des Mannes beraubt, und ein kleiner Sohn zum
Großziehen.
»Jetzt können wir zusammen sein.«
Wieder nickte er, ohne zu wissen, warum. Er
wollte ihr von Eddie jr. erzählen, von der Reue, die in ihm reifte,
bis sie ganz schwarz war und sich in etwas anderes zu verwandeln
drohte, in etwas Fauliges, Verzweifeltes, in etwas Kaltes und
Hartes. Er wollte es ihr erzählen, aber er konnte nicht. Und er
versuchte, sich von ihr freizumachen – nur um Atem zu schöpfen –,
aber sie ließ ihn nicht los.
»Hast du nicht gehört, was ich sage?«
Er senkte den Blick, sah auf ihre Füße in einem
Paar staubiger alter Knöpfstiefel, die vielleicht ein Kunde im
Geschäft vergessen hatte. »Ich hab’s gehört. Aber komm, gehen wir
nach draußen zum Reden, damit Mrs. Fitzmaurice...«
»Ich will nicht nach draußen gehen. Ich will
hier bleiben. Bei dir. Sieh her!« sagte sie, trat einen Schritt
zurück und nahm das Kind von der Schulter, so daß er das fette
Säuglingsgesicht sehen konnte, das ihm verschlafen entgegenstarrte.
»Dein Sohn. Er ist dein Sohn, und du bist mein Mann. Begreifst du
nicht? Ich bin jetzt Witwe. Verstehst du nicht, was das
bedeutet?«
»Ich bin schon verheiratet«, sagte er. »Das
weißt du.«
Er sah, wie sich die Furchen auf ihrer Stirn
sammelten, während ihre Augen schmaler wurden und der Mund sich
zusammenzog. »Ich spucke auf deine Ehe«, sagte sie und stieß sich
so heftig von ihm weg, daß er Angst bekam, sie würde eine der
Stehlampen umstoßen, alle im Haus aufwecken, Mrs. Fitzmaurice aus
dem Schlaf aufstören, sein Leben auf den Kopf stellen.
Er sagte, sie solle den Mund halten, verdammt
noch mal den Mund halten.
Sie antwortete, er solle zum Teufel
gehen.
Und wer war das jetzt? Irgend jemand oben auf
der Treppe – war das Maloney? – und eine wütende Stimme, die wie
ein Lasso zu ihnen hinunterschnellte. »Ist endlich Ruhe da unten,
ja? Wir wollen schlafen!«
»Komm doch«, flüsterte er. »Reden wir draußen
weiter.«
»Nein. Hier. Und jetzt.«
Er rollte mit den Augen. Er war müde. Und
ärgerlich. Und enttäuscht. »Was willst du von mir? Willst du, daß
ich mit dir gleich heute abend in ein neues Haus ziehe, mit neuen
Vorhängen und brandneuen Möbeln aus dem Geschäft, alles noch im
Einwickelpapier? Ist es das, was du willst?«
Sie stand regungslos vor ihm, in ihrem
schwarzen Trauerkleid, mit dem schwarzen Schleier, den der Wind
über den Hut geweht hatte, und dem Kind im Arm, das ihn pummelig
und ungerührt aus seinen eigenen Augen anstarrte.
»Komm jetzt«, lockte er, »wir gehen rüber zu
Patrick, da können wir alles bereden und haben’s bequem dabei, und
wir können auch, du weißt schon... ich will dich.«
»Ich will dich auch, Eddie.« Und sie preßte
sich gegen ihn, zog seinen Kopf zu sich herab und küßte ihn wieder,
ein heftiger, wütender Biß von einem Kuß, ihre ganze Überspanntheit
und Unvernunft war konzentriert in der feuchten Hitze ihres Mundes,
ihrer Lippen, ihrer Zunge, und er wußte, alles würde wieder gut
werden, wenn er sie nur mit hinauf in sein Zimmer nehmen könnte, um
mit ihr zu schlafen, sie zu nehmen, sie zu vögeln.
Sie trat zurück und musterte ihn mit einem
langen, prüfenden Blick, als sähe sie ihn plötzlich in einem neuen
Licht, aus der Ferne und im Schatten. Die Muskeln in ihren
Mundwinkeln spannten sich zu einem hauchdünnen Lächeln.
»Was denn?« fragte er. »Was ist los?«
»Ich bin schwanger.«
Wenn das nicht ein Déjà-vu-Erlebnis war, was
dann? Und eine ganz einfache Rechnung: ein Kind weg, ein Kind dazu.
Ihm fiel nichts weiter ein als: »Schon wieder?«
Sie nickte. Badete ihn mit ihren Blicken.
Hinter ihr waren beide Wände des Flurs entstellt von den dunklen,
schimmernden Flecken der vonMrs. Fitzmaurice angefertigten
Ölbilder, lauter junge Katzen und Hunde, die in einer unkenntlichen
Welt aus knüppeldicken Pinselstrichen und zusammenprallenden Farben
herumtollten. Sie wechselte das Kind von einer Schulter zur
anderen.
»Mein Gott«, sagte er, und er sagte es wie
einen Fluch, rauh und hart.
Ihre Stimme entglitt ihr und verschwand
beinahe: »Ich will, daß du dich um mich kümmerst.«
Dies war sein Augenblick, dies war seine Stunde
der Wiedergutmachung, der Moment, in dem er sein Drei-Uhr-Glück
einlösen konnte, auch wenn es nach elf Uhr nachts war, und er hätte
sie in die Arme nehmen können und flüstern: Ja, ja, natürlich tu
ich das, aber statt dessen musterte er sie mit schiefem Grinsen und
fragte: »Von wem ist das Baby?«
»Von wem...?« Die Frage machte sie sprachlos,
und auf einmal schien das Kind auf ihrer Schulter, schien der
kleine Guido Capolupo O’Kane unerträglich schwer zu sein, so daß
sie hinter sich tastete, wie um einen Platz zum Absetzen zu suchen.
Sie brauchte eine Weile, dann aber fand sie wieder zu sich,
richtete sich auf, streckte den Rücken, so daß ihre Brüste
hervorragten und ihr Kinn sich zwei Handbreit aus dem Kragen
reckte. »Von Guido«, sagte sie, »es ist von Guido«, und dann fand
sie den Türknauf und ließ einen kurzen Augenblick lang die Nacht
herein, bevor die Tür sich klickend hinter ihr schloß.
Und der gutaussehende Eddie O’Kane, der noch
jede Prüfung des Schicksals verpatzt hatte, der weder reich noch
frei war, sondern dienern und katzbuckeln mußte vor Mrs. Katherine
Dexter McCormick und ihrem geistesgestörten Ehemann, und jedem
Rockschoß nachlaufen, der die Straße entlangging? Was brauchte der
jetzt? Das war leicht. Einfach. Die einfachste Frage der
Welt.
Er brauchte was zu trinken.