5
Die Hochzeit des Jahres
Als Katherine seinen Antrag ausschlug, ihm praktisch ins Gesicht lachte an jenem regnerischen, zähflüssigen Abend im September, an dem die Pferde stumpfsinnig durch die Straßen trappelten und die Uhr das Verhängnis in seinen Ohren dröhnen ließ, stand Stanley auf, verbeugte sich knapp und stürmte zur Tür, taub für ihr Rufen und Flehen. »Stanley, was tust du da?« schrie sie und sprang entsetzt auf. »Ich habe doch nur... ich dachte, wir wären...« begehrte sie auf und rannte ihm nach, er aber zögerte keinen Moment, nicht einmal um Hut und Mantel zu nehmen, sondern raste die Treppe hinunter und hinaus in den Regen. »Stanley!« rief sie ihm nach, ihre Stimme hallte im Treppenhaus und auf der Straße wider. »Sei vernünftig! Du mußt mir Zeit lassen!«
Er hörte sie gar nicht. Er rannte, das feuchte Haar klatschte ihm ins Gesicht, sein Kragen saß schief, sein Hemd war vollkommen durchnäßt, er rannte den ganzen Weg bis zu seinem Hotel, die Arme arbeiteten heftig, die Ellenbogen teilten links und rechts aus, und seine Augen blitzten. Passanten traten unter den Hauben ihrer Regenschirme zurück, die aussahen wie welke Pilze, Kutschen wichen ihm aus, Straßenköter kläfften ihm hinterher. »Passen Sie doch auf!« knurrte jemand, und ein Polizist rief ihm etwas nach, doch er achtete nicht auf sie. Er spürte weder das Kopfsteinpflaster unter den Füßen noch die Regentropfen im Gesicht, roch nicht die satte Nässe der alten Mauern oder den Scheunenduft des Pferdedungs in den Rinnsteinen, nahm nicht wahr, wie die Nacht sich um die Laternen ballte, als wollte sie sie ersticken.
Sie hatte ihn verlacht. Hatte sich geweigert, ihn ernst zu nehmen. Das Ganze in einen Witz verdreht. Aber warum auch nicht? Er war ein Narr, ein dummer Tölpel, der allerunwahrscheinlichste Bewerber, nicht halb so sehr Mann wie Butler Ames einer war. Was hatte er sich nur gedacht? Eine Frau wie Katherine konnte doch unter allen Männern der Welt auswählen, und wie hatte er annehmen können, sie würde sich dazu herablassen, einen wie ihn überhaupt in Betracht zu ziehen?
Der Portier am Empfang sah ihn verschreckt an, als er regendurchnäßt, hutlos und in wildäugiger Hektik durch die Tür stürmte. »Fehlt Ihnen etwas, Sir?« fragte er, brüllte es ihm praktisch zu, und auch ein Page kam herbeigeeilt. »Sind Sie verletzt? Sollen wir einen Arzt rufen?«
»Die Rechnung bitte«, keuchte Stanley, und was war nur mit seiner Stimme passiert? Er klopfte sich heftig mit der Faust aufs Brustbein. »Ich... ich möchte zahlen.«
»Sir?« sagte der Portier fragend, dann aber musterte er Stanleys Blick, seinen Kragen und das Wasser, das ihm von der Nase und vom Kinn tropfte, und änderte seinen Tonfall. »Jawohl, sehr gerne«, sagte er, ganz Gehorsam und ölige Beflissenheit, »die habe ich gleich. Mr. McCormick, nicht wahr?«
»Lassen Sie dann bitte meinen Wagen vorfahren.«
Wieder zeigte sich der Portier überrascht. Er warf einen nervösen Blick auf den Pagen. »Sir?«
»Mein Automobil. Es steht hinten im Stall. Ich will es fahrbereit vor dem Hotel, und... und zwar sofort.«
»Aber, Sir, es ist fast Mitternacht, und unser Fahrer hat schon Feierabend – ich fürchte, daß niemand hier Ihren Wagen lenken kann, Sir, und außerdem... es regnet doch.«
Stanley zog mehrere Geldscheine aus der Brieftasche und legte sie in eine ordentliche Reihe auf die Marmortheke. »Macht nichts«, sagte er, »ich hole ihn selber. Nehmen Sie das hier für meine Rechnung und, und behalten Sie das Wechselgeld.«
»Und Ihr Gepäck?« rief ihm der Portier nach, doch Stanley drehte sich nicht einmal um.
Der Mercedes besaß kein Verdeck, aber Stanley kümmerte das nicht. Er legte sich eine Decke über die Knie, wickelte einen braunen Staubmantel um sich, bedeckte seinen triefnassen Skalp mit einem breitkrempigen Filzhut und fuhr in einem Getöse von Fehlzündungen und krachenden Gängen auf der dunklen Straße davon. Der Regen prasselte in silbrigen Bächen auf Spritzbrett und Sitze nieder, bis ein regelrechter Strom zu seinen Füßen über das Trittbrett hinausfloß. Sein Hut wurde zusammengeklatscht, die Schutzbrille lief an, der Wind pfiff durch ihn hindurch. Und sobald er die Stadt verlassen hatte, auf dem Weg in die Adirondacks zu seiner Mutter war, umschloß ihn die Finsternis, und das bißchen Helligkeit, das die Scheinwerfer verströmten, wurde von ihr nahezu verschluckt. Er sah überhaupt nichts.
Dennoch fuhr er weiter. Er stand unter Schock, war so verletzt und gedemütigt, daß er sich wie ausgebrannte Schlacke fühlte, ein Opfer der Scham, und er hatte keinen anderen Gedanken, als so rasch wie möglich nach Hause zu kommen. So raste er durch die Nacht dahin, verschreckte Füchse, Stinktiere und Opossums und jagte mit seinem Motor allen schlummernden Pferden und schnaubenden Kühen in Hörweite eine Heidenangst ein, und dabei sah er immer nur das Kiefernholz-Blockhaus am Saranac Lake vor sich, mit seinem zwei Meter hohen Kamin, den weich gepolsterten Sofas und hundert rustikalen Ecken und Nischen, in denen er sich vergraben konnte, um seine schwärenden Wunden zu lecken.
Katherine hatte ihn abgewiesen. So sah sein Leben aus. Es war ihm Kummer und Last, und es durchnäßte ihn, ließ ihm den Wind in die Zähne pfeifen und spritzte ihn mit Schlamm voll. Unvermeidlicherweise aber, während die Nacht verstrich und sein Wagen sich schleudernd und schlingernd durch das Unwetter kämpfte, begannen das Tosen der Elemente und das gleichmäßige, ungebrochene Heulen des Motors ihn zu beruhigen. Sicher doch. Er kam gut voran, bezwang diese Nacht ganz allein und stand ein Abenteuer durch, und er schaffte es bis nach Westborough, ehe er falsch abbog, dann eine Reifenpanne in beiden Vorderrädern zugleich hatte und bis zu den Achsen in einem stinkenden, nachgiebigen Schlick versank, der ihm die Stiefel auszog, kaum daß er den Wagen verlassen hatte.
Nirgends war ein Licht zu sehen. Doch er kämpfte sich barfuß durch, und die Nacht war ihm Halluzination genug. Er folgte einer Straße nach der anderen und dann der nächsten, bis der Morgen graute, immer noch regnete es, und da ragte vor ihm ein Farmhaus aus dem Zwielicht auf wie eine Insel im Meer. Der Farmer war so freundlich, ihn in die Stadt zu bringen – die er während seinen nächtlichen Irrfahrten irgendwie um gut acht Kilometer verfehlt hatte –, und wünschte ihm alles Gute, als er ihn bibbernd und ohne Schuhe am Bahnhof vonWestborough absetzte. Er nahm den ersten Zug nach Albany und mietete dort eine Kutsche mit Fahrer, die ihn zum Saranac Lake brachte, und während er schlaflos auf dem kalten Ledersitz kauerte, sah er immer wieder Katherines Gesicht vor sich, und eine ganze Schar undefinierbarer Stimmen keifte in seinen Ohren, bis er die Hände heben und sie sich zuhalten mußte.
Natürlich holte er sich eine Erkältung.
Und seine Mutter, forsch und kritisch, umkreiste sein Krankenbett Tag und Nacht, als hätte alle Ärzte und Krankenschwestern die Pest dahingerafft. Sie nötigte ihm jede Viertelstunde eine Rinderbrühe auf, überschwemmte ihn mit jedem erdenklichen Sirup und Tonikum, verbrühte ihn mit Mentholdämpfen und Wärmflaschen. »Das kommt von deiner Schürzenjägerei«, schalt sie und putzte ihm mit einem kampfergetränkten Taschentuch die Nase.
»Schürzenjägerei? Aber ich habe doch gar nicht...«
»Na, wie nennst du es denn? Gewiß ist das keine Brautwerbung in irgendeinem Sinn des Wortes, den ich kenne – bei einer jungen Dame, die deine eigene Mutter noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hat.«
»Aber ich habe sie doch eben erst kennengelernt...«
»Und noch etwas – ich habe mich in der letzten Woche ein wenig erkundigt, und wie man mir erzählte, ist deine Katherine Dexter ein völlig kalter Fisch, die Sorte verwöhntes Frauenzimmer, die nicht einmal dem Dienstmädchen ihrer Mutter ein ordentliches Trinkgeld gibt. Sie ist durch und durch ein Kopfmensch, wie man so hört, praktisch eine Ketzerin, so wie dieser scheußliche Engländer mit seiner Abstammung des Menschen und den Affen, und sie hat nicht viel mehr Ahnung vom Glauben an Gott als eine nackte Ureinwohnerin.«
Stanley inhalierte die Dämpfe und schluckte die Brühe, sah zu, wie vor seinem Fenster das Laub gelb wurde und herabfiel, hörte dem traurigen Klatschen des Sees gegen die Schindeln zu, und jeden Tag schrieb er einen Brief an Katherine, machmal bis zu zwanzig, dreißig Seiten lang, den er jedesmal sogleich von einem Dienstboten zum Postamt bringen ließ. Er hatte wenig Gelegenheit, in den Spiegel zu sehen – seine Mutter bestand darauf, daß er im Bett blieb –, doch wie er so im Liegen sinnierte, konnte er sich vorstellen, wie lächerlich er in Katherines Augen wirkte. Er fand, er müsse sich ihr erklären, und jede glaubwürdige Erklärung sollte mit seinen Nachteilen anfangen – wenn er ehrlich zu ihr sein wollte. Und er wollte ehrlich sein. Denn das hier war kein frivoler Flirt, keine vergängliche Verliebtheit – es bedeutete die ganze Welt und alles für ihn.
Einer seiner kürzeren Briefe, alles in allem nur fünfzehn Seiten, eine pedantische, aber ungezügelte Flut von wackligen Konsonanten und schweifwedelnden Vokalen, hob folgendermaßen an, ohne Datum oder Anrede.
Ich weiß, daß Du weißt, daß ich so nutzlos bin wie ein Kiesel auf Deinem Weg, und niemand ist sich dessen besser bewußt als ich, ein Mann, der nicht das geringste geleistet hat in seinen neunundzwanzig Lebensjahren, ein Schandfleck für die Gesellschaft, ein Parasit, der keinen Cent im Schweiße seines Angesichts verdient, sondern statt dessen im Namen des »Kapitalismus« auf Kosten der Armen und Unterdrückten lebt. Ich habe kein Talent für irgend etwas, habe nie meinen Verstand kultiviert, werde den ganzen Tag und auch die halbe Nacht lang von würdelosen Gedanken verzehrt und lebe in einem widerlichen Sündenpfuhl. Ich kann es Dir nicht übelnehmen, daß Du mich abgewiesen hast, ja ich gratuliere Dir dazu und ermuntere Dich sogar, Butler Ames oder jeden anderen Mann mir vorzuziehen, denn ich schätze Dich mehr als jede andere Frau und wünsche Dir nur das Beste. Du bist mein ein und alles, und ich hoffe, Du glaubst mir, wenn ich Dir sage, daß ich nicht wert bin, den Staub von Deinen Schuhen zu lecken, falls je ein Staubkorn auf ihnen haften bliebe, was ich allerdings bezweifle...
Ihm war klar, daß er damit ein wenig über die Stränge schlug, doch wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er es nicht einfach sein lassen, und so wurden seine Briefe immer sklavischer und selbsterniedrigender, bis sogar ein Dr. Fu Manchu geistig gesund gewirkt hätte im Gegensatz zu dem Stanley, den Stanley da offenbarte.
Katherines Antworten waren kurz und nahmen nie auch nur den leisesten Bezug auf seine Briefe. Sie schrieb vom Wetter, vom letzten Zwist ihrer Mutter mit der Hutmacherin oder einem Oberkellner, von den Ernährungsgewohnheiten der Strumpfbandnatter. Sie untersagte ihm einen Besuch nicht ausdrücklich (obwohl sie andeutete, wie sehr ihr Studium sie beanspruchte), und so ergriff er die erste Gelegenheit und fuhr mit dem Zug nach Boston, sobald seine Mutter ihn aufstehen ließ. Beim erstenmal – Anfang Oktober –blieb er eine Woche, und dann, gegen Ende November, noch einmal zwei Wochen lang. Für seine Ausdauer wurde er von Mrs. Dexter belohnt – »Ach, bitte, Stanley, nennen Sie mich doch Josephine« –, die ihm jeden Abend im Salon Gesellschaft leistete, wo sie in Jugenderinnerungen schwelgte, während er sich pflichtbewußt durch die labbrigen Fischaufstrich-Sandwiches und Mohnkekse quälte und Kanne um Kanne von ungenießbarem Tee trank. Aber das war es wert, da Katherine sich offenbar aufrichtig freute, ihn zu sehen, sie war übermütig wie ein Seehund und strahlte in ihrem neuerworbenen Wissen, und wann immer sie eine Stunde der Erbauung in ihren Zeitplan zwängen konnte, gestattete sie ihm, sie ins Theater oder zu einem Konzert auszuführen.
Zu Weihnachten kam sie nach Chicago, um dort eine Freundin zu besuchen, während ihre Mutter in Europa weilte, und Stanley war selig. Er und Nettie wohnten wieder in der Rush Street, seit das Wetter in den Adirondacks gar zu unwirtlich geworden war, und wenn er sich auch noch nicht danach fühlte, wieder zu arbeiten, hatte er doch das Zeichnen erneut aufgenommen und ein halbes Dutzend Portraits von Katherine in einer bräunlichen Wischtechnik aus Kreide und Sepiatinte angefertigt – alle nach der einen Photographie, die sie ihm geschenkt hatte. Natürlich war er als Künstler nichts wert und besaß nicht das Recht, sich an einem Bild von ihr zu versuchen – es hätte eines Pintoricchio, eines Cellini bedurft, ihr gerecht zu werden –, aber er fand dennoch, es sei ihm gelungen, etliche interessante Züge an ihr einzufangen, und er hatte sich bereits mit dem Gedanken eines erneuten Besuchs in Boston getragen, um ihr eine seiner Skizzen zu verehren. Oder vielleicht zwei. Oder alle sechs. Er konnte sich kaum bezwingen, bombardierte sie mit Blumen und Telegrammen, gemartert von der Vorstellung, Butler Ames oder sonst ein aalglatter Rivale könnte ihm zuvorkommen, andererseits wollte er auch nicht übereifrig wirken – da erhielt er ihren Brief, in dem sie schrieb, sie treffe am neunzehnten in Chicago ein, um Nona Martin zu besuchen, von den Polstermöbel-Martins, und er zerschmolz in brutzelnder Vorfreude, wie ein Klecks Butter in einer heißen Pfanne.
Als der Zug einfuhr, wartete Stanley am Bahnhof mit seinem Chauffeur und dem neuen Wagen, einem Packard mit gedecktem Tonneau über der rückwärtigen Sitzbank. Er stand dort wie ein Wachtposten, als sie aus dem Waggon stieg, und war beladen mit Blumen, drei Pralinenschachteln und, eingewickelt in braunes Papier, der neuesten seiner Portraitzeichnungen. Der Zug kam mit fünfzehnminütiger Verspätung, und er übte sein Lächeln schon so lange, daß ihm die Zunge eingetrocknet war und irgendwie an der Mundschleimhaut festklebte, weshalb er einige Mühe hatte, die einstudierte Ansprache herauszubringen. »Katherine!« rief er, ergriff ihre Hand in einem Durcheinander aus Blumen und Pralinen, während sein Chauffeur sich um den Gepäckträger und die Übernahme ihrer Koffer kümmerte. »Ich kann dir gar nicht sagen, wieviel mir das bedeutet, deine Reise hierher nach Chicago – dein Besuch, meine ich –, es ist wirklich der Höhepunkt meines elenden, nichtswürdigen, so vollkommen nutzlosen Daseins, und ich, ich...«
Sie trug einen Pelzmantel, und der Duft der darin eingefangenen Körperwärme war berauschend. Sie hob den Schleier ihres Hutes und zeigte ihm ein Lächeln und zwei fröhliche, schimmernde Augen. »Stanley!« rief sie aus. »Was für eine Überraschung! Wie aufmerksam, mich hier abzuholen, aber das wäre doch gar nicht nötig gewesen, wirklich nicht.« Und dann stieß sie einen Juchzer aus und warf sich in die Arme einer jungen Frau im Fuchspelz, deren Haar die Farbe von alten Seilen hatte, und Stanley fühlte sich von neuem zurückgestoßen. Aber nein, das war Nona Martin, und sie freute sich sehr, ihn kennenzulernen – Katherine hatte ihr ja schon soviel von ihm erzählt –, und sie ließ sich gern von ihm in seinem Motorwagen mitnehmen.
In Stanley loderte ein Freudenfeuer, er war elektrisiert – Katherine hat mir ja schon soviel von Ihnen erzählt –, während er sich zu den beiden Frauen in den Wagen zwängte und dabei die ganze Zeit mit der gerahmten Skizze in festem braunem Packpapier herumfuchtelte. Katherine saß bei ihm, direkt neben ihm, und er roch ihr Parfum und den süßen Minzeduft ihres Atems. »Für dich«, sagte er und reichte ihr das Portrait in einem Tohuwabohu aus Knöcheln und Ellenbogen und dem behindernden Gewirr von Mänteln und Schals und Handschuhen. »Ich – ich hoffe, du wirst... also, ich hoffe, daß – ich meine, ich habe mir erlaubt, dich zu, äh, malen...«
Sie lächelte ihr geheimnisvolles dünnes Lächeln, riß das Papier auf und hielt die Zeichnung ins Licht, während der Wagen die Straße entlangpolterte wie eine Achterbahn und sie alle drei ihre Hüte festhalten mußten. »Es ist wunderschön«, sagte sie und schenkte ihm ihr Lächeln, zeigte ihm die Zähne, diese Zähne, die er so sehr liebte, und nun kam auch ihre Begleiterin ins Bild, ihr breit grinsendes Engelsgesicht tauchte an Katherines Schulter auf, und auch sie schnurrte lauter Lob. Und Stanley? Nun ja, es war Winter in Chicago, die Sonne milchweiß, der Wind pfiff und überall war Eis, doch in seinem Inneren herrschte Hochsommer, und alle Segelschiffe machten volle Fahrt über den See.
Doch schon während er auf der frischen Brise, die Katherine mitgebracht hatte, durch die Straßen stob, brauten sich drohende Wellen zusammen. Seine Mutter wollte ihn nicht kampflos ziehen lassen, und als zwei Abende später Katherine mit Miss Martin zum Abendessen kam, brach das Unwetter in all seiner Gewalt los. Nettie hatte auf einem sehr förmlichen Dinner mit acht Gängen und einer Gästeliste von achtzehn Personen bestanden, darunter Favill und Bentley samt Gattinnen, Cyrus jr. mit seiner Frau, Missy Hammond, Anita (die nun seit acht Jahren Witwe war) und ein Sortiment von verschrumpelten religiösen Fanatikerinnen, die alle in den Sechzigern oder gar Siebzigern waren und seit der Schlacht von Bull Run kein freundliches Wort mehr zu irgend jemandem gesagt hatten. Sie präsidierte am Kopf des Tisches, während Cyrus den Ehrenplatz am anderen Ende einnahm, und sie plazierte Katherine gegenüber von Stanley und so nahe bei sich selbst, wie sie es ertragen konnte – das bedeutete, mit dem Puffer einer griesgrämigen presbyterianischen Mumie direkt zu ihrer Rechten und einer weiteren zu ihrer Linken.
Die Suppe stand kaum auf dem Tisch, da räusperte sie sich, um Katherines Blick einzufangen, und sagte in einer Lautstärke, die auch Cyrus am anderen Tischende hören sollte: »Nun, Miss Dexter, als Wissenschaftlerin können Sie uns doch gewiß Ihre Meinung über Mr. Charles Darwin mitteilen, und über seine perverse Verdrehung von allem, was uns Gott in der Bibel sagt?«
Katherine blickte Stanley kurz an, und er sah den Stahl in ihren Augen, gehärtet und unbeugsam, ehe sie sich seiner Mutter zuwandte und an Mrs. Tuggle, der Mumie zu ihrer Rechten, vorbeisprach: »Ich habe eine Ausbildung in den Naturwissenschaften, so ist es, Mrs. McCormick, und ich neige in der Tat zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise von Phänomenen, die jenseits unserer Kenntnis liegen, doch muß ich Sie daran erinnern, daß Darwins Theorien nichts anderes sind als eben Theorien.«
Schweigen. Jede Unterhaltung war erstorben. Anita starrte sie an, Cyrus jr. spielte mit seinen Manschettenknöpfen. Favill schmunzelte. Die Mumien nickten mit ihren schlohweißen Köpfen.
»Und was soll das bedeuten?« Nettie hatte die Hände vor der Brust gefaltet, als wollte sie um Kraft beten. »Glauben Sie nun an dieses ketzerische Zeug oder nicht?«
Katherine seufzte. Hob das Wasserglas an die Lippen, nippte daran und stellte es wieder ab, vollkommen beherrscht. »Da Sie mich fragen, Mrs. McCormick, muß ich sagen, daß ich sehr wohl an Darwins Theorien über den Ursprung unserer Spezies durch die Evolution glaube. Ich halte seine Argumente für höchst stichhaltig.«
Stanley wollte etwas sagen, irgend etwas, einen Kommentar über das Wetter oder die Suppe oder die elektrische Beleuchtung, nur um seine Mutter von der Fährte abzubringen, doch sie war zu schnell für ihn.
»Und diese Negertanzmusik, auf die die jungen Leute so erpicht sind, dieser ›Maple Leaf Rag‹ und das ganze Gedudel, so etwas halten Sie wohl auch für sittlich in Ordnung, stimmt’s?«
»Mir bleibt leider wenig Zeit zum Tanzen, Mrs. McCormick«, sagte Katherine, und sie blickte den gesamten Tisch entlang, bevor sie sich wieder an sie wandte. »Ich bin sehr beschäftigt mit meinem Studium.«
»Ja«, sagte Nettie, spie das Wort fast aus, »das habe ich gehört. Schlangen, nicht wahr?«
Am folgenden Nachmittag, an dem ein trübes, verwaschenes Licht den Eindruck erweckte, als wäre die Stadt auf den Grund des Michigansees versunken, fuhren Stanley und seine Mutter gemeinsam mit Katherine im Landauer – nicht einmal im Traum hätte Nettie einen Fuß in einen Motorwagen gesetzt – zu Harold und nahmen dort ein verkrampftes Mittagessen mit ihm und seiner Frau Edith zu sich. Bei Hühnerfrikassee, gekochten Zwiebeln, Ochsenzunge und Eiscreme flammte das Wortgeplänkel erneut auf und setzte sich auch während des Verabschiedens und beim Einsteigen in die Kutsche fort. Stanley wurde nicht damit fertig. Er hätte unbezähmbar vor Freude sein, Salti schlagen und Hosiannas singen sollen, war er doch endlich mit den beiden Menschen zusammen, die ihm am meisten bedeuteten, doch statt dessen hatte er das Gefühl, er stünde mitten in einer Schlacht wie ein verwirrter Infanterist, der zwischen zwei rivalisierende Generäle geraten war. »Und Ihre Familie, Katherine? Ich hörte, daß Ihr Vater verstorben ist«, sagte Nettie, »und Ihre Mutter niemals Gesellschaften gibt«, worauf Katherine prompt zurückgab: »Erzählen Sie mir doch von Ihrer anderen Tochter, die ältere meine ich – Mary Virginia?«
Sie waren gerade in die Rush Street eingebogen, als Nettie plötzlich an die Scheibe klopfte und dem Kutscher zu halten befahl. Verdutzt kletterte der Mann vom Bock und trat ans Fenster. »Ma’am?« sagte er und entblößte nervös lächelnd die Zähne.
»Wo bringen Sie uns denn hin?«
»Nach Hause, Ma’am. Rush Street sechshundertfünfundsiebzig.«
»Rush Street? Haben Sie den Verstand verloren? Wir haben einen Gast bei uns, den wir zunächst in die Astor Street bringen müssen, zum Haus der Martins.«
»Aber Mutter«, wandte Stanley ein, »ich habe Stevens aufgetragen, dich als erste abzusetzen, weil es doch auf dem Weg liegt – ich meine, es ist doch nicht nötig, daß du...«
»Mich abzusetzen? Wovon redest du da? Wir haben doch Miss Dexter eingeladen, also werden wir sie auch heimbringen. Wirklich, Stanley, ich bin erstaunt über dich – wo bleiben deine Manieren?«
»Nein, ich, also – ich wollte, nun, Miss Dexter selbst heimbringen, nachdem ich, nachdem wir...«
»Unsinn.«
Katherine verhielt sich still. Stevens stand draußen in der Kälte, die Pferde stampften und schnaubten, ein plötzlicher Windstoß schickte eine Salve von Laub und Papier durch die Straße. Stanley saß zwischen den beiden Frauen, er wagte Katherine nicht anzusehen, nicht auf diesem Schlachtfeld, nicht jetzt. »Ich habe nur an dich gedacht, Mutter, weil du doch ein krankes Herz hast und ich weiß, wie schlecht es für deine Beine und deinen Kreislauf ist, besonders für deine, nun, deine Füße, so... so eingezwängt zu sitzen, und ich dachte, nun, ich dachte eben, daß du es zu Hause bequemer hast.«
Er sah, wie das Gesicht seiner Mutter einen Grad härter wurde und sie dann abrupt nachgab, wie eine überspannte Feder. »Na gut«, sagte sie seufzend, und jetzt war sie die gebrechliche, sterbende Matriarchin (die sich allerdings paradoxerweise noch weitere achtzehn Jahre prächtiger Gesundheit erfreuen sollte), zu krank und entnervt, um Widerstand zu leisten. »Das ist sehr rücksichtsvoll von dir, Stanley. Fahren Sie, Stevens«, befahl sie mit matter Stimme. Und sie war geduldig, biß sich auf die Zunge, bis sie ankamen und Stanley ihr die Stufen hinauf und in die Eingangshalle des Hauses half, während Katherine in einen Pelzmantel gehüllt in der Kutsche saß und zusah, wie ihr Atem in der beißend kalten Luft kristallisierte. Dann, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte und Stanley ihr aus dem Mantel half, murmelte seine Mutter: »Ja, Stanley, du hast ja recht – und es ist so lieb von dir, daß du dich um deine arme Mutter sorgst. Natürlich kann Stevens Miss Dexter auch allein nach Hause bringen, und wir brauchen uns gar nicht darum zu kümmern, bei diesem bitterkalten Wetter und dem Wind. Es könnte sogar bald schneien, habe ich gehört.«
»Aber, aber« – Stanley hielt den Mantel seiner Mutter in der Hand, als wäre es der Pelz irgendeines wilden Tiers, das er gerade totgeknüppelt und abgebalgt hatte – »ich wollte doch, also, ich hatte vor, Katherine, ich meine, Miss Dexter – also, äh, sie heimzubringen, das heißt...«
Seine Mutter wandte ihm das bebende Gesicht zu und packte ihn am Arm. »Kommt nicht in Frage.«
»Aber nein, nein, versteh doch. Katherine wartet auf mich.«
»Blödsinn. Du wirst schön hierbleiben. In dem Wind da draußen holst du dir noch den Tod, und außerdem schickt es sich nicht, daß du ganz allein und ohne Anstandsperson mit ihr zusammen bist. Oh, vielleicht denken sich diese modernen Damen nichts dabei, aber glaube mir: ich werde so etwas nicht zulassen.«
Ehe er recht nachdenken konnte, hatte Stanley seinen Arm losgerissen. Das Blut stieg ihm ins Gesicht, und er hörte das Knacken der Dampfheizung und die leisen Lieder von Weihnachtssängern irgendwo auf der Straße. »Ich gehe«, sagte er, »und versuch ja nicht, mich aufzuhalten.«
Die Augen seiner Mutter loderten. Ihre Miene erinnerte an den dritten Akt einer Tragödie. Sie schwang ein imaginäres Schwert und trennte ihm den Kopf vom Rumpf ab. »Was?« fragte sie. »Du willst dich mir widersetzen?«
Stanley schob das Kinn vor. »Ja.«
Und dann rangelten sie, kämpften tatsächlich in der Tür miteinander, vor den Augen Katherines; seine Mutter krallte sich an seinen Arm, als würde sie in den tosenden Wogen versinken, die sie selbst herbeigerufen hatte, und Stanley befreite sich erneut, er wollte ihr nicht weh tun, weder körperlich noch gefühlsmäßig, aber als er sich losriß, ging sie mit einem Schluchzer zu Boden, der ihm beinahe den Atem nahm. Dies war der Augenblick der Wahrheit. Der Augenblick, auf den er seit fast dreißig Jahren gewartet hatte. Er richtete sich auf, schob die Schultern nach hinten und schlang den Schal fest um den Hals. »Ich gehe jetzt«, sagte er.
Katherine erwartete ihn. Sie sah ihn unverwandt an, als er aus dem Haus trat, die Einfahrt entlangging und wieder in die Kutsche einstieg. Er fühlte sich wie ein Held, dachte, er könne alles erreichen – den Himalaja bezwingen, eindringende Horden zurückschlagen, Schlittenhunde über die gefrorene Tundra peitschen. »Katherine«, sagte er, und der Rest des Tages und die ganze Stadt waren nur für sie da, nur für sie beide allein, »Katherine, ich wollte dir...«
»Ja?« Ihre Stimme klang leise und gedämpft, sie schwebte aus den Tiefen der sachte schaukelnden Kutsche empor, um der seinen zu begegnen. Ein versiegendes wäßriges Licht flackerte in den Fenstern. Stanley träumte, er sei in einem Unterseeboot, in dem er immer höher stieg, von allem abgeschirmt.
»Also, ich wollte dir...«
»Ja?«
»... von Debs erzählen, von Debs und dem, was er in seiner Arbeit... seiner, äh, letzten Arbeit geschrieben hat. Das war das Wichtigste, was ich...« Doch er konnte nicht weitersprechen. Nicht wirklich. Jetzt nicht mehr.
Im Februar verlobten sie sich heimlich, in Boston. Stanley fuhr Anfang des Monats mit dem Zug in die Stadt und nahm sich eine Suite im Copley Plaza. Nach einer Woche des Hüstelns und Räusperns und ausführlicher Diskussionen über Jack Londons Kindheit, die Gewerkschaftsbewegung, Kohlegruben und Staublungen und Stanleys Testament, in dem er sein Geld und sein sonstiges Vermögen gleichmäßig unter den 14000 McCormick-Arbeitern aufgeteilt hatte, stellte er ihr einen weiteren hypothetischen Antrag, und sie erstaunte und entzückte ihn mit ihrem Jawort. Allerdings nur unter der Bedingung, daß sie die Verlobung bis zum Ende des Semesters geheimhielten, da die Zeitungen sich garantiert darauf stürzen würden – PROMINENTE BOSTONIANERIN HEIRATET MCCORMICK-ERBEN –, und das wäre für sie zuviel der Ablenkung von ihrer Abschlußarbeit und dem Examen. Sie feierten sie bei einem Abendessen mit Josephine, die zu schweigen gelobte und ihnen einen atemlosen Monolog hielt über die dringende Erforderlichkeit – War das überhaupt ein Wort? –, die Dexter-Linie zu erhalten, ganz zu schweigen von den Moores und den McCormicks – Und aus welcher Familie stammte eigentlich seine Mutter? –, und wie sehr sie doch hoffte, Katherine werde nicht bei vier oder fünf Kindern aufhören, wo es doch in der Welt von Krankheiten nur so wimmelte, und wußte Stanley eigentlich, daß sie Katherines Bruder verloren hatten, diesen herzallerliebsten Jungen?
Er hatte davon gehört. Und er senkte den Kopf, zupfte bekümmert an seinen Hemdsärmeln und bot Josephine ein Taschentuch an, doch innerlich schwebte er auf allen Wolken, Hunde im Spiegel gab es jetzt keine mehr. Katherine liebte ihn. Unglaublich. Unwahrscheinlich. Unzweifelhaft, dennoch unfaßlich. Über den Tisch sah er sie schmachtend an, während der Suppe und des Fischgangs, und er schmachtete und strahlte und zwinkerte weiter, bis die Desserts zerkrümelt und die Kaffeetassen geleert waren, und nachdem sie auf das Grübchen seiner rechten Wange einen Gutenachtkuß gedrückt hatte, rief er einen alten Freund aus Princeton an und ging mit ihm bis in die frühen Morgenstunden Champagner trinken.
Am nächsten Nachmittag stand er wieder vor Katherines Tür, bleich und zitternd, sein Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft, die Augen schmerzten in den Höhlen. Es war niemand zu Hause, und das Mädchen ließ ihn nicht herein, also setzte er sich wie in Trance auf die Stufen und sah zu, wie die Eisschicht auf einer Straßenpfütze dicker wurde, bis Katherine heimkam und ihn so antraf. »Ich kann nicht zulassen, daß du es tust«, sagte er und erhob sich in einem Delirium aus Scham und Selbstverleugnung von dem kalten Stein.
Sie trug Pelzmantel und Schal, die Krempe ihres Huts flatterte im Wind, der vom Meer her durch die Straßen pfiff. »Daß ich was tue?« fragte sie. »Wovon redest du nur?« Ihr Lächeln erlosch. »Und was tust du überhaupt hier bei diesem Wetter – willst du dir den Tod holen?«
Geduckt, erbärmlich, verkatert, fröstelnd bis ins Mark, mit verklebten Adern und völlig tauben Fingerspitzen, konnte er die Worte nur herauskrächzen. »Daß du mich heiratest.«
Sie überlegte eine Weile, hielt Tasche und Bücher fest in den Armen, ihr Blick schweifte umher, die Hutkrempe flatterte, dann entschied sie, daß er scherzte. »Dich heiraten?« echote sie und grinste dabei. »Das hatten wir doch geklärt, dachte ich. Oder ist das ein verlängerter Imperativ des Verbs?«
»Nein, ich... so hab ich’s nicht gemeint. Ich will – ich kann nicht zulassen, daß du dir das antust, dein Leben so vergeudest an einen, an jemanden wie mich.«
Sie versuchte zu beschönigen, wollte den Arm in seinen schieben und ihn die Treppe hinaufführen, er aber riß sich los, in seinem Gesicht arbeitete es. »Stanley?« fragte sie. Und dann: »Ist ja alles gut. Beruhige dich. Komm doch, reden wir drinnen, wo es warm ist.«
»Nein.« Er stand bibbernd da und preßte immer wieder krampfhaft die Hände ineinander. In seinem Schnurrbart klebten Eisstückchen, wo der Atem kondensiert und gefroren war. »Ich verdiene dich nicht. Ich bin schlecht. Ich habe nie... ich werde niemals... Hast du meine Briefe nicht gelesen?«
Der Wind frischte auf. Auf der anderen Straßenseite gingen zwei Männer in langen Mänteln vorbei, die ihre Melonen mit den Händen festhalten mußten. Katherine sah auf einmal ein wenig unsicher aus. »Ich muß dir ein Geständnis machen«, sagte sie, dabei hielt sie den Kopf gesenkt und zupfte an den Fingern ihres Handschuhs. »Ich habe sie, ehrlich gesagt, nicht gelesen, jedenfalls nicht alle. Du schreibst wunderschön, das ist es nicht... aber sie waren alle so... ich weiß nicht, so deprimierend. Kannst du mir verzeihen?«
Stanley war wie vom Donner gerührt. Er vergaß alles – wo er sich befand, was er tat und wozu er gekommen war. »Du hast sie nicht gelesen?«
Ganz leise: »Nein.«
Ein langer Moment verstrich, in dem sie beide zitternd dastanden. Ein Paar in einer silbergrauen Viktoria warf ihnen einen pikierten Blick zu, als es mit klappernden Rädern und Hufen und Glöckchengebimmel vorbeifuhr. Stimmen spielender Kinder drangen zu ihnen, aufgeregtes Geschrei. »Nun, du solltest sie aber lesen«, sagte Stanley mit angespanntem, blassem Gesicht. »Vielleicht würdest du dann... deine Meinung ändern.«
Sie blieb standhaft, die unerschütterliche, aufrechte Katherine, und jetzt schlang sie doch den Arm durch den seinen. »Ich werde meine Meinung nicht ändern«, sagte sie. »Komm« – sehr geschäftsmäßig jetzt – »hilf mir mit meinen Sachen, bitte, ja?« Sie reichte ihm ihre Bücher, ehe er protestieren konnte, und zog ihn in Richtung der Tür.
Er schob sich die Bücher unter den Arm und ließ sich die Stufen hinaufgeleiten, wo Katherine ihre Handtasche vom Arm baumeln ließ und die Klingel drückte, statt nach dem Schlüssel zu suchen. »Die Briefe«, sagte er. Das Thema war noch nicht abgeschlossen. »Sie – sie sind noch gar nichts, sie berühren kaum das Wesentliche. Du hast ja keine Ahnung. Wie solltest du auch? Verstehst du, ich bin« – hier drehte er abrupt den Kopf von ihr weg – »ich bin sexuell verdorben.«
»Stanley, also wirklich«, sagte sie, und jetzt waren die Schritte des Hausmädchens zu hören, sie knallten im Korridor wie Schüsse. »Beruhige dich doch erst einmal – so schlimm kann es gar nicht sein.«
Er versuchte sich loszureißen, sie aber hielt an ihm fest. »Es ist schlimm«, stieß er mit einer Art Wiehern hervor, und sein gefrorener Atem entströmte ihm wie eine lebenswichtige Substanz. »Und ich muß es dir sagen, ich muß einfach.« Das Mädchen war jetzt an der Tür, der Riegel klickte bereits. »In aller Aufrichtigkeit, ich kann doch nicht – was ich dir sagen will, Katherine, du begreifst nicht. Ich bin... ich bin...« Er senkte die Stimme zu einem heiseren, kehligen Flüstern: »Ich bin ein Onanist
»Guten Tag, Madame«, sagte das Mädchen und öffnete die Tür. »Und Ihnen ebenfalls, Sir.«
Katherine verzog keine Miene. »Guten Tag, Bridget«, sagte sie und trat in die Eingangshalle mit dem mahagonigefaßten Spiegel, der Tiffany-Lampe und den Gardinen aus Nottingham-Spitze, wo sie sich mit einer eleganten Bewegung ihres Halses des Wollschals entledigte und dann die Arme hob, um ihre Hutnadeln zu lösen. Stanley starrte auf den Teppich. »Bringen Sie uns doch bitte etwas Tee in den Salon« bat sie das Mädchen. »Und ein paar Biskuits.«
»Oh, ich kann nicht...« sagte Stanley und studierte immer noch das Muster des Teppichs, »wirklich, ich muß gehen, ich...«
»Wir müssen miteinander reden, Stanley.« Katherines Tonfall ließ keinen Einwand zu. Sie machte eine ungeduldige Gebärde. »Komm, gib Bridget deinen Mantel, und wir setzen uns an den Kamin – du mußt ja völlig durchgefroren sein.«
Wiederum ließ er sich führen, schlurfend und vornübergebeugt, ein Mann von sechzig, achtzig, hundert Jahren, das Gesicht tief gezeichnet von Schmerz und Scham. Schweigend lauschten sie der Uhr, die soeben die halbe Stunde schlug – sechzehn Uhr dreißig, es wurde schon dunkel. Stanley rutschte unruhig herum. »Ich bin so schmutzig«, stöhnte er.
»Das bist du nicht. Ganz und gar nicht.«
»Ich bin für die Ehe nicht geeignet. Ich habe unreine Dinge getan.«
Sie ergriff seine Hand, und sie war ebenso durcheinander wie er, doch zu schaffen machte ihr nicht so sehr seine Enthüllung – gewiß war Onanie keine allzu erfreuliche Angewohnheit, nicht gerade ein Gegenstand, den man gerne beim Essen oder beim Kartenspiel erörterte, aber sie war Biologin, und als solche steckte sie diese Neuigkeit problemlos weg –, nein, ihr drängte sich der Gedanke an den Vorgang selbst auf. Immer wieder stellte sie sich Stanley vor, wie er, allein in seinem Schlafzimmer, Hand an sich legte und dabei vielleicht sogar an sie dachte, während er es tat, was ihr wohlige Schauer über den Rücken jagte. Sie konnte ihn vor sich sehen, nur in Socken, seine langen, kräftigen Beine, das blonde Haar auf Oberschenkeln, Brust und Unterleib, Stanley, ihr Verlobter, ihr Mann. Sie liebte ihn. Sie wollte ihn. Sie wollte mit ihm zusammen in diesem Schlafzimmer sein.
Wie sie war auch er unerfahren, da war sie sich sicher. Und das war ja das Schöne daran. Einerseits war er ein turmhohes körperliches Prachtexemplar von Mann und dabei doch so sanft und gefügig, so daß sie ihn lenken und formen und zu etwas Außergewöhnlichem modellieren konnte, zu einem Vater, der so wie ihr Vater wäre. Eine solche Aussicht bestand bei Burschen vom Schlage eines Butler Ames nicht – das waren grienende, altkluge, zu groß geratene Schuljungen, die Frauen wie Hüte anprobierten und Prostituierte aufsuchten, ohne sich viel mehr dabei zu denken, als gingen sie zum Friseur oder zum Schneider. Stanley aber, Stanley war noch unschuldig und biegsam – und deshalb war es so wesentlich, ihn von seiner Mutter wegzubekommen, diesem aggressiven, lähmenden, verdummenden Monster von Frau, die ihren Sohn zum Schoßhund degradiert und dabei fast entmannt hatte. Er mußte frei werden, das war alles, dann würde er wachsen können.
Katherine drückte seine Hand, als das Mädchen mit dem Teetablett in den Salon geklappert kam. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte sie. »Wirklich. Es sind nur deine Nerven, sonst nichts.«
Der Salon war warm und sicher, eingehüllt in seine Einzigartigkeit, in der Schwebe der Zeit. Katherine wartete, bis das Mädchen das Geschirr abgestellt und die Türe geschlossen hatte. »Es ist einerlei, was du getan hast«, flüsterte sie, und sie wollte sein Gesicht küssen, seinen vorspringenden Kiefer, die Stelle an seinem rechten Augenwinkel, wo eine Locke schaukelte wie ein loser Faden in einem prächtigen Wandteppich, »denn jetzt hast du ja mich.«
Im Juni wurde ihre Verlobung offiziell bekanntgegeben, und die Zeitungen von Boston, New York, Washington und Chicago setzten die Meldung auf die Titelseite, mit Berichten über beider Vermögen und Familiengeschichten, und ein Dutzend kleinerer Blätter, darunter auch der Princeton Tiger, schalteten größere Artikel. In den meisten davon wurde Stanley als »der Erntemaschinen-Erbe« geschildert, dazu als »Automobil-Enthusiast« und »leidenschaftlicher Maler«, und Katherine war, ganz schlicht, eine »prominente Dame der Bostoner Gesellschaft und promovierte Wissenschaftlerin mit Abschluß vom Massachusetts Institute of Technology«. Die Boston Post bezeichnete ihre Verlobung als »äußerst vielversprechende und zu höchsten Erwartungen Anlaß gebende Verbindung«, und der Transcript ließ sich sogar dazu hinreißen, von der »Hochzeit des Jahres« zu sprechen.
Josephine war begeistert, sie versandte links und rechts Telegramme, wählte bereits Bäcker, Floristen und Küchenpersonal aus und schwatzte sich in der feinen Welt Bostons von einem Salon zum nächsten. Nettie war weniger erfreut. In ihren Briefen – getrennt abgesandt – an Stanley und Katherine schien sie zwar die Verlobung als Fait accompli hinzunehmen, doch sie hielt mit ihrer Mißbilligung nicht hinter dem Berg, besonders in ihrem Schreiben an Katherine, in dem sie an der zukünftigen Schwiegertochter sowohl die Moral als auch die Bildung bezweifelte (von letzterer habe sie zuviel), außerdem ihren Geschmack bei der Wahl von Kopfputz und Schuhwerk, ihre Ernährungsgewohnheiten, ihre Religiosität und ihre Ehrlichkeit gegenüber ihrem, Netties, letzten und geliebtesten Sohn. Das Wort »Liebe« fiel kein einziges Mal. Was Stanley anging, so schien er ständig zwischen Chicago und Boston unterwegs zu sein, nervlich stark überreizt, wie besessen von den kleinsten Details – »Mit welcher Reissorte sollen wir uns von den Gästen bewerfen lassen, mit Arborio oder texanischem Langkorn?« –, und dann und wann, wenn er am Bahnhof auf die Männertoilette ging oder durch die Glastüren des Copley Plaza schritt, hatte er das leise Gefühl, wieder den Hund im Spiegel zu sehen. Aber er versuchte es abzuschütteln – nur keine Sorge, es war ja nichts – und konzentrierte sich statt dessen darauf, alle Zeitungsmeldungen über sie zu sammeln und auf roten Karton aufzuziehen, als Andenken für Katherine. Sie legten einen Termin im Herbst, der Lieblingsjahreszeit der Braut, für die Trauung fest.
Dann aber, gerade als alles gut voranzugehen schien und die schwierigsten Hindernisse überwunden waren, brach langsam alles zusammen. Auf einmal hatte Stanley rasendes Herzklopfen – er war fahrig und zitterte, sprang ständig auf, schüttelte nervös die Finger, so daß sie wie Kastagnetten rasselten, verrenkte den Hals und drehte dauernd den Kopf als Reaktion auf einen frenetischen inneren Rhythmus – und sein einziges Gesprächsthema war Mary Virginia. Oder genauer: Mary Virginia und seine Genitalien.
Eines Morgens, etwa zwei Wochen nachdem die Hochzeit verkündet worden war, kam er hüpfend und zapplig in das Haus in der Commonwealth Avenue, mit unstetem Blick, zerfahrenem Gesichtsausdruck, und redete so schnell, daß ihn niemand verstehen konnte. Er verängstigte das Mädchen, verstörte den Koch und jagte in einem Energieausbruch Josephines Katze bis in die obersten Balken der Dachkammer hinauf. Katherine, die sich gerade in ihrem Zimmer angekleidet hatte, trat in den Flur, um nachzusehen, woher der Lärm kam, sah Stanley an sich vorbei die Treppe hochrasen, immer der Katze hinterher, und er schenkte ihr nicht einmal einen Blick. Als sie ihn auf den Stufen der Dachkammer einholte, konnte er sich ihr gar nicht erklären – er litt an einem Anfall von Logorrhöe, die Wörter stolperten übereinander, kollidierten in seinem Denken, und er faselte in einem fort von etwas, das sie nicht recht verstand, außer daß er ständig den Namen seiner Schwester wiederholte. Sie hatte ihn noch nie so gesehen – hervorquellende Augen, das Haar völlig zerwühlt, jede Faser, jede Zelle seines Körpers in rasender Fahrt, wie ein führerloser Güterzug –, und da bekam sie Angst. Es gelang ihr, ihn nach draußen zu bugsieren, hinaus in den Sonnenschein und an die frische Luft, damit er es vielleicht bei einem Spaziergang loswurde, was immer es war.
Sie gingen die gesamte Commonwealth Avenue entlang, vom Public Garden bis zum Hereford Square und wieder zurück – eigentlich war es eher ein Dauerlauf als ein Spaziergang, denn Stanley legte ein beschleunigtes Tempo mit steifen Knien vor, und Katherine klammerte sich an seinen Arm und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten. Die ganze Zeit hindurch hörte Stanley nicht auf zu zittern und zu zappeln und von Mary Virginia, ihrer Krankheit und einem mysteriösen »Weiß« zu brabbeln, als steckte die Schwester irgendwo in einem Schneesturm, dabei saß sie sicher in der Obhut ihrer Ärztin auf einem großen, prachtvollen Anwesen in Arkansas. Erst als sie zum zweitenmal an ihrem Haus vorbeikamen – Stanley war inzwischen schweißnaß, und die Nachbarn warfen ihnen Blicke zu, manche schockiert, andere nervös, wieder andere belustigt –, wurde Katherine allmählich klar, worauf er hinauswollte.
Sie hüpfte neben ihm her und versuchte dabei, ihm ins Gesicht zu sehen, ihr Atem ging schnell, und ihre Laune war langsam am Tiepfunkt, doch es gelang ihr, eine kleine gekeuchte Rede zu halten. »In meiner Familie gibt es keine Geisteskrankheiten, Stanley«, preßte sie beim Luftschnappen hervor. »Weder mütterlicher- noch väterlicherseits, also sind die Chancen sehr gering, daß unsere Kinder solche Probleme bekommen, falls du dich deshalb sorgst – ist es das?«
»Sie ist krank«, sagte er, ohne das Tempo zu verlangsamen. »Sehr krank.«
»Ja«, stieß sie hervor, »ich weiß, und es ist auch ganz richtig, daß du das zur Sprache bringst, jetzt da wir heiraten werden, aber ich begreife nicht recht... können wir hier nicht einmal stehenbleiben, nur eine Minute lang?«
Es war, als hätte sie mit einer Flagge gewinkt oder heftig an einer Leine gezogen – er blieb ebenso abrupt stehen, wie er losgerannt war, die Füße dicht nebeneinander, einen Arm in den ihren geschoben; Schweiß stand ihm auf der Stirn, und auf seiner Hutkrempe zeichnete sich ein dunkler Nässebogen ab. »Das ist noch nicht alles«, sagte er und sprach dabei nicht zu ihr, sondern zu dem Boden unter seinen Füßen. »Das Schlimme sind meine Genitalien.«
»Deine was?« Sie waren vor einem Garten voller Rosen stehengeblieben. Bienen bohrten sich in die Blüten. Der Duft der Blumen wehte auf die Straße. Alles hatte einen Beiklang von Ruhe und Normalität – bis auf Stanley. Stanley zog Grimassen und starrte auf seine Schuhe. Und auch das wäre kein Problem gewesen, wenn nicht gerade zwei elegante junge Damen unter einem Spalier aus weißen und roten Rosen aus dem Garten getreten wären, sie beide mit prüfendem Blick gemustert und dann brüsk einen Bogen um sie geschlagen hätten.
»Meine Genitalien«, wiederholte Stanley.
Katherine betrachtete ihn einen Moment lang, seine Nasenlöcher, die wie zwei in den Kopf gebohrte Löcher wirkten, der auf dem Boden haftende Blick und alles andere an ihm, das sich in einem beständigen Schauer abwechselnd in Bewegung setzte und dann wieder zur Ruhe kam. Sie wartete, bis die beiden Frauen außer Hörweite waren. »Ja«, sagte sie. »Na schön. Was ist mit ihnen?«
»Ich – nun – ich... also ich meine, vielleicht sind sie beschädigt.«
»Beschädigt?«
»Von – na, du weißt ja... von meinen Angewohnheiten
Sie war eine geduldige Frau. Und sie liebte ihn. Doch dies war nicht die Art von Romanze, die sie sich erträumt hatte – weder wurde sie von stürmischer Leidenschaft dahingefegt noch mit geflüsterten Vertraulichkeiten und vergnüglichen Vorfreuden umworben – das hier war ein Seelendrama, es war verrückt. Ihr war heiß, sie schwitzte, und sie hatte eigentlich mit ihrer Mutter einkaufen gehen, nach Spitze für ihren Trousseau suchen wollen, statt dessen machte sie sich mitten auf der Straße zum Gespött der Leute, weil Stanley sich wegen einer Nebensächlichkeit aufregte – schon wieder. Sie hatte es satt. Die Furche, von der sie noch nichts wußte, tauchte zwischen ihren Brauen auf. »Wenn du so besorgt bist«, sagte sie, »warum gehst du dann nicht zu einem Arzt?« Damit wandte sie sich ab und stapfte ohne ihn davon.
Später am Tag rief er sie von seinem Hotel aus an, um ihr mitzuteilen, daß er ihren Rat befolgen und den nächsten Zug nach Chicago nehmen werde, wo er einen Spezialisten aufzusuchen gedachte. Gegen Ende der Woche sei er zurück, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Doch am Abend stand er wieder vor ihrer Tür, Bridget bekam einen hysterischen Anfall, ihre Mutter zog ein Gesicht wie ein straffer Knoten, und Stanley benahm sich ebenso seltsam wie am Morgen – oder sogar noch seltsamer. Er sei in den Zug gestiegen und bis nach New London gefahren, und immer noch sprach er so, als wäre ihm eine johlende Meute auf den Fersen und dies könnte die letzte Rede seines Lebens sein, doch dann habe er nochmals über ihre Situation nachgedacht und den Gegenzug zurück nach Boston genommen, weil es etliche Dinge gebe, die einfach nicht eine Woche lang warten könnten – ja nicht einmal bis zum nächsten Tag.
Sie musterte ihn längere Zeit. »Was für Dinge?« fragte sie dann, während sie ihn in den Salon führte und die Tür hinter ihnen schloß.
Er wirkte konfus und erregt, seine Bewegungen waren ruckartig und verkrampft. Er stieß eine Vase mit Gladiolen um, das verschüttete Wasser bildete einen dunklen Fleck auf der Tischdecke, doch er bemerkte es nicht einmal. »Dinge«, sagte er düster. »Grundlegende Dinge.«
Sie sah zu, wie das Wasser sich ausbreitete, den tiefsten Punkt suchte und dann langsam, aber stetig auf den Teppich hinabtropfte. Sie hatte eine Verabredung mit Betty Johnston, die sie am Abend besuchen wollte, und sie war etwas ungeduldig und überreizt. »Du mußt schon genauer werden, fürchte ich«, sagte sie. »Wenn ich gar nicht weiß, von was für vagen ›Dingen‹ du sprichst, wie soll ich sie dann mit dir diskutieren?«
Er zappelte und zuckte immer noch, verlagerte das Gewicht ständig von einem Fuß auf den anderen, wie ein Seiltänzer. »Es ist wegen uns«, sagte er. »Wegen unserer, wegen meiner...«
»Geschlechtsorgane?« bot sie an.
Er wandte das Gesicht ab. »Das solltest du nicht sagen.«
»Was nicht sagen? Aber darum geht es doch im Grunde, oder? Um deine Geschlechtsorgane? Ganz zu schweigen von deiner Hypochondrie? Sag mir, wenn ich mich irre, aber ist nicht genau das unser Thema? Bist du nicht heute früh abgereist, um dich von einem Spezialisten untersuchen und deine Besorgnis aufklären zu lassen?« Auf einmal fühlte sie sich erschöpft. Es schien alles so hoffnungslos, als hätte man sie in eine Decke gewickelt und kopfüber in diesen finsteren Fluß gestürzt, der Stanley war, und nun bekam sie keine Luft mehr. »Hör zu, Stanley«, sagte sie, und sie hörte das Rascheln von Röcken draußen in der Halle, ihre Mutter und Bridget lauschten offenbar an der Tür und zupften an Ärmeln und Knöpfen herum, »du mußt dich ein bißchen zusammenreißen. Du benimmst dich verrückt, merkst du das denn nicht?«
In diesem Moment hörte er mit dem Gezappel auf, ganz automatisch und übergangslos, erst jetzt schien er das tropfende Wasser und die umgekippte Vase zu bemerken, und als er sich vorbeugte, nahm sie an, er wolle sie wieder aufstellen, seinen Fehler korrigieren und wiedergutmachen. Doch als er die Vase vom Tisch aufhob – sie war aus schwerem Bleikristall mit scharfkantigem Zackenrand – und sie immer höher, wie einen Ball zum Wurf hinter den Kopf hob, da riß sie unwillkürlich den Mund auf und stieß einen gepreßten Schrei der Angst und Empörung aus, auch noch als der Spiegel hinter ihr in eine Flut von Glassplittern zerstob.
Ihre Mutter, der die Klauen der Enttäuschung das Gesicht zerfurchten, pflichtete ihr bei, daß es wohl tatsächlich das klügste sei, wenn sie eine Zeitlang nach Europa führe, um über alles nachzudenken. Es sei ja nicht das Ende der Welt – Zweifel seien durchaus verständlich, »die hatte auch deine Mutter, und was für ein anständiger Mann dein Vater dann gewesen ist!« Es sei normal – völlig normal – und kein Grund zum Weinen. Sie solle die Tränen trocknen, ihre Koffer packen und die Reise als den wohlverdienten Urlaub nach der vielen anstrengenden Arbeit betrachten, die sie am M.I.T. geleistet hatte. Ganz recht. Also los jetzt. Und stillgeschwiegen.
Am nächsten Morgen, während Stanley auf dem Weg nach Chicago war, um einen Spezialisten zu den Geheimnissen seines Körpers und Verstandes zu konsultieren, wies Katherine Bridget und die beiden jüngeren Dienstmädchen an, ihr das Gepäck für einen Aufenthalt von unbestimmter Dauer in Prangins zusammenzustellen. Sie hatte sich entschieden – es war die einzige Lösung –, aber warum fühlte sie sich dann so elend und deprimiert? Sie konnte nicht schlafen. Mochte weder Frühstück noch Mittagessen. Ihr tat alles weh, sie ächzte innerlich wie ein Schiff bei rauher See, verwandelte trockene Taschentücher in nasse, Nase und Augen führten Hochwasser, und sie legte sich am Nachmittag mit Kopfweh ins Bett. Die Hausmädchen schlichen auf Zehenspitzen an ihrer Tür vorbei, während ihre Sachen sich unter Gewisper in der Halle sammelten: Hutschachteln und Überseekoffer, alle Teile ihres Lebens gerieten plötzlich in Bewegung. So lag sie den langen Nachmittag hindurch da und sah zu, wie die Sonne über die zugezogenen Vorhänge wanderte, und sie hatte sich noch nie so verlassen gefühlt, nicht seitdem ihr Vater und ihr Bruder von ihr gegangen waren.
Aber das Weinen hatte wenig Sinn – Stanley war zuviel für sie, ein zu großes Heilungsprojekt, das wurde ihr jetzt klar, und seine ganze Person, die Vision, die sie von ihm gehabt hatte, lag in Scherben auf dem Boden des Salons. Sie mußte fort, das wußte sie, aber es würde ihr nicht leichtfallen. Denn auch wenn sie traurig war und darum kämpfte, sich gegen ihn und das Leben, das sie sich mit ihm erhofft hatte, zu stählen, mußte sie doch immer wieder daran denken, wie er in den Klauen seiner Mutter steckte, gepackt von Nettie dem Vampir, die ihn aussaugen würde, bis er als verschrumpelte, altersschwache, weißhaarige leere Hülle am Fuß ihres Totenbetts saß, auf dem sich der Staub wie Schneewehen türmte. Katherine konnte nicht zulassen, daß sie Stanley das antat – kein Mann verdiente solch ein Schicksal –, und überhaupt konnte sie nicht einfach fortgehen und Nettie das Feld überlassen. Sie war eine Dexter, und die Dexters gaben niemals auf.
Schlagartig stand sie auf und scheuchte das Personal herum, bückte sich über die Koffer und Schachteln und begann in einem wütenden Wirbelwind, alles wieder auszupacken: jedes Kleid, jeder Rock, jede Bluse kam zurück auf den Bügel und verminderte so das Gepäck, doch damit war sie auch nicht zufrieden, und bald spürte sie, daß ihre Bewegungen immer langsamer wurden, bis sich der Vorgang wieder umkehrte und sie die Koffer von neuem packte. Und warum? Weil sie in die Schweiz fuhr, nach Genf, nach Prangins, und dort würde sie bleiben, bis ihr alles klar war, bis sie in den Spiegel sehen und zu sich sagen konnte, daß nichts auf der Welt schöner war als Mrs. Stanley Robert McCormick zu sein. Und wenn sie das nicht konnte? Wenn sie es aufrichtig nicht konnte? Nun, dann gab es immer noch Butler Ames – oder die Butler Ames, die auf diesen folgen würden.
Die Schatten an der Wand wurden länger, und im Haus hatte sich eine bodenlose Stille ausgebreitet, als Bridget den Kopf zur Tür hereinsteckte. Ob Madame Hilfe brauche? Katherine blickte auf. Überall lagen Kleider, ganze Lawinen davon, dazu Hüte, Mäntel, Halstücher, Schuhe. »Ja«, sagte sie, »ja«, und als es Nacht wurde, herrschte wieder Ordnung: alles war gepackt, sortiert und organisiert, ihre Überfahrt auf einem Dampfschiff nach Cherbourg in drei Tagen fest gebucht.
Wie Stanley davon Wind bekam, sollte sie nie erfahren. Aber als die Gangway bereits hochgezogen und der Anker gelichtet war, als ihre Mutter und die Dienstboten inmitten der Abschiedsgäste feierlich in bedächtigem, traurigem Rhythmus ihre Taschentücher schwenkten, tauchte er auf einmal auf, zwei Kopf größer als jeder andere am Pier, ein Riese unter Menschen, und bahnte sich in voller Fahrt seiner manischen Energie einen Weg durch die Menge. Sie lehnte mit tausend anderen Passagieren an der Reling, ein Tüchlein tragisch an die Wange gedrückt, mit einer weißbehandschuhten Hand winkend, winkend, schon roch sie den Duft des Meeres, Kohlenqualm, toter Fisch und drittklassige Küche. Und da war er, Stanley, Stanley Robert McCormick, da stand er groß und aufrecht in der Junisonne und schrie durch das Pandämonium von Stimmen und Motoren und den zwei unwiderruflichen Pfiffen des Signalhorns etwas zu ihr hinauf.
»Katherine!« schrie er, und sie sah sein Gesicht und seine Züge nur verkleinert, wie von einem Berg oder dem Rand einer Wolke, doch irgendwie konnte sie selbst aus dieser Höhe seine Stimme hören, die den Lärm durchdrang und so deutlich war, als stünde er neben ihr. »Es ist alles gut«, rief er und wedelte mit etwas, einem Blatt Papier, es sah wie eine Bescheinigung aus, doch jetzt entfernte sich das Schiff rapide, so daß es ihr vorkam, als wiche das Dock zurück und sie bliebe unbeweglich haften. »Ich kann« – hier unterbrach ihn das Schiffshorn, dessen dröhnender, metallischer Baß jeden Gedanken und alles Verständnis zunichte machte, und so verklang Stanleys Stimme zu einem dünnen, aber beharrlichen Heulen von Verzweiflung und Hoffnung – »ich kann Kinder bekommen!«