Wohltuender Stupor
O’Kane lag hingelümmelt auf einem
kreisförmigen Rasenstück zwischen den Lorbeerbäumen, zusammen mit
Mart und Mr. McCormick, und alle drei waren sie schweißgebadet und
atmeten schwer. Mr. McCormick hatte seinen Spaziergang an diesem
Vormittag besonders rasant angepackt und ihnen eine Verfolgungsjagd
von einem Ende des Grundstücks zum anderen geliefert, heftig
arbeitende Ellenbogen und geblähte Nasenlöcher, den Blick auf eine
unsichtbare Verlockung in der Ferne geheftet. Zuerst ging es
bergauf, einen unmenschlich steilen Weg den höchsten Hügel mit dem
schwindelerregenden Ausblick über den Channel hinauf, dann drehten
sie um und rasten wieder hinunter, allen voran Mr. McCormick in
wahnwitzigem Tempo, eine Finte hierhin, eine dorthin, bis sie das
Haus dreimal umrundet und endlich hier zwischen den Lorbeerbäumchen
Ruhe gefunden hatten. Mart lag rücklings auf einer Steinbank beim
Brunnen, reglos bis auf sein angestrengtes Atmen, Mr. McCormick
hatte sich auf dem Rasen ausgestreckt und starrte in das Granulat
des Himmels, das Jackett als Kissen unter dem Kopf
zusammengeknüllt. Es war vollkommen still, kein Windhauch, kein
Laut. Die Sonne erdrückte sie fast mit ihrer Last.
»Schade wegen Hoch«, bemerkte O’Kane nach einer
Weile, nur um etwas zu sagen.
Mart gab einen Knurrlaut von sich. Mr.
McCormick starrte zum Himmel empor.
»Den hab ich gemocht, weißt du, Mart? Er war
nicht so erregbar wie Hamilton oder Brush – wenn das das richtige
Wort dafür ist. Und Mr. McCormick hat ihn ja am Ende auch richtig
gern gehabt, nicht wahr, Mr. McCormick?«
O’Kane hatte eigentlich keine Antwort erwartet
– er und Mart redeten nun ihr halbes Leben lang an ihrem
Arbeitgeber und Wohltäter vorbei –, aber Mr. McCormick überraschte
ihn. Er drehte den Kopf und sah O’Kane mit prüfendem Blick an. »Dr.
Hoch?« echote er mit schriller, bebender Stimme. »W-was ist denn
mit ihm?«
»Sie erinnern sich doch, Mr. McCormick – das
war doch erst gestern, gestern früh. Dr. Brush hat es uns
erzählt.«
Pause. Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über
Mr. McCormicks Gesicht. Nach einer Weile sagte er: »Nein, ich
erinnere mich nicht.«
»Sicher doch. Sie waren sehr unglücklich
deswegen – und da haben Sie mein volles Verständnis. Es hat uns
alle bedrückt.«
Dr. Brush war vor einem Monat aus Europa
zurückgekehrt, im August, gerade rechtzeitig, um Hoch abzulösen,
dessen Zustand sich rapide verschlechtert hatte. Falls die Härten
der Westfront bei Brush überhaupt Spuren hinterlassen hatten, dann
war er noch fetter und leutseliger geworden als früher, und am
Vortag hatte er Mr. McCormick mit einem Stapel von Platitüden und
ganzen Schiffsladungen von »Schlicht-und-einfach-aus-dem-Grund«
erklärt, daß Dr. Hoch am Morgen an den Folgen einer Aortenstenose
verstorben sei – einer familiär vererbten Herzerkrankung. Doch Mr.
McCormick brauche sich deshalb nicht zu kümmern, sagte Brush, weil
Dr. Hoch ein alter Herr gewesen sei, der ein reiches, erfülltes
Leben hinter sich gehabt und zahllose Beiträge im Bereich der
Psychiatrie geleistet habe, darunter das Manuskript eines neuen
Buches – Fälle von benignem Stupor –, das
er gerade noch beenden konnte, bevor sein Herz den Dienst
versagte.
Mr. McCormick saß beim Frühstück, wo er zwei
gebratene Eier und eine dicke rosa Schinkenscheibe penibel mit dem
Suppenlöffel zu zerteilen versuchte, dem einzigen ihm verfügbaren
Besteck. »Wie alt?« fragte er, ohne aufzublicken.
»Hm? Was?« Seine Frage überraschte Brush.
»Dr. Hoch«, sagte Mr. McCormick im leisen,
behutsamen Tonfall des Rhetorikers, »wie-wie alt war der
Herr?«
Brush zog von irgendwoher einen Zigarrenstummel
hervor und schob ihn sich in den Mund. »Hoch?« wiederholte er.
»Ach, ich weiß nicht – in den Sechzigern jedenfalls.«
»Einundfünfzig«, korrigierte Mr. McCormick ihn,
immer noch ohne aufzusehen. »Und wissen Sie, wie alt ich bin, Dr.
Brush?« Er wartete nicht auf die Antwort. »Im November werde ich
fünfundvierzig. Bin ich auch ›ein alter Herr‹?«
»Aber natürlich nicht, Mr. McCormick –
Stanley«, dröhnte Brush, dessen wabbliges Fleisch in Bewegung
geriet, als er auf seinen zu kleinen Füßen durch den Raum
watschelte, »Sie sind doch noch ein junger Mann, ein Ausbund an
Kraft und Gesundheit, schlicht und einfach aus dem...«
Mr. McCormick hatte gewartet, bis das
Frühstücksgeschirr abgeräumt war und er sich angezogen und den Weg
zum Theatergebäude hinter sich hatte, ehe er seinen Gefühlen zu
diesem Thema freien Lauf ließ. Mit ohrenbetäubendem Röhren, das das
hypnotische Ticken von Roscoes Projektor erstickte und die Possen
von Charlie Chaplin und Marie Dressler zunichte machte, verkündete
er: »Ich will nicht sterben!«
Brush rief prompt aus der Dunkelheit: »Sie
werden nicht sterben, Mr. McCormick.«
»Doch!«
Bewegung kam in den Saal, als O’Kane und Mart
in Position gingen und Brush sich im Flackern der Schatten wie ein
Gebirge von seinem Klappstuhl erhob. Auf der Leinwand hüpfte
Charlie Chaplin herum und trat einen Polizisten in den Hintern, und
O’Kane mußte unwillkürlich lachen. »Aber, aber«, sagte Brush, der
über der hingefläzten Gestalt ihres Arbeitgebers aufragte, »Sie
sind ein gesunder Mann, Mr. McCormick, kräftig und in Hochform, und
das wissen Sie auch. Und Sie haben hier die besten Bedingungen, die
denkbar bekömmlichste Umgebung...«
Mr. McCormicks Stimme war dünn und angespannt
wie ein Drahtseil. »Er ist ein stinkender, verwesender Leichnam mit
– mit diesen Dingern, die ihm zu den Augen rauskommen, weil – weil
das nämlich das erste ist, was sie fressen, die Augen, und Sie
wissen das genau!«
»Davon weiß ich überhaupt nichts, und zwar
schlicht und einfach aus dem Grund, daß eine solche Vorstellung mir
zu morbide wäre.« Brush fuchtelte mit den Armen im flackernden
Licht, und die untere Hälfte von Chaplins Gesicht zuckte hektisch
auf seiner Schulter wie in einer gespenstischen Erscheinung.
»Denken Sie sich, er wäre im Himmel, in den Armen Gottes...«
»Gott ist ein Schwindler«, fauchte Mr.
McCormick und warf wütend den Kopf herum. »Und Sie genauso.«
Und dann folgte die unvermeidliche Schlägerei,
zerbrechende Stühle, Flüche, Geschrei und Gejammer, das Tasten nach
dem Lichtschalter und schließlich Dr. Brush, der wieder einmal sein
überzeugendes, rettendes Körpergewicht der rücklings liegenden
Gestalt ihres Arbeitgebers und Wohltäters auf intimste Weise
präsentierte.
Begreiflicherweise wollte O’Kane das Thema
deshalb jetzt nicht weiter forcieren – er fühlte sich restlos
ausgebrannt nach dem Wettlauf rund um das Grundstück und den
verdammten Hügel hoch, das war für diesen Tag genug körperliche
Betätigung gewesen, vielen Dank. »Na ja, wenigstens haben wir Dr.
Brush wieder«, sagte er etwas lahm. »Und der ist ja ganz in
Ordnung.«
Mr. McCormick schien dazu keine Meinung zu
haben. Er starrte weiter in den Himmel, als könnte er irgendwo dort
oben Dr. Hoch auf einer Wolke sitzen sehen. Und Mart – Mart war
auch keine Hilfe. Seine Arme hingen schlaff von der Bank herunter,
und sein Atem wurde immer langsamer, bis er zu schnarchen anfing.
O’Kane lag eine Weile da, den Kopf auf die Hände gebettet, genoß
die Stille und den herrlichen Tag, bis er an das zu denken anfing,
das ihn in letzter Zeit einzig und allein aufrechterhielt –
Schnaps, oder genauer gesagt: die kleine Flasche mit
Bourbon-Whiskey, die er im Wasserkasten von Mr. McCormicks Toilette
versteckt hatte. Es war bereits nach Mittag, und es gab keinerlei
Grund, warum sie hier im Gras lagen, anstatt ins Haus zu gehen und
sich zum Essen fein zu machen – und für andere Aktivitäten. Er sah
es vor sich, wie er ins Bad schlüpfte, während Mr. McCormick seinen
Hackbraten mit Sauce löffelte, er sah die wassertriefende Flasche
und spürte, wie der Korken aus ihrem Hals glitt, fühlte den
Schluckreflex seiner Kehle, der für ihn seit längerem die beste
Annäherung an einen Orgasmus war, jedenfalls seitdem er den Frauen
abgeschworen hatte. »Tja, also«, sagte er mit so viel Frohsinn, wie
er aufbringen konnte, während er seinen müden, ausgedörrten Körper
vom Gras hochstemmte, »meine Herren – wie wär’s mit dem
Mittagessen?«
Und das wäre auch ganz gut so gewesen, denn
Mart fuhr aus dem Schlaf hoch, Mr. McCormick stand auf und fing an,
mechanisch sein Jackett abzuklopfen, ehe er es anlegte – wenn nicht
die Taschenratte gewesen wäre. Anfangs wußte O’Kane nicht genau,
was es war. Ein kleines Vieh, wie ein Maulwurf, nur heller,
gelblichbraun, fast wie ein Kürbis, steckte plötzlich den Kopf aus
einem Loch im Boden und flitzte zweimal quer über den Rasen, bevor
es in einem zweiten Loch wieder verschwand wie Wasser im Abfluß.
Mr. McCormick war wie vom Donner gerührt. Zuerst. Dann wurde er
aufgeregt. »Haben Sie das gesehen?« fragte er. »Haben Sie? Haben
Sie es gesehen?« Inzwischen war er auf Knien und Händen und schob
prüfend den rechten Arm in den Bau des Tiers, stieß ihn bis zum
Ellenbogen hinein. »Was ist das?« sagte er immer wieder.
»Keine Ahnung«, sagte O’Kane achselzuckend.
»Ein Wiesel?«
Mart kam zu ihnen und sah auf das Erdloch und
Mr. McCormick hinab, der sich die Manschetten und den Ärmel des
Jacketts ruinierte. »Das ist kein Wiesel«, sagte er. »Bist du
verrückt oder was? Wiesel sind lang und schmal.«
»Was soll es denn dann sein?« wollte O’Kane
wissen. Eigentlich war es ihm so oder so ziemlich egal, aber es
paßte ihm nicht, daß Mart ihn als Ignoranten hinstellte.
Mart kratzte sich am Kopf. »Ein Murmeltier«,
sagte er, schien sich aber nicht allzu sicher.
Jetzt hatte Mr. McCormick bereits den ganzen
Arm in den Bau gesteckt, bis zur Schulter, und er schaufelte mit
der Hand die Erde heraus. »Es ist hier drin, ich weiß es«, sagte
er, dann stand er auf und ließ den Teil des Baus einstürzen, den er
bereits ausgehoben hatte, ehe er wieder auf die Knie fiel und den
Arm in die neue Öffnung stieß. Perplex blickte er auf. »Es – es
frißt den Lorbeer an«, sagte er.
»Keine Sorge, Mr. McCormick«, beschwichtigte
ihn O’Kane, der eine Krise heraufdämmern spürte. »Ich werde dem
Chefgärtner sagen, daß er sich gleich nach dem Mittagessen darum
kümmern soll. Und übrigens, da wir gerade vom Essen reden« – er zog
mit schwungvoller Gebärde seine Uhr hervor – »wenn wir uns beeilen,
kommen wir noch rechtzeitig.«
Mr. McCormick beachtete ihn nicht. Er war jetzt
wild am Graben, wie ein Foxterrier kauerte er über dem immer länger
werdenden Höhlengang. Schon hatte er sich die Fingernägel
abgebrochen, und wie ein zerfetztes Band quoll Blut unter der
Dreckkruste seiner rechten Hand hervor. Mr. McCormick war
durcheinander. Er war besessen. Er war krank und psychopathisch.
O’Kane wollte keine Gewalt, nicht jetzt, nicht heute – er wollte
nichts weiter als zurück ins Haus und sich heimlich einen Drink in
der Toilette genehmigen – aber er würde eingreifen müssen, sehr
bald sogar, das war ihm klar. Er wollte Mart ein Zeichen geben,
aber Mart achtete nicht auf ihn – er hatte sich neben Mr. McCormick
aufgestellt und sah in die Grube hinein, dabei sagte er: »Ich
glaube, es geht da lang weiter, ja, genau, durch das Blumenbeet und
dann zu den Büschen dort drüben...«
O’Kane packte ihn am Arm. »Vielleicht weiß Dr.
Brush, was es ist«, sagte er in einem falschen, leutseligen
Tonfall. »Mart, würdest du bitte mal Dr. Brush holen?« Und dann
griff er fester zu und fügte, mit leiser Stimme, nur für Mart,
hinzu: »Jetzt. Jetzt gleich. Verstehst du mich?«
Als Mart nach zehn Minuten mit einem
keuchenden, schwitzenden und fluchenden Dr. Brush im Schlepptau
zurückkam, hatte Mr. McCormick bereits einen sieben Meter langen
gewundenen Graben ausgehoben, durch den Lorbeer und zurück in den
Rasen, wo er jetzt entschlossen weiterbuddelte, mit einem Stock,
den er unter den Oleanderbüschen gefunden hatte (eben jenen
Büschen, von denen O’Kane ihn gemäß mehrfachen Warnungen fernhalten
sollte, da ihre Blüten, Blätter und Rinde hochtoxisch waren). »Mr.
McCormick!« bellte der noch nach Atem ringende Brush. »Was soll
denn das? Sie ruinieren hier doch die Beete! Und den schönen Rasen,
mit dem sich Mr. Stribling solche Mühe gegeben hat.«
Mr. McCormick blickte nicht einmal auf. Es war
sein Grund und Boden, und er konnte sich bis nach China
durchgraben, wenn er wollte. »Es – es ist ein – ein – ein
Murmeltier«, sagte er. »Es lebt hier. Unter dem Gras.«
»Ja, ja«, sagte Brush und beugte sich über ihn.
»Das bezweifle ich auch gar nicht, aber was kümmert Sie das
eigentlich, Mr. McCormick? Das Tier verursacht doch keinen Schaden,
und wenn doch, nun, so werden wir unseren hervorragenden Mr.
Stribling und seine Gärtnerburschen darauf ansetzen. Und nun kommen
Sie, kommen Sie heraus, dann können wir uns saubermachen und zu
Mittag essen. Klingt das nicht nach einer guten Idee?«
»Nein«, sagte Mr. McCormick und wühlte weiter,
und die Erde flog in hohem Bogen in Richtung von Brush, so daß der
zurückweichen mußte, um keinen Dreck in die Manschetten zu
bekommen. »Nein. Ich muß das Vieh erwischen. Ich will es
u-umbringen. Es macht die... Blumen kaputt, verstehen Sie
nicht?«
Es hatte wenig Sinn zu diskutieren, nicht wenn
er in diesem Zustand war, und niemand hatte wirklich Lust, sich im
Dreck zu wälzen und ihn niederzuringen, schon gar nicht nach der
Prügelei im Kinosaal am Vortag, also blieb Dr. Brush diplomatisch
und schickte Mart, um Stribling zu holen.
Stribling war recht reserviert für einen
Gärtner – oder Landschaftsarchitekten, wie er sich gern nannte –,
und bei den wenigen Malen, die O’Kane ihm begegnet war, meist beim
Dauerlauf von einem Ende des Grundstücks zum anderen, vor sich den
hüpfenden, Haken schlagenden Mr. McCormick, war der Mann schroff
und unkommunikativ gewesen. Er stand mit Katherine in Briefkontakt,
und obwohl er ihr alle größeren Projekte zur Genehmigung vorlegte,
hatte er ziemlich freie Hand, die Arbeit seines Vorgängers
weiterzuführen, eines berühmten Spaghetti, an dessen Namen sich
O’Kane nie erinnern konnte, und er hatte immer ein Team aus
Hilfsarbeitern, Fahrern und Düngerausbringern unter seiner Fuchtel.
Wenn sie nicht gerade Schlamm aus einem Becken schaufelten oder
einen Wasserturm errichteten, bauten sie garantiert Steinbrückchen
über die Bäche oder reparierten und verbreiterten die Fahrwege,
außerdem stutzten sie ständig wie eine Horde übereifriger Barbiere
an jedem Busch herum. Es dauerte keine fünf Minuten, bis Stribling
da war, mit einem zweiten Mann im Schlepptau – einem hageren,
langen Iren mit unstetem Blick – die Sorte Mensch, die O’Kanes
Mutter einen »langen Schluck Wasser« genannt hätte. Wenn sich
O’Kane nicht irrte, dann hieß der Bursche O’Hara oder vielleicht
auch O’Mara – diese Tagelöhner kamen und gingen, und man konnte bei
ihnen nur schwer die Übersicht behalten, außer natürlich sie ließen
sich in einem der Saloons blicken. Sowohl Stribling wie der Ire
trugen Schaufeln über der Schulter.
»Ah, da sind Sie ja, Mr. Stribling«, rief
Brush, »und wie ich sehe, haben Sie gleich einen Ihrer, äh,
Mitarbeiter dabei, um so besser. Nun, es gibt da ein kleines
Problem, und zwar schlicht und einfach aus dem Grund, daß hier ein
Maulwurf oder so etwas unter dem Rasen aktiv ist, und Mr. McCormick
ist deswegen sehr besorgt, nicht wahr, Mr. McCormick?«
Die Erde flog auf. Mr. McCormick antwortete
nicht.
Stribling und sein Mann traten näher und
begutachteten den Graben durch das Beet, den zerpflügten Rasen und
die entwurzelten Oleanderbüsche. »Eine Taschenratte«, sagte
Stribling trocken, und er war so von der Sonne verbrannt, daß man
ihn fast selbst für einen Spaghettiwickler hätte halten können. Er
hob einen Finger an den Nasenflügel und betrachtete Mr. McCormick.
»Die kriegen wir schon, keine Sorge«, sagte er. »Aber wissen Sie,
Mr. McCormick, Sie brauchen doch hier nicht selber zu graben – wir
nehmen dafür eine Falle, dann erwischen wir das Biest
bestimmt.«
Der Ire mit den unsteten Augen, dessen Nase
sich schälte, begann die Erde in den Graben zurückzuschaufeln, aber
davon wollte Mr. McCormick nichts wissen. »Gehen Sie weg da!«
herrschte er den Mann an und grub nur um so entschlossener.
Inzwischen war jede Faser seiner Kleidung ruiniert, so daß Waschen
oder Flicken nichts mehr helfen würde. Die Knie seiner Hose
glänzten vor Dreck, sein Kragen war ein brauner Lappen, die
Krawatte zerfetzt.
»Es ist nach eins, Mr. McCormick«, ermahnte ihn
Brush. »Sie werden das Mittagessen verpassen, wenn Sie sich jetzt
nicht beeilen, und wir müssen ja noch Zeit zum Waschen
einrechnen.«
Hier legte auch O’Kane ein Wörtchen ein.
»Genau, Mr. McCormick. Mittagessen.«
Während der folgenden Stunde standen sie alle
fünf in der über ihnen dahinziehenden Sonne, traten von einem Fuß
auf den anderen und sahen Mr. McCormick bei der Arbeit zu. Er hatte
eine Schneise durch die Oleanderbüsche geschlagen, quer über den
Kiesweg dahinter und in ein weiteres Blumenbeet hinein, diesmal
eines mit Fleißigen Lieschen, zerbrechlichen, schlanken Pflanzen,
die umknickten und eingingen, wenn man sie nur fest ansah, und die
ganze Zeit über sagte Stribling Sachen wie: »Hat doch keinen Sinn,
Mr. McCormick, der Bau da ist gut hundert Meter lang, mindestens.«
Und: »Da draußen gibt’s massenhaft von diesen Viechern, und wenn
Sie eins kriegen, kommt gleich das nächste – so was erledigt man
mit Fallen, ich sag’s Ihnen.«
Endlich, und inzwischen war ein gut Teil der
dritten Stunde verstrichen, erhob sich Mr. McCormick aus dem
gewundenen Graben, den er mit den bloßen Händen und einem
Oleanderstecken aus dem Boden gescharrt hatte, und sah Stribling,
der keinen halben Meter von ihm entfernt stand, ins Gesicht. An
einem halben Dutzend Stellen blutend, das Haar wild in die Stirn
hängend, war ihr Arbeitgeber kaum noch wiederzuerkennen unter einer
Schicht von Schweiß und Dreck. »Wofür bezahle ich Sie eigentlich?«
schnappte er plötzlich und baute sich mit herausgedrückter Brust
vor Stribling auf, spie ihm die Worte geradezu entgegen. Und dann,
bebend und mit den Zähnen knirschend, fuhr er zu dem Iren herum.
»Und Sie?« sagte er. »Wozu zahle ich Ihnen wohl Gehalt? Damit Sie
herumstehen und zuschauen? Graben Sie, los!« schrie er, und seine
Stimme klang auf einmal verschnupft und gefährlich. »Graben! Graben
Sie oder – oder Sie können sich eine n-neue Arbeit suchen! Alle
beide!«
Stribling warf Brush einen säuerlichen Blick
zu, wandte sich aber wortlos von Mr. McCormick ab und setzte seine
Schaufel an, ebenso wie der Ire. Dr. Brush, der während dieses
nicht enden wollenden Spielchens die meiste Zeit über einen steten
Strom diverser Proteste gebrabbelt hatte, verlegte sich nun auf
eine neue Taktik, indem er Mr. McCormick versicherte, die Aufgabe
sei nun in guten Händen, womit um so mehr Grund bestehe, ins Haus
zurückzugehen und sich zu waschen – ja, und einmal nachzusehen, was
Sam Wah ihnen zu einem verspäteten Mittagessen auftischen könne.
Denn nach dieser sportlichen Leistung müsse Mr. McCormick doch
gewiß Hunger haben, und das sei genau das Richtige, um Appetit zu
bekommen, schlicht und einfach aus dem Grund, daß der Körper
schließlich Energie verbrauche, nicht wahr?
Doch Mr. McCormick blieb reglos stehen, blutend
und verdreckt, und sah den Männern beim Graben zu. Stribling hielt
den Kopf gesenkt und buddelte verbissen, aber O’Kane bemerkte, daß
er sich auf das ohnehin ruinierte Blumenbeet beschränkte, die
Verluste bereits zu minimieren und den Umfang der Ausschachtungen
einzugrenzen versuchte. Es war drei Uhr vorbei, und Stribling und
sein Arbeiter standen bis zu den Hüften in einem Graben, den man
hätte fluten und mit einem Boot überqueren können, als Mr.
McCormick plötzlich die Arme verschränkte und sagte: »Das wär’s. Es
reicht jetzt.«
Sie blickten hoffnungsvoll auf, alle fünf,
Stribling und der Ire mit schweißnasser Stirn, Brush vom
Herumzetern erschöpft, Mart halb im Koma und O’Kane zu Tränen
gelangweilt und nach einem Drink lechzend.
»Jetzt könnt ihr ihn begraben«, sagte Mr.
McCormick.
Sie starrten einander an. Es war O’Kane, der
schließlich das Wort ergriff. »Wen – den Maulwurf?«
Mr. McCormick schüttelte langsam den Kopf und
sah zum Himmel empor. »Dr. H-Hoch«, sagte er.
Zum Jahreswechsel – jenem von 1919 auf
1920 – bewahrheiteten sich O’Kanes schlimmste Befürchtungen, was
die Katherines dieser Welt anging. Angespornt von den
Frauenrechtlerinnen, den Abstinenzlerinnen und Bibelfanatikerinnen
brachte die Regierung das Volstead-Gesetz durchs Parlament, das
»Herstellung, Verkauf und Beförderung von berauschenden
Spirituosen« verbot, und noch bevor die Frauen das Wahlrecht
erhielten (ein Vorhaben, das O’Kane von vornherein mit Skepsis
betrachtet hatte), wurde ihm das gottgegebene Recht verwehrt, sich
besinnungslos zu besaufen – selbst in der Intimität seines eigenen
kargen Zimmers. Der 18. Januar 1920: dies war der Tag der
Niedertracht. Der Jüngste Tag. Jener Tag, an dem ihm das letzte
Quentchen Freude im Leben geraubt wurde. Entsetzt und ungläubig sah
er zu, wie man in den Kneipen von Spanishtown die Türen vernagelte
und der Verein christlicher Abstinenzlerinnen durch die Straßen
paradierte und guten Whiskey in den Rinnstein schüttete. Menhoff
hatte noch geöffnet, aber nur als Restaurant, und Cody servierte
einem zum Steak sogar ein Bier, falls man dumm genug war, eins zu
bestellen – es war Brausebier, mit 0,5 Prozent Alkohol: weniger als
ein Bottich Sauerkraut enthielt.
Sicher, O’Kane hatte einen Vorrat angelegt:
sechs Kästen Bier und zwei mit Roggenwhiskey standen unter seinem
Bett, im Kleiderschrank lagen etliche Flaschen Bourbon verborgen,
außerdem zehn Halbliterpullen mit Schlehengin in dem Überseekoffer,
der auf Mrs. Fitzmaurice’ Dachboden lagerte – er hatte sogar ein
halbes Dutzend bauchige Weinflaschen hinter dem vorderen Tor von
Riven Rock vergraben –, aber die Geselligkeit der Saloons fehlte
ihm doch sehr. Was tat es schon, daß er die Hälfte seines
Erwachsenenlebens mit dem Anhören diverser, von dem einen oder
anderen Schwachkopf geäußerten Standpunkte über Gott, die
Unsterblichkeit und die Getriebe von Ford-Automobilen verbracht
hatte? Was gab es denn sonst zu tun? Er versuchte es mit Lesen. Er
kaufte sich ein Victrola-Grammophon. Der Regen trommelte an die
Scheiben, und jeder Tag brachte neue Nachrichten über irgendeinen
Narren, der blind und taub geworden war, weil er Frostschutzmittel
oder Wundbenzin gesoffen hatte – und wie war das mit dem
Feuerwehrmann in Pennsylvania, der alles Haarwasser mit Fliederduft
aufgekauft hatte und dann in einem Meer seiner eigenen Kotze
erstickt war? O’Kane arbeitete sich unbeirrt durch seine Bestände,
meistens allein, manchmal aber auch in Gesellschaft von Mart, Pat
oder einer der verlorenen Seelen, die immer im vorderen Schankraum
bei Menhoff gesessen hatten, und während sich die Flaschen
allmählich leerten, fühlte er sich wie ein Todeskandidat, der die
Tage bis zur Hinrichtung zählt.
In dieses Tal der Tränen trat Jim
Isringhausen.
Jim kam im Februar nach Kalifornien, um das
Haus seines Bruders zu lüften und sich fünfhundert Hektar
erstklassiges, flaches, gut bewässertes Land für Zitrusfrüchte bei
Goleta unter den Nagel zu reißen, sieben Kilometer nördlich von
Santa Barbara. Die Nachfrage war stark gestiegen, seit der Krieg zu
Ende war und die Leute an der Ostküste geradezu verrückt waren nach
Apfelsinen, Zitronen, Mandarinen, Limetten, Pampelmusen, Kumquats,
und was sie aus Florida bekamen, stellte nur einen Tropfen auf den
heißen Stein dar im Vergleich zu dem, was Kalifornien produzieren
konnte. Und jetzt war der Moment, sich in dieses Geschäft zu
stürzen, bevor jeder Gebrauchtwagenhändler und Limonadenzapfer mit
ein paar hundert Dollar in der Tasche Wind davon kriegte, gar nicht
zu reden von den Großkonzernen. Und als ersten fragte er O’Kane,
denn O’Kane hatte von Anfang mit dabeisein wollen und geduldig
gewartet, seit zwei Jahren harrte er nun schon aus, während Jim
sein Kapital konsolidiert und die Investoren zusammengesucht hatte,
und das wußte Jim zu schätzen, wirklich.
All das erzählte er O’Kane auf der Fahrt zu dem
Grundstück, das sie inspizieren wollten. Es war ein Tag von
biblischer Pracht: der Ozean brandete, die Berge ragten auf wie
geschnitzt, die Sonne stand am blaugeäderten Himmel wie eine große
Valencia-Orange. Jim sah gut aus. Er trug ein kariertes
Sportjackett und eine Hose aus weißem Segeltuch, Galoschen über den
Schuhen, das Haar war mit französischer Pomade festgeklatscht und
sein Schnurrbart so dünn und fein, daß er fast gar nicht auffiel.
Er fuhr einen neuen Wagen, einen gelben Mercer-Roadster mit
blutroten Speichenrädern und herunterklappbarem Leinwandverdeck.
Jim Isringhausen reichte O’Kane einen silbernen Flachmann, und
O’Kane nahm einen tiefen Schluck Ambrosia – schottischer Whiskey,
der wahre Jakob, rauchig und torfig und das Blöken von Schafen,
alles in einem Schluck, ein Whiskey, wie man ihn nicht mehr fand
und womöglich nie wieder finden würde.
»Also was sagtest du, wieviel kannst du
anlegen?« fragte Jim, während er die Flasche behutsam O’Kanes
widerstrebenden Fingern entwand und an die eigenen Lippen führte.
»Dreitausend?«
Der Wind peitschte O’Kanes Haar, die Sonne
wärmte ihm das Gesicht. Er kniff die Augen zusammen und spürte, wie
neue Hoffnung in ihm aufstieg, ein Hauch davon jedenfalls. »Gerade
mal so. Zwei-neun und noch ein bißchen.«
Jim drehte sich mit der Flasche zu ihm herum.
Auf seinem Gesicht lag der Ausdruck eines Pfarrers, ganz Mitgefühl
und Anteilnahme. »Das sind doch nicht deine gesamten Ersparnisse,
oder? Ich möchte dich wirklich nicht unter Druck setzen – ich
meine, die Sache ist so sicher wie irgendwas, was du auf dieser
schönen Welt finden wirst, aber hundertprozentig ist überhaupt
nichts, das weißt du doch?«
O’Kane zuckte die Achseln. Er hob die Flasche
zum Mund, lässig wie ein Millionär. »Nein«, log er, »hab noch was
in petto.«
Er war kein Dummkopf. Er wußte, was Jim ihm
sagen wollte: es war ein Risiko dabei. Aber Risiko gab es immer: ob
man über die Straße ging, zu Mittag aß oder am Samstagabend einer
Frau tief in die Augen sah. Das hier war seine Gelegenheit, und er
würde sie ergreifen – jetzt brauchte er nur noch eine Reihe von
Orangenbäumen zu sehen, und er wäre dabei.
»Na schön«, sagte Jim, »sagen wir also
dreitausend – du solltest es bis nächsten Dienstag aufrunden
können, weil dann nämlich das Geschäft über die Bühne geht. Bei
vierzig Dollar pro Hektar müssen wir zwanzigtausend aufbringen,
keine Hypotheken, Barzahlung bei Vertragsabschluß, und noch einen
Tausender in Reserve, um ein paar Itaker anzuheuern, die uns die
Bäume wässern und später das Obst pflücken. Für dreitausend kriegst
du dreißig Anteile zu hundert pro Stück. Klingt gut,
Partner?«
»Sicher«, sagte O’Kane.
Jim legte beide Hände ans Lenkrad, als sie
etwas zu schnell durch eine Kurve fuhren, die sich in die falsche
Richtung neigte; der Wind schüttelte den Wagen, und es folgte ein
wohliger Ruck, als Jim hinunterschaltete und auf der Geraden
Vollgas gab, die sich plötzlich vor ihnen öffnete. »Übrigens«,
sagte er, »Dolores läßt dich herzlich grüßen.«
O’Kane ließ diese Information einsickern, als
er die Flasche wieder in der Hand hielt. Sie bogen gerade von der
befestigten Straße auf einen gewundenen Schotterweg ab, über dem
die Luft von Staub und Insekten und herumfliegenden Pollen waberte.
Dolores läßt dich herzlich grüßen. Na fein
– O’Kane hatte sie zwei Jahre lang weder gesehen noch gesprochen,
seit ihr Mann aus dem Krieg zurück war. Einmal hatte er Jim nach
ihr gefragt, in möglichst nebensächlichem Tonfall, und Jim hatte
ihm erzählt, die beiden seien drüben in Europa, irgendwo in
Italien, wo sie eine Villa renovieren ließen – nicht daß O’Kane
sich einen Pfifferling darum geschert hätte. Für ihn gehörten
Frauen der Vergangenheit an. Er hatte es aufgegeben. Nach Rosaleen
und dem armen Eddie jr. – und nach Giovannella.
Auch sie hatte er nicht wiedergesehen, die
Witwe Capolupo. Angeblich war sie wieder zu ihren Eltern gezogen,
mit dem Kind eines Toten unter dem Herzen – jedenfalls behauptete
sie das. Und er hatte nicht gehört, ob sie nun ein Spaghettibaby
bekommen hatte oder ein halbes, und es war ihm auch egal,
inzwischen jedenfalls. Wenn es ihm gelänge, hier sein Glück zu
machen, mit Orangen, sich von den McCormicks zu befreien und
irgendwo neu anzufangen – in San Francisco vielleicht oder in Los
Angeles –, ja, dann würde er möglicherweise auch daran denken, sich
ein hübsches Mädchen um die Zwanzig zu suchen, die ein wenig Grazie
und Stil besaß, damit er in seinen Vierzigern etwas zum Vorzeigen
hatte. Aber im Augenblick konnte er solche Komplikationen nicht
gebrauchen. Und den Schmerz auch nicht.
Der Wagen nahm eine Kurve, und mit einem Mal
waren sie im Orangenland, fuhren an den Baumreihen entlang, mit
ihrem kupfergrün glänzenden Laub und den Orangen, die fett und süß
an jedem einzelnen hingen, als wäre Weihnachten, endlose
Weihnachten, und jeder Baum extra für sie geschmückt. Jim bremste
am Ende einer der langen Reihen, wo der Hain plötzlich aufhörte und
offenes Land begann: gelb blühender Senf, der einem bis an die
Achseln reichte, pelzige blaue Blumen, die sich durch das Unkraut
kämpften, und ein Gewirr von allen möglichen Pflanzen, die da aus
der Erde schossen – nur keine Orangen. »Na?« fragte Jim und
streckte die Arme aus, »was meinst du dazu?«
O’Kane sah über die Schulter auf die Reihen
unerschütterlicher Bäume und dann wieder über das leere Feld. Jims
weiße Hose hatte gelbe Schmutzflecken. Überall erhoben sich die
Baue von Taschenratten, wenigstens wußte O’Kane jetzt, was diese
Hügel waren. »Keine Ahnung«, sagte er. »Was soll ich denn
meinen?«
»Ich weiß, man kann es sich schwer vorstellen«,
sagte Jim und stapfte in das Gestrüpp hinein, »aber sobald wir hier
ein bißchen gejätet und uns um die Bäume gekümmert haben...«
»Welche Bäume? Du meinst« – eine Geste auf den
Hain hinter ihnen – »das sind nicht die Bäume?«
Jim Isringhausen bückte sich über etwas im
hohen Gras. »Hier, sieh mal«, sagte er.
O’Kane sah einen Schößling, der nicht dicker
war als sein Finger, gut einen Meter hoch, mit ein bißchen Laub
daran. Und dann sah er auch die übrigen: winzige, verkümmerte
Fähnchen aus kupfergrünen Blättern, die da und dort aus dem
Unkrautdickicht hervorragten. »Das soll ein Orangenbaum
sein?«
Noch während er fragte, wurde ihm klar, wie
flüchtig das Glück eines Menschen sein konnte.
Jim Isringhausen hatte sich aufgerichtet und
rieb die Erde von seinen gespreizten Händen. »Jo«, sagte er, »ganz
genau. Und eh du dich nur umschauen kannst, werden diese kleinen
Schätzchen hier ebenso viele Früchte tragen wie ihre großen
Schwestern da hinten.«
O’Kane starrte die Stelle an, wo Jim etwas
Unkraut ausgerupft hatte und dieser mickrige Blätterstengel in der
Erde steckte wie ein aus dem Himmel abgeschossener Pfeil. Dann
blickte er wieder über die Schulter, auf das dichte, satte Grün der
Bäume und die Orangen, die dort zahllos im Gitterwerk der
ineinander verschränkten Äste hingen, so weit das Auge reichte.
»Wird aber eine Weile dauern«, sagte er schließlich.
Jim stritt das nicht ab. »Ja«, meinte er und
rieb den Absatz seines hellbraun schimmernden Schuhs am Trittbrett,
um einen Erdklumpen abzustreifen. »Aber nicht so lange, wie du
denkst.«
Danach ging es abwärts, in einem langen,
stetigen Gleiten, das so unmerklich verlief, daß O’Kane es gar
nicht recht wahrnahm, anfangs jedenfalls nicht. Es war, als befände
sich alles in seinem Gesichtsfeld – Mr. McCormick, Dr. Brush, Riven
Rock, Mrs. Fitzmaurice, das Whiskey- und Bierversteck, Mart und Pat
und die aufgelaufene Last all dieser gesparten und verdienten
Dollars – auf einer schiefen Ebene, die mit jedem Tag steiler
wurde. O’Kane gab Jim Isringhausen seine gesamten Ersparnisse – und
überredete Mart, auch noch hundert Dollar und ein paar zerquetschte
dazuzulegen, damit die Investition auf runde drei Tausender kam. Er
hatte auf diesem überwucherten Feld gestanden, die kläglichen
Pflänzchen betrachtet und alles vor sich gesehen: wie die
Taschenratten die Wurzeln zernagten, wie der Brunnen austrocknete
und wie Jim Isringhausen in seiner eleganten Stadtvilla in New York
thronen würde wie J. Pierpont Morgan, während sogar das Unkraut
verwelken und vertrocknen und zu Staub zerfallen würde und die
Orangenbäume so kahl und tot unter der Sommersonne lägen wie die
körnige gelbe Erde selbst. Aber es kümmerte ihn nicht. Es war eine
Chance, immerhin. Eine ziemlich aussichtslose vielleicht, aber er
hatte die Warterei satt, fühlte sich wie ausgezehrt davon,
erschöpft und erledigt, aber auch tollkühn, wahnsinnig, und er
kochte vor Selbsthaß und der schwärzesten Variante fatalistischer
Verzweiflung: wirf eine Münze in den Ozean und schau zu, ob er
Wellen schlägt.
Er trank das Bier und den Whiskey, und als der
Vorrat zu Ende war, trank er den Bourbon. Morgens war ihm übel, und
bis in den Nachmittag hinein hatte er eine trockene Kehle,
verstopfte Stirnhöhlen und einen Brummschädel. Dann trank er den
Gin, und der schmeckte irgendwie nach flüssigem Zahnpulver,
schließlich buddelte er den Wein aus und trank auch den. Inzwischen
waren Schnapsschmuggler in der Stadt, wieselgesichtige Desperados,
die Tequila, Mescal und Pedro-Domecq-Brandy aus Mexiko
heraufkarrten, aber sie wollten acht Dollar die Flasche, neun, zehn
sogar, und was die heimischen Schwarzbrenner draußen in den Cañons
zusammenbrauten, kostete nur ein Viertel davon, selbst wenn es
völlig ungenießbar war. Was sie Whiskey nannten, war reiner
Äthylalkohol, mit Leitungswasser verdünnt, mit Karamel gefärbt und
einem Schuß Pflaumensaft als Aroma, während sie für ihren »Scotch«
noch eine Dosis Holzpech dazuschütteten, zwecks Verbesserung von
Geschmack und Körper. Es war, als tränke man Strychnin,
Batteriesäure, WC-Reiniger, aber es
wirkte allemal, und O’Kane griff darauf zurück, ein treuer Kunde,
ein täglicher Kunde, dessen Hände zitterten, wenn er seine
Geldscheine entfaltete und sie Bill McCandless aus Lompoc, Charley
Waterhouse aus Carpinteria oder dem Farmer Caty aus Gott-weiß-woher
zuschob. Sie betrieben die Destillen – sie machten den Dreck –, und der gutaussehende Eddie
O’Kane nahm ihn mit nach Hause auf sein Zimmer und trank ihn weg. O
ja, alle Jubeljahre ging er mal in Menhoffs Kneipe, bestellte sich
ein Hamburger-Sandwich mit Ginger-ale und saß dann herum, trank ein
Ginger-ale nach dem anderen, bis die Flasche in seiner Gesäßtasche
leer war und ihm jemand zur Tür hinaus helfen mußte, aber meistens
ging er nur auf sein Zimmer und starrte die Wände an.
Und was das für Wände waren. Mrs. Fitzmaurice
hatte sie hinter einer dicken, fasrigen Schicht billigster Tapeten
begraben, mit großzügigen Mengen Kleister aufgepappt auf etwas, was
Gips sein mochte und ebenfalls reichlich bemessen war. Es waren
keine geraden Wände, absolut nicht – sie warfen, wellten und
bauschten sich, falteten hier eine Kordillere auf und sanken dort
zu tiefen Lagunen ab. Das Muster der Tapete sollte irgendwelche
röhrenartige Blumen darstellen, die sich endlos in Blau, Lila und
Minzgrün wiederholten, und wenn O’Kane sie lange genug anstarrte,
wurden diese Blumen erst zu Glocken, dann zu Würsten und
schließlich, wenn er genug von dem Lompoc-Fusel gebechert hatte, zu
abgeschlagenen Köpfen, die aufs Grausigste und Unnatürlichstein die
Länge verzerrt waren. Nur wenige Möbel verstellten ihm die Sicht –
Waschtisch, Bett, Kleiderschrank, Stuhl und Tisch –, aber das
störte O’Kane nicht. Möbel konnte er in Riven Rock den ganzen Tag
lang betrachten, Zimmer um Zimmer davon, vom Feinsten, was es zu
kaufen gab. Er brauchte sie nicht mit nach Hause zu nehmen – und so
sparte er sich die Belastung. Besitztümer waren für die Reichen,
und er war nicht reich, würde es auch niemals werden – außer Jim
Isringhausen gelang ein kleines Wunder.
Mrs. Fitzmaurice hatte sein Zimmer mit ihrem
Meisterwerk verziert, einem ambitiösen Gemälde von 120 × 50, mit
einer gewagten Mischung von Hündchen und Kätzchen, die auf den
ersten Blick einen dämonischen Kampf um die Überreste eines
ausgeweideten Kleintiers ausfochten, was sich bei näherem Hinsehen
jedoch als unschuldige Balgerei um ein Wollknäuel entpuppte. Dieses
inspirierte Werk nahm den Ehrenplatz über dem Bett ein, wo O’Kane
den Kopf verdrehen mußte, wollte er es betrachten, während er trank
und die einzige Schallplatte hörte, die er besaß (eine ätherisch
knisternde Aufnahme von »Semper Fidelis«, die klang, als wäre sie
im Umkleideraum des Footballteams der Notre Dame University
aufgenommen worden). In der einen Wand klaffte ein Fenster, in der
anderen war eine Tür; die dritte war ein ununterbrochenes Medley
aus glocken- und wurstförmigen Blumen. Die übrigen Pensionsgäste –
sie waren zu acht, alle in verschiedenen Stadien von
Hoffnungslosigkeit und Verfall – mieden ihn sichtlich, außer beim
Essen, wenn ein gewisses Maß an Kontakt und sogar Konversation
unvermeidlich war, doch er fing an, die Mahlzeiten auszulassen und
ihnen auf dem Flur auszuweichen, noch bevor sie Gelegenheit fanden,
ihm auszuweichen.
Und so ging es den Winter hindurch, in den
Frühling hinein und dann in den glühenden, zitrusversengenden
Sommer. Langsam ließ O’Kane öfter einen Arbeitstag aus, wenn der
schwarzgebrannte Whiskey oder Scotch oder der »echte holländische
Genever« einmal besonders schlecht gewesen war und ihm so zusetzte,
daß sogar seine Zahnfüllungen schmerzten, und ihm gefiel es gar
nicht, daß er die Arbeit vernachlässigte, er wußte, das war der
Anfang vom Ende von allem, wofür er gekämpft und was er erhofft
hatte, aber er konnte einfach nicht die Energie aufbringen, es
wichtig zu nehmen. Und sonst nahm es ja auch niemand wichtig. Brush
war im Abgang begriffen, das sah jeder Blinde. Er hatte aufgehört,
regelmäßig zu erscheinen, und wenn er einmal auftauchte, dann sagte
er meist nicht viel mehr als hallo und auf Wiedersehen zu Mr.
McCormick, ehe er das Theatergebäude grummelnd und brabbelnd wieder
verließ und sich in seinem Büro verschanzte. Mart war so
begriffsstutzig wie immer, kapierte überhaupt nichts, und Nick und
Pat wurden allmählich so fett, daß sie aussahen wie ein
Bulldoggenpärchen, das im Stehen schlief. Und Katherine, der
regierende Genius loci, ließ sich nirgends sehen. Sie war ein Name
in der Zeitung, Mrs. Stanley McCormick, die mit einem Haufen von
fanatischen Blutsaugerinnen im ganzen Land herumzog – jetzt, da die
Frauen das Wahlrecht besaßen und die Sauferei niedergestimmt
hatten, wollten sie die Babys auch gleich abschaffen. Sicher, wieso
denn nicht – sollte der Storch sie aus dem Himmel bringen, damit
die Frauen ihre Freizeit mit Rauchen, Meckern und Hosentragen
verbringen konnten.
Auch der Haushalt in Riven Rock zeigte einen
deutlichen Niedergang – was sogar der vom Alkohol benebelte O’Kane
bemerkte. Torkelson war weg, abgeworben von einem anderen Millionär
aus der Nachbarschaft, der nicht schizophren war, und der neue
Mann, ein schwerfälliger, langsamer Bursche mit falschem englischem
Akzent und dem lächerlichen Namen Butters, ließ das Personal
praktisch mit Mord davonkommen. Überall lag Staub, gewaltige
Schwaden davon stiegen aus jedem Sessel auf, in den man sich
setzte, Mr. McCormicks Hemden waren nachlässig gewaschen und
liederlich gebügelt, die männlichen Dienstboten verbrachten den
halben Tag damit, in der Küche die Füße hochzulegen, und einen
Besen oder Federwisch sah man überhaupt nicht mehr in Aktion,
geschweige denn einen Scheuerlappen. Außerhalb des Hauses war es
noch schlimmer. Stribling hatte am Tag nach der Geschichte mit der
Taschenratte gekündigt, und in Ermangelung einer besseren Idee
hatte Brush dem hageren Iren die Gärtnerei übertragen (O’Mara hieß
er, nicht O’Hara, er kam aus Poughkeepsie/New York und konnte einen
Kaktus nicht von einer Kokospalme unterscheiden), und von da an
ging alles rapide den Bach runter. Am hellichten Tag pennten die
Italiener unter den Büschen, die Taschenratten nagten sich durch
den Garten und wühlten die Rasenflächen auf, ganze Blumenbeete
verwelkten aus mangelnder Pflege, aber niemand schien das zu
bemerken, schon gar nicht Mr. McCormick – der redete meist nur mit
seinen Richtern, las mit einem halben Dutzend Stimmen laut vor und
jagte in wahnwitzigem Galopp über das Grundstück, sobald ihm jemand
die Haustür öffnete.
An einem Tag im Spätherbst, die Sonne stand
tief und ein scharfer Wind zauste die Bäume und ballte sich zu
kleinen Wölkchen von gelbem Staub, entschloß sich O’Kane, wieder
einmal betrunken in der Arbeit, das Thema der
Orangenhain-Investition mit seinem Arbeitgeber zu erörtern. Mart
lag auf dem Sofa und schlief. Dr. Brush war in seinem Büro. Bis auf
das Heulen und Fauchen des Windes war im Haus kein Laut zu hören.
»Mr. McCormick«, begann O’Kane und legte das Buch beiseite, in das
er seit einer halben Stunde ohne viel Erfolg hineinstarrte, »ich
wäre an Ihrer Meinung zu einer bestimmten Sache interessiert – zu
einer Kapitalanlage, die ich gemeinsam mit Jim Isringhausen
getätigt habe. Auf dem Zitrus-Markt.«
»Mit wem?« Mr. McCormick flitzte um den Tisch,
hüpfte leichtfüßig von einem Bein aufs andere und arrangierte die
Stühle und Gedecke für das Mittagessen, eine seiner
Lieblingsbeschäftigungen. An manchen Tagen brachte er über eine
Stunde damit zu, die Sitzgelegenheiten immer wieder umzustellen und
Teller, Löffel, Tassen und Untertassen um halbe Zentimeter nach
rechts oder links zu verschieben, die Servietten in ihren Ringen
geradezuzupfen und die Schnittblumen in der Vase auf dem Tisch neu
zu ordnen. Es gehörte zu seinen Ritualen, und zwar zu den
harmloseren, deshalb hatten alle Ärzte ihn dazu ermuntert, sogar
Brush – so war er wenigstens beschäftigt.
»Jim Isringhausen«, wiederholte O’Kane. »Er
sagt, er kennt Sie aus Princeton.«
Wie Mr. McCormick daraufhin reglos am Tisch
stand, erinnerte er an einen Wasservogel, an ein hageres
Schnabelwesen, das einen Frosch oder einen Stichling betrachtet,
kurz bevor es ihn aufspießt und als Ganzes hinunterwürgt. Sein
Blick huschte zu O’Kane und zog sich dann wieder zurück. »Nie von
ihm gehört«, sagte er, während er Löffel und Teller am Platz des
Doktors zurechtrückte, und dann sagte er mit halblauter Stimme
etwas zu einem seiner Richter. Das war nicht ungewöhnlich,
besonders zu den Mahlzeiten, und O’Kane dachte sich nichts dabei.
Oft deckte Mr. McCormick Extraplätze am Tisch, und wenn Dr. Brush
ihn deshalb befragte, erklärte er, sie seien für die Richter
reserviert. Heute gab es nur vier Gedecke – für Mart, O’Kane, Dr.
Brush und ihren Gastgeber –, demnach konnte man annehmen, daß die
Richter bereits gespeist hatten.
»Aber sicher doch«, hörte sich O’Kane sagen, in
dessen wirrem Hirn ganz hinten leise eine Alarmglocke ertönte,
»Abschlußjahrgang 1894 in Princeton. Er hat mit Ihnen
studiert.«
Mr. McCormick begann wieder von einem Bein aufs
andere zu hüpfen; auch dies war eines seiner Rituale, und es
bedeutete, daß der Fußboden in Flammen stand. Wenn er nicht in
Flammen stand, dann war er aus Leim, aus einem sehr wirksamen,
zähen Leim, in dem er nur mit Mühe die Füße heben konnte. Jetzt
aber hüpfte er, und weil er hüpfte, war er zu beschäftigt, um
O’Kanes Mitteilungen zu kommentieren.
»Er wohnt in New York«, fuhr O’Kane fort, der
inzwischen ein klein wenig verzweifelt war und die nackten
Tatsachen aufmarschieren ließ, um mit ihrem schieren Gewicht die
Sicherheit zu erlangen, die er anstrebte. »Er hat irgendwas mit der
Börse zu tun, glaube ich. Und sein Bruder, den kennen Sie doch –
oder jedenfalls wissen Sie von ihm. Dem gehört das große schöne
Haus in der Sycamore Canyon Road, an dem wir manchmal bei unseren
Spazierfahrten vorbeikommen.«
Als Mr. McCormick immer noch keine Antwort gab,
dachte O’Kane, der sich höchst merkwürdig und nicht recht auf dem
Damm fühlte, so als hätte er Fieber – oder eine Kombination aus
Fieber und Kater –, eine Zeitlang nach und versuchte sich zu
erinnern, was er noch über Jim Isringhausen wußte, abgesehen davon,
daß seine Schwägerin im Bett eine Wucht war. Nicht viel. Nicht
allzu viel. Er wurde etwas unruhig deswegen, dann setzte er erneut
an. »Mr. McCormick, als Sie noch... na ja, also, bevor Sie nach
Riven Rock gekommen sind, vor Ihrer Hochzeit, meine ich, also, ich
hätte gern gewußt, was Sie damals davon gehalten haben, Geld in
Immobilien anzulegen – so ganz allgemein.«
Mr. McCormick war zum Fenster gehoppelt, wo er
einen Löffel abwechselnd ins Licht hielt, anhauchte und an seinem
Hemdsärmel polierte. Er sah O’Kane mit leerem Blick an.
»Ihre Grundstücke. Ihre Ranch in New Mexico.
Die Häuser in Chicago. Ihre Villa in Massachusetts.«
Das war eine harte Nuß, die Mr. McCormick
sichtlich verdatterte. O’Kane erwartete darauf keine Antwort, wußte
auch gar nicht, was genau er eigentlich gewollt hatte – freilich
war Mr. McCormick reich und vermögend, aber er hatte sein ganzes
Geld geerbt und war ein verrücktes Huhn, wozu also fragte O’Kane
ihn überhaupt um Rat?
Mr. McCormick hüpfte zum Tisch zurück, linker
Fuß, rechter Fuß, links, links, rechts, und legte den Löffel
zurück. Er betrachtete sein Arrangement nervös, dann wandte er
O’Kane das blutleere Gesicht zu. »Meine... meine Frau v-verwaltet
meine G-Grundstücke. Ich, ich« – lange Pause – »... ich kümmere
mich um diese Dinge nicht mehr.«
Was hatte er erwartet? Einen Orakelspruch?
Tiefschürfenden finanziellen Rat? Ein Darlehen? O’Kane sank tiefer
in seinen Sessel. Alles im Zimmer schien in Bewegung zu sein, jedes
Atom knallte gegen das nächste, bis die Möbel und die Wände
geradezu waberten, und er wußte, er brauchte wieder einen Drink. Er
stand schwankend auf, rüttelte Mart wach und verschwand auf die
Toilette, wo er den Keramikdeckel des Wasserkastens aufklappte und
die kleine Flasche mit dem Zeug herausfischte, von dem ihm Charley
Waterhouse letzte Nacht einen ganzen Kasten verkauft hatte. Was
immer es war, O’Kane hatte einen Liter davon in zwei kleine
Flaschen umgefüllt, weil es so leichter zu transportieren und zu
verstecken war, und jetzt, während die Visionen von Orangenhainen
in seinem Kopf verblaßten, hob er die kühle Glasöffnung an die
schrundigen Lippen und gab ihr einen langen, heftigen Kuß, ließ das
Fieber erneut aufflammen, bis er nicht mehr wußte, sollte er kotzen
oder das Bewußtsein verlieren – oder beides.
Als er ins Zimmer zurückkehrte, argumentierte
Mr. McCormick mit irgendwem in dem hohen, quengligen Tonfall, der
einen bevorstehenden Anfall erahnen ließ, mit Mart sprach er jedoch
nicht. Mart schlief schon wieder, hing in einem Sessel und
schnarchte leise. Nein, Mr. McCormick verteidigte sich vor seinen
Richtern – »Ich hab es nicht so gemeint – ich wollte doch nicht –
niemals – ja, ich schäme mich, wirklich!« –, und O’Kane bereitete
sich auf das Schlimmste vor. Diesmal jedoch war das noch viel
schlimmer, als er erwartet hatte, denn kurz bevor die Wände wieder
in Bewegung gerieten und an der Decke die zuckenden Augen und
Schnauzen und die pelzigen Wesen auftauchten, saßen da auf einmal
die Richter in steifer Versammlung vor ihren Tellern, bärtig und
streng, zu dritt waren sie, drei bärtige, grimmige, unbarmherzige
Männer, und ihre sechs unbarmherzigen Augen richteten sich auf ihn,
auf Eddie O’Kane, den Meisterlächler, nur hatte er für diesen Anlaß
kein Lächeln mehr parat, denn er befand sich plötzlich in
unbekannten Gewässern, und er ging unter wie ein Stein.
Na schön. Klar doch. Also hörte er eine
Zeitlang auf. Er rührte das Zeug nicht an, und wenn man ihn mit
einem spitzen Stock gepiekt, in einen Käfig gesperrt und ihm die
Brühe in den Hals geschüttet hätte. Natürlich lag das alles nur an
diesem Fusel, das war das Problem, der unreine Alkohol und so – er
konnte von Glück reden, daß er nicht blind, impotent oder
wahnsinnig geworden war. Und er hatte die Richter ja nicht wirklich
gesehen – das war nur der Schnaps gewesen, mieses Zeug, schlechte
Lieferung. Trotzdem hörte er auf, schaffte es auch jeden Tag zur
Arbeit, und obwohl seine Därme voll heißem Magma waren und er ums
Verrecken nicht mehr scheißen konnte, sein Kopf sich anfühlte wie
eine Eierschale im Schraubstock und seine Beine so schwer waren,
daß er kaum aufrecht stehen konnte, begann er, ganz langsam, die
Welt wieder so wahrzunehmen, wie sie wirklich war, ohne Krücke,
ohne Filter.
Eines Morgens kotzte er bibbernd und schwitzend
zugleich in die Toilette am Ende des Korridors, draußen trommelte
in seiner bauernhaften Rohheit und Ungeduld das Arschgesicht
Maloney gegen die Tür, den er am liebsten umgebracht und
zerstückelt und dann vielleicht noch gekocht und aufgefressen
hätte, und da fiel ihm plötzlich auf, daß er seinen Geruchssinn
langsam wiederfand. Es war erstaunlich: er lebte in einer Welt von
Gerüchen. Auf einmal stank die Pisse unter seinen Schuhen. Seine
Socken dampften, die Unterwäsche hatte einen Hefemief. Im Korridor
vor seiner Tür roch es, als wäre dort jemand gestorben und
anschließend eingemauert worden. Von seinem Bett aus witterte er
die Gesichtscreme von Mrs. Fitzmaurice, über die ganze Distanz
durchs Treppenhaus, um die Ecke und durch die Tür zu ihrem tristen,
einsamen Witwenzimmer. Und er roch auch ihre Traurigkeit, den Duft
von brachliegendem, altem Fleisch, den weggesperrten, nutzlosen
Leib. Vor dem Haus parkte ein Wagen mit Benzin im Tank, und er
konnte dieses Benzin riechen. Und Essen: Zwiebeln, Rindfleisch,
eingelegte Bohnen, irgendein Gewürz – was war das, Basilikum? Ja,
Basilikum. Er hatte seit Jahren kein Basilikum mehr gerochen – gar
nichts hatte er gerochen –, und es trieb ihm Tränen in die
Augen.
Als nächstes hatte er auf einmal Appetit.
Zuerst die Gerüche, dann der Hunger. Auf einmal
stand er zum Frühstück auf, saß bei Mrs. Fitzmaurice neben seinen
Mitpensionären am Tisch, bei Pfannkuchen wie Steinen, der Porridge
wie Stein kurz vor dem Hartwerden, der Sirup wie ausgepreßter
Stein, aber er aß, aß alles auf und wischte seinen Teller mit Brot
aus. Jeden Vormittag um halb elf wanderte er, statt wie sonst ein
Päuschen zum Saufen einzulegen, in die Küche hinunter und
beschwatzte Sam Wah, daß der ihm ein Beefsteak oder ein Stück Leber
mit Zwiebeln briet, und beim Mittagessen saß er gegenüber von Mr.
McCormick, auf dem Schoß von einem der Richter, schmierte sich
Butter aufs Brot und löffelte seine Suppe, als hätte er tagelang
nichts gegessen. Weil er außer an den Wochenenden immer zu spät für
das Nachtmahl zu Mrs. Fitzmaurice zurückkehrte – sie berechnete ihm
auch nie etwas –, speiste er abends bei Menhoff, und wenn er dort
eine Flasche Ginger Ale trank, studierte er mit versonnenem Lächeln
das Etikett: »In Erinnerung an den 18. Verfassungszusatz und das
Volstead-Gesetz wird der Inhalt dieser Flasche unter der
ausdrücklichen Voraussetzung verkauft, daß er keinesfalls mit
alkoholischen Getränken gemischt werden darf.«
Seine Anzüge, die an ihm herabgeschlottert
hatten, paßten allmählich wieder. Er pflegte sein Haar und putzte
sich die Zähne, achtete darauf, daß er sich morgens unter den
Achseln wusch, und nachdem er einen Monat lang den Produkten von
Charley Waterhouse, Bill McCandless und sogar Cody Menhoff
abgeschworen hatte, der inzwischen eine bessere Sorte von
selbstgebranntem Gin unter dem Tisch verhökerte, wobei der Sheriff
ein Auge zudrückte, da stellte O’Kane fest, daß er noch etwas
anderes wiederentdeckte: seine Libido. Er erwachte jeden Morgen mit
einem enormen Prügel zwischen den Beinen, und wenn er die Straße
entlangschlenderte, um auf Roscoe zu warten, glotzte er jedem
weiblichen Wesen zwischen zwölf und sechzig hinterher und tippte
sich so oft an den Hut, daß die Krempe schon ganz abgenutzt war. Er
brauchte eine Frau. Die gesamte restliche Woche und die nächste
dachte er kaum an etwas anderes, das unsagbare Problem, wo er eine
finden konnte, brannte ständig in seinem Kopf – ob er nun gerade
die Nadel auf seine Sousa-Schallplatte auflegte, die versperrte Tür
zum oberen Salon entriegelte oder mit Mart und Mr. McCormick zu
einem ihrer verrückten Querfeldeinläufe aufbrach. Wenn er den
leisen Trompeten, Tubas und Sousaphonen lauschte oder hinter Mr.
McCormick hertrottete, drehte und wendete er das Problem immer
wieder hin und her: Frauen, jedenfalls die Sorte Frauen, die er im
Sinn hatte, die saßen in hellen Scharen beim Cocktail in den
Flüsterkneipen, die überall in der Stadt entstanden waren, aber um
an sie heranzukommen, würde auch er einen Cocktail trinken müssen,
und der eine führte garantiert zum nächsten, bis ihm wieder alles
egal war, er Appetit und Geruchssinn verlor und Mr. McCormicks
Richter in ihrer ganzen unwiderlegbaren Körperlichkeit vor sich
sitzen sah.
In genau diesem Zustand, mürrisch und geil wie
ein Bock, aber hellwach für jeden sinnlichen Hauch auf der Welt,
ging O’Kane eines Morgens in Riven Rock die Treppe hinauf zum
oberen Salon und sah dort Mr. McCormick, der die Arme so weit wie
möglich durch die Gitterstäbe streckte und mit beiden Händen die
Kehle von Sam Wah, dem Koch, gepackt hielt. Sams Gesicht hatte
bereits eine häßliche Farbe, es war angeschwollen und dunkel wie
ein blauer Fleck, und obwohl er seinerseits die Hände um Mr.
McCormicks Knöchel schloß, wehrte er sich kaum, seine Füße
strampelten in der Luft, über die Augen legte sich ein matter Film.
Und Mart? Wo war der? Er lag bewußtlos auf dem Boden hinter Mr.
McCormick, und in seinem Mundwinkel erblühte eine glänzendrote
Nelke aus Blut.
O’Kane verlor keine Zeit – im Nu rannte er die
Treppe hinauf und schlug methodisch auf Mr. McCormicks Unterarme
ein, kein Wort wurde gewechselt, nichts als Ächzen und Flüche und
scharfes, zischendes Luftholen, bis Mr. McCormick Sam endlich
losließ und der Koch zu Boden plumpste wie ein Sack alter Kleider.
Doch Mr. McCormick war noch nicht fertig, noch lange nicht. Sobald
O’Kane seine Hände auseinanderzwang, packte Mr. McCormick statt
dessen O’Kane an beiden Armen und riß ihn mit aller Gewalt gegen
die harten Metallstangen, und während der Kampf weiterging,
rappelte sich Sam Wah benommen auf, rieb mit zittriger Hand wütend
seinen Hals und brach in eine schrille Litanei von chinesischem
Wehgeschrei aus. Zu guter Letzt bekam O’Kane Mr. McCormick in den
Griff, und in einer Pattstellung hielten sie inne, jeder hatte die
Arme des anderen durch die unnachgiebigen Eisenstäbe gepackt.
»Sie nich wollen, ich nich Koch!« schrie Sam
Wah, der auf dem Treppenabsatz herumtanzte und die Fäuste
schüttelte. »Mistah Cormah, Sie kein Recht dazu!«
O’Kane warf einen raschen Blick an dem
verzerrten Gesicht seines Arbeitgebers vorbei, sah das
Frühstücksgeschirr im Zimmer verstreut und zog den Schluß, daß Mr.
McCormick etwas gegen die Zubereitungsart seiner Spiegeleier
einzuwenden gehabt hatte.
»Sie kein Recht dazu so mich am Hals fassen,
Mistah Cormah!« Sam Wah war grün vor Wut. Er riß sich die Schürze
herunter, knüllte sie zusammen und schleuderte sie zu Boden, neben
seine Haube, die dort bereits in einem früheren Stadium ihrer
Auseinandersetzung gelandet war. »Mistah Cormah, muß ich sagen,
nach vierzehn Jahr ich kündige!«
Eisern in O’Kanes Armen verhakt, stand Mr.
McCormick reglos auf der anderen Seite des Gitters, verzog keine
Miene, sprach nicht ein einziges Wort, aber er hatte den Kiefer
bockig vorgeschoben, und der Ausdruck in seinen Augen besagte, daß
er niemals loslassen würde, gekränkter Trotz eines überaus
verzogenen reichen kleinen Jungen, der lieber sterben würde als
zuzugeben, daß er im Unrecht war.
Die Konsequenz all dessen war eine Revolution
im kulinarischen Alltag in Riven Rock. Brush, dem die Sache im
Grunde egal war, besprach sich mit Butters und den Pflegern und wer
ihm sonst noch zuhören wollte, wobei sich ergab, daß männliche
Köche wahrlich dünn gesät waren – ganz zu schweigen von einem
männlichen Küchengehilfen, den Sam Wah mitgenommen hatte. Als
Notbehelf wurde zunächst einer der mexikanischen Gärtner befördert,
der behauptete, er habe vor der Revolution in einem Restaurant in
Veracruz gekocht. Er hielt sich drei Tage lang, an denen das Haus
von eigenartigen, beunruhigenden Gerüchen durchweht war. Jede
Mahlzeit, die er zubereitete, schien aus einer klebrigen
Bohnen-Reis-Paste zu bestehen, eingewickelt in eine dünne,
brotartige Substanz, die niemand identifizieren konnte, und war
immer so beißend und vor allem dauerhaft scharf, daß es einem wie
loderndes Petroleum in der Kehle brannte. Mr. McCormick bekam das
nicht gut, und er verbrachte ganze Vormittage mit
heruntergelassener Hose auf der Toilette, wo er das Klopapier
faltete und wieder entfaltete, während er auf die nächste Eruption
seiner Eingeweide wartete.
Als nächstes probierten sie es mit einem
ausgemergelten, sonnengegerbten alten Mann, der früher einmal einen
Proviantwagen für die Schafhirten in den Hügeln von Goleta
betrieben hatte, aber der wiederum konnte nichts als Hammelfleisch
zubereiten, und nach einer Woche davon – gekocht, gebraten,
geschnetzelt, gegrillt und bis zur Mumifizierung im Tontopf
geschmort – gingen sie dazu über, sich von Diehls Feinkostgeschäft
etwas kommen zu lassen, drei Mahlzeiten täglich. Schließlich nahm
Dr. Brush, der höchst unzufrieden und entnervt war, eines
Nachmittags O’Kane beiseite und fragte ihn, was er davon hielte,
eine Frau anzustellen – nur zum Kochen und für die
Küchenarbeit.
»Eine Frau?« wiederholte O’Kane, als sprächen
sie von einer fremden Gattung, und er dachte dabei an Elsie Reardon
und die anderen Dienstmädchen, die sie in der Anfangszeit gehabt
hatten. Es war schon so lange her. So lange, daß es ihm vorkam, das
Frauenverbot wäre seinerzeit in Stein gehauen und vom Berg Sinai
gebracht worden.
»Ja!« rief Brush ungeduldig, weil er sich
ärgerte, daß er nebenbei als Verwalter und Majordomus des Hauses
fungieren mußte, wo er doch als studierter Psychiater
selbstverständlich zu Höherem berufen war, schlicht und einfach aus
dem Grund, daß er dafür ausgebildet und eingestellt worden war. Er
sah O’Kane entnervt an. »Mr. McCormick ist in letzter Zeit, tja,
viel ruhiger«, sagte er, »abgesehen natürlich von dem unseligen
Vorfall mit dem Koch, meine ich, und wenn wir der Frau strikten
Befehl geben, daß sie keinesfalls den Küchentrakt verlassen darf,
und ein scharfes, wachsames Auge auf den Patienten haben, tja, dann
sehe ich gar keinen Grund, warum wir, tja, keine Köchin einstellen
sollten. So geht es jedenfalls nicht weiter, das ist klar.«
O’Kane musterte ihn kurz und versuchte das
Ausmaß der Erregung des Arztes abzuschätzen, dann zuckte er die
Achseln. »Sicher«, sagte er. »Warum nicht?«
Und so kam es, daß O’Kane am nächsten
Morgen im Haus von einem Duft nach Saucen und Gewürzen und
frischgebackenem Brot begrüßt wurde, der ihn vor Appetit fast
ohnmächtig umfallen ließ: richtiges Essen – italienisch, dem Geruch
nach –, nicht der immergleiche, namenlose Dreck, den Mrs.
Fitzmaurice in ihrer Pension auftischte. Er schloß die Gittertür
oben auf und sperrte sie sorgfältig hinter sich ab, nun war wieder
eine Frau im Haus, da durfte er auf keinen Fall nachlässig oder
vergeßlich sein. Mart las Mr. McCormick aus einem Buch mit
Shakespeare-Dramen vor. Sie wirkten beide entspannt und wandten
sich lächelnd zu ihm um, als er von der Tür auf sie zuging. »Guten
Morgen, Mr. McCormick«, sagte er und fühlte es auch, fühlte die
Veränderung, die über sie gekommen war, den Zauber, die Segnung des
guten Essens.
»M-Morgen, Eddie«, sagte Mr. McCormick klar und
fröhlich. Mart, dessen aufgeplatzte Lippe inzwischen wieder
verheilt war, sah von dem Buch auf und knurrte etwas zur
Begrüßung.
»Riecht ja toll«, sagte O’Kane, denn der satte
Duft nach Wurst, Knoblauch und Tomaten war aus der Küche bis in die
obere Etage hinaufgedrungen.
»Ja«, sagte Mart und wackelte grinsend mit
seinem großen Kopf. Alle drei mußten unwillkürlich schlucken.
»Na, und wer ist die neue Köchin?« wollte
O’Kane wissen, während er neben Mart auf das Sofa sank.
Mart sah zu Mr. McCormick hinüber; Mr.
McCormicks Augen glitzerten. Er hatte einen Gesichtsausdruck, der
neu war – ihm mußte niemand erzählen, daß da unten eine Frau war.
»Weiß nicht«, sagte Mart. »Irgendeine Witwe, glaube ich. Ein
Itakerweib.«
O’Kane runzelte die Stirn. Da stimmte etwas
nicht, und er spürte es bis tief in die Gedärme hinein, wo all
diese Spaghetti und Ravioli und Lasagne letztendlich landen würden.
Das konnte nicht sein. Es gab Tausende Witwen im ganzen Land,
Kriegerwitwen, alte Damen in Schwarz, die über die Gehsteige
watschelten, Frauen, deren Männer auf See, bei Autounfällen und
Zugunglücken, an Herzversagen und Krebs gestorben waren, die mußten
sich alle ihren Unterhalt verdienen, auch wenn sie alt und
gebrechlich waren. Dennoch stand er abrupt auf und sah sich etwas
benommen um. »Würden Sie mich bitte entschuldigen, Mr. McCormick?«
bat er. »Ich muß noch mal kurz hinunter – ich hab was
vergessen.«
Und dann war er auf der Treppe, das süße Aroma
von Marinara-Sauce und ofenfrischem Brot wurde stärker und stärker,
als er nach unten ging, den Dienstbotentrakt betrat und die
Schwingtür in die Küche aufstieß. Überall stieg Dampf auf, wurde
vom fächelnden Luftzug der Tür in Fetzen und Schleier zerteilt,
alle Brenner des Herdes waren voll aufgedreht, in den großen
gußeisernen Töpfen zischte und brodelte heiße Flüssigkeit, und da
stand eine Gestalt, eine vertraute Gestalt, die er so gut kannte
wie keine andere, etwas fülliger vielleicht, ein wenig älter, aber
sie war es, unleugbar: Giovannella.
»Hallo, Eddie«, sagte sie und sah ihn mit
kalter, sachlicher Miene an, so gleichgültig wie der Wind, »lange
nicht gesehen.«