3
Psychopathia
sexualis
Es war der zweite Tag nach ihrer Abreise aus Boston auf der New York Central Line, Massachusetts lag bereits hinter ihnen – und der halbe Staat New York auch. O’Kane studierte den Fahrplan und ließ die Namen der Bahnhöfe in seinem Kopf erklingen: Albany, Schenectady, Herkimer, Utica, Syracuse. Für ihn waren es exotische Reiseziele, jeder einzelne dieser Ortsnamen, die er seit Jahren hörte, aber niemals selbst zu sehen erwartet hätte – Städte, deren Namen so selbstverständlich auf den Lippen von Schlagzeugern und anderen weltgewandten Typen lagen, wie er sie bisweilen traf, wenn er im Schnellimbiß Bohnen mit Eiersalat in sich hineinschaufelte oder in einer Hotelbar einen Whiskey schlürfte, wobei er sich immer die allergrößte Mühe gab, nicht so ungebildet, beschränkt und provinziell zu wirken, wie er war. In Albany war er ausgestiegen, um bis zum Ende des Bahnsteigs und wieder zurück zu gehen, damit er später sagen konnte, er sei dortgewesen, aber er fand es nicht allzu aufregend – die ganze Zeit hatte er Angst, der Zug würde plötzlich aus dem Bahnhof rollen und ihn hektisch keuchend im Staub zurücklassen. Und was gab es da auch schon zu sehen? Gleise. Abfall. Eine tote Taube mit Beinen so starr wie Fensterkreuze und ein halbes Dutzend Klumpen von versteinertem menschlichem Kot.
Schenectady, Utica und die übrigen Orte betrachtete er aus dem Fenster, aber er wollte wach und munter und bereit zum Hinausspringen sein, wenn sie Buffalo erreichten, wo Präsident McKinley seinen letzten Schnaufer getan hatte, und er wollte auch die kanadische Grenze sehen, wenn sie über Ontario nach Detroit fuhren. Seine Mutter hatte ihm eine neue Kodak-Kamera geschenkt, um die Reise für sie festzuhalten, und er knipste brav jede pittoreske wie auch alltägliche Szene – den idyllischen Bach, das einsame Pferd auf der Weide, die Rückwand einer Scheune, die dringend gestrichen werden mußte –, doch vor allem wollte er Buffalo einfangen und festhalten. Das und Kanada. Und natürlich den Westen.
Nick und Pat saßen hinten im Waggon, in zwei roten Plüschsesseln, spielten Karten, rauchten Fünf-Cent-Zigarren und sahen aus wie Nabobs auf dem Weg zur Inspektion ihrer Teeplantagen. Dr. Hamilton saß in seinem Abteil und runzelte die Stirn über einem ledergebundenen Buch, das Federzeichnungen von Menschenaffen in ihrem natürlichen Habitat zeigte, und Mart war mit Cyrus jr. im vorderen Abteil, um Mr. McCormick zu bewachen. Und da Mr. McCormick ruhig war – vielmehr katatonisch: er lag mit angewinkelten Beinen da, die Augen starr zur Decke gerichtet, der Kopf fünfzehn Zentimeter über dem Kissen wie in der Luft arretiert –, hatte O’Kane nichts weiter zu tun, als aus dem Fenster zu schauen und zu warten, bis es Zeit für ihn wurde, Mart an Mr. McCormicks Bett abzulösen. Er starrte durch den zuckenden Schemen seines Spiegelbilds in den neutralen Schleier des Abends hinaus, sah dasselbe Gewebe aus Bäumen, Hügeln und Bächen, das er auch in den letzten eineinhalb Tagen gesehen hatte, wie auf dem Tablett wurde einem die Landschaft serviert, viel zuviel Landschaft, eine lange, ununterbrochene Bilderflut. Eine Ortschaft raste vorbei wie eine Halluzination: zwei Straßen, Wäsche auf der Leine, ein Hund, der auf einem schlammigen Hof an irgend etwas schnüffelte. Dann Bäume. Die gähnende Freifläche einer Farm. Und wieder Bäume.
O’Kane stand auf und streckte sich. Im Hinterkopf hatte er den unausgereiften Plan, den Waggon zu verlassen und sich durch den Zug einen Weg bis zum Speisewagen zu bahnen. Er stellte sich vor, wie ihm der Negerkellner dort eine Tasse schwarzen Kaffee eingoß und womöglich etwas Süßes dazu servierte, eine Portion Vanilleeis, vielleicht mit ein bißchen von diesem getrockneten Kanton-Ingwer bestreut, oder ein paar Bent’s Biscuits oder sogar ein Stück Torte. Der Mayflower-Waggon war der letzte in einer Kette von vierzehn, plus Lokomotive und Kohlenwagen, und da Dr. Hamilton es für zu riskant gehalten hatte, eine Köchin dabeizuhaben, nahmen sie alle Mahlzeiten im Speisewagen ein – als könnte Mr. McCormick in seinem derzeitigen Zustand irgend jemandem gefährlich werden. Hamilton ließ nicht einmal den Schaffner zum Saubermachen herein, so daß auch dies zu den Arbeiten gehörte, die die Pfleger übernehmen mußten, obwohl sich O’Kane nicht beklagen durfte, war er doch der Schlimmste von allen im Erzeugen eines ganz privaten Abfallhaufens aus Zeitungen, schmutzigem Geschirr und so weiter, und ständig vergaß er, wo er seine Socken oder Hosen in dem engen Abteil, das er mit Mart teilte, fallen gelassen hatte. Aber das Essen war gut, besseres hatte er nie bekommen, sechs Gänge beim Abendessen, mit einer Consommé am Anfang und einer Käseplatte vor dem Dessert und Kaffee, wirklich erstklassig und ein grenzenloser Luxus. Und das war schließlich zu erwarten, bei dem, was die McCormicks dafür springen ließen. Nick hatte ihm erzählt, sie hätten zwanzig Fahrkarten erster Klasse für die ganze Strecke von Boston nach Santa Barbara lösen müssen, um den privaten Waggon an den Zug hängen zu dürfen.
Aber er war müde. Er sollte wohl doch einen Spaziergang machen und sich die Beine vertreten, solange ihn niemand brauchte, und vielleicht würde er auch mehr als einen Kaffee trinken – er hatte unbedingt vor, in Buffalo wach zu sein. Er faltete die Hände hinter dem Kopf, drückte den Rücken durch und streckte sich wieder. Die letzten beiden Nächte hatte er nicht gut geschlafen – die vergangene wegen der Aufregung, endlich unterwegs zu sein, weil die Schienen den Takt mit seinem rasenden Herzen geschlagen hatten, bis er sich vorkam, als wäre er in einem Trommlerzug gelandet, rat-tat-tat, und im Stechschritt die lange staubige Straße bis nach Kali-for-ni-en. Die Nacht davor war er bei Rosaleen gewesen, ihre letzte gemeinsame Nacht unter dem Dach der netten kleinen Wohnung in der Chestnut Street, die irgendwie zu einem schweren Stein um seinen Hals geworden war, ein riesiger ausgehöhlter Stein voller Möbel und Babysachen, Töpfen und Pfannen und Zierdeckchen, der sich fest um seine Kehle schnürte – und das Wasser stieg immer höher. Aber es war ihre letzte Nacht, und Rosie war süß und feucht und zog ihn mit einer Heftigkeit an sich, die seinen Saft wieder und wieder steigen ließ, bis sie es die ganze Nacht trieben. Sie hatten ihre Streitigkeiten vergessen und sich vor seiner Abfahrt vertragen, ein schönes Abendessen hatte sie zubereitet, Lammkoteletts mit frischen Kartoffeln, dazu das Minzgelee, das er so mochte, das Baby warm und weich auf seinem Schoß und die ganze Zeit ruhig schlummernd wie ein kleiner Heiliger. Für wen wirst du dich entscheiden, hatte er sie knallhart vor die Alternative gestellt, für deinen Mann oder deinen Vater? Und sie hatte diesen schmelzenden, schüchternen, großäugigen Blick mit den hochgezogenen Brauen aufgesetzt und gesagt: Für dich, Eddie, für dich, und das war’s. Sie würde in ungefähr einemMonat nachkommen, mit den Frauen und den Kleinen von Nick und Pat, auf Kosten der McCormicks – sobald alles eingerichtet wäre. Und das war in Ordnung so. Fand er.
Der Zug ratterte unter seinen Füßen, und er war wieder ein Junge auf Skiern, sauste den steilen Hang hinter der Leimfabrik hinab, dann fand er erneut sein Gleichgewicht und rief Nick zu: »Ich glaube, ich vertret mir mal die Beine und geh eine Tasse Kaffee trinken – will noch irgendwer was haben?«
Nick war schlechter Laune. Er reiste nicht gern. Er war einmal den ganzen Weg von Washington/D.C. nach Boston gereist, zur Beerdigung seines Vaters – und zwar keineswegs in einem privaten Salonwagen, wie er ihnen schon an die hundertmal erzählt hatte –, und als er eintraf, lag sein Vater bereits zwei Meter tief unter der Erde, und das brach seiner Mutter für immer das Herz – drei Monate später starb sie dann ebenfalls. Und wären nicht Pat und Mart gewesen, müßte er sich nicht auch um ihr Fortkommen kümmern, dann würde er bestimmt nicht reisen. Er gab sich nicht einmal die Mühe, den Kopf zu drehen, und O’Kane mußte seine Frage wiederholen, bevor Pat endlich von seinen Karten aufsah und sagte: »Nein, nein danke, Eddie – für mich nichts.«
O’Kane blieb eine Weile stehen, der Waggon stampfte und rollte unter seinen Füßen, die Kronleuchter schwankten in einem Phantomwind, und die Landschaft raste zu beiden Seiten dahin, als könnte sie sie niemals einholen – und das würde sie natürlich auch nicht, denn sie ließen es ja alles hinter sich, alles und noch eine ganze Menge mehr –, dann beschloß er, zu Mart und dem Doktor hineinzuschauen und nachzufragen, ob sie irgendwas wollten. Er hatte gelernt, im Zug mit kleineren Schritten als sonst zu gehen und sich den Bewegungen des Wagens anzupassen, aber er war unsicher auf den Beinen und schlurfte die lange rote Zunge des Bodenläufers entlang wie ein Betrunkener auf dem Weg ins Bett. Unmittelbar neben dem Abteil des Doktors knallte er gegen die Wand, aber die Tür war geschlossen und von innen drang kein Geräusch heraus, deshalb ging er einfach weiter, bis er zum letzten Abteil zur Linken kam, dem von Mr. McCormick, und steckte den Kopf zur Tür hinein.
Mart saß neben dem Bett, im Licht der Gaslampe, ein Buch aufgeschlagen im Schoß. Das Buch gehörte Mr. McCormick – ein dicker, schön gebundener Roman mit dem Titel Der Seewolf, eines von den zwei Dutzend Büchern, die ihnen Mrs. McCormick noch untergejubelt hatte, kurz bevor sie Boston verlassen hatten. Sie war eine Viertelstunde nachdem sie ihren Mann in den Zug getragen und in seinem Abteil untergebracht hatten, auf dem Bahnsteig erschienen, und sie wandte sich an O’Kane, obwohl Pat und Mart gleich neben ihm standen, mitten in einem Chaos aus Gepäck und Gepäckträgern und den zwei sargartigen Schrankkoffern mit der Aufschrift HAMILTON, die sie noch in den Waggon wuchten mußten. »Mr. O’Kane«, rief sie und eilte den Bahnsteig entlang auf ihn zu, in einem Kleid von der Farbe blauer Trauben, neben sich ihren kleinen, wieselgesichtigen Chauffeur.
O’Kane war wie vom Donner gerührt. Er hatte sie seit jenem Vormittag im McLean nicht wiedergesehen, und nun lief sie auf ihn zu, rief in aller Öffentlichkeit seinen Namen, ihr Gesicht freundlich und lebhaft, und ihre Rocksäume schlugen beim Laufen gegen die Fußknöchel, legten die dunklen, gerippten Strümpfe und die Schnallenpumps frei, als gäbe es nichts Natürlicheres auf der Welt. Mühelos glitt sie durch das Gedränge, und er stellte überrascht fest, wie groß sie war, größer als in seiner Erinnerung – eins dreiundsiebzig oder sogar eins fünfundsiebzig, und da waren schon drei Zentimeter für die Absätze abgezogen. O’Kanes Lächeln formte sich nur langsam, fast verstohlen, und ehe er sich recht sammeln konnte, stand sie schon vor ihm mit ihrem breitkrempigen Hut und dem bestickten Schleier und den traubenblauen Handschuhen. Er war ein Dummkopf. Ein Bauerntölpel. Er sagte nicht: »Hallo«, sondern: »Ja?« wie der Verkäufer in einem Schuhgeschäft.
Der Chauffeur musterte ihn. O’Kane mochte ihn auf den ersten Blick nicht, als sie einander kennenlernten – oder vielmehr in die Gesellschaft des anderen gestoßen wurden. Er war ein kleiner Kerl, noch kleiner, als er anfangs gewirkt hatte, vor allem im Gegensatz zu Mrs. McCormick – zu Katherine. Er trug eine dieser Dienstbotenmützen und hatte massenhaft braun eingewickelte Pakete in den Armen.
»Ich hatte Angst, wir würden Sie verpassen«, keuchte sie und stieß jede Silbe einzeln hervor, um zu beweisen, wie sehr sie sich beeilt hatte. Ihr Gesicht war leicht gerötet – oder bildete er sich das nur ein? Und wenn ja, warum wollte er, daß es gerötet wäre? Es ging ihn doch gar nichts an. Sie sah ihm jetzt fest in die Augen, und er versuchte, dem Blick standzuhalten. »Ich war mit meiner Mutter weit draußen in Brookline, und wir sind den ganzen Weg hierhergerast... aber es hat ja noch – geht es meinem Mann gut? Hat er es bequem?«
»Ja, ja«, versicherte ihr O’Kane, »wir haben ihn vor einer Viertelstunde hineingetragen, und im Moment ist Nick bei ihm im abgeschlossenen Abteil, aber er ist immer noch blockiert und sich seiner Umgebung nicht so recht bewußt...«
Darauf hatte sie nichts zu sagen. Obwohl sie ihn nicht hatte besuchen dürfen, mußte sie den Zustand, in dem sich ihr Mann befand, genau kennen. O’Kane hatte es schon oft gesehen, zu viele Male, um sie zu zählen. Bei dieser Art von Katatonie verkrampfte sich der Patient so sehr, daß er nicht mehr gehen oder essen konnte, und er verstummte völlig, als hätte er niemals sprechen gelernt. Manchmal erstarrte er in einer ganz bestimmten Haltung, wie eine lebende Skulptur, um dann, ohne Vorwarnung, in alle möglichen heftigen Verrenkungen auszubrechen, als wäre die aufgestaute Energie, Angst und Rage plötzlich wie eine Blase in ihm aufgeplatzt. Während des letzten Monats hatten sie Mr. McCormick zwangsernährt, Schlauch in den Hals, Brei in den Trichter, und er oder Nick oder einer der anderen Pfleger mußte die Kehle des Patienten massieren, um sicherzustellen, daß er das Essen auch schluckte und nicht daran erstickte. In der Irrenanstalt von Boston war einmal ein achtzehnjähriges Mädchen an so etwas gestorben, das Essen hatte die Luftröhre verklebt, und O’Kane erinnerte sich auch an einen alten Mann, der zu Tode verbrüht worden war, als sie seinen erstarrten Körper ins Badewasser hoben, das vorher niemand kontrolliert hatte, und der Bursche war so hinüber gewesen, daß er überhaupt nicht gezuckt und geschrien oder sonstwie reagiert hatte.
Sie blickte auf ihre Schuhe und hob dann wieder den Kopf, um an O’Kane vorbei auf Pat und Mart zu sehen, die sich gerade abmühten, einen der Schrankkoffer des Doktors in den Waggon zu stemmen. »Ich habe ihm noch ein paar Sachen gebracht«, sagte sie, und das war das Signal für den Chauffeur, sich seiner Last zu entledigen und die Pakete ohne Umschweife O’Kane in die Arme zu schieben. Es waren sechs, und wären sie mit Goldbarren gefüllt gewesen, hätten sie kaum schwerer sein können. »Bücher, größtenteils«, sagte sie, »aber ich habe auch zwei Schachteln mit seinen Lieblingspralinen dazugetan, die eingewickelten von Schrafft’s, und etwas Briefpapier, falls er – also, wenn ihm nach Schreiben sein sollte. Und solange es meinem Gatten nicht gut genug geht, daß er selbst lesen könnte, erwarte ich von Ihnen und den übrigen Pflegern, daß Sie sich zu ihm setzen und ihm vorlesen. Sie glauben gar nicht, wieviel so etwas ausmacht.«
O’Kane war kein großer Bücherleser, und er bezweifelte, daß selbst die Wiederkunft Christi samt all seiner Engel und Posaunen, live im Salonwagen aufgeführt, auf Mr. McCormick in seinem derzeitigen Zustand allzuviel Eindruck machen würde. Aber sie zahlte die Rechnungen, und O’Kane war auf dem Weg nach Kalifornien. »Natürlich, wir lesen ihm gerne etwas vor«, sagte er und probierte es mit seinem Lächeln von grenzenloser Aufrichtigkeit – dasjenige, das er für jedes Mädchen und jede Frau aufgesetzt hatte, die seinen Pfad kreuzten, ehe Rosaleen auf ihn gestoßen war. »In dieser Hinsicht können Sie ganz beruhigt sein.«
Jetzt aber, als er sich sachte im schwankenden Türrahmen wiegte und auf die leblose Gestalt seines Arbeitgebers und die breite, stoppelige Fläche von Marts Hinterkopf starrte, der sich über das offene Buch beugte, wurde ihm klar, daß der arme Mr. McCormick sich in seinem armen blockierten halluzinatorischen Hirn allenfalls seine eigenen Bücher zusammenträumen konnte. »He, Mart«, sagte er, »ich geh jetzt einen Kaffee trinken und vielleicht einen Happen essen – willst du irgendwas?«
Mart fuhr auf seinem Sitz herum und sah ihn abwesend an, die ausgebreiteten Schwingen des Buchs flatterten auf seinem Schoß. Alle drei Thompson-Brüder waren mit wuchtigen Köpfen geboren worden, wie Bulldoggen – ein Wunder, daß ihre Mutter auch nur einen von ihnen überlebt hatte –, doch das schien bei ihnen nicht dieselbe Wirkung zu haben wie bei einigen Hydrozephalus-Patienten auf der Station. Niemand würde einen der Brüder für ein Genie halten, aber sie kamen ganz gut zurecht – besonders Nick –, und Pat und Martin würden ihr Leben für einen opfern. Mart war schlecht im Zusammenzählen, und eine einfache Division überforderte ihn, aber er war eine Leseratte, und abgesehen davon, daß der Abstand zwischen seinen Augenbrauen und dem Haaransatz zu groß war und er sich seine Hüte extra anfertigen lassen mußte, wäre niemandem etwas Besonderes an ihm aufgefallen. Außerdem, wenn man es recht bedachte, mußte man nicht unbedingt ein John Stuart Mill sein, um einen Paranoiker auf den Boden zu drücken oder einen Trupp Schwachsinnige für ein paar Leibesübungen auf den Hof zu scheuchen.
»Gutes Buch?« fragte O’Kane.
»Hä?«Mart kratzte sich am Hinterkopf, die stumpfen Finger gruben sich genüßlich und breiträumig zu der weißen Kopfhaut durch. »Och ja, schon. Es ist eine Geschichte übers Seefahren.«
O’Kane versuchte es noch einmal. »Soll ich dir eine Tasse Kaffee aus dem Speisewagen mitbringen?«
Darüber mußte Mart nachdenken. Er ließ die Pünktchen seiner Augen auf O’Kane ruhen, während der Zug in allen Kupplungen ratterte, weil er gerade über ein etwas holpriges Gleisstück donnerte, was sie daran erinnerte, daß sie sich allem Anschein zum Trotz nicht in einem Haus, Hotel oder Gasthaus befanden, sondern durch die einbrechende Nacht rasten, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die für menschliche Wesen eigentlich nicht zuträglich war.
Das Buch klappte abrupt zu wie ein Gebiß und segelte quer durch das Abteil; O’Kane mußte sich am Türrahmen festhalten, um Mart nicht mitten auf den Schoß zu fallen. Er fing sich gerade noch und sah instinktiv zu Mr. McCormick hinüber, doch ihr Arbeitgeber lag ungerührt und unverändert da, legte diese schwere Wegstrecke wie ein Fussel auf einer Decke zurück, die Augen feucht und unbewegt, ein dünner Speichelbach rann ihm aus dem Mundwinkel und breitete sich auf der einen Wange aus. Sein Gesichtsausdruck war höchst seltsam, halb gelindes Erstaunen und halb unheiliges Entsetzen, als hätte er etwas verlegt – seinen Schirm oder sein Scheckbuch – und wäre sich gerade klargeworden, daß es unter einem Haufen verwesender Leichen lag. Sein Haar war gekämmt und sauber gescheitelt, und er trug Anzug, Krawatte und einen steifen Kragen, gemäß den Anordnungen der McCormicks für seine Tagesgarderobe – als rechneten sie damit, daß er jederzeit aus dem Bett springen, die Krankheit abschütteln und zurück ins Büro gehen könne.
»Schwarz«, sagte Mart schließlich. »Zwei Stück Zucker. Löst du mich dann bald ab?«
Immer noch in den Türrahmen gedrückt, während der Zug auf einer längeren Geraden schneller wurde und die Räder erneut ihr sanftes, beruhigendes Geratter aufnahmen, fischte O’Kane seine Taschenuhr hervor. »Na ja, ich hab noch etwa eine Stunde lang frei«, sagte er. »Ich glaub, ich setz mich eine Weile in den Speisewagen oder vielleicht in den Salonwagen, damit ich mal ne andere Aussicht kriege...«
Er erhielt keine Antwort. Mart starrte ihn nur an.
»Mart, das war ein Witz – von wegen andere Aussicht?« O’Kane machte eine Geste in Richtung der Fenster und der draußen vorbeirasenden Schemen. Immer noch nichts. Achselzuckend gab er auf. »Na, jedenfalls gib mir zwanzig, dreißig Minuten, dann komm ich mit dem Kaffee für dich wieder, abgemacht?«
Der Zug ruckte wieder, ein plötzlicher, heftiger Schlag, der den ganzen Wagen wie ein Ruderboot schwanken ließ, und das Buch rutschte über den Fußboden, als wäre es an einer Schnur befestigt. Davon abgelenkt, antwortete Mart weder ja noch nein – er hob wortlos das Buch auf und blätterte es durch, bis er die Seite wiedergefunden hatte. Dann schwang er die Beine herum, machte es sich auf dem Stuhl bequem und räusperte sich. »Sie erinnern sich sicher noch an die Geschichte, Mr. McCormick«, sagte er und sprach zu einer Stelle an der Wand knapp über dem Kissen und der erstarrten, blutleeren, maskenhaften Grimasse ihres Arbeitgebers. »Der Hai hatte Mugridge den Fuß abgebissen, und Humphrey wurde gerade klar, wer die Frau war.« Von Mr. McCormick kam keinerlei Reaktion, und als O’Kane sich zum Gehen umdrehte, hörte er, wie Mart mit leiser, zögernder Stimme vorzulesen anfing: »Zu den lebendigsten Erinnerungen meines ganzen Lebens zählt jene an die Vorgänge auf der Ghost während der vierzig Stunden, nachdem ich meine Liebe zu Maud Brewster entdeckt hatte...«
O’Kane ging ans vordere Ende des Wagens, wobei er sein inneres Gyroskop ständig neu auf die kleinen Stöße und Finten der Zugräder einstellte, und überlegte, ob er sich vor dem Kaffee im Salonwagen einen Whiskey oder zwei als zusätzliches Stimulans genehmigen sollte. Mit dem Schnaps hatte er kein Problem, obwohl er seinen Vater zugrunde gerichtet hatte – und dessen Vater davor –, er konnte es tun oder lassen. Heute aber war ihm danach, und je länger er daran dachte, desto mehr konnte er ganz hinten in der Kehle schon die Vorfreude darauf schmecken, und er fühlte das Rauschen seines Blutes, das jetzt leise Whiskey-Botschaften an sein Hirn übermittelte. Er trug den neuen Anzug, den er beim Sears-Roebuck-Versandhaus bestellt hatte, noch ehe er seinen Donegal-Tweed ruiniert hatte – beide Mrs. McCormicks bestanden darauf, daß jeder von Mr. McCormicks Betreuern sich zu jeder Gelegenheit wie ein wahrer Gentleman kleidete, denn Mr. McCormick war ein Gentleman und die Gesellschaft von Gentlemen gewohnt –, und er blieb kurz stehen, um sein Spiegelbild in der vergitterten Glasscheibe der Waggontür zu bewundern. Heute sah er ungewöhnlich gut aus, fand er, in dem schicken blau-schwarz karierten Kammgarnanzug von Hecht & Co., die glänzendschwarze Fliege auf dem brandneuen Kragen – wie ein feiner Pinkel, wie einer, der sein Geld in Orangen oder in den Ölfeldern von Goleta angelegt hatte. Und noch dazu hatte der Anzug nur dreizehn Dollar fünfzig gekostet, obwohl diese Ausgabe seine Ersparnisse aufgebraucht und Rosaleen veranlaßt hatte, kreischend und fauchend durch die Wohnung zu rasen wie eine Hexe auf ihrem Besen.
Jedenfalls hatte er gerade den Schlüssel im Schloß herumgedreht, als er plötzlich ein scharfes Zischen hinter sich wahrnahm, als ließe jemand die Luft aus einem Ballon, und selbst als er über die Schulter zurückblickte, wo sich ihm das erstaunliche Bild eines aller Schwerkraft zum Trotz durch die Luft fliegenden Martin bot, wurde ihm nicht sofort klar, was da geschah. Erst als Mr. McCormick eine halbe Sekunde später aus der Tür stürzte, stellte O’Kane die Verbindung her, Sehen und Verstehen vermählten sich im Zeitraum eines einzigen Herzschlags: Mr. McCormick war los. Von der Blockade befreit, aufgetaut, entfesselt. Und in Bewegung. O’Kane zog den richtigen Schluß, zugleich aber beging er einen fatalen Fehler. In der Motorik des Augenblicks gefangen, in dem Mart zusammengesunken vor der Wandvertäfelung lag wie ein alter Teppich und Nick und Pat von ihrem Kartenspiel aufsprangen, um ihren Arbeitgeber und Wohltäter abzufangen, der in einem wilden Furioso aus Armen, Beinen, Füßen und Fäusten den Gang entlangraste, warf sich O’Kane ihm entgegen und vergaß den Schlüssel in der Tür.
Er war ein großer Mann, dieser Mr. McCormick, kein Zweifel, mit dreiunddreißig Jahren im besten Alter, mit einer beträchtlichen Reichweite und auch den Muskeln, um sie sich zunutze zu machen, und wenn er einen Anfall hatte, konnte er jedem Mann Paroli bieten, vielleicht sogar dem großen John L. Sullivan selbst. Er zögerte keine Sekunde. Mit zusammengepreßten Kiefern, die Augen so tief in die Höhlen seines Schädels gesunken, daß sie nicht mehr wie menschliche Augen aussahen, stürmte er wortlos voran. Mit dem Schrei »Nein, nein, Mr. McCormick, nein, nein!« packte Nick seine rechte Seite, während Pat ihn von links anging.
Ihre Bemühungen waren umsonst. Nick rutschte an seiner Beute ab und flog in einem Scherbengetöse von Kristallglas auf einen niedrigen Mahagonitisch, und Pat, dem es gelungen war, die Arme um Mr. McCormicks Hals und Schultern zu schlingen, steckte ein halbes Dutzend kräftige Jabs in den Unterleib ein und fiel von ihm ab wie ein nasser Mantel. Mr. McCormick war für vernünftige Argumente nicht empfänglich. Mr. McCormick war im Griff seiner Dämonen, und seine Dämonen schrien nach einem Blutopfer. Es hatte keinen Sinn, ihn zu ermahnen oder Kraft auf bloße Worte zu verschwenden, und deshalb senkte O’Kane die Schulter und stürzte ihm wie ein Footballverteidiger die ganze Länge des Waggons entgegen. Leider war auch Mr. McCormick in voller Bewegung, nachdem er Pat von seinem linken Bein abgeschüttelt hatte, und so trafen sie in der Mitte des Wagens frontal aufeinander.
Daß sie aufeinandertrafen, das wußte O’Kane sicher, aber danach wurden die Dinge etwas verschwommen. Etwas Spitzes, Knochiges, irgendeine ausladende Extremität, hart wie Kalkstein, kam mit der linken Seite seines Stirnbeins in Berührung, und einen Moment lang wußte er nicht genau, wo er war – oder wer er war. Mr. McCormick dagegen war nicht einmal außer Atem und hatte irgendwie auf den Beinen bleiben können, seine Knie und Ellenbogen stießen zu, und eine Art langgezogenes Meckern entrang sich seinem Innersten, ziegenartig und dumm. »Raaauuuus!« schien er zu sagen. »Raaauuuus!« Und dann war O’Kane auf den Knien, Pat und Nick krebsten hinter ihm herum, der ebenfalls aufgestörte, aschfahle Doktor kreischte unverständliche Kommandos, und Mr. McCormick stand an der Tür, und in der Tür steckte ein Schlüssel, und dieser Schlüssel drehte sich unter dem konzentrierten Druck von Mr. McCormicks langen, geschickten und tadellos gepflegten Fingern.
O’Kane sah diesen Schlüssel und glaubte, sein Herz würde platzen. Was tat er da? Was hatte er sich gedacht? Das war sein Schlüssel dort im Schloß, und das würde Dr. Hamilton sehr bald herausfinden und ihm dafür die schlimmste Standpauke seines Lebens halten, vielleicht würde er ihn auch wegen Vernachlässigung seiner Pflichten und eines weiteren Verstoßes gegen die »drei Ps« (Ein Patient darf niemals Zugang zu den Schlüsseln bekommen, niemals!) feuern. Während O’Kane verzweifelt vorwärtshechtete, sah er Orangenhaine, jasminbewachsene Pergolen und laszive Señoritas wie eine Fata Morgana dahinschwinden. Obwohl er mit vollstem Einsatz durch den Waggon sprintete, Nick und Pat dicht auf den Fersen, konnte er nur entsetzt zusehen, wie Mr. McCormick die Tür aufriß, sich kopfüber in den Verbindungsgang stürzte und nach der Tür zum Nachbarwaggon griff... und was für ein Waggon war das? Ein Schlafwagen. Ein luxuriöser Pullman-Schlafwagen mit Wandgemälden, Kronleuchtern, bequemen grünen Plüschsitzen, die sich zu Betten ausklappen ließen – und mit Frauen. In diesem Waggon waren Frauen.
»Haltet ihn zurück!« brüllte Nick. »Er hat einen Schlüssel!«
Aber es war zu spät, um ihn noch zurückzuhalten. Er war im Nachbarwagen, seine eckige Figur schleuderte im Laufen hin und her, schon sah man von ihm nur noch ein Paar auf und ab zuckende Schultern, die weit vorn in der langen Röhre des Gangs rasch verschwanden. Als O’Kane die Tür zum Schlafwagen erreichte, war Mr. McCormick bereits an dessen anderem Ende, in seinem Kielwasser glotzten blasse verschreckte Gesichter aus den Abteilen, ein ältlicher Herr lag niedergestreckt mitten auf dem Bodenläufer wie eine erschlagene Fliege, der Zug kreischte auf den Gleisen, und die ganze dunkle Welt war aufgewühlt von rasender Bewegung. O’Kane war in der High-School der schnellste Läufer gewesen, ein geborener Sportler, und er legte sich voll ins Zeug, setzte über den alten Mann hinweg, stieß Passagiere und Schaffner beiseite, und trotzdem behielt Mr. McCormick seinen Vorsprung, keuchend und mit hochgerecktem Kopf lief er auf seinen langen Beinen wie auf Stelzen. Er gelangte zum Kopfende des Schlafwagens, zog die Tür auf und verschwand im nächsten Waggon.
Was O’Kane in diesen gehetzten Momenten durch den Kopf ging, unterschied sich womöglich nur wenig von dem, was im verwirrten Hirn seines Arbeitgebers ablief, ein wirbelnder instinktgesteuerter Prozeß, der sämtliche Gedanken übertünchte und das limbische System die Macht übernehmen ließ: Jagen und Flüchten, eine schlichte Sache. O’Kane war kämpferisch und klug, ein Mann von Härte, der alles mögliche durchstehen konnte, überall und jederzeit, und er war entschlossen, seinen Willen durchzusetzen. Und Stanley? Stanley war wie ein zusammengezwirbeltes Gummiband gewesen, nur halb so lang wie normal, das jemand plötzlich losgelassen hatte, er war ein Korken, der aus der Flasche schoß, eine Gewehrkugel auf der Suche nach der Mauer, die sie bremste.
Im Speisewagen holte O’Kane ihn schließlich ein, aber nur weil Mr. McCormick dort von einem Fahrgast an einem der Tische abgelenkt worden war, einem Fahrgast, der das Pech hatte, zu jenem Geschlecht zu gehören, das Mr. McCormicks Nemesis und Obsession zugleich war: einer Frau. Die wilde Jagd war durch drei Waggons gegangen, angeführt von Mr. McCormick in seiner pendelnden, zuckenden schulterbetonten Gangart, der vorzuhaben schien, durch den ganzen Zug zu rennen, quer über den Kohlenwagen und die Lokomotive hinwegzustürmen, um sich vorne auf den Schienenräumer zu hocken und dort für den Rest der Fahrt nach Kalifornien mit den Zähnen Insekten einzufangen. Aber da saß eine junge Frau im Speisewagen, das Gesicht dem Zugende zugewandt, und nahm beim Kerzenschein ein elegantes Abendessen mit einer älteren Dame ein, die ihre Mutter oder eine Reisegefährtin sein mochte, und O’Kane sah voller Grausen zu, wie Mr. McCormick bei ihrem Anblick abrupt stehenblieb, den Kopf zurückwarf wie ein Reitpferd, das die Kandare spürt, und sich gleichzeitig nach links wandte und auf die Frau fiel. Oder nein, er fiel nicht einfach – er stürzte sich mit voller Wucht auf sie. Teller rutschten zu Boden, Essen flog durch die Luft, und die ältere Dame stieß einen Schrei aus, der den Lack von den Wänden schabte.
»Mr. McCormick!« hörte sich O’Kane ausrufen wie ein Aufseher auf dem Schulhof, und dann war er über ihm, packte die heftig arbeitenden Schultern des größeren Mannes in dem Versuch, ihn von seinem Opfer abzureißen wie einen Streifen Klebeband und so alles wiedergutzumachen, während die junge Frau sich ächzend unter dem unerklärlichen Gewicht wand und Mr. McCormick ihre Kleider zerfetzte. Es war ihm gelungen, sich selbst teilweise zu entblößen, ihr das Mieder aufzureißen und ihren Hut wie einen Knäuel Polstermaterial zu zerknüllen, als O’Kane ihm endlich den rechten Arm auf den Rücken drehen und dort etwas überzeugenden Druck ausüben konnte. »Was Sie da tun, ist nicht recht, Mr. McCormick«, sagte er beschwörend, »das wissen Sie doch«, und er sagte es wieder und wieder, wie ein Gebet, aber ohne jeden Erfolg. Mit dem freien Arm um sich schlagend wie ein Wesen, das man in einem triefenden Fangnetz aus dem Meer gezogen hatte, hörte Mr. McCormick einfach nicht auf, schob seine linke Hand in die verletzlichste Stelle der Dame und – hiervon war O’Kane am meisten schockiert – nutzte die körperliche Nähe, um den blassen Lappen seiner Zunge hervorzustrecken und an ihrer Kehle zu schlecken wie an einer Eistüte. »Hören Sie auf!« donnerte O’Kane, verstärkte seinen Polizeigriff und riß ihn mit aller Kraft nach hinten, und dennoch war es nicht genug.
In diesem Moment trat Nick auf den Plan. Inmitten des Tohuwabohus, des Gefuchtels und Geschreis, der vergeblichen Ermahnungen, des scheppernden Geschirrs und der auf dem Schoß der älteren Dame gelandeten gebratenen Long-Island-Ente schoß zuerst Nicks mächtiger Kopf, dann seine wuchtige rechte Faust über O’Kanes Schulter hinweg, und er versetzte ihrem gemeinsamen Arbeitgeber einen Schlag gegen die Schädelbasis, von dem er auf der Stelle zusammensank. Gemeinsam zogen sie ihn von der verängstigten jungen Frau herunter und schleppten ihn durch den Gang zurück wie einen leeren Anzug, womit sie alle Entschuldigungen, Rechtfertigungen, Erklärungen und Entschädigungsangebote Hamilton, Pat und dem sehr blassen und zerknitterten Mart überließen, die sich gerade durch die Tür am Ende des Waggons drängten.
Der Doktor war hochrot im Gesicht. Sein Kneifer blitzte an der Schnur um seinen Hals, und seine Augen hüpften umher wie Billardkugeln nach einem sauberen Anstoß. »Fixieren!« war alles, was er hervorbrachte, während er von der erschlafften Gestalt des Patienten auf O’Kane, Nick und die Verwüstung weiter vorn blickte. Die Lichter flackerten, der Zug schaukelte dahin. Ein Dutzend verschreckter Gesichter starrten von ihren Tellern mit Beef Wellington, Delmonico-Steak und gebratenen Täubchen zu ihm auf. »Und lassen Sie es sich auch nicht einmal im Traum einfallen, ihn vor der Ankunft in Kalifornien wieder loszubinden.«
Inzwischen war es Nacht. Der Zug fraß sich mit tristem, gedämpftem Geratter über die Schienen und raste durch die eintönige Leere nach Buffalo und weiter nach Westen. Die Lampen waren ausgeschaltet worden, und im Waggon war es dunkel, bis auf einen Lichtkegel hinten in der Ecke, wo Mart, dessen mächtig geschwungene Stirn von einem Stück Verbandmull umwunden war, geistesabwesend eine Patience legte. Nick und Pat hatten sich in ihr Abteil zurückgezogen und übertönten mit dem steten Tremolo ihres kontrapunktischen Schnarchens das ewige dumpfe Dröhnen der Eisenbahnräder. Mr. McCormick lag in seiner Kabine am Ende des Waggons, hellwach und steif wie ein Brett, niedergehalten von einem Geflecht aus angefeuchteten und so fest verdrehten Laken, daß sie hart wie Knebelverbände waren, und von niemandem bewacht, jedenfalls im Augenblick nicht. O’Kane hatte Mart abgelöst, und es war seine Aufgabe, die Nacht hindurch beim Patienten zu wachen und ihm aus Jack London oder Charles Dickens oder aus der Natural History of California von Laphroig vorzulesen, bis in den Fenstern der Morgen dämmerte, aber O’Kane war nicht an seinem Platz. Nein, er saß Dr. Hamilton in dessen engem Abteil gegenüber und hörte sich eine Predigt über das Wesen von Verantwortung, Wachsamkeit und die »drei Ps« an.
»Es ist wirklich mit nichts auf der Welt zu entschuldigen, daß Sie diesen Schlüssel im Schloß steckengelassen haben«, sagte Hamilton, dessen Stimme sich trotz seiner offenkundigen Erregung nie über den gewohnten Flüsterton erhob. Das Präsidenten-Pincenez schleuderte Lichtdolche durch die kleine Kabine. Er fuchtelte mit den Händen und zupfte sich krampfhaft am Bart. O’Kane rutschte auf dem Sitz herum. Nach seiner Zählung kam die Schuldfrage inzwischen zum zwölftenmal aufs Tapet, und wie bei jeder der vorigen elf Gelegenheiten schürzte er die Lippen, senkte den Kopf und sah Hamilton mit jenem Blick an, den seine Mutter »Chorknabe auf dem Totenbett« nannte.
»Wir müssen begreifen, jeder einzelne von uns muß begreifen, was für eine Gefahr Mr. McCormick in seinem momentanen Zustand darstellt, nicht nur für andere, auch für sich selbst«, fuhr der Arzt fort. »Haben Sie gesehen, was er dieser jungen Frau in der Spanne von gerade dreißig Sekunden angetan hat? Schockierend. Und Sie können mir glauben: Ich kenne das ganze Spektrum psychosexuellen Verhaltens.«
Dazu konnte O’Kane nur wenig sagen. Er wartete darauf, entlassen zu werden, um seine Buße am Bett des Patienten abzuleisten und die Sache hinter sich zu bringen, das Leben weitergehen und Buffalo am Horizont auftauchen zu lassen wie einen hellen Lichtertraum. Er wartete auch noch auf etwas anderes, auf etwas, was Hamilton nicht erraten und auch nie vermuten würde: er wartete darauf, daß der Arzt sich endlich schlafen legte, damit er sich in den Salonwagen schleichen und dort ein paar Whiskeys trinken konnte, um seine Nerven zu beruhigen und der Ödnis der kommenden Stunden den Stachel zu nehmen – mochte er sie zuvor nicht wirklich gebraucht haben, jetzt hatte er sie bitter nötig.
Aber der Doktor war noch nicht fertig. O’Kane sollte sich winden und krümmen, sollte die Hierarchie innerhalb des McCormick-Behandlungsteams erfassen und begreifen, was er von seinen Untergeordneten erwartete, denn er werde keine weitere Entgleisung in Sicherheitsfragen wie die von diesem Abend durchgehen lassen, selbst wenn dazu gewisse Personalveränderungen notwendig seien, und er hoffe doch, daß O’Kane ihn hierin verstanden habe. »Ich brauche ja wohl nicht zu betonen«, sagte er, wobei er sich mit einer Hand am Bart zupfte und mit der anderen nach seiner Pfeife tastete, »wieviel Mr. McCormicks Gesundheit und Wohlergehen für alle von uns bedeuten, für mich und Mrs. Hamilton, für Sie und Ihre Frau sowie für Ihre Kollegen und deren Frauen. Dies ist eine einmalige Gelegenheit, und ich werde nicht zulassen, daß unprofessionelles Verhalten oder individuelle Nachlässigkeit sie aufs Spiel setzen.«
O’Kane sah, daß dem Arzt die Hände zitterten, als er den Tabak im Kopf seines riesigen, gekrümmten Flügelhorns von Pfeife festdrückte und dann entzündete. Er hatte ihn noch nie so aufgebracht gesehen, und es gefiel ihm nicht, ganz und gar nicht. Ebensowenig gefiel es ihm, sich eine Strafpredigt anhören zu müssen. Und wenn er auch äußerlich gelassen und zerknirscht wirkte, so kochte er doch innerlich und stellte sich vor, wie er ausholte und diesem Doktor den strohhalmartigen Hals wie ein Streichholz brach, um nie wieder ein Wort von ihm hören zu müssen.
Hamilton löschte das Streichholz und sah von seiner Pfeife auf. »Ich will damit sagen, daß ich Angst habe, wir könnten ihn verlieren, wenn er sich nochmals befreit.«
»Verlieren? Sie halten ihn doch nicht für einen Selbstmörder, oder?«
»Pffft!« Der Doktor winkte ungeduldig mit der Hand und wandte sich angewidert ab, heftig an seiner Pfeife ziehend. Der Rauch stieg in wütenden Wölkchen auf. Er würde diese Frage nicht mit einer Antwort würdigen.
O’Kane war verärgert. »Möglicherweise fehlt mir Ihre klinische Erfahrung oder auch die Ausbildung, aber Sie können mir glauben, daß ich schon mehr Fälle von Dementia praecox gesehen habe, als Siesich...«
»Schizophrenie«, korrigierte ihn der Arzt. »Kraepelins Begriff – wörtlich ›vorzeitiger Irrsinn‹ – ist nicht halb so brauchbar wie der von Dr. Jung.«
Der Geruch von verbranntem Tabak erfüllte das Abteil, bis es keinen anderen Geruch auf der Welt mehr zu geben schien. Rauch umhüllte die Lampe, ließ sich auf den Seiten des Affenbuchs nieder, das aufgeschlagen auf dem Bett neben dem Doktor lag, zog einen Vorhang quer durch den Raum. »Stellen Sie sich das einmal so vor«, fuhr Hamilton fort, der jetzt aus Gewohnheit einen Vortrag hielt, »›schizo‹ – eine Spaltung – und ›phrenia‹ – des Verstandes: Spaltungsirresein. Ein Schizophrener, wie Mr. McCormick und vor ihm seine Schwester, wird von seiner Krankheit zweigeteilt, so daß er sich aus der Realität in eine von ihm selbst erfundene Nebenwirklichkeit zurückzieht, eine Art Alptraum im Wachzustand, wie ihn sich niemand vorstellen kann, weder Sie noch ich, Edward.« Wie er den Vornamen betonte, war es ein Knall mit der Peitsche, ein Schlag ins Gesicht. Ich bin hier der Chef, sagte er damit, und Sie sind ein Ignorant. »Und wenn Sie bezweifeln, daß solche Patienten in hohem Maße dazu fähig sind, alles Erdenkliche zu tun, um diesem Alptraum zu entrinnen, wozu auch Gewalt gegen sich selbst gehört – und zwar extreme Gewalt –, dann sind Sie weitaus weniger aufmerksam, als ich gedacht hätte.«
»Ja, ja, also schön – dann eben schizophren. Für mich ist das alles dasselbe.« O’Kane war aufgebracht, wütend, gedemütigt von dem ganzen blödsinnigen Spiel. Er hatte den Schlüssel steckenlassen. Er war im Unrecht. Er hatte es auch zugegeben. Aber Hamilton ließ nicht locker. »Nennen Sie es, wie Sie wollen«, sagte O’Kane und hob unwillkürlich die Stimme, »aber ich hab welche gesehen, die waren so blockiert, daß man ihre Finger einzeln von der Klobrille ablösen mußte, und während Sie nachts friedlichim Bett liegen, bin ich derjenige, der sie mit dem Schlauch abspritzen muß, weil sie sich überall beschmiert haben mit der, mit der eigenen...«
»Ich stelle Ihre Erfahrung doch gar nicht in Frage, Edward – schließlich hab ich Sie doch angeheuert, oder? Ich möchte Ihnen nur einige der besonderen Aspekte dieses Falles klarmachen. Die größte Bedrohung für Mr. McCormick ist er selbst, und wenn Sie in Kalifornien leben und durch diese Orangenhaine spazieren wolen, von denen Sie dauernd reden, dann werden Sie vierundzwanzig Stunden am Tag auf der Hut sein müssen. Was heute abend vorgefallen ist, darf sich einfach nicht wiederholen, unter keinen Umständen. Wir dürfen es nicht zulassen. Wäre nicht glücklicherweise diese junge Frau gewesen – so unbarmherzig das auch klingen mag –, so zweifle ich keine Sekunde daran, daß er die letzte Tür im letzten Waggon aufgerissen und sich in die finstere Nacht hinausgestürzt hätte – übrigens, ist Ihnen aufgefallen, wie sehr sie Katherine geähnelt hat?«
»Wer?«
»Na, die junge Frau – wie hieß sie doch gleich?«
»Brownlee«, sagte O’Kane. »Fredericka Brownlee. Sie kommt aus Cincinnati«, setzte er hinzu, nicht weil das wichtig war, sondern weil ihm der Klang gefiel: Cincinnati. »Ich habe erfahren, daß sie auf der Heimfahrt aus Albany ist, wo sie und ihre Mutter jemanden besucht haben – ich glaube, eine Tante der Mutter.« Die Erwähnung Katherines traf ihn überraschend – er hatte die Ähnlichkeit nicht bemerkt, und er gab nur ungern zu, daß Hamilton recht hatte, nicht jetzt und nicht heute abend, aber vielleicht stimmte es tatsächlich. Sie war jünger als Mrs. McCormick – zwei- oder dreiundzwanzig vielleicht – und hatte nicht wirklich deren Format, aber etwas an ihren Augen, ihrem Mund und der Art, wie sie die Schultern zurückwarf und ihr Gegenüber offen anblickte, so als wollte sie einen zu einer Partie Schach oder zum Hundertmeterlauf herausfordern, erinnerte an Katherine, fand er. Sie gehörten beide zu der Sorte Frauen, die es gewohnt waren, ihren Willen durchzusetzen, der Sorte, die das Wahlrecht forderte, Hosen anziehen und rauchen und die Welt auf den Kopf stellen wollte – und das Geld besaß, es auch zu tun.
Hamilton hatte ihn mitkommen lassen, als er Miss Brownlee mit weitgeöffnetem Scheckbuch aufsuchte, nachdem Mr. McCormick in seinem Abteil fixiert war und sie die Gelegenheit gehabt hatte, sich umzuziehen und die zwei leichten Abschürfungen auf der linken Wange zu behandeln, wo Mr. McCormick ihr Gesicht in den Bezug des Sitzes gepreßt hatte. Die Situation hatte einen unangenehmen Beigeschmack, verständlicherweise, aber Dr. Hamilton war in Hochform, grinsend und jovial, wortreich und geschickt, und sobald O’Kane jedem der Salonwagenschaffner einen Dollar und dem alten Herrn, der niedergetrampelt worden war, einen Fünfer gegeben hatte, brauchte er nicht viel mehr zu tun, als mitfühlend dreinzublicken und bei Bedarf ein reumütiges Lächeln aufzusetzen. Mrs. Brownlee, die Mutter, die Gesichtszüge spitz vor Empörung, konnte selbst von dem verworfensten Ungeheuer nicht glauben, daß es so völlig ohne Vorwarnung oder Anlaß ein unschuldiges Kind attackieren würde, noch dazu an einem öffentlichen Ort, und ihrer Meinung nach sei dies keine Frage von Entschuldigung oder gar Entschädigung, sondern eine Angelegenheit, der sich die Polizei oder die Gerichte widmen sollten, ganz zu schweigen von der Verwaltung der New York Central Line, die es zugelassen hatte, daß ein solcher Mann überhaupt im Zug war.
Hamilton schnurrte und lächelte und schürzte die Lippen, preßte in knappen Flüsterkaskaden Abbitten und Besänftigungen hervor, während die ältliche Dame ihm jedes dem Menschen bekannte Unglück auf den Hals wünschte, bis hin zu Fußlahmheit und Kreuzigung. Miss Brownlee ihrerseits hielt den Blick auf die gefalteten Hände gesenkt und hob ihn dann zu dem dunklen Schiebefenster und schließlich zu O’Kane. Man hatte sie schwer erschreckt und körperlich angegriffen, einer bösartigen, erniedrigenden Attacke ausgesetzt, jetzt aber war sie gelangweilt – so schien es ihm jedenfalls –, zutiefst gelangweilt, und wollte die ganze Geschichte am liebsten vergessen. Und sie blickte O’Kane in die Augen, um zu sehen, ob auch er sich langweilte, und ihr Blick war ein wenig komplizenhaft, herausfordernd, ja kokett.
O’Kane erwiderte diesen Blick, ohne ein Wort zu sagen, er ließ den Doktor die gewichtigen Verhandlungen führen – fünfhundert Dollar war der Betrag, auf den man sich schließlich einigte, und das auch nur, weil Mrs. Brownlee bereit war, für den Namen McCormick eine Ausnahme zu machen und den Vorfall zu vertuschen und ihre Rufe nach Polizei und Gericht zurückzunehmen –, und er sah sie unwillkürlich wieder so vor sich, wie sie eine halbe Stunde zuvor gewesen war, blutend und hilflos, das Gesicht angstverzerrt, Mr. McCormick auf ihr drauf, und dabei hatte er ein sonderbares Gefühl. Er hatte sie gerettet und müßte sich eigentlich wie der reinste Wohltäter fühlen, müßte sich an Arabella Doane erinnern, aber so war es nicht – er wollte sie nackt sehen, nackt und wie ein Dessert angerichtet auf der dünnen Matte seines Abteilbetts. Sie hatte eine dünne Linie aus verkrustetem Blut knapp unter der scharfen Kontur des Backenknochens und einen blauen Fleck im Mundwinkel, der ihren makellos weißen Teint verunstaltete und verfärbte, und er sah auf diesen Fleck und verspürte eine lüsterne Geilheit, so wie wenn Rosaleen sich nachts im Bett über ihn rollte, das Gesicht unter dem Vorhang ihres Haars dicht an seines heranschob und ihn anhauchte, bis er mit plötzlicher Erregung im Dunkeln aufwachte. Es war nicht recht, es war nicht sympathisch, aber so war es nun einmal.
»Und Sie finden wirklich, daß sie wie Mrs. McCormick aussieht?« fragte O’Kane nach kurzer Pause.
Der Doktor hatte nicht auf seinen Kommentar über die Fahrtroute der Brownlees reagiert, da er anscheinend Reiseziele wie Cincinnati oder Albany weit weniger exotisch fand als O’Kane. Die Pfeife in den zusammengebissenen Zähnen, rutschte er mit dem Hinterteil herum und ergriff sein Affenbuch mit beiden Händen, wobei er zu O’Kane aufblickte, als wäre er überrascht, daß er immer noch da war. »Das war doch ganz offensichtlich«, murmelte er, und seine Augen taten einen müden, etwas mechanischen Satz. Der Vortrag war vorbei. Er wirkte schläfrig und zog sich innerlich bereits zurück, dachte jetzt nur noch an seinen Pyjama, seine Zahnbürste und seine Affen. »Nicht daß die Kleine auch nur über ein Hundertstel von Katherines Charme undKultiviertheit verfügt«, sagte er, seufzte und kämpfte gegen ein Gähnen an, »aber äußerlich ähnelt sie ihr doch zweifellos...«
Während der letzten Viertelstunde hatte O’Kane nichts lieber gewollt, als dieser elenden kleinen Kabinenschachtel zu entfliehen, seine Ohren brannten heiß, der Vorgeschmack von Whiskey kitzelte seine Zunge und weitete ihm die Kehle, jetzt aber blieb er, leicht verwirrt. »Sie wollen also sagen, daß er von allen Frauen hier im Zug, die er, äh, hätte attackieren können – sich absichtlich sie ausgesucht hat? In der Raserei seines Anfalls?«
Die Augen des Arztes hinter den Brillengläsern waren ausdruckslos. Er gähnte nochmals und zog bei einem abrupten Schlag der Gleise die Schultern hoch. »Ja. Das stimmt. Er hätte jede Frau angreifen können – oder sich unter die Räder werfen, wie gesagt... doch er hat sich sie ausgesucht.«
»Aber warum? Warum würde er eine Frau angreifen, die ihn an seine eigene erinnert?«
Die Frage schwebte einen Moment im Raum, und das Rattern des Zuges füllte die Stille; zuinnerst kannte O’Kane die Antwort bereits.
Hamilton seufzte. Er saß auf der Kante seines Betts, Qualm verströmend und mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen. »Psychopathia sexualis«, sagte er.
O’Kane war nicht ganz sicher, ihn richtig verstanden zu haben, bei dem priesterhaft herausgeraunten Latein und der unbändigen Stille danach, die jeden Spalt und jeden Riß der Schienen so sehr verstärkte, daß seine Ohren davon dröhnten. »Tut mir leid«, sagte er. »Was haben Sie gesagt?«
Doch anstatt es zu wiederholen, legte Hamilton die Pfeife beiseite und beugte sich vor, um einen Koffer unter dem Bett hervorzuziehen. Er ließ den Deckel aufschnappen, und O’Kane sah, daß er voller Bücher war. Der Doktor wühlte kurz darin und fischte einen dicken Band hervor, dessen Ledereinband die Farbe von getrocknetem Blut hatte. »Krafft-Ebing«, knurrte er und warf das Buch O’Kane in den Schoß. »Hier, Edward – bilden Sie sich weiter.«
Die Nacht rollte dahin und in den Morgen hinein. Buffalo kam und ging. Von drei schnellen Whiskeys und ebenso vielen Gläsern Bier zum Nachspülen gestärkt, saß O’Kane im Schein der Gaslampe am Bett und betrachtete die hölzerne Form seines Arbeitgebers. Mr. McCormick war erneut blockiert, steif und starr, konnte er jetzt weniger Schaden und Ärger anrichten als ein Wasserspeier oder eine Bücherstütze, aber diesmal lag er in einer bequemeren Position, von den verdrehten Laken festgehalten wie eine ägyptische Mumie, die ohne diese Verschnürung auseinanderfallen würde. Trotzdem war es traurig, so traurig wie nichts, was O’Kane in der Irrenanstalt von Boston oder während seiner zwei Jahre im McLean gesehen hatte. Mr. McCormick war ein sehr gutaussehender Mann, stattlich wie ein Schauspieler oder ein Politiker – falls man den wahnsinnigen Blick in seinen Augen übersah –, und hier lag er nun, in der Blüte seines Lebens, mit all seinem Reichtum und seiner Bildung, mit einer Frau wie Katherine, dermaßen reduziert. Er war nicht mehr als ein Tier. Weniger. Ein Tier verstand es immerhin, sich reinzuhalten.
O’Kane prüfte das Gesicht seines Arbeitgebers auf Anzeichen von Leben – fest geschlossene Lippen, regloser Unterkiefer, die Nase wie eine ins Gesicht gesteckte Stahlrute, die hellblauen Augen, die ins Nichts starrten – und fragte sich, was er wohl dachte, oder ob er überhaupt etwas dachte. Wußte er, daß er reiste? Wußte er, daß er nach Kalifornien fuhr? Wußte er von Orangen und Zitronen und wieviel Geld sich damit verdienen ließ? Aber was hätte er schon mit Geld angefangen? Er hatte mehr Geld, als hundert Menschen sich jemals wünschen konnten, und was hatte er davon?
Während der letzten Stunde hatte O’Kane gelesen, aber er las nicht laut vor, und auch nicht im Seewolf. Nein, das Buch, das aufgeschlagen in seinem Schoß lag, war das, das ihm Dr. Hamilton gegeben hatte, und es verschlug ihm den Atem. Es war praktisch eine Enzyklopädie der sexuellen Perversionen – ganz unabhängig vom Titel, den hochtrabenden akademischen Würden des Autors und dem entschieden klinischen Tonfall. Eine wahre Parade von Sexualkannibalen, Päderasten, Satyrn, Urintrinkern und Kinderschändern, wie sie die menschliche Phantasie allein nicht erfunden haben könnte, marschierte da über die Seiten, einer nach dem anderen, und jede dreckige Obsession führte zu einer noch dreckigeren. Es war wirklich skandalös, dabei waren die Höhepunkte alle auf Latein wiedergegeben, um sie weniger schockierend darzustellen, und O’Kane mußte auf den Zusammenhang, ein lebhaftes Vorstellungsvermögen und seine Vergangenheit als Meßdiener zurückgreifen, um es sich zusammenzureimen.
Er war gerade in ein Kapitel mit dem Titel Lustmord (Wollust potenziert zur Grausamkeit, Mordlust bis zur Anthropophagie) vertieft, der Alkohol bearbeitete sein Hirn wie eine chemische Massage, und er war sich kaum bewußt, wo er war oder was er tat, als Mr. McCormick auf einmal ein kehliges Geräusch von sich gab. Es war ein Krächzen oder Stöhnen, die Art von tiefem Würgelaut, mit dem ein Hund seine Nahrung erbricht. Dann aber hörte das Geräusch ebenso plötzlich, wie es eingesetzt hatte, wieder auf. Mr. McCormick rührte die ganze Zeit hindurch keinen Muskel, seine Augen blieben starr, der Kopf reglos über dem Kissen fixiert, wie das Sprungbrett in der städtischen Badeanstalt, das auch niemals dem Wasser näher kommt.
Plötzlich stöhnte er erneut auf, und seine Lippen öffneten sich. »Uu-uu-uu-uu-uu«, sagte er.
»Mr. McCormick? Haben Sie was?« O’Kane berührte ihn an der Schulter, um ihn zu beschwichtigen.
Dies rief ein schnarrendes Vibrato hervor, wie eine Tür, die sich in ungeölten Angeln öffnet: »Ee-ee-ee-ee-ee.«
»Ist schon gut. Ich bin ja hier bei Ihnen. Ich bin’s, O’Kane. Bleiben Sie ruhig liegen – Sie brauchen Ruhe.«
»Ee-ee-ee-ee-ee.«
Die Augen hatten sich nicht bewegt, nicht einmal geblinzelt. Die Zähne waren fest aufeinandergepreßt, und das kratzende, kehlige Schnarren schien sich geradewegs durch Schmelz und Zahnbein zu zwängen. »Aber, aber«, murmelte O’Kane. »Soll ich Ihnen vielleicht etwas vorlesen?« Und er beugte sich vor, um Krafft-Ebing wegzulegen und nach Jack London zu greifen, doch er bremste sich. Diese Seemannsgeschichten waren so langweilig – voller Wanten und Klüver und greulichem Cockney-Dialekt. Er haßte Seemannsgeschichten. Hatte sie immer gehaßt. Und in diesem Moment hatte er eine Idee, eine wundervolle, pervers aufblitzende Inspiration. Was zum Teufel, dachte er, und der Whiskey raste ihm durch die Adern auf seiner grandiosen Reise zu seinem Gehirn, seiner Zunge und seinen Fingerspitzen, die die Seiten wendeten. Bilden Sie sich weiter, Edward.
»Mal sehen«, sagte er und blätterte in dem dicken Band in seinem Schoß. »›Koprolagnie, Besudelung des Haars, Leichenschänder‹, aha, da haben wir’s. Oh, das wird Ihnen gefallen, Mr. McCormick. Das wird Ihnen bestimmt gefallen.« Und dann begann er, mit jener präzisen, wohlmodulierten Stimme, die fünfzehn Jahre zuvor die Nonnen bei ihm ausgeformt hatten, laut vorzulesen, während der Zug durch die Nacht fuhr und sein Ein-Mann-Publikum stocksteif und gebannt vor ihm lag: »›Beobachtung 29: Der Mädchenschneider von Augsburg.‹«