La lune de
miel
Am Tag nach ihrer Hochzeit reisten Stanley
und Katherine zusammen mit ihren Müttern und Dienstboten und
dreihundert Kilo Gepäck nach Paris, und die Flitterwochen begannen
so richtig. Unglücklicherweise hatte Stanley offenbar etliche
Probleme, seine Sachen zusammenzustellen und den idealen Platz für
Socken, Taschentücher und Unterwäsche in seinem Schrankkoffer zu
finden, so daß sie ihren Zug verpaßten und das Hotel erst spät
erreichten. Das war enttäuschend für Katherine, die sich auf einen
schönen Abend in der Stadt gefreut hatte, nicht nur um ihretwillen,
sondern auch wegen Stanley – sie hoffte, der Tapetenwechsel würde
ihn etwas ablenken, damit er nicht so nervös wäre, wenn sie
endlich, unvermeidlich, am gloriosen Höhepunkt dieses Abends,
gemeinsam miteinander im Bett lägen. Aber es sollte nicht
sein.
Alles war gepackt und abmarschbereit, die
Dienstboten wuselten umher, die Taschen waren verstaut, die Kutsche
wartete bereits auf der Einfahrt, nur Stanley war nirgends zu
finden. Es regnete immer noch, die offene feuchte Erde der
Blumenbeete verströmte den dumpfen Geruch von rieselnden,
zerrinnenden Jahrhunderten. Regenwürmer – Lumbricus terrestris – übersäten den Gehweg, und wie
viele dieser unschuldigen blinden Kreaturen hatte Katherine wohl
unter Anleitung des einen oder anderen bärtigen Professors seziert?
Sie war schon zweimal zur Kutsche hinausgegangen, um nach dem
Rechten zu sehen, immer darauf achtend, nicht auf die bleichen
Leichname der Würmer zu treten, und jetzt stand sie mit ihrer
Mutter im Vestibül, schob sich in einem wachsenden Sturm der
Aufregung den Hut zurecht, sie wollte endlich unterwegs sein, das
Abenteuer in Angriff nehmen, die steinernen Türme und den
friedlichen See hinter sich lassen, ihr neues Leben als Mrs.
Stanley McCormick beginnen. Nettie hatte es sich längst in der
Kutsche bequem gemacht, und Jean-Claude war mit einem breiten
schwarzen Regenschirm an der Tür postiert, um die Damen
hinauszubegleiten. »Was kann denn Stanley nur aufhalten?« überlegte
ihre Mutter laut und reckte den Hals, um auf die Uhr in der Halle
hinter ihnen zu sehen.
Katherine strich ihre Handschuhe glatt, spähte
durch die Fenster auf den Regen hinaus, der in die Pflastersteine
rann und unerbittlich auf das schwarze Segeltuchdach der Kutsche
niederprasselte, und legte dann Josephine eine Hand auf den Arm.
»Geh du schon voraus, Mutter«, sagte sie. »Ich werde oben nach ihm
sehen – in einer Minute kommen wir nach.«
Sie traf Stanley in seinem Zimmer an, wo er
zwischen einem offenen Schrankkoffer und zwei ausgeweideten
normalen Koffern auf und ab schritt. Er trug irgendein Bündel im
Arm, offenbar ein Kleidungsstück – eine lange Unterhose –, und auf
dem Bett waren Notizbücher, Federhalter, Skizzenblocks, Socken,
Krawatten und Rasierzeug zu säuberlichen Häufchen gestapelt, dazu
der Roman, den er sich als Zuglektüre herausgelegt hatte, sein
Tennisschläger und die Badesachen. »Stanley, Liebster«, sagte sie,
in Hut und Mantel in der Tür stehend, »was tust du denn da? Weißt
du nicht, daß alle auf dich warten? Wir versäumen den Zug.«
Er war hochrot im Gesicht, und eine Haarlocke
hing ihm ins Gesicht. »Ich – also, es ist meine Unterwäsche, weißt
du, denn ich kann bei so einem Wetter nicht einfach losfahren, ohne
mir darüber Gedanken zu machen, vor allem über die Temperatur in
Paris und auch die Gegebenheiten im Zug, und deshalb habe ich,
also, ich brauche eben Zeit, um meine Sachen zu ordnen und zu
entscheiden...«
»Deine Unterwäsche?« Sie war wie vom Schlag
getroffen. »Stanley, unser Zug geht in einer Dreiviertelstunde.
Wenn wir nicht in diesem Moment aufbrechen, werden wir ihn
verpassen. Das ist nicht die Zeit, sich um Unterwäsche zu
sorgen.«
»Nein, nein, nein«, sagte er gestikulierend,
die baumelnden Kleidungsstücke über beide Arme drapiert, »du
verstehst nicht. Sieh mal, ich bestelle meine langen Unterhosen
nach Maß, von Dunhill & Porter in London, sie sind achtfach
nach Gewicht abgestuft, um jeder denkbaren Eventualität zu
entsprechen, von... von, nun, von Schnee
bis zum sonnigsten Tag im August, wenn man natürlich nicht gern
schwitzt...« Er stieß ein eigenartig hohles, kläffendes Lachen aus.
»Verstehst du nicht?« fragte er, beugte sich über den Schrankkoffer
und faltete geruhsam die Sachen in seinen Armen. Sie sah, daß er
immer noch lachte, vor sich hinkicherte und dabei den Kopf
schüttelte. »Sie will, daß ich friere«, sagte er in die Tiefe des
Koffers, »meine eigene F-Frau.«
Sie ging durch das Zimmer zu ihm und murmelte:
»Komm, ich helfe dir.« Er aber sperrte sich und drehte ihr den
Rücken zu. »Stanley«, sagte sie, »bitte. Es ist überhaupt nicht
kalt – draußen hat es so um die fünfzehn Grad –, und in Paris ist
um diese Jahreszeit bestimmt Altweibersommer...«
Er achtete nicht auf sie, sondern faltete und
entfaltete ständig seine Unterwäsche, trug sie von einem Koffer zum
nächsten, und hatte er sich einmal für einen Platz entschieden,
nahm er sie gleich wieder heraus und begann den ganzen Vorgang von
vorn.
»Wir werden den Zug versäumen«, sagte sie.
»Stanley. Hast du gehört? Wir werden den Zug
versäumen!«
Sein Blick ging plötzlich zu ihr, und es lag
ein bittender Ausdruck darin, eine Miene, die um Hilfe flehte und
sie zugleich ausschlug. »Ich kann nicht«, sagte er. »Ich – ich bin
nicht fertig. Ich kann nicht.«
Nun drang die Stimme ihrer Mutter durch das
Treppenhaus, ein fragendes Tremolo: »Katherine?«
»Laß doch«, drängte ihn Katherine. »Das soll
dir das Personal nachschicken. Wir kaufen dir neue Sachen, sobald
wir angekommen sind, bessere Wäsche, Pariser Wäsche, und das hier
wird alles mit dem nächsten Zug nachkommen, falls du es noch
brauchst. Komm«, sagte sie und ergriff seinen Arm, »komm doch,
Stanley, wir müssen gehen.«
Er war nicht gewalttätig, nicht grob, er war
weder grämlich noch gereizt, trotzdem rührte er sich nicht von der
Stelle. Er blickte von seiner Höhe zu ihr hinab, sah auf ihre Hand
auf seinem Arm und sagte ganz einfach: »Nein.« Dann entwand er sich
ihr und ging durchs Zimmer zu seinen Koffern, wobei die leeren
Beine der Unterhosen hinter ihm herschleiften wie
Fahnenwimpel.
Mit einem Mal wurde sie wütend. »Stanley!«
schnappte sie, und es übermannte sie, Hochzeitsreise oder nicht.
Sie stampfte mit dem Fuß auf; ihre Stimme schraubte sich eine
Oktave höher. »Du hörst jetzt auf damit!« schrie sie, schrill wie
ein Fischweib, und das am zweiten Tag ihrer Ehe, doch sie war mit
der Geduld am Ende, der Zug fuhr gerade in den Bahnhof ein, und sie
wollte los, wollte aufbrechen, ohne dieses vertrödelte,
wankelmütige, neurotische Gehabe.
Sie wollte gerade auf ihn zumarschieren und ihn
wieder am Arm ergreifen, als sie ein Geräusch hinter sich hörte und
sich umwandte, weil sie dachte, es sei ihre Mutter. Es war nicht
ihre Mutter. Es war Stanleys Mutter, Nettie, die Hexe persönlich,
der Regen lag in winzigen Perlen auf ihrem Hut und bildete einen
feinen, funkelnden Schleier auf dem Kragen ihres Pelzmantels. Ihr
Kinn war naß, und ihr Mund bewegte sich kaum, als sie sprach. »Ich
übernehme das«, sagte sie.
Nettie brachte Stanley dann schließlich
in Gang – wie, das sollte Katherine nie erfahren –, und innerhalb
einer halben Stunde kamen sie zusammen aus dem Zimmer, alle Koffer
ordentlich gepackt, verschlossen und neben der Tür aufgestapelt,
Stanley mit Nettie am linken Arm, den Mantel über den rechten
geworfen, trotzdem hatten sie den ersten Zug versäumt und der Abend
war ruiniert, in Katherines Augen jedenfalls. Gewiß war es
befriedigend, überhaupt endlich aufzubrechen und in der Intimität
des Abteils zu sitzen, mit dem Ehemann aufrecht und gesittet an
ihrer Seite, auch wenn sie ihn mit ihrer Mutter teilen mußte und
mit seiner, aber es war nicht, was sie sich erhofft hatte. Man
machte Konversation, starrte zum Fenster hinaus auf die dunkle
Landschaft Frankreichs und die vorbeihuschenden Lichter, speiste
recht gut zu Abend, aber Stanley wirkte die ganze Zeit angespannt
und hölzern, er nickte automatisch zu allem, was man ihm sagte, und
seine Hand – die Hand, die sie in der ihren festhielt – war steif
wie die einer Marionette. Aber wenn er aus
Holz war, wenn er eine Marionette war, wer
zog dann die Schnüre? Katherine betrachtete Netties dünnes,
selbstzufriedenes Lächeln, während der Zug durch die Nacht schoß
und sie sich leise über französische Malerei, Weinbergschnecken,
gemeinsame Bekannte in Chicago und die mangelnde Eignung von Vögeln
als Haustiere unterhielten, und dabei fühlte sie sich so deprimiert
und ernüchtert wie noch nie in ihrem Leben.
Als sie endlich ankamen, war Stanley sichtlich
ausgelaugt. Der Trubel der Hochzeit und des Umzugs von seinem Hotel
nach Prangins für eine Nacht und dann von Prangins nach Paris hatte
seine Nerven stark mitgenommen. Er war emotional labil, das wußte
Katherine, und sie mochte diese Eigenschaft an ihm – er war
sensibel, künstlerisch, zurückgezogen, so gütig und tolerant wie
kaum sonst jemand, die Sorte Mann, von der Frauen träumen. Aber die
Erschöpfung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, und als sie
zu guter Letzt in ihre Suite im Elysée Palace geführt wurden,
wünschte er ihr nur kurz eine gute Nacht, huschte in sein Zimmer
und schloß die Tür fest hinter sich. Sie blieb einen Moment lang
mitten im Salon stehen, sie war selbst wie gerädert, fand aber, sie
sollte zu ihm gehen und wenn auch nur, um ihn ein wenig zu
beruhigen und zu trösten, doch da hörte sie das plötzliche scharfe
Schaben des Riegels, der auf der anderen Seite der Tür vorgelegt
wurde, und sie sank in den nächstbesten Sessel und weinte, bis sie
innerlich ganz leer war.
Am Morgen war Stanley wieder der alte, lächelnd
und entspannt, und auch Katherine fühlte sich erfrischt – sie waren
beide müde gewesen, sonst nichts. Beim Frühstück in ihrem Zimmer
behandelten sie einander mit der übertriebenen Zärtlichkeit eines
Paares, das seinen goldenen Hochzeitstag feiert, und alles schien
zu stimmen, alles war, genau wie sie es sich vorgestellt hatte,
zärtlich und behaglich und vertraulich. Allerdings nur, bis Nettie
auftauchte. Sie stürmte um neun Uhr zur Tür herein, wollte wissen,
ob Stanley seine Lebertrankapsel genommen hatte und ob sie immer
noch planten, das Musée du Jeu-de-paume oder den Louvre zu
besichtigen. Augenblicklich änderte sich Stanleys Stimmung. Eben
noch war er fröhlich und gesprächig gewesen, hatte seinen Toast mit
Butter bestrichen und sich an Indianerspiele aus seiner Jugend
erinnert, bei denen er und Harold sich in den Garten geschlichen
hatten, um unter den Büschen trockene Toastscheiben zu mampfen,
doch nun erstarben ihm plötzlich die Worte im Hals. Nein, gestand
er, den Lebertran habe er noch nicht genommen, aber die Pillen
lägen irgendwo herum und er werde sie noch schlucken, und ja, sie
würden in den Louvre gehen, er brauche aber noch Zeit für, äh, für
sein Frühstück, und er hoffe, seine Mutter sei nicht enttäuscht,
wenn sie erst um zehn aufbrächen?
Wenn Stanleys Mutter sie begleitete, dann war
es nur recht und billig, daß Josephine ebenfalls mitkam, und
Katherine versuchte das Beste daraus zu machen, indem sie mit ihrer
Mutter schwatzte und sich auf der Fahrt in der Kutsche an Stanley
schmiegte. Doch als sie durch die Säle schlenderten und Stanley
leise Kommentare zu dem einen oder anderen Gemälde abgab, ergriff
er unwillkürlich den Arm seiner Mutter, und Katherine bildete mit
Josephine auf einmal die Nachhut. Dann folgte das Mittagessen.
Nettie hatte dazu irgendeine gräßliche Missionarsgattin eingeladen,
die offenbar eine Pension führte, wo Stanley seinerzeit als Schüler
von Monsieur Julien gewohnt hatte. Diese Mrs. van Pele war eine
plumpe, unscheinbare, rechthaberische Frau von Mitte Sechzig, und
Stanley fuhr fast aus der Haut vor Schreck, als sie zu ihnen stieß.
Er schoß so ungestüm vom Tisch hoch, daß er ihn beinahe umwarf,
wurde tiefrot im Gesicht, und wenn hinter ihm nicht eine Topfpalme
gestanden hätte, wäre er wohl einfach aus dem Restaurant
geflüchtet. »Adela«, flötete Nettie und versuchte Stanleys
Verwirrtheit zu überspielen, während der Kellner ihren Tisch
mißtrauisch beobachtete und Katherine und Josephine einander
ratlose Blicke zuwarfen, »wie nett, daß Sie gekommen sind. Stanley
kennen Sie natürlich bereits, und dies sind seine Gattin Katherine
und ihre Mutter, Mrs. Josephine Dexter.«
Stanley streckte weder die Hand aus, noch
beugte er sich vor, um die von Mrs. van Pele zu ergreifen; er stand
nur mit puterrotem Gesicht da, starrte auf seine Schuhe und ballte
die Fäuste. »Das ist aber nett, Sie wiederzusehen, Stanley«, sagte
Mrs. van Pele und ließ sich, assistiert vom Oberkellner, auf einem
Stuhl nieder, »und ich gratuliere Ihnen herzlich. Ich wünsche Ihnen
das Allerbeste.«
»Ich schäme mich so«, murmelte Stanley und hob
nun den Kopf, um den ganzen Tisch anzusprechen, auch den
Oberkellner und den Küchenjungen. »Ich habe – ich, also, ich habe
es nie jemandem erzählt, weil ich mich so schäme, aber ich war
unrein und habe den Wunsch meiner Mutter mißachtet, und Ihre
Gastlichkeit auch...«
»Blödsinn«, sagte Nettie, und ihre Stimme klang
wie ein Peitschenknall. »Setz dich hin, Stanley. Du mußt dich für
gar nichts schämen.«
Schweigen senkte sich über den Tisch, als
Stanley langsam auf seinen Stuhl niedersank. Das Klappern von
Besteck und das Gemurmel der Stimmen im Saal wurden plötzlich
hörbar. Katherine war durcheinander. Sie wollte die Hand ihres
Mannes nehmen, aber er entzog sich ihr.
»Völliger Unsinn und Quatsch«, sagte Nettie
nach einer Weile, als wollte sie etwas klarstellen. »Du hast
kürzlich geheiratet, Stanley. Du trägst jetzt Verantwortung – du
bist kein kleiner Junge mehr.«
Der Kellner war ein paar Schritte
zurückgewichen, er wand sich und schluckte vernehmlich, und Mrs.
van Pele und Josephine redeten gleichzeitig los, als Stanley erneut
aufstand. »Entschuldigt mich«, nuschelte er und schob den Stuhl
zurück. »Ich muß mich, also, mal frischmachen – das heißt, ich
meine, also, ich komme gleich wieder.«
»Setz dich hin,
Stanley«, sagte Nettie und sah ihn unter dem Panzer ihres Hutes
hervor an.
Stanley hörte nicht auf sie. Er zog ein langes
Gesicht, seine Schultern hingen herab. Er sah sich am Tisch um, als
würde er keinen Menschen erkennen, dann stapfte er quer durch den
Saal, nahm die drei Stufen zum Ausgang und verschwand durch die Tür
auf die Straße hinaus, ohne sich umzusehen.
Katherine war ratlos. Sie sah ihre Mutter an,
dann die Missionarsgattin und schließlich Nettie: ihr Ehemann hatte
sie soeben, aus einem nur ihm begreiflichen Gund, an einem
öffentlichen Ort im Stich gelassen. Und das am dritten Tag ihrer
Flitterwochen. Sie war wie vom Donner gerührt. »Wohin kann er
nur...?« hörte sie sich sagen.
Nettie antwortete nicht.
»Er will wahrscheinlich nur ein wenig Luft
schnappen«, sagte Josephine, dabei sah sie über die Schulter und
zog ein Gesicht. »Es ist etwas muffig hier drin.«
Mrs. van Pele pflichtete ihr bei. Aus vollem
Herzen.
Und jetzt war Nettie plötzlich auf den Beinen,
eine untersetzte, forsche, breitschultrige Neunundsechzigjährige,
die um etliche Jahre jünger aussah, sich nach der letzten Mode der
Pariser Couturiers kleidete und das Befehlen ebenso gewohnt war wie
ein Napoleon oder Kaiser Wilhelm. Allein ihr Hut – eine massive
Konstruktion aus Filz, Feder und feinem Samt – hätte jedes
Offizierskorps eingeschüchtert. »Adela, Josephine«, sagte sie,
»würdet ihr mich bitte einen Moment entschuldigen – ich bin sicher,
es geht Stanley gut; es kann allenfalls die Aufregung sein, Sie
wiederzusehen, liebe Adela, noch dazu so bald nach dem Drama seiner
Hochzeit, und mir wird erst jetzt bewußt, daß wir ihn nicht hätten
überrumpeln dürfen –, aber ich müßte einmal mit Katherine unter
vier Augen sprechen.« Sie bat Katherine mit einer Geste, sich zu
erheben und ihr zu folgen. »Würden Sie kurz mit mir hinüberkommen?
Es wird nur eine Minute dauern.«
Verdattert stand Katherine auf und folgte
Netties resoluter, martialischer Gestalt durch den Speisesaal
hinüber in den Damensalon, wo Nettie es sich in einem Plüschsessel
vor einem ovalen Spiegel mit Goldrahmen bequem machte und Katherine
auf den Sitz daneben winkte. Es waren noch zwei weitere Frauen
anwesend, die am anderen Ende des Raums leise miteinander sprachen.
Schon etwas ungeduldig sank Katherine in den Sessel – sie wurde
allmählich ausgesprochen gereizt: wieso bildete diese Frau sich
eigentlich ein, sie könnte auch sie herumkommandieren?
»Ich werde gleich zur Sache kommen«, sagte
Nettie, kniff die Lippen zusammen und starrte Katherine direkt in
die Augen. »Ich will gar nicht behaupten, daß ich weiß, was mit
Stanley heute nachmittag los ist, aber eines muß ich Ihnen sagen« –
sie legte eine Pause ein – »Veränderungen
sind immer sehr schwierig für ihn. Er ist der bravste Junge der
Welt, nett und klug und liebevoll, aber er hat ein Nervenleiden. Es
ist seine extreme Sensibilität, sonst nichts, seine künstlerische
Ader, die da zum Tragen kommt, aber wir haben ihn natürlich von
diversen Spezialisten untersuchen lassen, wegen seiner älteren
Schwester Mary Virginia. Wissen Sie, Mary Virginia wurde mit der
Diagnose...«
Katherine schnitt ihr das Wort ab. »Ja, ich
weiß. Sie leidet an Dementia praecox. Stanley hat mir davon
erzählt. Vor langem schon. Aber ich verstehe nicht, was das mit ihm
zu tun haben soll.«
»Ganz recht. Aber er ist wirklich emotional labil und hat seit einigen Jahren
Anfälle von nervöser Erschöpfung, deshalb dachte ich, es wäre
besser, ich sage Ihnen, worauf Sie sich da einlassen, wenn Sie denn
so begierig darauf sind, sich zwischen ihn und seine Familie zu
stellen. Verhätscheln muß man ihn nicht, keineswegs, aber sehr wohl
braucht er Verständnis – und er hat seine Launen.«
Katherine betrachtete sich im Spiegel, ihr
blasses Gesicht und die wachsamen Augen, die geringste Bewegung
ihrer Hände und Unterarme duplizierte sich, als sie jetzt den Rock
auf den Knien glattstrich. »Ich bin mir dessen wohl bewußt«, sagte
sie, und ihr Tonfall hätte kaum kühler und endgültiger sein
können.
Nettie beugte sich vor, und die kämpferischen
Furchen um Mund und Augen bildeten eine Schlachtlinie. »Ich weiß
nicht, ob Sie begreifen, was ich Ihnen da sage: Wir fürchten, daß
sich sein Zustand verschlechtern könnte. Wir hoffen es nicht – ich
bete jeden Abend für ihn –, und die Ärzte klingen durchaus
optimistisch, die meisten jedenfalls, aber es besteht die
Möglichkeit. Sind Sie darauf vorbereitet?«
Katherine stand bereits auf. »Ich weiß nicht,
wofür Sie mich halten, aber ich bin kein Kind mehr und lasse mich
ungern wie eines behandeln. Ich bin mir völlig klar über Stanleys
Neurasthenie und durchaus vorbereitet, alles zu tun, damit sie sich
bessert. Es ist ja nicht so, als wäre er...«
»Ja? Nicht so, als wäre er was? Verrückt?
Wollten Sie das etwa sagen?«
»Natürlich nicht«, sagte Katherine, doch als
sie es aussprach, war der Gedanke in ihrem Kopf da, häßlich wie
eine Wunde, die nicht verheilen wollte. »Ich meinte, es ist nicht
so, als wäre sein Verhalten ein Grund zur Besorgnis, für mich
jedenfalls nicht, denn ich kenne ihn auf eine Weise, wie Sie ihn
nie kennen können. Er ist mein Mann, verstehen Sie das nicht? Er
gehört nicht länger Ihnen – jetzt gehört er mir.«
Die alte Frau unter dem Panzerhut starrte sie
wortlos an; ihre Augen sahen genau wie Stanleys aus. Es dauerte
eine Weile, ehe sie mit so leiser Stimme, daß sie kaum hörbar war,
sagte: »Ja. Das stimmt. Er gehört Ihnen.«
Sie blieben einen Monat lang in Paris,
unternahmen gelegentlich mehrtägige Ausflüge in dem
Renault-Motorwagen, den Stanley gekauft hatte, und sie wechselten
die Hotels je nach Katherines Laune – vom Elysée Palace zogen sie
ins Splendide und dann ins Ritz. »Ich brauche Veränderung«, sagte
sie zu Stanley, wenn er mit den Opfergaben des Tages, einem Stapel
verschnürter Päckchen und Hutschachteln, durch die Tür wankte, doch
einen anderen Grund nannte sie ihm nie. Der wahre Grund war
natürlich Nettie. Sie hatte sich in ihrer Zimmersuite im Elysée
Palace eingenistet wie eine fette Zecke, die allen das Blut aussog,
und Katherine wollte nichts als weg von ihr – und sie wollte
Stanley von ihr loseisen. Das war das Wichtigste. Darum ging es.
Alles würde gut werden, wenn Nettie sie nur in Ruhe ließe, da war
sich Katherine sicher.
Nettie aber blieb hartnäckig. Sie bestand
darauf, täglich mit ihnen zu Mittag und zu Abend zu essen und bei
jedem einzelnen Einkauf mitzureden: von der Kamingarnitur, den
Vasen und Ölgemälden, die ihr künftiges Heim schmücken sollten, bis
zu dem Turmalinarmreif, dem Muff und der Stola aus Weißfuchs, die
Stanley als Geschenke für seine Braut aussuchte, und Katherines
einzige Chance lag darin, die eigene Mutter auf Schritt und Tritt
als Puffer einzusetzen. Es war wie ein Damespiel: Nettie zog ein
Feld vor, Katherine konterte mit Josephine. »Wie wär’s, wenn wir
heute abend ins Theater gingen?« schlug etwa Nettie mittags vor,
worauf Katherine gelangweilt von einem Buch oder einem Katalog
aufblickte und meinte: »Ach, geht doch lieber zu zweit: Mutter,
würdest du? – Stanley und ich sind so erschöpft, nicht wahr,
Stanley?«
Stanley verhielt sich bei alledem wie ein
Engel, obwohl er keinerlei Kritik an seiner Mutter ertrug – ja
Katherine konnte sie nicht einmal erwähnen, ohne daß er die
Kiefermuskeln anspannte, bis sie unter der Haut zuckten wie ein
abnormes Gewächs. Er war pflichtbewußt und geduldig, der Inbegriff
der Schicklichkeit, und kein einziges Mal ließ er einen Gedanken an
Sozialismus oder Eugene Debs zwischen sich und den zielstrebigen
Beutezug kommen, zu dem Katherine ausgezogen war: immerhin hatten
sie ein ganzes Haus einzurichten. Demnächst jedenfalls. Nur in
einem versäumte er ihr gegenüber seine Pflicht, in der größten und
allerwichtigsten Sache, die alle Lebewesen dieser Erde so natürlich
und unbewußt angingen wie das Atmen, das Essen oder das Herumtollen
auf den Wiesen – doch ohne sie gab es keine Erfüllung, keine
Sicherheit, keine Befriedigung, keine Hoffnung.
Jede Nacht war eine Wiederholung der ersten. Er
hatte zu tun. Er war beschäftigt. Die Harvester Company.
Korrespondenz. Buchführung. Rechnungen. Wenn sie ihm noch eine
Minute ließe, nur eine Minute... Waren sie dann allein in ihren
Zimmern, kurz vor dem Zubettgehen, nahm er ihre Hand, verneigte
sich mit einem förmlichen Kuß und zog sich zurück, und egal wie
verführerisch, wie vielsagend, schüchtern oder absichtlich
gleichgültig sie sich auch gab, er setzte sich inmitten eines
Ozeans aus Papier an seinen Schreibtisch, bis sie aufgab und den
tristen Weg in das einsame Bett antrat. Es war ihr diskretes Elend,
ihr geheimer Kummer, und die Schuld sah sie bei Nettie – es war
Netties Nähe, ihr Gesicht, ihr Bild und ihr eiserner, entmannender
Wille: wenn sie ihren Sohn nicht mehr haben durfte, dann sollte ihn
niemand bekommen.
In ihrer Verzweiflung kam Katherine schließlich
auf die Idee einer Automobilreise durch den Süden Frankreichs, eine
Tour, die beide Mütter bestimmt nicht mitmachen würden, bei der
Aussicht auf all den Staub und Schmutz und die schiere Barbarei der
dahinrumpelnden, stinkenden, spotzenden Maschinerie, in die man
dabei tagelang eingesperrt wäre – hatte Nettie nicht sogar
geschworen, niemals den Fuß in einen Motorwagen zu setzen, solange
sie lebte? Ja, natürlich: eine Automobilreise. Was könnte besser
sein? Katherine erwachte mit dieser Inspiration eines kühlen
Oktobermorgens und ließ sie auf sich einwirken, während das Mädchen
ihr die Kleider zurechtlegte und sie sich das Haar bürstete und ihr
Gesicht im Spiegel betrachtete. Sie wartete ab, bis der Kellner das
Frühstück gebracht hatte und Stanley geistesabwesend in der Zeitung
blätterte, dann stieß sie einen spitzen Schrei aus und klatschte in
die Hände, als wäre ihr der Gedanke eben gekommen. »Stanley!« rief
sie. »Mir kam gerade eine wunderbare Idee!«
Doch hatte Katherine ihre Widersacherin einmal
mehr unterschätzt – und die eigene Mutter nebenbei auch. Beide
begrüßten den Plan höchst enthusiastisch, und am Morgen der Abreise
erschienen Nettie und Josephine vor dem Ritz im identischen
Überland-Reisekostüm aus blassem, staubfarbenem Gewebe, das sie vom
Scheitel bis zur Sohle bedeckte und unwillkürlich an die
Bienenzucht oder an eine Flucht aus dem Serail denken ließ. Stanley
schob sich auf den Vordersitz neben den Fahrer und übernahm selbst
das Steuer, während Katherine und die beiden Mütter in ihren Kokons
auf der schmalen Rückbank um die Plätze rangelten. Sie kamen nicht
viel weiter als bis Montrouge, ehe der erste Reifen platzte, und
nachdem sie anderthalb Stunden in der ungewöhnlich warmen Sonne
darauf gewartet hatten, daß Stanley und der Chauffeur ihn flickten,
schafften sie noch die gut drei Kilometer bis nach Bagneux, wo ein
mechanisches Problem sie zwang, es für diesen Tag sein zu
lassen.
Natürlich war das Gasthaus von Bagneux
beträchtlich weniger komfortabel als erhofft, und Stanleys
miesepetrige und indignierte Mutter gab die Solostimme in einem
Chor von Klagen. Katherine war selbst ziemlich gereizt, und nachdem
sie die drei schmalen Stiegen zu den Zimmern vom Format eines
Taubenschlags hinaufgekraxelt waren, sah sie sich beim Abendessen
plötzlich in einen lächerlichen Streit mit ihrer Schwiegermutter
über die französische Aussprache von »orange« verwickelt. Sie hatten sich alle umgezogen,
ein wenig frisch gemacht und saßen bequem im Speisezimmer bei einer
anständigen Flasche Schaumwein und einer recht erfrischenden
Consommé madrilène, der Kellner hatte soeben ihre Bestellungen
aufgenommen, als Nettie sich mit einer säuerlichen, von der Last
eines schweren Tages geprägten Grimasse zu Katherine beugte und
sagte: »Sie sprechen das ja wie die Ausländer aus.«
Katherine sah zu Stanley, der aber studierte
die Weinkarte so ernsthaft, als müßte er gleich in einem Quiz
Fragen dazu beantworten, dann blickte sie zu ihrer Mutter, doch
Josephine zuckte nur die Achseln. »Was spreche ich wie aus?«
Nettie richtete sich auf und ließ die Zunge
gegen die Zähne zischeln, um eine gehässige Parodie von Katherines
Fanzösisch zu erzeugen: »Canaar à loh-raoschö.«
»Und wie soll ich es Ihrer Meinung nach
aussprechen?«
»Wie eine Amerikanerin. Denn das sind Sie
schließlich, trotz all Ihrer Genfer Allüren, und Sie sollten stolz
darauf sein, so wie Stanley – bist du das nicht, Stanley?«
Stanley sah von der Karte auf. Er wirkte
verwirrt und vage schuldbewußt, als würde er wegen etwas bestraft,
das er gar nicht getan hatte. »Ich – nun – ich, ja«, sagte er
leise.
»Ich bin sicher, dabei geht es doch eher um...«
begann Josephine, doch Nettie schnitt ihr das Wort ab.
»Anständige Leute«, zischte sie, »reden nicht
wie...« – hier hielt sie inne und sah sich am Tisch um, eine
gestrenge, verhätschelte Autokratin, eine Erbin von viel Geld, vom
Geld der McCormicks – »wie Franzmänner.«
Katherine war so entrüstet, daß sie am liebsten
sämtliches Geschirr auf dem Tisch zertrümmert hätte und ein für
allemal zur Tür hinausgegangen wäre, doch sie beherrschte sich – um
Stanleys willen. »Aha«, sagte sie und konnte die Verachtung in
ihrer Stimme kaum verbergen, »und wie spricht man es dann
aus?«
Alle Blicke lagen auf der alten Frau mit dem
eisernen Hut, und sie genoß diesen Moment, zog ihn noch ein Stück
in die Länge, ehe sie sagte: »Oräntsch.«
Und so ging es die dreieinhalb Wochen weiter,
die sie brauchten, um bis nach Nizza zu kommen. Sie hockten ständig
aufeinander, jedem Wetter und allen erdenklichen Straßenzuständen
ausgesetzt, von Dorfstraßen mit Kopfsteinpflaster zu Viehpfaden,
die mitten im Nirgendwo begannen und an seinem Ende aufhörten. Alle
waren gereizt, sogar Katherines Mutter, sonst die sanfteste,
gleichmütigste Frau der Welt, und gegen Ende der Fahrt wurden die
Mahlzeiten in lastendem Schweigen eingenommen, unterbrochen nur von
gelegentlichen gemurmelten Bitten um Salz oder Essig, die man
einander in die Wunden rieb. Es war eine einzige Katastrophe.
Gräßlich. Absolut gräßlich. Und Katherine, als Wissenschaftlerin
immer auf der Suche nach seltenen Lebewesen, stand kurz davor,
einen Artikel für die wichtigsten Zeitschriften zu schreiben, um
kundzutun, sie habe das schaurigste, nervtötendste Mitglied der
menschlichen Rasse entdeckt und wolle es gern beim Namen nenne,
damit es sich fürderhin leicht identifizieren ließe: Nettie Fowler
McCormick.
Dann aber, wie durch ein Wunder, warf Nettie
das Handtuch. Sie hatte genug. Ihre Nieren waren durchgerüttelt,
die Stirnhöhlen von Staub, Schuppen, getrocknetem Pferdemist und
dergleichen verklebt, die Beine gefühllos, und in ihrem Kreuzbein
knisterten mehrere Lagerfeuer heftigster Schmerzen. In Nizza
verkündete sie, sie wolle den Dampfer nach London nehmen und von
dort in die Vereinigten Staaten von Amerika und nach
Chicago/Illinois zurückkehren. Sie ließ Stanley dafür leiden, keine
Frage, die beiden schlossen sich stundenlang in ihrem Hotel ein,
bevor sie sich zum Wegfahren entschied, und am Tag ihrer Abreise
war er so ausgezehrt von Schuldgefühlen und zwiegespaltener
Loyalität, daß er kaum sprechen konnte, aber in Katherines Augen
war es das wert: sie war fort. Die Hexe war weg. Nun konnte der
Rest ihres gemeinsamen Lebens beginnen.
»Mutter«, sagte sie zu Josephine, als sie am
Tag von Netties Abreise in der Hotellobby mit ihr allein war, »ich
weiß nicht recht, wie ich es sagen soll – und hoffentlich verstehst
du es nicht falsch –, aber ich frage mich, ob du nicht auch ein
wenig Heimweh hast? Nach Prangins? Oder auch nach Boston?«
Josephine war damals Ende Fünfzig, eine
resolute, lebendige Frau, auf immer in Schwarz gekleidet, mit einem
Hut voll wildem Federschmuck und Augen, die zu klein für ihr
Gesicht waren. Sie legte den Kopf schief und lächelte. »Ich
verstehe schon, Liebes: Du brauchst etwas Zeit allein mit Stanley.
Ich nehme morgen den Zug nach Genf.«
»Es macht dir nichts aus?«
Josephine schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich
nicht. Ich weiß noch, wie es mit deinem Vater war« – sie
betrachtete ihre Hände und sah Katherine dann vorsichtig an – »in
unseren Flitterwochen, meine ich. Weißt du, wir hatten eine
gewaltige Hochzeit – halb Chicago war eingeladen –, und als wir
endlich allein waren, unsere erste Nacht im Hotel...«
Katherine hatte in einem Gedichtband
geblättert, jetzt klappte sie das Buch leise zu und packte den
ledernen Einband, als wäre er lebendig und zappelte in ihrem Schoß.
Ihr Herz schlug heftig. »Ja?« sagte sie.
»Nun, es war für uns beide ein echtes
Abenteuer, denn wir waren ja noch nie auf diese Weise miteinander
allein gewesen, und dein Vater war« – wieder senkte sie den Blick –
»er war sehr liebestoll.«
Es herrschte ein verlegenes Schweigen. Nach
einer Weile räusperte sich Katherine. »Darüber wollte ich ohnehin
mit dir sprechen, Mutter, genau über dieses Thema – über das
eheliche Zusammenleben, meine ich –, weil Stanley nämlich, na
ja...«
»Du meine Güte«, rief ihre Mutter aus, »schau
nur, wie spät es geworden ist. Die Zeit fliegt!« Sie sah aus, als
würde sie gleich aus ihrem Sessel aufspringen, zum Ufer rennen und
sich kopfüber ins Mittelmeer stürzen. »Ich wollte vor dem
Abendessen noch ein Schläfchen halten – die viele Sonne, das macht
einen wirklich müde.«
»Jetzt bleib noch eine Minute, Mutter«,
beharrte Katherine, »mehr verlange ich ja nicht. Bitte!«
Ihre Mutter bewegte den Kopf kaum merklich,
neigte den Federhut ein winziges Stück. Ihre Blicke waren
Nadelstiche, der Mund ein schmaler Spalt aus Abscheu und
Mißbilligung.
»Stanley kann irgendwie keine...« begann
Katherine und verlor wieder den Mut. »Es scheint so, als wollte er
gar nicht...« Sie wurde rot. Die Stimme trocknete ihr in der Kehle
ein. »Intim sein, meine ich.«
Josephine wirkte erschrocken, jetzt verfärbte
sich auch ihr Gesicht. Sie wollte erst aufstehen, dann überlegte
sie es sich anders. »Katherine«, sagte sie dann in einem Tonfall,
mit dem sie sonst nur das Personal tadelte, »es gibt Dinge, über
die man einfach nicht spricht – über die niemand gerne
spricht.«
»Aber ich muß darüber sprechen, Mutter«, sagte
Katherine, denn jetzt peinigten sie der Schmerz und die Verwirrung
der letzten Wochen und stachelten sie an weiterzureden, »weil
Stanley nämlich nicht mein Mann ist, nicht... nicht so, wie ich es
erwartet habe, so wie jeder...« Sie verstummte.
»Nicht dein Mann?« Josephine schlug die Hand
vor den Mund und sah sich rasch im Raum um. »Wovon redest
du?«
Katherine fühlte sich jämmerlich und elend, sie
war wieder ein kleines Mädchen, und ihre ganze wissenschaftliche
Ausbildung, ihre Kenntnisse vom Leben und vom Fortpflanzungszyklus
nutzten ihr überhaupt nichts: Ihre Mutter hatte mehr Ahnung als
sie. »Ich meine... im Bett.«
Josephine brauchte etwas Zeit. Sie saß starr in
ihrem Sessel, während das Mittelmeer vor den Fenstern großartige
Wellen warf, und sie hatte den Ausdruck eines Folteropfers, einer
Frau, der man die Fingernägel einen nach dem anderen aus dem
Fleisch riß. »Bring ihn an die frische Luft«, riet sie schließlich.
»In die Natur. Viel Fleisch essen. Solche Sachen.« Wieder eine
Pause. »Warum geht ihr nicht skifahren?«
Katherine entschied sich schließlich für
Sankt Moritz in Graubünden, nicht weit von der italienischen
Grenze. Sie nahmen Zimmer im Grandhotel Engadiner Kulm, einem
riesigen, idyllischen alten Kasten mit Schneewächten auf dem Dach,
riesigen prasselnden Kaminen und einem Wiener Streichquartett, das
abends im Speisesaal und zum Tee aufspielte. An den Vormittagen
unternahmen sie lange Spaziergänge durch den verschneiten Ort, wo
alle Häuser und Geschäfte schon für Weihnachten geschmückt waren,
in der Luft lag der Geruch von Holzöfen und gerösteten Kastanien,
und nach einem gemütlichen Mittagessen gingen sie auf die Pisten.
Katherine konnte exzellent skilaufen, aber Stanley war geradezu ein
Meister darin. Elegant und gekonnt schoß er über die makellos
weißen Hügel wie eine Linie, die sich über eine unbeschriebene
Seite zog, er nahm die steilsten Hänge mit einem Selbstvertrauen
und Elan in Angriff, daß es an Leichtsinn grenzte. Noch nie hatte
sie ihn so ausgelassen gesehen. Und so körperlich.
Am Ende der ersten Woche war er ein vollkommen
anderer Mensch, wie neugeboren, und Katherine hätte sich ohrfeigen
können, daß sie sich nicht viel früher losgeeist hatten. Er lachte
beim leisesten Anlaß – ein offenes, fröhliches Lachen, nicht das
Kekkern einer verstörten Hyäne, das er ständig auf den Lippen
hatte, wenn seine Mutter in der Nähe war. Beim Abendessen versank
er in Erinnerungen. Er sprach sanft und vertraulich mit ihr. Und er
las seiner Frau jeden Wunsch von den Augen ab. Darauf hatte
Katherine gewartet, auf dieses gelassene, süße Entfalten der Tage,
von denen jeder neu erblühte wie knospende Rosen in einer Vase...
dennoch blieben die Nächte problematisch. Und keusch. Unerträglich,
herzzerreißend keusch. Es war zum Verrücktwerden.
Die Lösung fiel ihr eines Nachmittags kurz vor
Weihnachten ein – es war genau am Tag davor –, und sie schien so
klar und einleuchtend, daß Katherine fast laut aufschrie. Sie
glitten gerade die Abfahrten von Pontresina hinab, hoch oben über
dem Ort, außer Sicht ihres Skiführers, rings herum erhoben sich die
Berge wie weiße Wände aus der Erde, und ihr war gerade die hintere
Bindung ihres linken Skis kaputtgegangen, weshalb Stanley vor ihr
im Schnee kniete, um sie zu reparieren. Sogar durch das dicke
Polster seiner Handschuhe und das fühllose Material ihres Stiefels
spürte sie seine Berührung. Diese Berührung löste es in ihr aus,
eine behutsame, demütige, unterwürfige Geste der Liebe, ihr Ehemann
lag ihr zu Füßen, und in diesem Augenblick wußte sie, was sie zu
tun hatte: Sie mußte die Initiative
ergreifen.
Es war so offenkundig, daß es schon wieder zum
Lachen war. Obwohl es jeder Auffassung der weiblichen Rolle
widersprach – das empfangende Gefäß, die passive Partnerin, die
Lust als Last empfand –, mußte sie die Initiative ergreifen, den
aktiven Part übernehmen, dorthin gehen, wo noch keine Ehefrau vor
ihr gewesen war. Stanley war ein Sonderfall, und niemand würde je
erfahren, was in der Stille ihres Schlafzimmers passierte – und es
lag ja auch nichts Beschämendes darin, ganz und gar nicht. Sie war
entschlossen. Sie würde des Nachts zu ihm kommen – noch in dieser
Nacht – und ihre Hände einsetzen, ihren Mund und jedes Mittel, um
ihn so zu erregen, daß er seine Pflicht tat. Natürlich. Natürlich
würde sie so vorgehen. Entweder das oder als Jungfrau
sterben.
Am Abend speisten sie in einem Restaurant nicht
weit vom Hotel. Katherine hatte sich zurechtgemacht, eine rot-grüne
Schleife ins Haar gebunden, eine neues Kleid angezogen, und der
Turmalinreif, den Stanley ihr geschenkt hatte, funkelte an ihrem
Handgelenk. Sie ermunterte ihn zum Trinken – einen Grignolino, der
kräftig nach Erde duftete –, und sie trank selbst zwei Glas davon,
um Mut zu fassen. Als sie beide in ihre Zimmer gingen, nahm sie
seinen förmlichen Gutenachtkuß entgegen und sagte dann, sie sei
müde vom vielen Skilaufen und wolle gerne früh schlafen gehen –
falls er nichts dagegen habe. »Ach, also, ja – sicher doch«, sagte
er, und er stieß jedes einzelne Wort aus, als wäre es an den Zähnen
festgeklebt, während sein Blick an der Wand hinter ihr auf und ab
ging. »Ja«, sagte er nochmals. »Also. Frohe Weihnachten uns allen
und allen eine gute Nacht.«
Sie wartete, bis das Licht in seinem Zimmer
erlosch – bis genau zu diesem Moment; sie wollte ihn ja nicht
eindösen lassen –, dann tappte sie parfümiert und nackt über den
Fußboden, sie hätte irgendwer sein können, eine Dirne, eine Hure,
und sie probierte seine Tür. Sie war nicht verschlossen. Sie stieß
sie mit angehaltenem Atem auf, jeder Nerv in ihr war angespannt.
»Wer ist da?« fragte er, und sie sah im kühlen blauen Licht, den
der Schnee auf die Fenster warf, wie sich seine dunkle Gestalt auf
dem Bett aufsetzte.
»Schhh«, flüsterte sie, »ich bin’s, Katherine.
Deine Frau.«
»Was hast du...« begann er, aber da war sie
schon auf dem Bett, nackt in dem kalten Licht, die Bettfedern
quietschten, die Matratze gab nach, nackt und auf allen vieren, die
Kälte strich über ihre Brüste, ihren Nabel und ihren Unterleib, bis
sie ganz Gänsehaut war.
»Sprich nicht«, sagte sie, »sag kein Wort.« Sie
fand sein Gesicht, seinen Mund und gab ihm einen Kuß, einen
feuchten, echten Kuß, die Hitze ihrer Leiber vereinigte sich, sie
lag über ihm auf der Decke, und Stanley zwängte sich nach hinten
gegen das Kopfbrett, aber ihm blieb kein Ausweg. Er kämpfte sich
von ihren Lippen frei und kam prustend hoch wie ein Taucher, die
Nachtmütze schief auf dem Kopf, das blaue Licht von den Fenstern so
scharf und greifbar wie ein Eisblock. »Ich bin nicht...« sagte er,
»ich – ich – ich...«
»Psst«, raunte sie wieder, und im nächsten
Moment war sie unter der Decke bei ihm, berührte seine Zehen mit
ihren, ihre Brüste drückten sich sanft gegen den Stoff seines
Nachthemds, ihr Kopf drängte sich unter seinen Arm, und sie umarmte
ihn lange, eine Ewigkeit, bis sie spürte, wie er sich entspannte –
ansatzweise jedenfalls. Sie küßte ihn weiter, küßte seine Wange,
seine Kehle, seine Finger, und dann, nach einer weiteren Ewigkeit,
schob sie ihm forschend die Hand unter das Nachthemd, bis sie fand,
wonach sie suchte.
Sein Penis war schlaff. Oder eigentlich nicht
schlaff, aber steif war er auch nicht gerade. Es war der erste
Penis, den sie je in der Hand gehalten hatte, und sie war erstaunt,
wie klein er war, wie sie ihn in voller Länge in der Hand bergen
konnte, aber sie wußte genug, um ihn zu reiben, zu reizen, ihn
anschwellen zu lassen, und dabei küßte sie die ganze Zeit seinen
Hals und keuchte heiße Koseworte in den Kragen seines Nachthemds.
Anfangs versteifte er sich – überall außer an der einen Stelle –
und versuchte ihrer Berührung auszuweichen, doch nach einer Weile
(fünf Minuten? zehn?) fühlte sie etwas, eine deutliche Regung, ein
Zucken, eine spürbare Schwellung. Ermutigt brachte sie die andere
Hand ins Spiel, sie streichelte ihn jetzt heftig, streichelte
Stanleys erwachendes Glied zwischen den Handflächen, mit der
Intensität einer Indianerin, die mit zwei Stöcken Feuer
schlägt.
Und sie erzeugte auch Feuer – gewissermaßen. Er
war jetzt erigiert – oder fast jedenfalls, sie war da keine
Expertin –, und sie hob sein Nachthemd, um sich auf ihn zu rollen,
rieb jetzt nicht mehr mit den Händen, sondern mit dem eigenen
Unterleib, und dieses Gefühl war berauschend, wie nichts, was sie
je erlebt hatte, außer vielleicht bei Lisette mit dem frühreifen
Zeigefinger, und sie flüsterte: »Stanley, Stanley, ich bin bereit.
Mach mir ein Baby, Stanley, mach ein Baby.«
Aber er machte kein Baby. Versuchte es nicht
einmal. Sobald sie es sagte, verschrumpelte er zu einem Nichts, ja
weniger als nichts, zu einem weichen, kleinen, verzärtelten
Dingelchen, das sich in seinem Nest zusammenkringelte, und als sie
wieder nach ihm griff, stieß er sie weg – und das weit
unbeherrschter als notwendig.
Schlagartig drang kalte Luft herein, die Laken
flatterten heftig, und plötzlich stand er im Gletscherlicht des
Schlafzimmers vor ihr, sie konnte gerade sein Gesicht erkennen, die
verzerrten Lippen, das wilde Glitzern in seinen Augen. Er bebte.
»Du Hure!« schrie er. »Du dreckige Hure!«