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Wohltuender Stupor
O’Kane lag hingelümmelt auf einem kreisförmigen Rasenstück zwischen den Lorbeerbäumen, zusammen mit Mart und Mr. McCormick, und alle drei waren sie schweißgebadet und atmeten schwer. Mr. McCormick hatte seinen Spaziergang an diesem Vormittag besonders rasant angepackt und ihnen eine Verfolgungsjagd von einem Ende des Grundstücks zum anderen geliefert, heftig arbeitende Ellenbogen und geblähte Nasenlöcher, den Blick auf eine unsichtbare Verlockung in der Ferne geheftet. Zuerst ging es bergauf, einen unmenschlich steilen Weg den höchsten Hügel mit dem schwindelerregenden Ausblick über den Channel hinauf, dann drehten sie um und rasten wieder hinunter, allen voran Mr. McCormick in wahnwitzigem Tempo, eine Finte hierhin, eine dorthin, bis sie das Haus dreimal umrundet und endlich hier zwischen den Lorbeerbäumchen Ruhe gefunden hatten. Mart lag rücklings auf einer Steinbank beim Brunnen, reglos bis auf sein angestrengtes Atmen, Mr. McCormick hatte sich auf dem Rasen ausgestreckt und starrte in das Granulat des Himmels, das Jackett als Kissen unter dem Kopf zusammengeknüllt. Es war vollkommen still, kein Windhauch, kein Laut. Die Sonne erdrückte sie fast mit ihrer Last.
»Schade wegen Hoch«, bemerkte O’Kane nach einer Weile, nur um etwas zu sagen.
Mart gab einen Knurrlaut von sich. Mr. McCormick starrte zum Himmel empor.
»Den hab ich gemocht, weißt du, Mart? Er war nicht so erregbar wie Hamilton oder Brush – wenn das das richtige Wort dafür ist. Und Mr. McCormick hat ihn ja am Ende auch richtig gern gehabt, nicht wahr, Mr. McCormick?«
O’Kane hatte eigentlich keine Antwort erwartet – er und Mart redeten nun ihr halbes Leben lang an ihrem Arbeitgeber und Wohltäter vorbei –, aber Mr. McCormick überraschte ihn. Er drehte den Kopf und sah O’Kane mit prüfendem Blick an. »Dr. Hoch?« echote er mit schriller, bebender Stimme. »W-was ist denn mit ihm?«
»Sie erinnern sich doch, Mr. McCormick – das war doch erst gestern, gestern früh. Dr. Brush hat es uns erzählt.«
Pause. Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über Mr. McCormicks Gesicht. Nach einer Weile sagte er: »Nein, ich erinnere mich nicht.«
»Sicher doch. Sie waren sehr unglücklich deswegen – und da haben Sie mein volles Verständnis. Es hat uns alle bedrückt.«
Dr. Brush war vor einem Monat aus Europa zurückgekehrt, im August, gerade rechtzeitig, um Hoch abzulösen, dessen Zustand sich rapide verschlechtert hatte. Falls die Härten der Westfront bei Brush überhaupt Spuren hinterlassen hatten, dann war er noch fetter und leutseliger geworden als früher, und am Vortag hatte er Mr. McCormick mit einem Stapel von Platitüden und ganzen Schiffsladungen von »Schlicht-und-einfach-aus-dem-Grund« erklärt, daß Dr. Hoch am Morgen an den Folgen einer Aortenstenose verstorben sei – einer familiär vererbten Herzerkrankung. Doch Mr. McCormick brauche sich deshalb nicht zu kümmern, sagte Brush, weil Dr. Hoch ein alter Herr gewesen sei, der ein reiches, erfülltes Leben hinter sich gehabt und zahllose Beiträge im Bereich der Psychiatrie geleistet habe, darunter das Manuskript eines neuen Buches – Fälle von benignem Stupor –, das er gerade noch beenden konnte, bevor sein Herz den Dienst versagte.
Mr. McCormick saß beim Frühstück, wo er zwei gebratene Eier und eine dicke rosa Schinkenscheibe penibel mit dem Suppenlöffel zu zerteilen versuchte, dem einzigen ihm verfügbaren Besteck. »Wie alt?« fragte er, ohne aufzublicken.
»Hm? Was?« Seine Frage überraschte Brush.
»Dr. Hoch«, sagte Mr. McCormick im leisen, behutsamen Tonfall des Rhetorikers, »wie-wie alt war der Herr?«
Brush zog von irgendwoher einen Zigarrenstummel hervor und schob ihn sich in den Mund. »Hoch?« wiederholte er. »Ach, ich weiß nicht – in den Sechzigern jedenfalls.«
»Einundfünfzig«, korrigierte Mr. McCormick ihn, immer noch ohne aufzusehen. »Und wissen Sie, wie alt ich bin, Dr. Brush?« Er wartete nicht auf die Antwort. »Im November werde ich fünfundvierzig. Bin ich auch ›ein alter Herr‹?«
»Aber natürlich nicht, Mr. McCormick – Stanley«, dröhnte Brush, dessen wabbliges Fleisch in Bewegung geriet, als er auf seinen zu kleinen Füßen durch den Raum watschelte, »Sie sind doch noch ein junger Mann, ein Ausbund an Kraft und Gesundheit, schlicht und einfach aus dem...«
Mr. McCormick hatte gewartet, bis das Frühstücksgeschirr abgeräumt war und er sich angezogen und den Weg zum Theatergebäude hinter sich hatte, ehe er seinen Gefühlen zu diesem Thema freien Lauf ließ. Mit ohrenbetäubendem Röhren, das das hypnotische Ticken von Roscoes Projektor erstickte und die Possen von Charlie Chaplin und Marie Dressler zunichte machte, verkündete er: »Ich will nicht sterben!«
Brush rief prompt aus der Dunkelheit: »Sie werden nicht sterben, Mr. McCormick.«
»Doch!«
Bewegung kam in den Saal, als O’Kane und Mart in Position gingen und Brush sich im Flackern der Schatten wie ein Gebirge von seinem Klappstuhl erhob. Auf der Leinwand hüpfte Charlie Chaplin herum und trat einen Polizisten in den Hintern, und O’Kane mußte unwillkürlich lachen. »Aber, aber«, sagte Brush, der über der hingefläzten Gestalt ihres Arbeitgebers aufragte, »Sie sind ein gesunder Mann, Mr. McCormick, kräftig und in Hochform, und das wissen Sie auch. Und Sie haben hier die besten Bedingungen, die denkbar bekömmlichste Umgebung...«
Mr. McCormicks Stimme war dünn und angespannt wie ein Drahtseil. »Er ist ein stinkender, verwesender Leichnam mit – mit diesen Dingern, die ihm zu den Augen rauskommen, weil – weil das nämlich das erste ist, was sie fressen, die Augen, und Sie wissen das genau!«
»Davon weiß ich überhaupt nichts, und zwar schlicht und einfach aus dem Grund, daß eine solche Vorstellung mir zu morbide wäre.« Brush fuchtelte mit den Armen im flackernden Licht, und die untere Hälfte von Chaplins Gesicht zuckte hektisch auf seiner Schulter wie in einer gespenstischen Erscheinung. »Denken Sie sich, er wäre im Himmel, in den Armen Gottes...«
»Gott ist ein Schwindler«, fauchte Mr. McCormick und warf wütend den Kopf herum. »Und Sie genauso.«
Und dann folgte die unvermeidliche Schlägerei, zerbrechende Stühle, Flüche, Geschrei und Gejammer, das Tasten nach dem Lichtschalter und schließlich Dr. Brush, der wieder einmal sein überzeugendes, rettendes Körpergewicht der rücklings liegenden Gestalt ihres Arbeitgebers und Wohltäters auf intimste Weise präsentierte.
Begreiflicherweise wollte O’Kane das Thema deshalb jetzt nicht weiter forcieren – er fühlte sich restlos ausgebrannt nach dem Wettlauf rund um das Grundstück und den verdammten Hügel hoch, das war für diesen Tag genug körperliche Betätigung gewesen, vielen Dank. »Na ja, wenigstens haben wir Dr. Brush wieder«, sagte er etwas lahm. »Und der ist ja ganz in Ordnung.«
Mr. McCormick schien dazu keine Meinung zu haben. Er starrte weiter in den Himmel, als könnte er irgendwo dort oben Dr. Hoch auf einer Wolke sitzen sehen. Und Mart – Mart war auch keine Hilfe. Seine Arme hingen schlaff von der Bank herunter, und sein Atem wurde immer langsamer, bis er zu schnarchen anfing. O’Kane lag eine Weile da, den Kopf auf die Hände gebettet, genoß die Stille und den herrlichen Tag, bis er an das zu denken anfing, das ihn in letzter Zeit einzig und allein aufrechterhielt – Schnaps, oder genauer gesagt: die kleine Flasche mit Bourbon-Whiskey, die er im Wasserkasten von Mr. McCormicks Toilette versteckt hatte. Es war bereits nach Mittag, und es gab keinerlei Grund, warum sie hier im Gras lagen, anstatt ins Haus zu gehen und sich zum Essen fein zu machen – und für andere Aktivitäten. Er sah es vor sich, wie er ins Bad schlüpfte, während Mr. McCormick seinen Hackbraten mit Sauce löffelte, er sah die wassertriefende Flasche und spürte, wie der Korken aus ihrem Hals glitt, fühlte den Schluckreflex seiner Kehle, der für ihn seit längerem die beste Annäherung an einen Orgasmus war, jedenfalls seitdem er den Frauen abgeschworen hatte. »Tja, also«, sagte er mit so viel Frohsinn, wie er aufbringen konnte, während er seinen müden, ausgedörrten Körper vom Gras hochstemmte, »meine Herren – wie wär’s mit dem Mittagessen?«
Und das wäre auch ganz gut so gewesen, denn Mart fuhr aus dem Schlaf hoch, Mr. McCormick stand auf und fing an, mechanisch sein Jackett abzuklopfen, ehe er es anlegte – wenn nicht die Taschenratte gewesen wäre. Anfangs wußte O’Kane nicht genau, was es war. Ein kleines Vieh, wie ein Maulwurf, nur heller, gelblichbraun, fast wie ein Kürbis, steckte plötzlich den Kopf aus einem Loch im Boden und flitzte zweimal quer über den Rasen, bevor es in einem zweiten Loch wieder verschwand wie Wasser im Abfluß. Mr. McCormick war wie vom Donner gerührt. Zuerst. Dann wurde er aufgeregt. »Haben Sie das gesehen?« fragte er. »Haben Sie? Haben Sie es gesehen?« Inzwischen war er auf Knien und Händen und schob prüfend den rechten Arm in den Bau des Tiers, stieß ihn bis zum Ellenbogen hinein. »Was ist das?« sagte er immer wieder.
»Keine Ahnung«, sagte O’Kane achselzuckend. »Ein Wiesel?«
Mart kam zu ihnen und sah auf das Erdloch und Mr. McCormick hinab, der sich die Manschetten und den Ärmel des Jacketts ruinierte. »Das ist kein Wiesel«, sagte er. »Bist du verrückt oder was? Wiesel sind lang und schmal.«
»Was soll es denn dann sein?« wollte O’Kane wissen. Eigentlich war es ihm so oder so ziemlich egal, aber es paßte ihm nicht, daß Mart ihn als Ignoranten hinstellte.
Mart kratzte sich am Kopf. »Ein Murmeltier«, sagte er, schien sich aber nicht allzu sicher.
Jetzt hatte Mr. McCormick bereits den ganzen Arm in den Bau gesteckt, bis zur Schulter, und er schaufelte mit der Hand die Erde heraus. »Es ist hier drin, ich weiß es«, sagte er, dann stand er auf und ließ den Teil des Baus einstürzen, den er bereits ausgehoben hatte, ehe er wieder auf die Knie fiel und den Arm in die neue Öffnung stieß. Perplex blickte er auf. »Es – es frißt den Lorbeer an«, sagte er.
»Keine Sorge, Mr. McCormick«, beschwichtigte ihn O’Kane, der eine Krise heraufdämmern spürte. »Ich werde dem Chefgärtner sagen, daß er sich gleich nach dem Mittagessen darum kümmern soll. Und übrigens, da wir gerade vom Essen reden« – er zog mit schwungvoller Gebärde seine Uhr hervor – »wenn wir uns beeilen, kommen wir noch rechtzeitig.«
Mr. McCormick beachtete ihn nicht. Er war jetzt wild am Graben, wie ein Foxterrier kauerte er über dem immer länger werdenden Höhlengang. Schon hatte er sich die Fingernägel abgebrochen, und wie ein zerfetztes Band quoll Blut unter der Dreckkruste seiner rechten Hand hervor. Mr. McCormick war durcheinander. Er war besessen. Er war krank und psychopathisch. O’Kane wollte keine Gewalt, nicht jetzt, nicht heute – er wollte nichts weiter als zurück ins Haus und sich heimlich einen Drink in der Toilette genehmigen – aber er würde eingreifen müssen, sehr bald sogar, das war ihm klar. Er wollte Mart ein Zeichen geben, aber Mart achtete nicht auf ihn – er hatte sich neben Mr. McCormick aufgestellt und sah in die Grube hinein, dabei sagte er: »Ich glaube, es geht da lang weiter, ja, genau, durch das Blumenbeet und dann zu den Büschen dort drüben...«
O’Kane packte ihn am Arm. »Vielleicht weiß Dr. Brush, was es ist«, sagte er in einem falschen, leutseligen Tonfall. »Mart, würdest du bitte mal Dr. Brush holen?« Und dann griff er fester zu und fügte, mit leiser Stimme, nur für Mart, hinzu: »Jetzt. Jetzt gleich. Verstehst du mich?«
Als Mart nach zehn Minuten mit einem keuchenden, schwitzenden und fluchenden Dr. Brush im Schlepptau zurückkam, hatte Mr. McCormick bereits einen sieben Meter langen gewundenen Graben ausgehoben, durch den Lorbeer und zurück in den Rasen, wo er jetzt entschlossen weiterbuddelte, mit einem Stock, den er unter den Oleanderbüschen gefunden hatte (eben jenen Büschen, von denen O’Kane ihn gemäß mehrfachen Warnungen fernhalten sollte, da ihre Blüten, Blätter und Rinde hochtoxisch waren). »Mr. McCormick!« bellte der noch nach Atem ringende Brush. »Was soll denn das? Sie ruinieren hier doch die Beete! Und den schönen Rasen, mit dem sich Mr. Stribling solche Mühe gegeben hat.«
Mr. McCormick blickte nicht einmal auf. Es war sein Grund und Boden, und er konnte sich bis nach China durchgraben, wenn er wollte. »Es – es ist ein – ein – ein Murmeltier«, sagte er. »Es lebt hier. Unter dem Gras.«
»Ja, ja«, sagte Brush und beugte sich über ihn. »Das bezweifle ich auch gar nicht, aber was kümmert Sie das eigentlich, Mr. McCormick? Das Tier verursacht doch keinen Schaden, und wenn doch, nun, so werden wir unseren hervorragenden Mr. Stribling und seine Gärtnerburschen darauf ansetzen. Und nun kommen Sie, kommen Sie heraus, dann können wir uns saubermachen und zu Mittag essen. Klingt das nicht nach einer guten Idee?«
»Nein«, sagte Mr. McCormick und wühlte weiter, und die Erde flog in hohem Bogen in Richtung von Brush, so daß der zurückweichen mußte, um keinen Dreck in die Manschetten zu bekommen. »Nein. Ich muß das Vieh erwischen. Ich will es u-umbringen. Es macht die... Blumen kaputt, verstehen Sie nicht?«
Es hatte wenig Sinn zu diskutieren, nicht wenn er in diesem Zustand war, und niemand hatte wirklich Lust, sich im Dreck zu wälzen und ihn niederzuringen, schon gar nicht nach der Prügelei im Kinosaal am Vortag, also blieb Dr. Brush diplomatisch und schickte Mart, um Stribling zu holen.
Stribling war recht reserviert für einen Gärtner – oder Landschaftsarchitekten, wie er sich gern nannte –, und bei den wenigen Malen, die O’Kane ihm begegnet war, meist beim Dauerlauf von einem Ende des Grundstücks zum anderen, vor sich den hüpfenden, Haken schlagenden Mr. McCormick, war der Mann schroff und unkommunikativ gewesen. Er stand mit Katherine in Briefkontakt, und obwohl er ihr alle größeren Projekte zur Genehmigung vorlegte, hatte er ziemlich freie Hand, die Arbeit seines Vorgängers weiterzuführen, eines berühmten Spaghetti, an dessen Namen sich O’Kane nie erinnern konnte, und er hatte immer ein Team aus Hilfsarbeitern, Fahrern und Düngerausbringern unter seiner Fuchtel. Wenn sie nicht gerade Schlamm aus einem Becken schaufelten oder einen Wasserturm errichteten, bauten sie garantiert Steinbrückchen über die Bäche oder reparierten und verbreiterten die Fahrwege, außerdem stutzten sie ständig wie eine Horde übereifriger Barbiere an jedem Busch herum. Es dauerte keine fünf Minuten, bis Stribling da war, mit einem zweiten Mann im Schlepptau – einem hageren, langen Iren mit unstetem Blick – die Sorte Mensch, die O’Kanes Mutter einen »langen Schluck Wasser« genannt hätte. Wenn sich O’Kane nicht irrte, dann hieß der Bursche O’Hara oder vielleicht auch O’Mara – diese Tagelöhner kamen und gingen, und man konnte bei ihnen nur schwer die Übersicht behalten, außer natürlich sie ließen sich in einem der Saloons blicken. Sowohl Stribling wie der Ire trugen Schaufeln über der Schulter.
»Ah, da sind Sie ja, Mr. Stribling«, rief Brush, »und wie ich sehe, haben Sie gleich einen Ihrer, äh, Mitarbeiter dabei, um so besser. Nun, es gibt da ein kleines Problem, und zwar schlicht und einfach aus dem Grund, daß hier ein Maulwurf oder so etwas unter dem Rasen aktiv ist, und Mr. McCormick ist deswegen sehr besorgt, nicht wahr, Mr. McCormick?«
Die Erde flog auf. Mr. McCormick antwortete nicht.
Stribling und sein Mann traten näher und begutachteten den Graben durch das Beet, den zerpflügten Rasen und die entwurzelten Oleanderbüsche. »Eine Taschenratte«, sagte Stribling trocken, und er war so von der Sonne verbrannt, daß man ihn fast selbst für einen Spaghettiwickler hätte halten können. Er hob einen Finger an den Nasenflügel und betrachtete Mr. McCormick. »Die kriegen wir schon, keine Sorge«, sagte er. »Aber wissen Sie, Mr. McCormick, Sie brauchen doch hier nicht selber zu graben – wir nehmen dafür eine Falle, dann erwischen wir das Biest bestimmt.«
Der Ire mit den unsteten Augen, dessen Nase sich schälte, begann die Erde in den Graben zurückzuschaufeln, aber davon wollte Mr. McCormick nichts wissen. »Gehen Sie weg da!« herrschte er den Mann an und grub nur um so entschlossener. Inzwischen war jede Faser seiner Kleidung ruiniert, so daß Waschen oder Flicken nichts mehr helfen würde. Die Knie seiner Hose glänzten vor Dreck, sein Kragen war ein brauner Lappen, die Krawatte zerfetzt.
»Es ist nach eins, Mr. McCormick«, ermahnte ihn Brush. »Sie werden das Mittagessen verpassen, wenn Sie sich jetzt nicht beeilen, und wir müssen ja noch Zeit zum Waschen einrechnen.«
Hier legte auch O’Kane ein Wörtchen ein. »Genau, Mr. McCormick. Mittagessen.«
Während der folgenden Stunde standen sie alle fünf in der über ihnen dahinziehenden Sonne, traten von einem Fuß auf den anderen und sahen Mr. McCormick bei der Arbeit zu. Er hatte eine Schneise durch die Oleanderbüsche geschlagen, quer über den Kiesweg dahinter und in ein weiteres Blumenbeet hinein, diesmal eines mit Fleißigen Lieschen, zerbrechlichen, schlanken Pflanzen, die umknickten und eingingen, wenn man sie nur fest ansah, und die ganze Zeit über sagte Stribling Sachen wie: »Hat doch keinen Sinn, Mr. McCormick, der Bau da ist gut hundert Meter lang, mindestens.« Und: »Da draußen gibt’s massenhaft von diesen Viechern, und wenn Sie eins kriegen, kommt gleich das nächste – so was erledigt man mit Fallen, ich sag’s Ihnen.«
Endlich, und inzwischen war ein gut Teil der dritten Stunde verstrichen, erhob sich Mr. McCormick aus dem gewundenen Graben, den er mit den bloßen Händen und einem Oleanderstecken aus dem Boden gescharrt hatte, und sah Stribling, der keinen halben Meter von ihm entfernt stand, ins Gesicht. An einem halben Dutzend Stellen blutend, das Haar wild in die Stirn hängend, war ihr Arbeitgeber kaum noch wiederzuerkennen unter einer Schicht von Schweiß und Dreck. »Wofür bezahle ich Sie eigentlich?« schnappte er plötzlich und baute sich mit herausgedrückter Brust vor Stribling auf, spie ihm die Worte geradezu entgegen. Und dann, bebend und mit den Zähnen knirschend, fuhr er zu dem Iren herum. »Und Sie?« sagte er. »Wozu zahle ich Ihnen wohl Gehalt? Damit Sie herumstehen und zuschauen? Graben Sie, los!« schrie er, und seine Stimme klang auf einmal verschnupft und gefährlich. »Graben! Graben Sie oder – oder Sie können sich eine n-neue Arbeit suchen! Alle beide!«
Stribling warf Brush einen säuerlichen Blick zu, wandte sich aber wortlos von Mr. McCormick ab und setzte seine Schaufel an, ebenso wie der Ire. Dr. Brush, der während dieses nicht enden wollenden Spielchens die meiste Zeit über einen steten Strom diverser Proteste gebrabbelt hatte, verlegte sich nun auf eine neue Taktik, indem er Mr. McCormick versicherte, die Aufgabe sei nun in guten Händen, womit um so mehr Grund bestehe, ins Haus zurückzugehen und sich zu waschen – ja, und einmal nachzusehen, was Sam Wah ihnen zu einem verspäteten Mittagessen auftischen könne. Denn nach dieser sportlichen Leistung müsse Mr. McCormick doch gewiß Hunger haben, und das sei genau das Richtige, um Appetit zu bekommen, schlicht und einfach aus dem Grund, daß der Körper schließlich Energie verbrauche, nicht wahr?
Doch Mr. McCormick blieb reglos stehen, blutend und verdreckt, und sah den Männern beim Graben zu. Stribling hielt den Kopf gesenkt und buddelte verbissen, aber O’Kane bemerkte, daß er sich auf das ohnehin ruinierte Blumenbeet beschränkte, die Verluste bereits zu minimieren und den Umfang der Ausschachtungen einzugrenzen versuchte. Es war drei Uhr vorbei, und Stribling und sein Arbeiter standen bis zu den Hüften in einem Graben, den man hätte fluten und mit einem Boot überqueren können, als Mr. McCormick plötzlich die Arme verschränkte und sagte: »Das wär’s. Es reicht jetzt.«
Sie blickten hoffnungsvoll auf, alle fünf, Stribling und der Ire mit schweißnasser Stirn, Brush vom Herumzetern erschöpft, Mart halb im Koma und O’Kane zu Tränen gelangweilt und nach einem Drink lechzend.
»Jetzt könnt ihr ihn begraben«, sagte Mr. McCormick.
Sie starrten einander an. Es war O’Kane, der schließlich das Wort ergriff. »Wen – den Maulwurf?«
Mr. McCormick schüttelte langsam den Kopf und sah zum Himmel empor. »Dr. H-Hoch«, sagte er.
Zum Jahreswechsel – jenem von 1919 auf 1920 – bewahrheiteten sich O’Kanes schlimmste Befürchtungen, was die Katherines dieser Welt anging. Angespornt von den Frauenrechtlerinnen, den Abstinenzlerinnen und Bibelfanatikerinnen brachte die Regierung das Volstead-Gesetz durchs Parlament, das »Herstellung, Verkauf und Beförderung von berauschenden Spirituosen« verbot, und noch bevor die Frauen das Wahlrecht erhielten (ein Vorhaben, das O’Kane von vornherein mit Skepsis betrachtet hatte), wurde ihm das gottgegebene Recht verwehrt, sich besinnungslos zu besaufen – selbst in der Intimität seines eigenen kargen Zimmers. Der 18. Januar 1920: dies war der Tag der Niedertracht. Der Jüngste Tag. Jener Tag, an dem ihm das letzte Quentchen Freude im Leben geraubt wurde. Entsetzt und ungläubig sah er zu, wie man in den Kneipen von Spanishtown die Türen vernagelte und der Verein christlicher Abstinenzlerinnen durch die Straßen paradierte und guten Whiskey in den Rinnstein schüttete. Menhoff hatte noch geöffnet, aber nur als Restaurant, und Cody servierte einem zum Steak sogar ein Bier, falls man dumm genug war, eins zu bestellen – es war Brausebier, mit 0,5 Prozent Alkohol: weniger als ein Bottich Sauerkraut enthielt.
Sicher, O’Kane hatte einen Vorrat angelegt: sechs Kästen Bier und zwei mit Roggenwhiskey standen unter seinem Bett, im Kleiderschrank lagen etliche Flaschen Bourbon verborgen, außerdem zehn Halbliterpullen mit Schlehengin in dem Überseekoffer, der auf Mrs. Fitzmaurice’ Dachboden lagerte – er hatte sogar ein halbes Dutzend bauchige Weinflaschen hinter dem vorderen Tor von Riven Rock vergraben –, aber die Geselligkeit der Saloons fehlte ihm doch sehr. Was tat es schon, daß er die Hälfte seines Erwachsenenlebens mit dem Anhören diverser, von dem einen oder anderen Schwachkopf geäußerten Standpunkte über Gott, die Unsterblichkeit und die Getriebe von Ford-Automobilen verbracht hatte? Was gab es denn sonst zu tun? Er versuchte es mit Lesen. Er kaufte sich ein Victrola-Grammophon. Der Regen trommelte an die Scheiben, und jeder Tag brachte neue Nachrichten über irgendeinen Narren, der blind und taub geworden war, weil er Frostschutzmittel oder Wundbenzin gesoffen hatte – und wie war das mit dem Feuerwehrmann in Pennsylvania, der alles Haarwasser mit Fliederduft aufgekauft hatte und dann in einem Meer seiner eigenen Kotze erstickt war? O’Kane arbeitete sich unbeirrt durch seine Bestände, meistens allein, manchmal aber auch in Gesellschaft von Mart, Pat oder einer der verlorenen Seelen, die immer im vorderen Schankraum bei Menhoff gesessen hatten, und während sich die Flaschen allmählich leerten, fühlte er sich wie ein Todeskandidat, der die Tage bis zur Hinrichtung zählt.
In dieses Tal der Tränen trat Jim Isringhausen.
Jim kam im Februar nach Kalifornien, um das Haus seines Bruders zu lüften und sich fünfhundert Hektar erstklassiges, flaches, gut bewässertes Land für Zitrusfrüchte bei Goleta unter den Nagel zu reißen, sieben Kilometer nördlich von Santa Barbara. Die Nachfrage war stark gestiegen, seit der Krieg zu Ende war und die Leute an der Ostküste geradezu verrückt waren nach Apfelsinen, Zitronen, Mandarinen, Limetten, Pampelmusen, Kumquats, und was sie aus Florida bekamen, stellte nur einen Tropfen auf den heißen Stein dar im Vergleich zu dem, was Kalifornien produzieren konnte. Und jetzt war der Moment, sich in dieses Geschäft zu stürzen, bevor jeder Gebrauchtwagenhändler und Limonadenzapfer mit ein paar hundert Dollar in der Tasche Wind davon kriegte, gar nicht zu reden von den Großkonzernen. Und als ersten fragte er O’Kane, denn O’Kane hatte von Anfang mit dabeisein wollen und geduldig gewartet, seit zwei Jahren harrte er nun schon aus, während Jim sein Kapital konsolidiert und die Investoren zusammengesucht hatte, und das wußte Jim zu schätzen, wirklich.
All das erzählte er O’Kane auf der Fahrt zu dem Grundstück, das sie inspizieren wollten. Es war ein Tag von biblischer Pracht: der Ozean brandete, die Berge ragten auf wie geschnitzt, die Sonne stand am blaugeäderten Himmel wie eine große Valencia-Orange. Jim sah gut aus. Er trug ein kariertes Sportjackett und eine Hose aus weißem Segeltuch, Galoschen über den Schuhen, das Haar war mit französischer Pomade festgeklatscht und sein Schnurrbart so dünn und fein, daß er fast gar nicht auffiel. Er fuhr einen neuen Wagen, einen gelben Mercer-Roadster mit blutroten Speichenrädern und herunterklappbarem Leinwandverdeck. Jim Isringhausen reichte O’Kane einen silbernen Flachmann, und O’Kane nahm einen tiefen Schluck Ambrosia – schottischer Whiskey, der wahre Jakob, rauchig und torfig und das Blöken von Schafen, alles in einem Schluck, ein Whiskey, wie man ihn nicht mehr fand und womöglich nie wieder finden würde.
»Also was sagtest du, wieviel kannst du anlegen?« fragte Jim, während er die Flasche behutsam O’Kanes widerstrebenden Fingern entwand und an die eigenen Lippen führte. »Dreitausend?«
Der Wind peitschte O’Kanes Haar, die Sonne wärmte ihm das Gesicht. Er kniff die Augen zusammen und spürte, wie neue Hoffnung in ihm aufstieg, ein Hauch davon jedenfalls. »Gerade mal so. Zwei-neun und noch ein bißchen.«
Jim drehte sich mit der Flasche zu ihm herum. Auf seinem Gesicht lag der Ausdruck eines Pfarrers, ganz Mitgefühl und Anteilnahme. »Das sind doch nicht deine gesamten Ersparnisse, oder? Ich möchte dich wirklich nicht unter Druck setzen – ich meine, die Sache ist so sicher wie irgendwas, was du auf dieser schönen Welt finden wirst, aber hundertprozentig ist überhaupt nichts, das weißt du doch?«
O’Kane zuckte die Achseln. Er hob die Flasche zum Mund, lässig wie ein Millionär. »Nein«, log er, »hab noch was in petto.«
Er war kein Dummkopf. Er wußte, was Jim ihm sagen wollte: es war ein Risiko dabei. Aber Risiko gab es immer: ob man über die Straße ging, zu Mittag aß oder am Samstagabend einer Frau tief in die Augen sah. Das hier war seine Gelegenheit, und er würde sie ergreifen – jetzt brauchte er nur noch eine Reihe von Orangenbäumen zu sehen, und er wäre dabei.
»Na schön«, sagte Jim, »sagen wir also dreitausend – du solltest es bis nächsten Dienstag aufrunden können, weil dann nämlich das Geschäft über die Bühne geht. Bei vierzig Dollar pro Hektar müssen wir zwanzigtausend aufbringen, keine Hypotheken, Barzahlung bei Vertragsabschluß, und noch einen Tausender in Reserve, um ein paar Itaker anzuheuern, die uns die Bäume wässern und später das Obst pflücken. Für dreitausend kriegst du dreißig Anteile zu hundert pro Stück. Klingt gut, Partner?«
»Sicher«, sagte O’Kane.
Jim legte beide Hände ans Lenkrad, als sie etwas zu schnell durch eine Kurve fuhren, die sich in die falsche Richtung neigte; der Wind schüttelte den Wagen, und es folgte ein wohliger Ruck, als Jim hinunterschaltete und auf der Geraden Vollgas gab, die sich plötzlich vor ihnen öffnete. »Übrigens«, sagte er, »Dolores läßt dich herzlich grüßen.«
O’Kane ließ diese Information einsickern, als er die Flasche wieder in der Hand hielt. Sie bogen gerade von der befestigten Straße auf einen gewundenen Schotterweg ab, über dem die Luft von Staub und Insekten und herumfliegenden Pollen waberte. Dolores läßt dich herzlich grüßen. Na fein – O’Kane hatte sie zwei Jahre lang weder gesehen noch gesprochen, seit ihr Mann aus dem Krieg zurück war. Einmal hatte er Jim nach ihr gefragt, in möglichst nebensächlichem Tonfall, und Jim hatte ihm erzählt, die beiden seien drüben in Europa, irgendwo in Italien, wo sie eine Villa renovieren ließen – nicht daß O’Kane sich einen Pfifferling darum geschert hätte. Für ihn gehörten Frauen der Vergangenheit an. Er hatte es aufgegeben. Nach Rosaleen und dem armen Eddie jr. – und nach Giovannella.
Auch sie hatte er nicht wiedergesehen, die Witwe Capolupo. Angeblich war sie wieder zu ihren Eltern gezogen, mit dem Kind eines Toten unter dem Herzen – jedenfalls behauptete sie das. Und er hatte nicht gehört, ob sie nun ein Spaghettibaby bekommen hatte oder ein halbes, und es war ihm auch egal, inzwischen jedenfalls. Wenn es ihm gelänge, hier sein Glück zu machen, mit Orangen, sich von den McCormicks zu befreien und irgendwo neu anzufangen – in San Francisco vielleicht oder in Los Angeles –, ja, dann würde er möglicherweise auch daran denken, sich ein hübsches Mädchen um die Zwanzig zu suchen, die ein wenig Grazie und Stil besaß, damit er in seinen Vierzigern etwas zum Vorzeigen hatte. Aber im Augenblick konnte er solche Komplikationen nicht gebrauchen. Und den Schmerz auch nicht.
Der Wagen nahm eine Kurve, und mit einem Mal waren sie im Orangenland, fuhren an den Baumreihen entlang, mit ihrem kupfergrün glänzenden Laub und den Orangen, die fett und süß an jedem einzelnen hingen, als wäre Weihnachten, endlose Weihnachten, und jeder Baum extra für sie geschmückt. Jim bremste am Ende einer der langen Reihen, wo der Hain plötzlich aufhörte und offenes Land begann: gelb blühender Senf, der einem bis an die Achseln reichte, pelzige blaue Blumen, die sich durch das Unkraut kämpften, und ein Gewirr von allen möglichen Pflanzen, die da aus der Erde schossen – nur keine Orangen. »Na?« fragte Jim und streckte die Arme aus, »was meinst du dazu?«
O’Kane sah über die Schulter auf die Reihen unerschütterlicher Bäume und dann wieder über das leere Feld. Jims weiße Hose hatte gelbe Schmutzflecken. Überall erhoben sich die Baue von Taschenratten, wenigstens wußte O’Kane jetzt, was diese Hügel waren. »Keine Ahnung«, sagte er. »Was soll ich denn meinen?«
»Ich weiß, man kann es sich schwer vorstellen«, sagte Jim und stapfte in das Gestrüpp hinein, »aber sobald wir hier ein bißchen gejätet und uns um die Bäume gekümmert haben...«
»Welche Bäume? Du meinst« – eine Geste auf den Hain hinter ihnen – »das sind nicht die Bäume?«
Jim Isringhausen bückte sich über etwas im hohen Gras. »Hier, sieh mal«, sagte er.
O’Kane sah einen Schößling, der nicht dicker war als sein Finger, gut einen Meter hoch, mit ein bißchen Laub daran. Und dann sah er auch die übrigen: winzige, verkümmerte Fähnchen aus kupfergrünen Blättern, die da und dort aus dem Unkrautdickicht hervorragten. »Das soll ein Orangenbaum sein?«
Noch während er fragte, wurde ihm klar, wie flüchtig das Glück eines Menschen sein konnte.
Jim Isringhausen hatte sich aufgerichtet und rieb die Erde von seinen gespreizten Händen. »Jo«, sagte er, »ganz genau. Und eh du dich nur umschauen kannst, werden diese kleinen Schätzchen hier ebenso viele Früchte tragen wie ihre großen Schwestern da hinten.«
O’Kane starrte die Stelle an, wo Jim etwas Unkraut ausgerupft hatte und dieser mickrige Blätterstengel in der Erde steckte wie ein aus dem Himmel abgeschossener Pfeil. Dann blickte er wieder über die Schulter, auf das dichte, satte Grün der Bäume und die Orangen, die dort zahllos im Gitterwerk der ineinander verschränkten Äste hingen, so weit das Auge reichte. »Wird aber eine Weile dauern«, sagte er schließlich.
Jim stritt das nicht ab. »Ja«, meinte er und rieb den Absatz seines hellbraun schimmernden Schuhs am Trittbrett, um einen Erdklumpen abzustreifen. »Aber nicht so lange, wie du denkst.«
Danach ging es abwärts, in einem langen, stetigen Gleiten, das so unmerklich verlief, daß O’Kane es gar nicht recht wahrnahm, anfangs jedenfalls nicht. Es war, als befände sich alles in seinem Gesichtsfeld – Mr. McCormick, Dr. Brush, Riven Rock, Mrs. Fitzmaurice, das Whiskey- und Bierversteck, Mart und Pat und die aufgelaufene Last all dieser gesparten und verdienten Dollars – auf einer schiefen Ebene, die mit jedem Tag steiler wurde. O’Kane gab Jim Isringhausen seine gesamten Ersparnisse – und überredete Mart, auch noch hundert Dollar und ein paar zerquetschte dazuzulegen, damit die Investition auf runde drei Tausender kam. Er hatte auf diesem überwucherten Feld gestanden, die kläglichen Pflänzchen betrachtet und alles vor sich gesehen: wie die Taschenratten die Wurzeln zernagten, wie der Brunnen austrocknete und wie Jim Isringhausen in seiner eleganten Stadtvilla in New York thronen würde wie J. Pierpont Morgan, während sogar das Unkraut verwelken und vertrocknen und zu Staub zerfallen würde und die Orangenbäume so kahl und tot unter der Sommersonne lägen wie die körnige gelbe Erde selbst. Aber es kümmerte ihn nicht. Es war eine Chance, immerhin. Eine ziemlich aussichtslose vielleicht, aber er hatte die Warterei satt, fühlte sich wie ausgezehrt davon, erschöpft und erledigt, aber auch tollkühn, wahnsinnig, und er kochte vor Selbsthaß und der schwärzesten Variante fatalistischer Verzweiflung: wirf eine Münze in den Ozean und schau zu, ob er Wellen schlägt.
Er trank das Bier und den Whiskey, und als der Vorrat zu Ende war, trank er den Bourbon. Morgens war ihm übel, und bis in den Nachmittag hinein hatte er eine trockene Kehle, verstopfte Stirnhöhlen und einen Brummschädel. Dann trank er den Gin, und der schmeckte irgendwie nach flüssigem Zahnpulver, schließlich buddelte er den Wein aus und trank auch den. Inzwischen waren Schnapsschmuggler in der Stadt, wieselgesichtige Desperados, die Tequila, Mescal und Pedro-Domecq-Brandy aus Mexiko heraufkarrten, aber sie wollten acht Dollar die Flasche, neun, zehn sogar, und was die heimischen Schwarzbrenner draußen in den Cañons zusammenbrauten, kostete nur ein Viertel davon, selbst wenn es völlig ungenießbar war. Was sie Whiskey nannten, war reiner Äthylalkohol, mit Leitungswasser verdünnt, mit Karamel gefärbt und einem Schuß Pflaumensaft als Aroma, während sie für ihren »Scotch« noch eine Dosis Holzpech dazuschütteten, zwecks Verbesserung von Geschmack und Körper. Es war, als tränke man Strychnin, Batteriesäure, WC-Reiniger, aber es wirkte allemal, und O’Kane griff darauf zurück, ein treuer Kunde, ein täglicher Kunde, dessen Hände zitterten, wenn er seine Geldscheine entfaltete und sie Bill McCandless aus Lompoc, Charley Waterhouse aus Carpinteria oder dem Farmer Caty aus Gott-weiß-woher zuschob. Sie betrieben die Destillen – sie machten den Dreck –, und der gutaussehende Eddie O’Kane nahm ihn mit nach Hause auf sein Zimmer und trank ihn weg. O ja, alle Jubeljahre ging er mal in Menhoffs Kneipe, bestellte sich ein Hamburger-Sandwich mit Ginger-ale und saß dann herum, trank ein Ginger-ale nach dem anderen, bis die Flasche in seiner Gesäßtasche leer war und ihm jemand zur Tür hinaus helfen mußte, aber meistens ging er nur auf sein Zimmer und starrte die Wände an.
Und was das für Wände waren. Mrs. Fitzmaurice hatte sie hinter einer dicken, fasrigen Schicht billigster Tapeten begraben, mit großzügigen Mengen Kleister aufgepappt auf etwas, was Gips sein mochte und ebenfalls reichlich bemessen war. Es waren keine geraden Wände, absolut nicht – sie warfen, wellten und bauschten sich, falteten hier eine Kordillere auf und sanken dort zu tiefen Lagunen ab. Das Muster der Tapete sollte irgendwelche röhrenartige Blumen darstellen, die sich endlos in Blau, Lila und Minzgrün wiederholten, und wenn O’Kane sie lange genug anstarrte, wurden diese Blumen erst zu Glocken, dann zu Würsten und schließlich, wenn er genug von dem Lompoc-Fusel gebechert hatte, zu abgeschlagenen Köpfen, die aufs Grausigste und Unnatürlichstein die Länge verzerrt waren. Nur wenige Möbel verstellten ihm die Sicht – Waschtisch, Bett, Kleiderschrank, Stuhl und Tisch –, aber das störte O’Kane nicht. Möbel konnte er in Riven Rock den ganzen Tag lang betrachten, Zimmer um Zimmer davon, vom Feinsten, was es zu kaufen gab. Er brauchte sie nicht mit nach Hause zu nehmen – und so sparte er sich die Belastung. Besitztümer waren für die Reichen, und er war nicht reich, würde es auch niemals werden – außer Jim Isringhausen gelang ein kleines Wunder.
Mrs. Fitzmaurice hatte sein Zimmer mit ihrem Meisterwerk verziert, einem ambitiösen Gemälde von 120 × 50, mit einer gewagten Mischung von Hündchen und Kätzchen, die auf den ersten Blick einen dämonischen Kampf um die Überreste eines ausgeweideten Kleintiers ausfochten, was sich bei näherem Hinsehen jedoch als unschuldige Balgerei um ein Wollknäuel entpuppte. Dieses inspirierte Werk nahm den Ehrenplatz über dem Bett ein, wo O’Kane den Kopf verdrehen mußte, wollte er es betrachten, während er trank und die einzige Schallplatte hörte, die er besaß (eine ätherisch knisternde Aufnahme von »Semper Fidelis«, die klang, als wäre sie im Umkleideraum des Footballteams der Notre Dame University aufgenommen worden). In der einen Wand klaffte ein Fenster, in der anderen war eine Tür; die dritte war ein ununterbrochenes Medley aus glocken- und wurstförmigen Blumen. Die übrigen Pensionsgäste – sie waren zu acht, alle in verschiedenen Stadien von Hoffnungslosigkeit und Verfall – mieden ihn sichtlich, außer beim Essen, wenn ein gewisses Maß an Kontakt und sogar Konversation unvermeidlich war, doch er fing an, die Mahlzeiten auszulassen und ihnen auf dem Flur auszuweichen, noch bevor sie Gelegenheit fanden, ihm auszuweichen.
Und so ging es den Winter hindurch, in den Frühling hinein und dann in den glühenden, zitrusversengenden Sommer. Langsam ließ O’Kane öfter einen Arbeitstag aus, wenn der schwarzgebrannte Whiskey oder Scotch oder der »echte holländische Genever« einmal besonders schlecht gewesen war und ihm so zusetzte, daß sogar seine Zahnfüllungen schmerzten, und ihm gefiel es gar nicht, daß er die Arbeit vernachlässigte, er wußte, das war der Anfang vom Ende von allem, wofür er gekämpft und was er erhofft hatte, aber er konnte einfach nicht die Energie aufbringen, es wichtig zu nehmen. Und sonst nahm es ja auch niemand wichtig. Brush war im Abgang begriffen, das sah jeder Blinde. Er hatte aufgehört, regelmäßig zu erscheinen, und wenn er einmal auftauchte, dann sagte er meist nicht viel mehr als hallo und auf Wiedersehen zu Mr. McCormick, ehe er das Theatergebäude grummelnd und brabbelnd wieder verließ und sich in seinem Büro verschanzte. Mart war so begriffsstutzig wie immer, kapierte überhaupt nichts, und Nick und Pat wurden allmählich so fett, daß sie aussahen wie ein Bulldoggenpärchen, das im Stehen schlief. Und Katherine, der regierende Genius loci, ließ sich nirgends sehen. Sie war ein Name in der Zeitung, Mrs. Stanley McCormick, die mit einem Haufen von fanatischen Blutsaugerinnen im ganzen Land herumzog – jetzt, da die Frauen das Wahlrecht besaßen und die Sauferei niedergestimmt hatten, wollten sie die Babys auch gleich abschaffen. Sicher, wieso denn nicht – sollte der Storch sie aus dem Himmel bringen, damit die Frauen ihre Freizeit mit Rauchen, Meckern und Hosentragen verbringen konnten.
Auch der Haushalt in Riven Rock zeigte einen deutlichen Niedergang – was sogar der vom Alkohol benebelte O’Kane bemerkte. Torkelson war weg, abgeworben von einem anderen Millionär aus der Nachbarschaft, der nicht schizophren war, und der neue Mann, ein schwerfälliger, langsamer Bursche mit falschem englischem Akzent und dem lächerlichen Namen Butters, ließ das Personal praktisch mit Mord davonkommen. Überall lag Staub, gewaltige Schwaden davon stiegen aus jedem Sessel auf, in den man sich setzte, Mr. McCormicks Hemden waren nachlässig gewaschen und liederlich gebügelt, die männlichen Dienstboten verbrachten den halben Tag damit, in der Küche die Füße hochzulegen, und einen Besen oder Federwisch sah man überhaupt nicht mehr in Aktion, geschweige denn einen Scheuerlappen. Außerhalb des Hauses war es noch schlimmer. Stribling hatte am Tag nach der Geschichte mit der Taschenratte gekündigt, und in Ermangelung einer besseren Idee hatte Brush dem hageren Iren die Gärtnerei übertragen (O’Mara hieß er, nicht O’Hara, er kam aus Poughkeepsie/New York und konnte einen Kaktus nicht von einer Kokospalme unterscheiden), und von da an ging alles rapide den Bach runter. Am hellichten Tag pennten die Italiener unter den Büschen, die Taschenratten nagten sich durch den Garten und wühlten die Rasenflächen auf, ganze Blumenbeete verwelkten aus mangelnder Pflege, aber niemand schien das zu bemerken, schon gar nicht Mr. McCormick – der redete meist nur mit seinen Richtern, las mit einem halben Dutzend Stimmen laut vor und jagte in wahnwitzigem Galopp über das Grundstück, sobald ihm jemand die Haustür öffnete.
An einem Tag im Spätherbst, die Sonne stand tief und ein scharfer Wind zauste die Bäume und ballte sich zu kleinen Wölkchen von gelbem Staub, entschloß sich O’Kane, wieder einmal betrunken in der Arbeit, das Thema der Orangenhain-Investition mit seinem Arbeitgeber zu erörtern. Mart lag auf dem Sofa und schlief. Dr. Brush war in seinem Büro. Bis auf das Heulen und Fauchen des Windes war im Haus kein Laut zu hören. »Mr. McCormick«, begann O’Kane und legte das Buch beiseite, in das er seit einer halben Stunde ohne viel Erfolg hineinstarrte, »ich wäre an Ihrer Meinung zu einer bestimmten Sache interessiert – zu einer Kapitalanlage, die ich gemeinsam mit Jim Isringhausen getätigt habe. Auf dem Zitrus-Markt.«
»Mit wem?« Mr. McCormick flitzte um den Tisch, hüpfte leichtfüßig von einem Bein aufs andere und arrangierte die Stühle und Gedecke für das Mittagessen, eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. An manchen Tagen brachte er über eine Stunde damit zu, die Sitzgelegenheiten immer wieder umzustellen und Teller, Löffel, Tassen und Untertassen um halbe Zentimeter nach rechts oder links zu verschieben, die Servietten in ihren Ringen geradezuzupfen und die Schnittblumen in der Vase auf dem Tisch neu zu ordnen. Es gehörte zu seinen Ritualen, und zwar zu den harmloseren, deshalb hatten alle Ärzte ihn dazu ermuntert, sogar Brush – so war er wenigstens beschäftigt.
»Jim Isringhausen«, wiederholte O’Kane. »Er sagt, er kennt Sie aus Princeton.«
Wie Mr. McCormick daraufhin reglos am Tisch stand, erinnerte er an einen Wasservogel, an ein hageres Schnabelwesen, das einen Frosch oder einen Stichling betrachtet, kurz bevor es ihn aufspießt und als Ganzes hinunterwürgt. Sein Blick huschte zu O’Kane und zog sich dann wieder zurück. »Nie von ihm gehört«, sagte er, während er Löffel und Teller am Platz des Doktors zurechtrückte, und dann sagte er mit halblauter Stimme etwas zu einem seiner Richter. Das war nicht ungewöhnlich, besonders zu den Mahlzeiten, und O’Kane dachte sich nichts dabei. Oft deckte Mr. McCormick Extraplätze am Tisch, und wenn Dr. Brush ihn deshalb befragte, erklärte er, sie seien für die Richter reserviert. Heute gab es nur vier Gedecke – für Mart, O’Kane, Dr. Brush und ihren Gastgeber –, demnach konnte man annehmen, daß die Richter bereits gespeist hatten.
»Aber sicher doch«, hörte sich O’Kane sagen, in dessen wirrem Hirn ganz hinten leise eine Alarmglocke ertönte, »Abschlußjahrgang 1894 in Princeton. Er hat mit Ihnen studiert.«
Mr. McCormick begann wieder von einem Bein aufs andere zu hüpfen; auch dies war eines seiner Rituale, und es bedeutete, daß der Fußboden in Flammen stand. Wenn er nicht in Flammen stand, dann war er aus Leim, aus einem sehr wirksamen, zähen Leim, in dem er nur mit Mühe die Füße heben konnte. Jetzt aber hüpfte er, und weil er hüpfte, war er zu beschäftigt, um O’Kanes Mitteilungen zu kommentieren.
»Er wohnt in New York«, fuhr O’Kane fort, der inzwischen ein klein wenig verzweifelt war und die nackten Tatsachen aufmarschieren ließ, um mit ihrem schieren Gewicht die Sicherheit zu erlangen, die er anstrebte. »Er hat irgendwas mit der Börse zu tun, glaube ich. Und sein Bruder, den kennen Sie doch – oder jedenfalls wissen Sie von ihm. Dem gehört das große schöne Haus in der Sycamore Canyon Road, an dem wir manchmal bei unseren Spazierfahrten vorbeikommen.«
Als Mr. McCormick immer noch keine Antwort gab, dachte O’Kane, der sich höchst merkwürdig und nicht recht auf dem Damm fühlte, so als hätte er Fieber – oder eine Kombination aus Fieber und Kater –, eine Zeitlang nach und versuchte sich zu erinnern, was er noch über Jim Isringhausen wußte, abgesehen davon, daß seine Schwägerin im Bett eine Wucht war. Nicht viel. Nicht allzu viel. Er wurde etwas unruhig deswegen, dann setzte er erneut an. »Mr. McCormick, als Sie noch... na ja, also, bevor Sie nach Riven Rock gekommen sind, vor Ihrer Hochzeit, meine ich, also, ich hätte gern gewußt, was Sie damals davon gehalten haben, Geld in Immobilien anzulegen – so ganz allgemein.«
Mr. McCormick war zum Fenster gehoppelt, wo er einen Löffel abwechselnd ins Licht hielt, anhauchte und an seinem Hemdsärmel polierte. Er sah O’Kane mit leerem Blick an.
»Ihre Grundstücke. Ihre Ranch in New Mexico. Die Häuser in Chicago. Ihre Villa in Massachusetts.«
Das war eine harte Nuß, die Mr. McCormick sichtlich verdatterte. O’Kane erwartete darauf keine Antwort, wußte auch gar nicht, was genau er eigentlich gewollt hatte – freilich war Mr. McCormick reich und vermögend, aber er hatte sein ganzes Geld geerbt und war ein verrücktes Huhn, wozu also fragte O’Kane ihn überhaupt um Rat?
Mr. McCormick hüpfte zum Tisch zurück, linker Fuß, rechter Fuß, links, links, rechts, und legte den Löffel zurück. Er betrachtete sein Arrangement nervös, dann wandte er O’Kane das blutleere Gesicht zu. »Meine... meine Frau v-verwaltet meine G-Grundstücke. Ich, ich« – lange Pause – »... ich kümmere mich um diese Dinge nicht mehr.«
Was hatte er erwartet? Einen Orakelspruch? Tiefschürfenden finanziellen Rat? Ein Darlehen? O’Kane sank tiefer in seinen Sessel. Alles im Zimmer schien in Bewegung zu sein, jedes Atom knallte gegen das nächste, bis die Möbel und die Wände geradezu waberten, und er wußte, er brauchte wieder einen Drink. Er stand schwankend auf, rüttelte Mart wach und verschwand auf die Toilette, wo er den Keramikdeckel des Wasserkastens aufklappte und die kleine Flasche mit dem Zeug herausfischte, von dem ihm Charley Waterhouse letzte Nacht einen ganzen Kasten verkauft hatte. Was immer es war, O’Kane hatte einen Liter davon in zwei kleine Flaschen umgefüllt, weil es so leichter zu transportieren und zu verstecken war, und jetzt, während die Visionen von Orangenhainen in seinem Kopf verblaßten, hob er die kühle Glasöffnung an die schrundigen Lippen und gab ihr einen langen, heftigen Kuß, ließ das Fieber erneut aufflammen, bis er nicht mehr wußte, sollte er kotzen oder das Bewußtsein verlieren – oder beides.
Als er ins Zimmer zurückkehrte, argumentierte Mr. McCormick mit irgendwem in dem hohen, quengligen Tonfall, der einen bevorstehenden Anfall erahnen ließ, mit Mart sprach er jedoch nicht. Mart schlief schon wieder, hing in einem Sessel und schnarchte leise. Nein, Mr. McCormick verteidigte sich vor seinen Richtern – »Ich hab es nicht so gemeint – ich wollte doch nicht – niemals – ja, ich schäme mich, wirklich!« –, und O’Kane bereitete sich auf das Schlimmste vor. Diesmal jedoch war das noch viel schlimmer, als er erwartet hatte, denn kurz bevor die Wände wieder in Bewegung gerieten und an der Decke die zuckenden Augen und Schnauzen und die pelzigen Wesen auftauchten, saßen da auf einmal die Richter in steifer Versammlung vor ihren Tellern, bärtig und streng, zu dritt waren sie, drei bärtige, grimmige, unbarmherzige Männer, und ihre sechs unbarmherzigen Augen richteten sich auf ihn, auf Eddie O’Kane, den Meisterlächler, nur hatte er für diesen Anlaß kein Lächeln mehr parat, denn er befand sich plötzlich in unbekannten Gewässern, und er ging unter wie ein Stein.
Na schön. Klar doch. Also hörte er eine Zeitlang auf. Er rührte das Zeug nicht an, und wenn man ihn mit einem spitzen Stock gepiekt, in einen Käfig gesperrt und ihm die Brühe in den Hals geschüttet hätte. Natürlich lag das alles nur an diesem Fusel, das war das Problem, der unreine Alkohol und so – er konnte von Glück reden, daß er nicht blind, impotent oder wahnsinnig geworden war. Und er hatte die Richter ja nicht wirklich gesehen – das war nur der Schnaps gewesen, mieses Zeug, schlechte Lieferung. Trotzdem hörte er auf, schaffte es auch jeden Tag zur Arbeit, und obwohl seine Därme voll heißem Magma waren und er ums Verrecken nicht mehr scheißen konnte, sein Kopf sich anfühlte wie eine Eierschale im Schraubstock und seine Beine so schwer waren, daß er kaum aufrecht stehen konnte, begann er, ganz langsam, die Welt wieder so wahrzunehmen, wie sie wirklich war, ohne Krücke, ohne Filter.
Eines Morgens kotzte er bibbernd und schwitzend zugleich in die Toilette am Ende des Korridors, draußen trommelte in seiner bauernhaften Rohheit und Ungeduld das Arschgesicht Maloney gegen die Tür, den er am liebsten umgebracht und zerstückelt und dann vielleicht noch gekocht und aufgefressen hätte, und da fiel ihm plötzlich auf, daß er seinen Geruchssinn langsam wiederfand. Es war erstaunlich: er lebte in einer Welt von Gerüchen. Auf einmal stank die Pisse unter seinen Schuhen. Seine Socken dampften, die Unterwäsche hatte einen Hefemief. Im Korridor vor seiner Tür roch es, als wäre dort jemand gestorben und anschließend eingemauert worden. Von seinem Bett aus witterte er die Gesichtscreme von Mrs. Fitzmaurice, über die ganze Distanz durchs Treppenhaus, um die Ecke und durch die Tür zu ihrem tristen, einsamen Witwenzimmer. Und er roch auch ihre Traurigkeit, den Duft von brachliegendem, altem Fleisch, den weggesperrten, nutzlosen Leib. Vor dem Haus parkte ein Wagen mit Benzin im Tank, und er konnte dieses Benzin riechen. Und Essen: Zwiebeln, Rindfleisch, eingelegte Bohnen, irgendein Gewürz – was war das, Basilikum? Ja, Basilikum. Er hatte seit Jahren kein Basilikum mehr gerochen – gar nichts hatte er gerochen –, und es trieb ihm Tränen in die Augen.
Als nächstes hatte er auf einmal Appetit.
Zuerst die Gerüche, dann der Hunger. Auf einmal stand er zum Frühstück auf, saß bei Mrs. Fitzmaurice neben seinen Mitpensionären am Tisch, bei Pfannkuchen wie Steinen, der Porridge wie Stein kurz vor dem Hartwerden, der Sirup wie ausgepreßter Stein, aber er aß, aß alles auf und wischte seinen Teller mit Brot aus. Jeden Vormittag um halb elf wanderte er, statt wie sonst ein Päuschen zum Saufen einzulegen, in die Küche hinunter und beschwatzte Sam Wah, daß der ihm ein Beefsteak oder ein Stück Leber mit Zwiebeln briet, und beim Mittagessen saß er gegenüber von Mr. McCormick, auf dem Schoß von einem der Richter, schmierte sich Butter aufs Brot und löffelte seine Suppe, als hätte er tagelang nichts gegessen. Weil er außer an den Wochenenden immer zu spät für das Nachtmahl zu Mrs. Fitzmaurice zurückkehrte – sie berechnete ihm auch nie etwas –, speiste er abends bei Menhoff, und wenn er dort eine Flasche Ginger Ale trank, studierte er mit versonnenem Lächeln das Etikett: »In Erinnerung an den 18. Verfassungszusatz und das Volstead-Gesetz wird der Inhalt dieser Flasche unter der ausdrücklichen Voraussetzung verkauft, daß er keinesfalls mit alkoholischen Getränken gemischt werden darf.«
Seine Anzüge, die an ihm herabgeschlottert hatten, paßten allmählich wieder. Er pflegte sein Haar und putzte sich die Zähne, achtete darauf, daß er sich morgens unter den Achseln wusch, und nachdem er einen Monat lang den Produkten von Charley Waterhouse, Bill McCandless und sogar Cody Menhoff abgeschworen hatte, der inzwischen eine bessere Sorte von selbstgebranntem Gin unter dem Tisch verhökerte, wobei der Sheriff ein Auge zudrückte, da stellte O’Kane fest, daß er noch etwas anderes wiederentdeckte: seine Libido. Er erwachte jeden Morgen mit einem enormen Prügel zwischen den Beinen, und wenn er die Straße entlangschlenderte, um auf Roscoe zu warten, glotzte er jedem weiblichen Wesen zwischen zwölf und sechzig hinterher und tippte sich so oft an den Hut, daß die Krempe schon ganz abgenutzt war. Er brauchte eine Frau. Die gesamte restliche Woche und die nächste dachte er kaum an etwas anderes, das unsagbare Problem, wo er eine finden konnte, brannte ständig in seinem Kopf – ob er nun gerade die Nadel auf seine Sousa-Schallplatte auflegte, die versperrte Tür zum oberen Salon entriegelte oder mit Mart und Mr. McCormick zu einem ihrer verrückten Querfeldeinläufe aufbrach. Wenn er den leisen Trompeten, Tubas und Sousaphonen lauschte oder hinter Mr. McCormick hertrottete, drehte und wendete er das Problem immer wieder hin und her: Frauen, jedenfalls die Sorte Frauen, die er im Sinn hatte, die saßen in hellen Scharen beim Cocktail in den Flüsterkneipen, die überall in der Stadt entstanden waren, aber um an sie heranzukommen, würde auch er einen Cocktail trinken müssen, und der eine führte garantiert zum nächsten, bis ihm wieder alles egal war, er Appetit und Geruchssinn verlor und Mr. McCormicks Richter in ihrer ganzen unwiderlegbaren Körperlichkeit vor sich sitzen sah.
In genau diesem Zustand, mürrisch und geil wie ein Bock, aber hellwach für jeden sinnlichen Hauch auf der Welt, ging O’Kane eines Morgens in Riven Rock die Treppe hinauf zum oberen Salon und sah dort Mr. McCormick, der die Arme so weit wie möglich durch die Gitterstäbe streckte und mit beiden Händen die Kehle von Sam Wah, dem Koch, gepackt hielt. Sams Gesicht hatte bereits eine häßliche Farbe, es war angeschwollen und dunkel wie ein blauer Fleck, und obwohl er seinerseits die Hände um Mr. McCormicks Knöchel schloß, wehrte er sich kaum, seine Füße strampelten in der Luft, über die Augen legte sich ein matter Film. Und Mart? Wo war der? Er lag bewußtlos auf dem Boden hinter Mr. McCormick, und in seinem Mundwinkel erblühte eine glänzendrote Nelke aus Blut.
O’Kane verlor keine Zeit – im Nu rannte er die Treppe hinauf und schlug methodisch auf Mr. McCormicks Unterarme ein, kein Wort wurde gewechselt, nichts als Ächzen und Flüche und scharfes, zischendes Luftholen, bis Mr. McCormick Sam endlich losließ und der Koch zu Boden plumpste wie ein Sack alter Kleider. Doch Mr. McCormick war noch nicht fertig, noch lange nicht. Sobald O’Kane seine Hände auseinanderzwang, packte Mr. McCormick statt dessen O’Kane an beiden Armen und riß ihn mit aller Gewalt gegen die harten Metallstangen, und während der Kampf weiterging, rappelte sich Sam Wah benommen auf, rieb mit zittriger Hand wütend seinen Hals und brach in eine schrille Litanei von chinesischem Wehgeschrei aus. Zu guter Letzt bekam O’Kane Mr. McCormick in den Griff, und in einer Pattstellung hielten sie inne, jeder hatte die Arme des anderen durch die unnachgiebigen Eisenstäbe gepackt.
»Sie nich wollen, ich nich Koch!« schrie Sam Wah, der auf dem Treppenabsatz herumtanzte und die Fäuste schüttelte. »Mistah Cormah, Sie kein Recht dazu!«
O’Kane warf einen raschen Blick an dem verzerrten Gesicht seines Arbeitgebers vorbei, sah das Frühstücksgeschirr im Zimmer verstreut und zog den Schluß, daß Mr. McCormick etwas gegen die Zubereitungsart seiner Spiegeleier einzuwenden gehabt hatte.
»Sie kein Recht dazu so mich am Hals fassen, Mistah Cormah!« Sam Wah war grün vor Wut. Er riß sich die Schürze herunter, knüllte sie zusammen und schleuderte sie zu Boden, neben seine Haube, die dort bereits in einem früheren Stadium ihrer Auseinandersetzung gelandet war. »Mistah Cormah, muß ich sagen, nach vierzehn Jahr ich kündige!«
Eisern in O’Kanes Armen verhakt, stand Mr. McCormick reglos auf der anderen Seite des Gitters, verzog keine Miene, sprach nicht ein einziges Wort, aber er hatte den Kiefer bockig vorgeschoben, und der Ausdruck in seinen Augen besagte, daß er niemals loslassen würde, gekränkter Trotz eines überaus verzogenen reichen kleinen Jungen, der lieber sterben würde als zuzugeben, daß er im Unrecht war.
Die Konsequenz all dessen war eine Revolution im kulinarischen Alltag in Riven Rock. Brush, dem die Sache im Grunde egal war, besprach sich mit Butters und den Pflegern und wer ihm sonst noch zuhören wollte, wobei sich ergab, daß männliche Köche wahrlich dünn gesät waren – ganz zu schweigen von einem männlichen Küchengehilfen, den Sam Wah mitgenommen hatte. Als Notbehelf wurde zunächst einer der mexikanischen Gärtner befördert, der behauptete, er habe vor der Revolution in einem Restaurant in Veracruz gekocht. Er hielt sich drei Tage lang, an denen das Haus von eigenartigen, beunruhigenden Gerüchen durchweht war. Jede Mahlzeit, die er zubereitete, schien aus einer klebrigen Bohnen-Reis-Paste zu bestehen, eingewickelt in eine dünne, brotartige Substanz, die niemand identifizieren konnte, und war immer so beißend und vor allem dauerhaft scharf, daß es einem wie loderndes Petroleum in der Kehle brannte. Mr. McCormick bekam das nicht gut, und er verbrachte ganze Vormittage mit heruntergelassener Hose auf der Toilette, wo er das Klopapier faltete und wieder entfaltete, während er auf die nächste Eruption seiner Eingeweide wartete.
Als nächstes probierten sie es mit einem ausgemergelten, sonnengegerbten alten Mann, der früher einmal einen Proviantwagen für die Schafhirten in den Hügeln von Goleta betrieben hatte, aber der wiederum konnte nichts als Hammelfleisch zubereiten, und nach einer Woche davon – gekocht, gebraten, geschnetzelt, gegrillt und bis zur Mumifizierung im Tontopf geschmort – gingen sie dazu über, sich von Diehls Feinkostgeschäft etwas kommen zu lassen, drei Mahlzeiten täglich. Schließlich nahm Dr. Brush, der höchst unzufrieden und entnervt war, eines Nachmittags O’Kane beiseite und fragte ihn, was er davon hielte, eine Frau anzustellen – nur zum Kochen und für die Küchenarbeit.
»Eine Frau?« wiederholte O’Kane, als sprächen sie von einer fremden Gattung, und er dachte dabei an Elsie Reardon und die anderen Dienstmädchen, die sie in der Anfangszeit gehabt hatten. Es war schon so lange her. So lange, daß es ihm vorkam, das Frauenverbot wäre seinerzeit in Stein gehauen und vom Berg Sinai gebracht worden.
»Ja!« rief Brush ungeduldig, weil er sich ärgerte, daß er nebenbei als Verwalter und Majordomus des Hauses fungieren mußte, wo er doch als studierter Psychiater selbstverständlich zu Höherem berufen war, schlicht und einfach aus dem Grund, daß er dafür ausgebildet und eingestellt worden war. Er sah O’Kane entnervt an. »Mr. McCormick ist in letzter Zeit, tja, viel ruhiger«, sagte er, »abgesehen natürlich von dem unseligen Vorfall mit dem Koch, meine ich, und wenn wir der Frau strikten Befehl geben, daß sie keinesfalls den Küchentrakt verlassen darf, und ein scharfes, wachsames Auge auf den Patienten haben, tja, dann sehe ich gar keinen Grund, warum wir, tja, keine Köchin einstellen sollten. So geht es jedenfalls nicht weiter, das ist klar.«
O’Kane musterte ihn kurz und versuchte das Ausmaß der Erregung des Arztes abzuschätzen, dann zuckte er die Achseln. »Sicher«, sagte er. »Warum nicht?«
Und so kam es, daß O’Kane am nächsten Morgen im Haus von einem Duft nach Saucen und Gewürzen und frischgebackenem Brot begrüßt wurde, der ihn vor Appetit fast ohnmächtig umfallen ließ: richtiges Essen – italienisch, dem Geruch nach –, nicht der immergleiche, namenlose Dreck, den Mrs. Fitzmaurice in ihrer Pension auftischte. Er schloß die Gittertür oben auf und sperrte sie sorgfältig hinter sich ab, nun war wieder eine Frau im Haus, da durfte er auf keinen Fall nachlässig oder vergeßlich sein. Mart las Mr. McCormick aus einem Buch mit Shakespeare-Dramen vor. Sie wirkten beide entspannt und wandten sich lächelnd zu ihm um, als er von der Tür auf sie zuging. »Guten Morgen, Mr. McCormick«, sagte er und fühlte es auch, fühlte die Veränderung, die über sie gekommen war, den Zauber, die Segnung des guten Essens.
»M-Morgen, Eddie«, sagte Mr. McCormick klar und fröhlich. Mart, dessen aufgeplatzte Lippe inzwischen wieder verheilt war, sah von dem Buch auf und knurrte etwas zur Begrüßung.
»Riecht ja toll«, sagte O’Kane, denn der satte Duft nach Wurst, Knoblauch und Tomaten war aus der Küche bis in die obere Etage hinaufgedrungen.
»Ja«, sagte Mart und wackelte grinsend mit seinem großen Kopf. Alle drei mußten unwillkürlich schlucken.
»Na, und wer ist die neue Köchin?« wollte O’Kane wissen, während er neben Mart auf das Sofa sank.
Mart sah zu Mr. McCormick hinüber; Mr. McCormicks Augen glitzerten. Er hatte einen Gesichtsausdruck, der neu war – ihm mußte niemand erzählen, daß da unten eine Frau war. »Weiß nicht«, sagte Mart. »Irgendeine Witwe, glaube ich. Ein Itakerweib.«
O’Kane runzelte die Stirn. Da stimmte etwas nicht, und er spürte es bis tief in die Gedärme hinein, wo all diese Spaghetti und Ravioli und Lasagne letztendlich landen würden. Das konnte nicht sein. Es gab Tausende Witwen im ganzen Land, Kriegerwitwen, alte Damen in Schwarz, die über die Gehsteige watschelten, Frauen, deren Männer auf See, bei Autounfällen und Zugunglücken, an Herzversagen und Krebs gestorben waren, die mußten sich alle ihren Unterhalt verdienen, auch wenn sie alt und gebrechlich waren. Dennoch stand er abrupt auf und sah sich etwas benommen um. »Würden Sie mich bitte entschuldigen, Mr. McCormick?« bat er. »Ich muß noch mal kurz hinunter – ich hab was vergessen.«
Und dann war er auf der Treppe, das süße Aroma von Marinara-Sauce und ofenfrischem Brot wurde stärker und stärker, als er nach unten ging, den Dienstbotentrakt betrat und die Schwingtür in die Küche aufstieß. Überall stieg Dampf auf, wurde vom fächelnden Luftzug der Tür in Fetzen und Schleier zerteilt, alle Brenner des Herdes waren voll aufgedreht, in den großen gußeisernen Töpfen zischte und brodelte heiße Flüssigkeit, und da stand eine Gestalt, eine vertraute Gestalt, die er so gut kannte wie keine andere, etwas fülliger vielleicht, ein wenig älter, aber sie war es, unleugbar: Giovannella.
»Hallo, Eddie«, sagte sie und sah ihn mit kalter, sachlicher Miene an, so gleichgültig wie der Wind, »lange nicht gesehen.«